Open Access
{"created":"2022-01-31T16:15:15.328227+00:00","id":"lit31136","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, L. William","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22: 13-22","fulltext":[{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag\nzur differentiellen Psychologie des Urtheilens.\nVon\nL. William Stern.\n(Mit 1 Fig.)\n\u201eDifferentiell-psychologisch\u201c nenne ich diejenige Betrachtungsweise, welche nicht die in allen Individuen gleichen Gesetzm\u00e4fsig-keiten des seelischen Geschehens, sondern gerade die Variationsformen, in denen seelische Functionen bei verschiedenen Individuen auftreten k\u00f6nnen, zum Gegenst\u00e4nde hat. Alle jene Begriffe f\u00fcr differentielle Eigenth\u00fcmlichkeiten, die im Ganzen der \u201eIndividualit\u00e4t\u201c ihr Gepr\u00e4ge geben : Temperament, Charakter, Ged\u00e4ehtnifstypus u. s. w. bed\u00fcrfen, nachdem sie lange genug in den H\u00e4nden von Laien und Halblaien abgegriffene Scheidem\u00fcnze gewesen, einer wissenschaftlichen Neupr\u00e4gung, die eine der generellen Psychologie nebenzuordnende differentielle zu \u00fcbernehmen h\u00e4tte.\nDerartige Bestrebungen sind in den letzten Jahren hier, und da aufgetaucht (meist unter dem mifsverst\u00e4ndlichen Namen einer individuellen Psychologie); auch hat man versucht, das Experiment in den Dienst der neuen Aufgabe zu stellen, wobei man freilich zum Theil, indem man ganze Serien der verschiedenartigsten Pr\u00fcfungen \u2014 mental tests \u2014 vorschlug, weit \u00fcber das Ziel des gegenw\u00e4rtigen K\u00f6nnens hinausschofs. Wie mir scheint, liegt der Werth des Experiments f\u00fcr differentiell-psychologische Zwecke nach einer ganz anderen Richtung hin: es gilt festzustellen, auf welche Weise gewisse charakteristische Seiten der Individualit\u00e4t \u00fcberhaupt dem Experiment zug\u00e4nglich gemacht werden k\u00f6nnen: und es gilt dann, an der Hand solcher Experimente die betreffende Eigenart psychischen Functionirens des N\u00e4heren zu erforschen. Hierbei k\u00f6nnen auch Versuche, die zu","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nL. William Stern.\neinem fernliegenden generell-psychologischen Zwecke an mehreren Personen angestellt wurden, werthvolle Fingerzeige geben ; denn die nie fehlenden Abweichungen in den Resultaten k\u00f6nnen unter Umst\u00e4nden \u00fcber differentielle Eigenth\u00fcmlichkeiten der Individuen Aufkl\u00e4rung bieten und dadurch k\u00fcnftigen, eigens zu differentiell-psychologischen Zwecken angestellten Experimenten die Richtung weisen.\nIn diesem Sinne m\u00f6chte ich die Versuche, die ich in dem vorangegangenen Artikel betrachtet habe, hier noch einmal unter einem ganz anderen Gesichtspunkt behandeln. Sie waren angestellt, um die Frage zu beantworten: Wie werden Tonver\u00e4nderungen verschiedener Geschwindigkeit wahrgenommen? Die Betrachtung der Resultate gestattete aber zugleich, ganz abgesehen von diesem Problem, charakteristische Einblicke in die typische Art, wie sich die Individuen urtheilend \u00e4ufseren Reizen gegen\u00fcber verhalten. Diese Art ist von Mensch zu Mensch aufserordentlich verschieden ; sie ist aufserdem zur individuellen Kennzeichnung einer Pers\u00f6nlichkeit von hoher Bedeutung. Denn das Verhalten beim Urtheilen dr\u00fcckt nicht nur ein passives Aufnehmen von Reizen, sondern eine active Stellungnahme des Willens der Aufsenwelt gegen\u00fcber aus.