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Karl Groos: Die Spiele der Menschen. Jena, Fischer, 1899. 539 S.

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{"created":"2022-01-31T16:15:04.602519+00:00","id":"lit31138","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lange, K.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22: 47-54","fulltext":[{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\nKaki. Gboob. Die Spiele der Menschen. Jena, Fischer, 1899. &S9 S.\nDer Verf. hat seinem vor drei Jahren erschienenen inhaltreichen Buche \u00fcber die Spiele der Thiere (vgl. die Besprechung in dieser Zeitschrift Bd. 14, 242) nunmehr ein noch inhaltreicheres \u00fcber die Spiele der Menschen folgen lassen. Er verwahrt sich zwar dagegen, dafs das neue Werk einseitig im Dienste \u00e4sthetischer Interessen geschrieben sei, und in der That wird der Psycholog im weiteren Sinne, der Soziolog, der P\u00e4dagog und mancher andere daraus vielleicht ebensoviel Belehrung sch\u00f6pfen wie der Aesthetiker. Doch \u00fcberwiegen die \u00e4sthetischen Excurse und Nutzanwendungen hier noch mehr als in dem fr\u00fcheren Werke, so dafs man oft glaubt, es mit der Vorarbeit zu einer Aesthetik zu thun zu haben. Deshalb mag der \u00e4sthetische Gesichtspunkt auch hier in den Vordergrund gestellt werden. Und zwar m\u00f6chte ich, da ich meine Uebereinstimmung mit dem Verf. oft genug, auch in der erw\u00e4hnten Besprechung, zu erkennen gegeben habe, hier einmal diejenigen Punkte in den Vordergrund stellen, wo ich nicht mit ihm \u00fcbereinstimmen kann. Wir sind zwar beide Gegner der jetzt herrschenden Inhalts\u00e4sthetik. Aber das Studium des vorliegenden Buches hat mich doch wieder davon \u00fcberzeugt, dafs Gr. der letzteren bedeutend n\u00e4her steht als ich. Es scheint, dafs der Kampfinstinkt, den er psychologisch so treffend analysirt hat, bei ihm weniger stark entwickelt ist als bei mir, und so mufs er mir schon gestatten, diejenigen Seiten seiner Theorie namhaft zu machen, wo er meiner Meinung nach seinen \u2014 unseren \u2014 Gegnern zu viel Concessionen macht.\nGr. h\u00e4lt zwar auch jetzt noch die nahe Verwandtschaft des Spieles und der Kunst fest, aber er schr\u00e4nkt sie doch wieder in gewisser Weise ein. Die Kunst, wenigstens als produktive Th\u00e4tigkeit, soll kein Spiel sein, da sie zur Erwerbung des Lebensunterhalts dient und den ganzen Menschen occupirt. Das ist ja wohl richtig, aber das erstere bedingt doch nur einen \u00e4ufserlichen Unterschied, h\u00e4ngt mit unserer sozialen Entwickelung, der Arbeitsteilung u. s. w. zusammen, das letztere, die v\u00f6llige Inanspruchnahme des Menschen, trifft, wie Gr. selbst hervorhebt, auch bei manchen Spielern zu, darf also nicht als principieller Unterschied aufgefafst werden. Das Spiel ist eben auch nicht immer etwas Leichtes obenhin Betriebenes, sondern wird sehr oft \u2014 ich erinnere z. B. an Schach, Tennis, Radfahren u. s. w. \u2014 mit Aufbietung aller geistigen und k\u00f6rperlichen Kr\u00e4fte","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nBesprechungen.\nbetrieben. Und es ist doch wohl willk\u00fcrlich, diese leidenschaftlicheren Formen aus der eigentlichen Spielth\u00e4tigkeit auszuschliefsen. Ferner boII die Kunst durch ihren sittlichen und Wahrheitsgehalt \u00fcber das Spiel hinausweisen. Allein was ist der Wahrheitsgehalt der Musik oder der sittliche Gehalt der Blumen- und Stillebenmalerei? Auch die Behauptung, dafs die Kunst sich durch die Wirkung auf andere Menschen vom Spiel unterscheide, ist nicht haltbar, da eine Wirkung auf andere, wie Gr. selbst an vielen Stellen betont, auch im Spiel sehr h\u00e4ufig eintritt. Allerdings von einer Uebertragung der eigenen Ueberzeugungen, W\u00fcnsche und Ideale auf andere ist beim Spiel wenig die Rede. Allein gerade dies ist auch kein charakteristisches Kennzeichen der k\u00fcnstlerischen Th\u00e4tigkeit, ja nach der Auffassung der Tendenzfeinde sogar etwas durchaus Unk\u00fcnstlerisches. Endlich kann ich auch keinen Unterschied darin erkennen, dafs die entwickelte Kunst einen grofsen Apparat von technischen Fertigkeiten voraussetzt. Denn einen solchen setzen auch viele Spiele voraus \u2014 ich erinnere nur ans Schlittschuhlaufen, Schiefsen, Tennisschlagen u. s. w., bei denen man wirklich sagen kann, dafs mancher es nie lernt. Nein, die Kunst ist thats\u00e4chlich dem Spiel vollkommen wesensverwandt, sie zeigt denselben Lustgehalt, dieselbe (scheinbare) Zwecklosigkeit, denselben Werth als Mittel der Ein\u00fcbung, Erg\u00e4nzung, Lebendigerhaltung der Vorstellungen, Gef\u00fchle und F\u00e4higkeiten der Menschen ; der einzige Unterschied, den man machen kann, ist der, dafs bei allen K\u00fcnsten die Illusion eine Rolle spielt, w\u00e4hrend sie sich nur bei einem Th eil der Spiele, d. h. eben den Illusionsspielen (Kampfspielen, Jagdspielen, dramatischen Spielen u. s. w.) nachweisen l\u00e4fst. Spiel ist also der weitere Begriff, Kunst der engere. Jede Kunst ist wie schon Schiller richtig erkannt ein Spiel, aber nicht jedes Spiel ist eine Kunst. Die K\u00fcnste schliefsen sich entwicklungsgeschichtlich unmittelbar an die h\u00f6heren geistigen Illusionsspiele an und es ist rein conventionell, wo man diese aufh\u00f6ren und jene anfangen lassen will. Warum soll z. B. der Tanz der Erwachsenen eine Kunst sein, dagegen das Zeichnen oder Bilderbuchbesehen der Kinder ein Spiel ?\nMit Recht h\u00e4lt der Verf. jetzt die praktische Zwecklosigkeit, d. h. das Fehlen eines dem Spieler bewufsten aufserhalb der Spielsph\u00e4re liegenden praktischen Zwecks als Hauptkennzeichen der reinen Spielth\u00e4tigkeit fest. Damit ist aber der Schwerpunkt auf die Th\u00e4tigkeit als solche, nicht auf den Inhalt der Th\u00e4tigkeit gelegt. Und folglich kann auch der Genufs nicht in dem bestehen, was man spielt, sondern darin, dafs man spielt, dafs man seine Sinne, seine k\u00f6rperlichen und geistigen F\u00e4higkeiten zwecklos beth\u00e4tigt. Die Consequenz davon ist nat\u00fcrlich die, dafs auch in der Kunst nicht der Inhalt als 'solcher, sondern das Spiel der Phantasie mit diesem Inhalt den Kern des Genusses bilden mufs, d. h. eben der specifisch \u00e4sthetische Vorgang, den Groos \u201einnere Nachahmung\u201c, der Referent \u201ebe-wufste Selbstt\u00e4uschung\u201c nennt. Das ist, wenn man will, ein formalistischer Standpunkt, aber wer die Augen nicht absichtlich verschliefst, mufs zugeben, dafB es sich dabei um etwas ganz anderes handelt, als bei der \u00e4lteren formalistischen Schule. Selbstverst\u00e4ndlich ist es weder Gr. noch mir im Traum eingefallen, den Inhalt z. B. in der Poesie f\u00fcr etwas Gleichg\u00fcltiges zu halten, wir r\u00fccken seine Bedeutung nur aus der unmittelbaren.