\nUm diese charakteristische Seite der Individualit\u00e4t zu untersuchen, ist die Materie, an der sich das Urtheil beth\u00e4tigt, relativ gleichg\u00fcltig ; die gr\u00f6fsere oder geringere Zuverl\u00e4ssigkeit und Gr\u00fcndlichkeit des Urtheils, der Grad, in dem es durch Erwartung, Ungeduld, Aufmerksamkeitsschwankungen u. s. w. bestimmt wird, dies und vieles Andere wird sich ziemlich constant bleiben, ob nun T\u00f6ne oder Helligkeiten, ob unstetige Unterschiede oder allm\u00e4hlige Ver\u00e4nderungen zur Beurtheilung stehen. Wichtig ist nur, dafs die Urtheilsth\u00e4tigkeit Gelegenheit hat, sich in verschiedenen, unter einander vergleichbaren Formen zu \u00e4ufsern, und dies ist in unseren Versuchen \u00fcber Ton Ver\u00e4nderung der Fall.1 Erstens n\u00e4mlich war das Object der Beurtheilung in ausgiebigstem Maafse abgestuft, indem die Geschwindigkeiten der Ver\u00e4nderung in weiten Grenzen variirten; hier liefs sich beobachten, inwiefern sich diesen objectiven Variationen das subjective Verhalten des zu Pr\u00fcfenden anpalste. Da dieser zweitens\n1 Ich mufs hier auf die ausf\u00fchrliche Schilderung der Versuchsanordnung verweisen, die ich in dem vorigen Artikel gegeben habe.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag zur differentiellen Psychologie des Urthe\u00fcens.\n15\ndurch eine Reactionsbewegung selbst den Moment, in dem sein Urtheil gef\u00e4llt war, angeben konnte, so war seiner Selbstth\u00e4tig-keit in besonders hohem Maafse Spielraum gelassen; (in weit h\u00f6heren als in den sonst meist \u00fcblichen Versuchsanordnungen, die einen an Umfang und Gr\u00f6fse begrenzten Reiz zur Beur-theilung vorlegen). Drittens waren die subjectiven Urtheilsbe-dingungen auf zwei qualitativ, grundverschiedene Formen gebracht, indem bei sonst durchaus paralleler Versuchsanordnung einmal ein wissentliches, das andere Mal ein unwissentliches Verfahren zur Anwendung kam; das Verhalten des Reagenten in diesem und in jenem Falle giebt zu interessanten Folgerungen Anl&fs.\nEin g\u00fcnstiger Zufall hat es nun gewollt, dafs meine beiden Versuchspersonen in der Art zu urtheilen zwei grundverschiedene Typen repr\u00e4sentirten, deren Vergleichung ich, soweit es die Versuche erm\u00f6glichen, jetzt durchf\u00fchren m\u00f6chte. Zugleich werde ich hier und da Aussagen \u00fcber Selbstbeobachtungen, die ich nach Beendigung der Versuche veranlafst und protokollirt habe, zur Best\u00e4tigung meiner Erw\u00e4gungen anf\u00fchren.\nUm die beiden Typen im Groben zu bezeichnen, will ich sie den objectiven und den subjectiven Typus nennen, obgleich ich mir bewufst bin, dafs diese Ausdr\u00fccke auch nicht im Entferntesten die mannigfachen zarten und feinen N\u00fcancen, in denen die Urtheilsth\u00e4tigkeit hier und dort sich kundgiebt, wirklich umfassen. K. vertritt den ersteren, R. den letzteren. K. giebt sich m\u00f6glichst passiv dem Eindruck hin, verh\u00e4lt sich contem-piativ, pafst sich daher auch in hohem Grade den Variationen des \u00e4ufseren Reizes an; er wartet mit der Reaction, bis er zu einem sicheren Urtheil gelangt ist. Der \u201eSubjective\u201c wartet nicht, sondern erwartet etwas, l\u00e4fst sich leicht durch vorge-fafste Meinung oder Ungeduld bestimmen, zu reagiren, ehe auf Grund seiner blofsen Wahrnehmung volle Sicherheit vorhanden ist, und hat \u00fcberhaupt eine starke Tendenz zu motorischer Entladung; der Moment der Wahrnehmung wird viel weniger durch die Beschaffenheit des Wahrgenommenen, als durch subjective periodische Auf- und Nieder-Schwingungen der psychischen Ac-tivit\u00e4t bestimmt. Betrachten wir dies im Einzelnen.