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n49\nLustsph\u00e4re weg und verlegen sie mehr in das Gebiet der h\u00f6heren Culture Wirkungen oder der Biologie. Allerdings kann ich nicht verschweigen, dafs Gr. hier nicht ganz consequent verf\u00e4hrt, und das ist einer der Punkte, * wo sich unsere Wege scheiden. Es ist eine Concession gegen die Inhalts\u00e4sthetik, wenn Gr. die von der Kunst darzustellenden Gef\u00fchle einschr\u00e4nkt, \u25a0d. h. die sinnlich angenehmen und intensiveren Gef\u00fchle als vorwiegend \u00c4sthetisch brauchbar bezeichnet. Denn gerade die h\u00f6chsten Gattungen der Kunst, z. B. die mit Dissonanzen arbeitende Ausdrucksmusik zeigen, dafs die Wirkung sehr oft durch sinnlich unangenehme Gef\u00fchle erzeugt wird. Und zwar einfach deshalb, weil das Gef\u00fchl f\u00fcr die allgemein menschliche Wahrheit, d. h. eben die Illusion jene sinnliche Unannehmlichkeit aufhebt. Nicht unser Bed\u00fcrfnifs nach starken Affecten \u00fcberhaupt ist ferner der Grund unseres Vergn\u00fcgens an tragischen Gegenst\u00e4nden, sondern dafs diese Affecte ein Object lustvoller Phantasieth\u00e4tigkeit sind. Nat\u00fcrlich wird die Kunst, besonders auf einer gewissen Stufe ihrer Entwickelung, lieber starke als schwache Affecte als Inhalt w\u00e4hlen, schon weil sie damit besser wirken kann. Aber es giebt K\u00fcnstler, die lieber mit schwachen Affecten arbeiten und damit oft die allerfeinsten und h\u00f6chsten Wirkungen erzielen. Ein Mann der starken Affecte ist z. B. Sudermann, ein Mann der schwachen Storm. Wer will entscheiden, ob der eine oder andere principiell auf dem richtigeren Wege ist? Das Ausschlaggebende ist eben in jedem Falle die Kraft, mit der die Gef\u00fchle \u2014 welcher Art sie immer sein m\u00f6gen \u2014 dem Geniefsenden octoyrirt werden. Wenn dieser sich vergifst und mit den Personen lebt, so ist der Zweck erreicht, einerlei ob es besonders starke Charaktere sind, einerlei ob ihr Thun der Mehrzahl der Menschen sympathisch ist oder nicht. Das grofse Problem ist eben das wie es kommt, dafs wir in der Kunst \u00fcberhaupt unangenehme Vorstellungen, \u2022Gef\u00fchle u. s. w. ertragen k\u00f6nnen, wie es kommt, dafs durch Ungl\u00fcck, Schlechtigkeit, H\u00e4fslichkeit, Dissonanz unser Kunstgenufs so wenig gest\u00f6rt, ja meistens sogar noch gesteigert wird. Kein Mensch setzt sich doch freiwillig unangenehmen Eindr\u00fccken aus \u2014 wenn ihn nicht ein anderer positiver Genufs daf\u00fcr entsch\u00e4digt. Und das ist eben die an sich schon lustvolle Illusion, die wie der Zucker bei der bitteren Arznei wirkt. Die St\u00e4rke der Gef\u00fchle allein thut es nicht. Im Gegentheil je st\u00e4rker ein unangenehmes Gef\u00fchl ist, um so weniger sollte man denken, dafs wir uns ihm freiwillig hingeben. Daher kommt es ja auch, dafs so Viele nicht im Stande sind, das Traurige, Unmoralische, H\u00e4fsliche, die Dissonanz u. s. w. in der Kunst zu geniefsen. Sie sind eben nicht \u00e4sthetisch gebildet, d. h. sie haben die specifisch \u00e4sthetische F\u00e4higkeit der Illusion nicht in sich entwickelt, durch die sie zum Genufs dieser unangenehmen Empfindungen bef\u00e4higt werden.\nL\u00e4fst sich aber der Reiz des Tragischen thats\u00e4chlich nur durch den selbst\u00e4ndigen Lustgehalt der Illusion erkl\u00e4ren, so ist es irref\u00fchrend, wenn man seinen Eindruck mit den Schauern eines kalten Bades, dem Brennen eines starken Schnapses, dem Beifsen des Meerrettigs auf der Zunge u. s. w. vergleicht. Denn in allen diesen F\u00e4llen ist von Illusion nicht die Rede. Auch mit dem Kampfinstinkt, der Grausamkeit, der Zerst\u00f6rungslust kommt Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 22.