\nZun\u00e4chst ist das Verhalten Beider in den ungemischten und gemischten Reihen bemerkenswert!!. Dort, wo die Reagenten","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nL. William Stern.\nwufsten, welche Ver\u00e4nderungsrichtung in der Reihe stets dargeboten wurde und nur in Unwissenheit \u00fcber die im einzelnen Falle angewandte Geschwindigkeit waren, erfolgte die Reaction rascher als dort, wo bei entsprechenden Geschwindigkeiten die Versuchspersonen jedes Mal erst entscheiden mufsten, ob sie eine Erh\u00f6hung, Vertiefung oder Constanz vor sich hatten. Diese Differenz ist bei Beiden vorhanden ; sie ist aber sehr verschieden grofs. W\u00e4hrend bei K. in den gemischten Reihen die L\u00e4nge der Reactionszeiten (d. h. die H\u00f6he der Ver\u00e4nderungsschwelle) im Durchschnitt um 14 \u00b0/0 die der ungemischten \u00fcbertrifft, betr\u00e4gt bei R. der Zuwachs in den gemischten Versuchen nur 8\u00b0,0. K. g\u00f6nnt sich also dort, wo er vor einer schwierigeren Aufgabe steht, mehr Zeit; er l\u00e4fst die Ver\u00e4nderung erst betr\u00e4chtlich gr\u00f6fser werden, ehe er durch die Reactionsbewegung seine Entscheidung registrirt; seine Vorsicht w\u00e4chst mit der Gefahr des Irrthums.\nDie sehr geringe Differenz bei R. l\u00e4fst, an sich betrachtet, zweierlei Deutung zu. Sie kann sich n\u00e4mlich darauf gr\u00fcnden, dafs in den gemischten Reihen so schnell reagirt wird, wie in den ungemischten \u2014 aber auch darauf, dafs in den ungemischten so langsam reagirt wird, wie in den gemischten. Eine geringe Differenz mufs Derjenige zeigen, welcher, schnell fertig mit dem Urtheil, auch dort sich keine Zur\u00fcckhaltung auferlegt, wo die M\u00f6glichkeit der Irrung in hohem Maafse vorhanden ist, eine geringe Differenz mufs aber auch jener phlegmatisch Bed\u00e4chtige auf weisen, der selbst dort, wo eine Fehlreaction ausgeschlossen ist, erst den denkbar h\u00f6chsten Grad der Sicherheit abwartet, ehe er sein Urtheil abgiebt.\nDie Versuche bieten nun aber eine M\u00f6glichkeit der unzweifelhaften Entscheidung dieser Alternative: die Anzahl der Fehler, die in den gemischten Reihen gemacht worden sind, beweist auf das B\u00fcndigste, dafs die geringe Differenz bei R. nicht auf all zu grofser Bed\u00e4chtigkeit, sondern eher auf dem Gegentheil beruht. Man vergleiche Tabelle IV des vorangehenden Artikels, welche zeigt, dafs R. in den gemischten Reihen 26\u00b00 Fehlurtheile aufzuweisen hat. Wenn man bedenkt, dafs es in seinem Belieben gestanden hatte, mit der Urtheilsf\u00e4llung noch l\u00e4nger zu warten, so ist hier die Fehlerzahl nicht etwa ein Zeichen f\u00fcr die zu geringe Feinheit seiner Geh\u00f6rsempfindung, sondern geradezu ein Index f\u00fcr den Zuverl\u00e4ssigkeitsgrad seines","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag zur differentiellen Psychologie des Urtheilens.\t17\nUrtheils. K., der sich bei den gemischten Versuchen mehr Zeit liefe, hat auch viel weniger, n\u00e4mlich nur 16 \u00b0/0 Fehler gemacht Mit diesen Schlussfolgerungen stimmen die Protokolle der Aussagen Beider \u00fcberein. K. : \u201eIgIi gehe bis zur Grenze einer nach meinen Begriffen sicheren Sinneswahrnehmung.\u201c R. : \u201eIch reagire, sobald ich \u00fcberhaupt glaube, eine Ver\u00e4nderung wahrgenommen zu haben. Ich k\u00f6nnte dies schliefslich noch sicherer constatiren, aber oft habe ich die Empfindung, es ist ganz \u00fcberfl\u00fcssig, noch l\u00e4nger zu warten.