\n4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nBesprechungen.\nman- nicht weiter, denn die gew\u00f6hnlichen Aeufserungen dieser Triebe-schlie\u00dfen ebenfalls die Illusion aus, abgesehen davon, dafs sie roh und \u2018barbarisch sind und schon deshalb nicht zur Erkl\u00e4rung des h\u00f6chsten und feinsten Kunstgenusses herangezogen werden k\u00f6nnen. Ebenso bedenklich ist der Versuch, das Verstand nils des Tragischen dadurch vorzubereiten, dais man auch bei den einfachen Sinnesempfindungen eine Lust an unangenehmen Reizen voraussetzt. Gr. meint damit z. B. die Ger\u00e4usche, die die Kinder beim Spiel hervorbringen, wobei er freilich stillschweigend voraussetzen mufs, dafs diese ihnen ebenso unangenehm sind wie den Erwachsenen. Das ist aber offenbar nicht der Fall. Das Kind und der Primitive w\u00fcrden eben keine Ger\u00e4usche machen, wenn ihnen nicht \u2014 nach der Natur ihres niedrig entwickelten Geh\u00f6rssinns \u2014 das Ger\u00e4usch als solches angenehm w\u00e4re.\nBedenken habe ich ferner gegen die weite Ausdehnung des Spielbegriffs, die der Verf. in dem neuen Buche vertritt. Nach ihm w\u00e4re schliefs-lich jede Handlung, durch die wir uns ohne Zweckbewufstsein eine sinnliche Lust bereiten, ein Spiel. So wird z. B. der Genufs der warmen Sommerluft, des warmen Wassers beim Bade, das Streicheln einer weichen Hand, das Cigarrenrauchen, Austernessen u. s. w. als Spiel bezeichnet. Aber wohin k\u00e4men wir, wenn wir das consequent-durchf\u00fchren wollten? Es ist vielmehr sehr bezeichnend, dafs unser Sprachgebrauch alle Empfindungen, die den niederen Sinnen angeh\u00f6ren, also Tastempfindungen, Temperaturempfindungen und Geschmacksempfindungen aus der Sph\u00e4re des Spiels ausschliefst und nur die Geh\u00f6rs- und Gesichtsempfindungen sowie die Bewegungen dazu rechnet. Wie das zu erkl\u00e4ren ist, was uns \u00fcberhaupt berechtigt, von \u201eh\u00f6heren\u201c und \u201eniederen\u201c Sinnen zu sprechen, mag hier dahingestellt bleiben. Die Thatsache ist nicht zu leugnen und es stimmt damit vollst\u00e4ndig \u00fcberein, wenn unser Sprachgebrauch auch beim \u00e4sthetischen Genufs alle Th\u00e4tigkeiten der niederen Sinne ausschliefst. Der Verf. meint zwar \u2014 \u00fcbereinstimmend mit franz\u00f6sischen Aesthetikern \u2014 dafs der Wohlgeruch, z. B. der Duft k\u00f6lnischen Wassers sehr gut als \u00e4sthetischer Genufia wenn auch niederen Ranges bezeichnet werden d\u00fcrfe und dem Anblick einer sch\u00f6nen Farbe oder dem H\u00f6ren eines sch\u00f6nen TonB parallel stehe. Allein er bedenkt nicht, dafs bei der Farbe und beim Ton der Reiz eben doch nicht blos sinnlich ist, sondern schon in das Gebiet der Association hin\u00fcbergreift, indem die Farbe, der Ton f\u00fcr unser Gef\u00fchl einen bestimmten genau definirbaren Charakter hat.