\u201c\nIn potenzirter und daher besonders charakteristischer Weise treten die eben genannten Verh\u00e4ltnisse bei einer bestimmten Form von Reizen, n\u00e4mlich bei den Constanzen auf. Beginnen wir mit den gemischten Reihen, bei denen die Reagenten wufsten, dafs Erh\u00f6hungen, Vertiefungen und Constanzen regellos abwechselten. Hier verhielten sich nun K. und R. grundverschieden. K. liefs gleichsam den Reiz an sich herantreten ; merkte er keine Ver\u00e4nderung, so wartete er eben noch l\u00e4nger, vielleicht dafs sich bei Fortdauer des Reizes die Wahrnehmung einer kleinen Ver\u00e4nderung doch noch einstellen k\u00f6nnte. So kam es denn oft, dafs der Versuch nach 20 Secunden \u2014 wenn die Luft des Blasebalgs ausging \u2014 abgebrochen werden mufste, ohne dafs K. reagirt h\u00e4tte. Bei ihm ist also Wahrnehmung der Constanz identisch mit Nichtwahrnehmung einer Ver\u00e4nderung und deshalb immer corrigirbar. In Folge dessen hat er auch nur sehr selten eine Ver\u00e4nderung f\u00e4lschlich f\u00fcr eine Constanz angesehen, w\u00e4hrend der umgekehrte Fehler ziemlich h\u00e4ufig (wenn auch viel seltener \u00e4Is bei R.) vorkam. \u2014 Ganz anders R. Bei ihm war der Drang zu rascher Beth\u00e4tigung viel zu grofs, als dafs er so rein con-templati v h\u00e4tte bleiben k\u00f6nnen. Er reagirte bei jedem Versuch, Auch dann, wenn er keine Ver\u00e4nderung merkte; in letzterem Falle bedeutete eben die Reaction, dafs er mit seinem Urtheil \u201eConstanz\u201c fertig war. Diese Reaction erfolgte durchschnittlich schon nach 10 Secunden, obgleich er doch wufste, dafs auch Ver\u00e4nderungen ganz langsamer Geschwindigkeit vorkamen, die namentlich im Anfang ihrer Dauer leicht mit Constanzen zu verwechseln sind. Wahrnehmung der Constanz ist bei ihm der positive Eindruck der Gleichheit und daher, wie er glaubt, nicht weiter aufhebbar. Die Folge dieses Verhaltens ist, wie nicht zu verwundern, eine v\u00f6llige Unf\u00e4higkeit, Constanzen objectiv zu\nZeitschrift T\u00fcr Psychologie 22.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nL. William Stem.\nbeurtheilen. Ziemlich oft h\u00e4lt er langsame Ver\u00e4nderungen, insbesondere Vertiefungen f\u00fcr Constanzen, w\u00e4hrend er andererseits die H\u00e4lfte aller wirklichen Constanzen (siehe Tabelle IV) f\u00e4lschlich als Ver\u00e4nderungen beurtheilt Dieser impulsive Drang, auch dort nach relativer kurzer Zeit zu reagiren, wo er keine Ver\u00e4nderung bemerkt hat, im Gegensatz zu dem ruhig wartenden K., ist meines Erachtens einer der charakteristischsten Z\u00fcge in diesen Typenbildern. \u2014 Man vergleiche wieder die Protokolle.\nK.: \u201eBei Gleichheit w\u00fcrde ich in infinitum warten.\u201c \u201eDa ich thats\u00e4chlich zuweilen erst bei 20 Secunden eine langsame Ver\u00e4nderung wahmehme, warte ich so lange.\u201c\nR.: \u201eWenn eine gewisse Zeit vergangen ist, vergleiche ich den gegenw\u00e4rtigen Ton mit der Erinnerung des Anfangs. Merke ich dann keine Ver\u00e4nderung, so habe ich die Empfindung: das ist ,totensicher4 gleich und wird sich auch nie mehr ver\u00e4ndern.\u201c Aber auch in die ungemischten Reihen waren Constanzen eingestreut worden. W\u00e4hrend die Reagenten glaubten, es w\u00fcrden ihnen in einer Reihe nur Erh\u00f6hungen, bezw. nur Vertiefungen in verschiedener Geschwindigkeit dargeboten, enthielt jede Reihe neben 7 wirklichen Ver\u00e4nderungen einer Richtung noch 2 Constanzen, so dafs hier im Ganzen bei K. (mit 8 Doppelreihen) 32 Mal, bei R. (mit 10 Doppelreihen) 40 Mal Constanz vorgekommen war, neben 112 bezw. 140 wirklichen Ver\u00e4nderungen. Hier haben wir nun eine