\nBesonders habe ich bedauert, dafs der Verf. das volle Bewufstsein nicht als Merkmal der Spielth\u00e4tigkeit gelten lassen will. Das f\u00fchrt ihn zu der Consequenz, dafs er auch die Reflexhandlungen der S\u00e4uglinge, das Saugen, Strampeln, Daumenlutschen u. s. w. als Spiel auffassen mufs, ja dafs er sogar die Erscheinungen des Traums, der Hypnose, Suggestion, hallucination, Manie, des Rausches und des Fieberwahns wiederholt als Kpielth\u00e4tigkeiten bezeichnet. Auch hier kann ich nur den Sprachgebrauch als sichersten Maafsstab daf\u00fcr anf\u00fchren, dafs alles das kein Spiel ist, dafs vielmehr das volle Bewufstsein als conditio sine qua non f\u00fcr jede Spielth\u00e4tigkeit vorausgesetzt wird. Jedes Spiel ist lustvoll, und keine Lust ist denkbar ohne Bewufstsein. Folglich beginnt das Spiel erst da, wo das Bewufst-","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n51\nsein anl\u00e4ngt. Der Verf. hat ja auch selbst (8. 494) Bedenken ge\u00e4ufsert, ob man die ersten instinktiven Handlungen der S\u00e4uglinge zum Spiel rechnen d\u00fcrfe. Er h\u00e4tte diesen Gedanken nur konsequent durchf\u00fchren sollen. Die-instinktiven Handlungen selbst sind eben kein Spiel. Sie werden erst zum Spiel dadurch, dafa sie wiederholt, d. h. um ihres allm\u00e4hlich erkannten und immer mehr ausgebildeten Lustwerthes willen beliebig oft und mit BewuXstsein ausgef\u00fchrt werden. Instinkt und Bewufstsein sind Gegens\u00e4tze oder besser gesagt, aufeinanderfolgende Entwickelungsstufen. Wo der Instinkt aufh\u00f6rt, f\u00e4ngt das Bewufstsein an. Yom Spiel reden wir erst da, wo dieser Uebergang vollzogen ist. Ich weife wohl, dafs die Grenze zwischen Instinkt und Bewufstsein, zwischen Reflexhandlung und Spiel nicht scharf zu ziehen ist, wie ja \u00fcberhaupt in psychischen Dingen die Erscheinungen allm\u00e4hlich ineinander \u00fcbergehen. Aber wenn man diese Worte \u00fcberhaupt gebrauchen und einen bestimmten Begriff damit verbinden will, sollte man sie wenigstens theoretisch streng auseinanderhalten.\nNat\u00fcrlich zeigt der Verf. in Folge dessen auch eine gewisse Neigung, das Wesen der Kunst durch Vergleiche mit der Suggestion, dem Rausch u. s. w. zu erkl\u00e4ren. Ich kann darin nur wiederum eine unberechtigte Concession an die franz\u00f6sische Aesthetik sehen. Es giebt nichts Klareres, Bewufsteres und Gesunderes als die Kunst und den Kunstgenufs. Nur Mystiker und unklare Menschen \u2014 zu denen der Verf. sonst gl\u00fccklicherweise nicht geh\u00f6rt \u2014 glauben an das \u201eunbewufste traumhafte\u201c Schaffen des K\u00fcnstlers und suchen diesem ihre eigene Unklarheit zu imputiren. Wer selbst gewohnt ist, klar zu denken, l\u00e4fst sich dadurch nicht irref\u00fchren.\nLeider kann ich aus dem Buche nicht ersehen, wie sich der Verf. das Verh\u00e4ltnifs seiner \u201einneren Nachahmung\u201c zu meiner \u201ebewufsten Selbstt\u00e4uschung\u201c denkt. Er h\u00e4lt die letztere offenbar f\u00fcr ein fruchtbares Princip, ohne aber seine innere Nachahmung aufzugeben. Wie es scheint ist er der Ansicht, dafs beide sich ganz gut mit einander vertragen. Das wird sich nun aber doch nicht auf die Dauer festhalten lassen, da es sich ja hier that-s\u00e4chlich um dasselbe psychische Problem handelt, das eben nur eindeutig erkl\u00e4rt werden kann. Und es ist nat\u00fcrlich mein Interesse, nachzuweisen, dafs die bewufste Selbstt\u00e4uschung so wie ich sie beschrieben habe, das \u00e4sthetische Problem besser erkl\u00e4rt als die innere Nachahmung, die Association, Einf\u00fchlung u. s. w. Ausf\u00fchrlich werde ich diesen Nachweis nat\u00fcrlich in dem ersten Bande meines im n\u00e4chsten Jahr erscheinenden Buches \u00fcber \u201edas Wesen der Kunst\u201c f\u00fchren. Hier will ich nur auf einige Punkte, die der Verf. gegen meine Beschreibung einwendet, n\u00e4her eingehen.\nSchon in den Spielen der Thiere, dann wieder in dem neuen Werke hat Gr. gegen meine Auffassung, dafs beim \u00e4sthetischen Genufs ein zeitweise volles Bewufstsein der Scheinth\u00e4tigkeit bestehe, dafs das Bewufstsein des Geniefsenden gewissermaafsen zwischen Schein und Realit\u00e4t hin und her oscillire, zwei Bedenken geltend gemacht. Erstens sei der Genufs thats\u00e4ch-lich dann am gr\u00f6fsten, wenn man sich ganz vergesse, vollkommen in der Illusion aufgehe. Zweitens m\u00fcsse man bei meiner Auffassung annehmen, dafs die Illusion umso gr\u00f6fser w\u00e4re, je n\u00e4her das Scheinbild (z. B. die\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nBesprechungen.\nPuppe) der Natur stehe. Das treffe aber keineswegs zu, denn ein M\u00e4dchen k\u00f6nne z. B. ein Sophakissen ebensogut als Kind ansehen wie eine Puppe. Gr. schliefst daraus, dafs es sich beim Illusionsspiel (und dem entsprechend nat\u00fcrlich auch beim \u00e4sthetischen Genufs) um eine Art Suggestion handle, und nimmt f\u00fcr den \u00e4sthetischen Zustand eine Zweitheilung des Bewufist< seins an, ein gleichzeitiges Nebeneinanderbestehen eines Ober- und Unter--bewufstseins, eines Scheinichs und eines realen Ichs. Das Scheinich gehe ganz in der Illusion auf, das reale Ich dagegen habe w\u00e4hrend des \u00e4sthetischen Genusses eine deutliche Vorstellung \u201edas ist nur Schein\u201c. Und diese Vorstellung, und das aus ihr resultirende Freiheitsgef\u00fchl dr\u00fccke auch w\u00e4hrend der tiefsten Versunkenheit dem Schein den Stempel des \u201eipse feci\u201c auf, der vor der T\u00e4uschung sch\u00fctze.\nIch weifs nicht, ob die Sache dadurch klarer wird. Nach meinen Begriffen von Psychologie ist ein gleichzeitiges Nebeneinanderbestehen zweier Ichs ein psychologisches Unding. Das Ichgef\u00fchl, d. h. das Bewufstsein ist eben etwas Einheitliches, das liegt in seinem Wesen, geh\u00f6rt gewissermaafsen zu dem Begriff des Ichs, soweit dieses \u00fcberhaupt gesund ist. Der Inhalt des Bewufstseins kann wohl wechseln, von Secunde zu Secunde ein anderer werden, aber das Ich selbst bleibt immer dasselbe. Das Beispiel von Ver-gefslichkeit oder Gedankenlosigkeit, das Gr. in seinen Spielen der Thiere anf\u00fchrt, um die M\u00f6glichkeit eines Doppelichs zu beweisen, ist absolut kein Beweis f\u00fcr ein solches, sondern nur daf\u00fcr, dafs die Aufmerksamkeit die wir einer bestimmten Gruppe von Erscheinungen widmen, zeitweise fast ganz versinken kann gegen\u00fcber einer anders gerichteten Aufmerksamkeit. Hier h\u00e4tten wir also gerade das Hin- und Heroscilliren, das ich bei meiner Theorie angenommen habe. Das, was Gr. Hin\u00fcberwirken aus dem Oberbe wufstsein in das Unterbewufstsein und umgekehrt nennt, ist eben that-s\u00e4chlich nichts anderes als ein Wechsel des Bewufstseinsinhalts, d. h. eben, ein Oscilliren nach der Art des von mir angenommenen, wobei nat\u00fcrlich, wie Gr. ganz richtig bemerkt, nicht an eine gleichm\u00e4fsige rhythmische Pendelbewegung gedacht werden darf. Ich gebe gern zu, dafs die Illusion zeitweise eine sehr starke und verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig langdauemde sein kann, ja sogar sein mufs, dafs \u00fcberhaupt die Illusionszust\u00e4nde l\u00e4nger dauern als die Momente, in denen das Scheinbewufstsein aufblitzt. Aber ich behaupte, dafs die Illusion nicht w\u00e4hrend des ganzen \u00e4sthetischen Genusses andauem kann. Denn die Erfahrung lehrt, dafs wenn dies der Fall ist, wenn also Schein und Wirklichkeit zusammenfallen, der Kunstgenufs aufh\u00f6rt.