M\u00f6glichkeit, die durch Erwartung bedingte Suggestibilit\u00e4t der Versuchspersonen zu pr\u00fcfen. Die Erwartung ist in einer solchen Reihe ausschliefslich auf Ver\u00e4nderung einer bestimmten Richtung eingestellt; wie stark ihre hallucinatorische Valenz bei einer dazu disponirten Person ist, kann man daraus ersehen, dafs R. von den 40 Constanzen nur 10 erkannte, dagegen in den 30 anderen F\u00e4llen eine Ver\u00e4nderung in der erwarteten Richtung zu h\u00f6renglaubte! K. dagegen zeigt auch hier wieder seine gr\u00f6fsere Objectivit\u00e4t, indem er in 8/4 aller Constanzf\u00e4lle dieselben richtig beurtheilte (oder was ja nach Obigem dasselbe bedeutet, den Versuch Vorbeigehen liefs, ohne zu reagiren). Es ist also bei ihm der wirkliche Wahrnehmungsinhalt ein m\u00e4chtigerer Factor zur Bestimmung der Richtung, in der seine psychische Activit\u00e4t sich beth\u00e4tigt, als das subjective Moment der Erwartung.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag zur differentiellen Psychologie des Urtheikns.\t19\nVervollst\u00e4ndigt werden endlich noch die Typenbilder durch die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse des Urtheilens. Denn aufser der Erwartung giebt es noch einen subjectiven Factor, der die einfache Anpassung an die objectiven Reizbedingungen durchkreuzt; das ist die Periodicit\u00e4t im Auf- und Niederschwingen der psychischen Energie. Wie ich an anderen Stellen ausf\u00fchrlich dargethan \\ macht sich dieser Wechsel von H\u00f6hepunkten und Tiefst\u00e4nden der seelischen Activit\u00e4t besonders dort bemerkbar, wo das Individuum zu einer ununterbrochenen Anspannung der Aufmerksamkeit gezwungen ist, also z. B. bei Ver\u00e4nderungsversuchen. Da nun unseren Versuchspersonen selbst die Wahl des Moments \u00fcberlassen war, in dem sie durch eine Bewegung \u00fcber den Abschlufs ihres Urtheils zu quittiren hatten, so ist es kein Wunder, dais diese Handlung zum grofsen Theil von der Culmination der psychischen Periodik abhing. Und so zeigt es sich in der That, dafs in den Reactionen gewisse Zeitwerthe aufserordentlich h\u00e4ufig, andere wiederum sehr selten Vorkommen. Eine erste Vorzugszeit f\u00fcr die Urtheilsf\u00e4llung liegt um 4, eine zweite um 8 Secunden herum; auch die Zeiten 12 und 16 zeigen noch merkbare, wenn auch kleine Culminationen. Selbstverst\u00e4ndlich ist, dafs der objective Factor der Ver\u00e4nderungsgr\u00f6fse durch diesen subjectiven Factor der Optimalzeiten an Einflufs auf den Vollzug des Urtheil verliert. \u201eNach jenem 1 2 n\u00e4mlich w\u00fcrde das Urtheil erfolgen, wenn die Ver\u00e4nderung eine bestimmte Gr\u00f6fse erreicht hat, nach diesem, wenn die Ver\u00e4nderung eine gewisse Zeit gedauert hat. Bemerkenswerth ist es nun, dafs die Wirkung der beiden Momente individuell sehr verschieden ist Gewisse Personen, sind, obzwar das Optimalzeitph\u00e4nomen sich auch bei ihnen bemerklich macht, immerhin im Stande, ihr Urtheil einigennaafsen dem Umfang und der Geschwindigkeit der Ver\u00e4nderung anzupassen; Andere aber stehen so sehr unter der Herrschaft des zeitlichen Factors, dafs die Gr\u00f6fse der Ver\u00e4nderung f\u00fcr sie fast ganz gleichg\u00fcltig ist; ihr Urtheil emancipirt sich stark von dem objectiven Reiz und folgt mehr oder weniger blindlings der subjectiven Tendenz.41\n1\tS. das im vor. Aufsatz citirte Ges. d. Optimalzeiten ; aufserdem diese Zeitschr. 21, 384 ff. u. Psychol, d. Ver&nderungsauff., 234 fl.\n2\tPsychol, d. Ver&nderungsaufl., 241.\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nL. William Stern.