\nWas aber den Einwand betrifft, dafs ein Kind auch ein Kissen f\u00fcr eine Puppe nehmen k\u00f6nne, so will der wenig besagen. Denn damit ist doch, nur bewiesen, dafs das betreffende Kind eine besonders starke Illusionsf\u00e4higkeit hat. Andere Kinder haben eine geringere und brauchen vielleicht, um in Illusion versetzt zu werden, eine realistisch ausgef\u00fchrte Puppe. Die Illusionsf\u00e4higkeit ist doch etwas ganz Subjectives, waB bei den einzelnen Individuen verschieden entwickelt sein kann. Wie kann man daraus schliefsen, dafs das Kind, das ein Kissen f\u00fcr eine Puppe h\u00e4lt, einer Art Suggestion unterliege? Warum soll es ihr mehr unterliegen als das Kind, das mit einer wirklichen Puppe spielt? Sowohl das Kissen wie die Puppe haben illusionsst\u00f6rende Momente an sich, die das Kind immer wieder aus","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n53\nder Iliasion herausreifsen, wenn es sich ihr \u00fcberhaupt einmal hingegeben hat. Ich kann nicht einsehen, inwiefern das gegen meine Theorie von einem Wechsel des Bewufstseinsinhalts sprechen soll. Was aber den von Lipp8 gemachten Einwand betrifft, dafs ein solches Hin* und Herschwanken, wie ich es f\u00fcr das Bewufstsein annehme, nothwendig unlusterregend sein m\u00fcsse, so l\u00e4fst mich dieser Einwand erst recht kalt. Warum soll ein nach bestimmten Gesetzen sich vollziehender Wechsel der Vorstellungen unlust-erregend sein, wenn z. B. im k\u00f6rperlichen Leben schwankende und schwebende Zust\u00e4nde in der Regel \u2014 ich erinnere nur an das Tanzen, Schaukeln, Reiten u. s. w. \u2014 lusterregend sind?\nUm nun auf den Unterschied der \u201einneren Nachahmung\u201c von der \u201ebe* wulisten Selbstt\u00e4uschung\u201c zu kommen, so ist nach der neuen Formulirung von Groos seine \u201einnere Nachahmung\u201c nicht nur eine Gehirnth\u00e4tigkeit, sondern auch ein k\u00f6rperlicher Vorgang. Das nachahmende Einf\u00fchlen oder Beleben geschieht nicht nur mit dem Centralorgan, d. h. in der Vorstellung, sondern geradezu mit dem K\u00f6rper. Gr. betont dabei besonders das Moment der Bewegung, aber es ist nur consequent, wenn man daneben auch die sensorische Seite mit in Betracht zieht. Das thut z. B. Volkelt, der annimmt, dafs bei der \u00e4sthetischen Anschauung der ganze leibliche Mensch in Th\u00e4tig-keit gerathe. Nach ihm w\u00e4re der \u00e4sthetische Genufs gleichzeitig wirkliche \u2014 wenn auch geringe \u2014 Bewegung, wirkliche \u2014 wenn auch geringe \u2014 Geschmacks-, Geruchs-, sexuelle u. s. w. Empfindung.\nDem gegen\u00fcber kann ich nur m\u00f6glichst entschieden betonen, dafs die \u201ebewufste Selbstt\u00e4uschung\u201c ein rein psychischer Vorgang, eine rein centrale Th\u00e4tigkeit ist. Ich nehme an, dafs der \u00e4sthetisch reife und feinf\u00fchlige Mensch beim Betrachten eines Ornamentes zwar eine BewegungsVorstellung hat, aber keine wirklichen Kopfbewegungen macht, dafs er beim Anh\u00f6ren rhythmischer Musik nicht mit dem Kopf nickt und mit den Fttfsen den Takt tritt, bei der Anschauung eines Tanzes keine Muskelzuckungen bekommt. Dafs ihm beim Anblick eines Fruchtst\u00fcckes kein Wasser im Munde zusammenl\u00e4uft, beim Anblick eines Blumenst\u00fcckes kein Duft in die Nase steigt, dafs ihn der Anblick einer Venusstatue nicht sexuell reizt. Ich weifs sehr wohl, dafs dies in der Praxis doch manchmal der Fall ist, aber wo es der Fall ist, da setze ich \u2014 die Herren m\u00f6gen mir verzeihen \u2014 ein niederes \u00e4sthetisches Verst\u00e4ndnifs voraus, aus dem ich wenigstens keine allgemeinen Gesetze ableiten m\u00f6chte. Ich leugne die von Groos und Volkelt beschriebene \u00e4sthetische Anschauungsweise nicht, ich leugne nur, dafs sie die normale und h\u00f6here ist.