\nDiese Differenzirung ist es nun wieder, welche bei unseren beiden Versuchspersonen vorliegt. Um sie zu constatiren, habe ich die Methode angewandt, die mir fr\u00fcher dazu diente, das Vorwiegen bestimmter Zeitwerthe nachzuweisen : Die Z\u00e4hlung der Zeiten. Ich abstrahirte von den verschiedenen, bei meinen Versuchen angewandten Geschwindigkeiten, und bestimmte die H\u00e4ufigkeit, in der die einzelnen Ver\u00e4nderungsdauern, sowohl in den gemischten wie in den ungemischten Reihen vor-gekommen waren. Zu diesem Zweck z\u00e4hlte ich immer diejenigen Zeitwerthe zusammen, welche die gleiche Zahl vor dem Komma hatten (z. B. 4,3, 4,8, 4,1, 4,5 Secunden); so erhielt ich die H\u00e4ufigkeit, mit der die Zeit zwischen 4 und 5 Secunden vertreten ist, ebenso die anderen H\u00e4ufigkeiten. Die Resultate habe ich in untenstehender Figur graphisch dargestellt; die Abscissen entsprechen den Zeiten, die Ordinaten den H\u00e4ufigkeiten; die ausgezogenen Curven beziehen sich auf die ungemischten, die punktirten auf die gemischten Reihen.\n18 ZO\nFig. 1.\nDas erste, was in die Augen f\u00e4llt, ist die weitaus gr\u00f6fsere Steilheit der Curven von R., dem Vertreter des subjectiven Typus. Bei ihm concentrirt sich das weit \u00fcberwiegende Gros aller Zeiten auf die Dauern zwischen 2 und 5 Secunden, w\u00e4hrend die l\u00e4ngeren Zeiten nur sehr sp\u00e4rlich Vorkommen und sich noch ein Mal zwischen 8 und 9 Secunden zu einer kleinen Culmination aufraffen. Zwischen 2\" und 5\" liegt die erste Optimalzeit. In dieser kurzen Zeitspanne gelangen also die meisten der an Geschwindigkeit doch so sehr verschiedenen Ver\u00e4nderungen zur Wahrnehmung; es l\u00e4fst eben der zu einer bestimmten Zeit hervorbrechende Drang nach psychischer Beth\u00e4tigung die materialen Unterschiede des Empfindungsstoffes, an dem er sich zu be-","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag zur differentiellen Ptychologie des TJrtheilens.\t21\nth\u00e4tigen hat, durchaus in den Hintergrund treten. R. mufs re-agiren, wenn seine Zeit gekommen ist, wobei es sich ziemlich gleich bleibt, ob die Aenderung, die zur Beurtheilung steht, eine langsame oder eine schnelle ist Bei den langsamen strengt er sich besonders an, um sie in dieser Culminationszeit der Energie zu erkennen und in ihrer Richtung zu beurtheilen; bei den schnellen wartet er, bis sich im gegebenen Moment das Urtheil von selbst einstellt; nicht er beherrscht den Gegenstand, sondern er wird beherrscht von seinem eigenen sub-jectiven Zustand.\nK. zeigt einen ganz anderen Aspect : eine viel weitere Streuung der Zeiten, entsprechend den verschiedenartigen Geschwindigkeiten der Aenderung. Die Periodicit\u00e4t der psychischen Dynamik kann freilich auch er nicht ganz verleugnen; sie ist eben eine allgemeing\u00fcltige seelische Gesetzm\u00e4fsigkeit. Aber bei ihm ist es nicht eine Vorzugszeit, in der sich Alles zusammendr\u00e4ngt. Zwar f\u00fchrt wieder die erste Optimalzeit (zwischen 3 und 5 Secunden) am h\u00e4ufigsten zum Urtheil; aber die Tendenz, hier zu reagiren, ist nicht allm\u00e4chtig; was in dieser Zeit nicht erledigt werden kann, wird sp\u00e4ter erledigt und hierbei macht sich denn eine zweite Culmination (bei den gemischten Versuchen), ja sogar noch eine dritte und vierte bei 12 und 16 deutlich bemerkbar.\nErw\u00e4hnenswerth ist, dafs sich eine ganz entsprechende Differenziirung im Verhalten von K. und R. auch bei den nach ganz anderer Methode angestellten fr\u00fcheren Versuchen hatte constatiren lassen.1\nEndlich zeigen die Curven noch im Speciellen die Zeitverh\u00e4ltnisse in den gemischten Versuchen. Eines haben K. und R. gemeinsam : die besondere Anspannung der Energie in der ersten Optimalzeit. Es ist, als ob sich alle Kraft der Aufmerksamkeit auf eine ganz kurze Zeitspanne concentrire, um in dieser, was nur m\u00f6glich, zu leisten. Zwischen 3 und 4 Secunden dr\u00e4ngt \u00bbich die Hauptth\u00e4tigkeit zusammen. Die erste Optimalzeit cul-minirt nicht nur spitzer, sondern \u2014 wegen der starken Anspannung \u2022\u2014 auch fr\u00fcher, um daf\u00fcr desto schneller zu sinken: die Zeit um 5 Secunden herum, eine Dauer, die bei den ungemischten Versuchen noch oft vorkommt, ist bei den gemischten\n1 Diese Zeit.sehr. 21, 386.","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nL. William Stern.\nschon mit weit geringeren H\u00e4ufigkeitswerthen vertreten. \u2014 Worin weichen nun aber die beiden Versuchspersonen von einander ab? Bei R. ist mit dem geschilderten einmaligen Impuls die Arbeit im Wesentlichen erledigt; die gr\u00f6fsere Schwierigkeit der Aufgabe macht sich nur in st\u00e4rkerer momentaner Energieentfaltung, nicht etwa in gr\u00f6fserer Besonnenheit bemerkbar, ein Zug, den man wohl als Charakteristicum des sanguinischen Temperaments anzusehen pflegt. \u2014 Bei K. fehlt zwar ebenfalls nicht die gr\u00f6fsere Energie; bezeichnender aber ist f\u00fcr ihn, dafs er nicht im ersten Anlauf um jeden Preis seine Aufgabe zu erledigen sucht, sondern seine Hauptkraft auf die zweite Optimalzeit concentrirt, in der nun der weitaus gr\u00f6fste Theil der gemischten Versuche beurtheilt wird. Gerade diese sowohl in Breite und H\u00f6he bedeutende zweite Culmination unterscheidet das Verhalten K.\u2019s nicht nur von dem R.\u2019s, sondern von seinem eigenen Verhalten in den ungemischten Versuchen, und zeigt, wie sofort durch die Erschwerung der Aufgabe auch der Mechanismus seines seelischen Verhaltens eine durchgreifende Ver\u00e4nderung erf\u00e4hrt.\nSo hat die Discussion der verschiedenen Versuchsergebnisse ein, wie ich glaube, anschauliches und in sich wohl zusammenstimmendes Bild geliefert von der typischen Art, wie sich zwei verschiedene Pers\u00f6nlichkeiten nach einer gewissen Seite psychischer Beth\u00e4tigung hin verhalten. Das urspr\u00fcnglich zu ganz anderen Zwecken angewandte Verfahren hat somit nachtr\u00e4glich seine Bef\u00e4higung dargethan, gewisse, f\u00fcr die Charakteristik der Personen nicht unwichtige Besonderheiten zu erschliefsen. Die Methode d\u00fcrfte, wenn sie eigens und allein in letztgenannter Absicht Anwendung finden sollte, mancher Vereinfachung und Verbesserung zug\u00e4nglich sein.\nZum Schlufs m\u00f6chte ich mir gestatten, an obige Ausf\u00fchrung eine Anregung allgemeinerer Art zu kn\u00fcpfen. Fast stets werden psychologische Versuche an mehreren Personen in \u00fcbereinstimmender Weise angestellt. M\u00f6gen sich nun die Experimentatoren daran gew\u00f6hnen, bei der Durcharbeitung der Resultate die etwa gefundenen individuellen Abweichungen, statt sie lediglich als l\u00e4stige St\u00f6rungen zu betrachten, auf ihre differentiellpsychologische Brauchbarkeit hin zu pr\u00fcfen.\n(.Eingegangen am 19. September 1899.)","page":22}],"identifier":"lit31136","issued":"1900","language":"de","pages":"13-22","startpages":"13","title":"Ein Beitrag zur differentiellen Psychologie des Urtheilens","type":"Journal Article","volume":"22"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:15:15.328233+00:00"}