\nFerner vermisse ich bei der \u201einneren Nachahmung\u201c die klare Erkennt-nifs der Thatsache, dafs jede \u00e4sthetische Illusion aus zwei verschiedenen im Bewufstsein von einander getrennten Vorg\u00e4ngen besteht. Das geht schon aus des Verf.\u2019s Kritik meiner Oscillationstheorie oder besser gesagt meines Oscillationsbildes hervor. Gr. mufs den Wechsel des Bewufstseins-inhalts leugnen, weil bei der inneren Nachahmung \u2014 und ebenso bei der Einf\u00fchlung, \u00e4sthetischen Belebung u. s. w. \u2014- das Wahrnehmungsbild, durch welches der Kunstgenufs hervorgerufen wird, mit dem Erinnerungsbild, das dadurch erweckt wird, zusammenschmilzt. Nach meiner Theorie erfolgt aber gerade keine Verschmelzung, sondern die beiden Bilder bleiben im Bewufstsein","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"\u00d64\nBesprechungen.\ngetrennt, m\u00fcssen im Bewusstsein getrennt bleiben, wenn ein Kunstgenufo zu Stande kommen soll. Die von der Phantasie vollzogene Erg\u00e4nzung des Scheinbildes zur Wirklichkeit, der Copie zum Original ist nur ein Versuch der Verschmelzung, keine wirkliche Verschmelzung. Dadurch unterscheidet sich die k\u00fcnstlerische Illusion auch vom Wiedererkennen, worin z. B. Aristoteles das Wesen des Kunstgenusses Behen wollte. Wenn ich einen Gegenstand, den ich fr\u00fcher schon einmal gesehen habe, noch einmal (im Original oder einem zweiten Exemplar) wiedersehe, so verschmelze ich beide Bilder in meinem Bewufstsein zu einem. Wenn ich aber das Bild eines Menschen sehe, den ich fr\u00fcher in Person gekannt habe, so entsteht keine Verschmelzung, sondern nur der Versuch einer Verschmelzung, da ich ja ganz genau weifs, dafs das, was ich da sehe, nur ein Bild ist. Und das ist ein wesentlicher Unterschied. Insofern die beiden Bilder im Bewufstsein getrennt bleiben, n\u00e4hert sich die bewufste Selbstt\u00e4uschung der Association. Aber diese ist mehr ein kaltes \u00e4ufserliches Nebeneinander, w\u00e4hrend die bewufste Selbstt\u00e4uschung als Versuch einer Verschmelzung \u00abin sehr lebhafter psychischer Akt ist, der wohl geeignet scheint, einen selbst\u00e4ndigen und \u00fcberwiegenden Lustwerth zu besitzen. Man wird freilich auch hier einwenden, ein solcher Versuch, demie gelingt und nie gelingen darf, sei eine Sisyphusqual, nicht ein \u00e4sthetischer Genufs. Allein man k\u00f6nnte gerade aus dem Gebiete des Spiels eine Menge Beispiele daf\u00fcr anf\u00fchren, dafs Versuche auch ohne Resultat, um des Lustwerths der Arbeit willen, gemacht werden, ja dafs manche Spiele ihrem Wesen nach nichts anderes als fortgesetzte mifslungene Versuche sind.\nMan sieht jetzt auch, dafs die bewufste Selbstt\u00e4uschung durchaus nicht mit Phantasie \u00fcberhaupt identisch, sondern eine ganz bestimmte Form der Phantasieth\u00e4tigkeit ist. Wie sich dies Princip auf die verschiedenen \u00e4sthetischen Erscheinungen, z. B. den Glanz, die Metapher, den Witz, das Erhabene, Komische u. s. w. anwenden l\u00e4fst, kann ich hier nat\u00fcrlich nicht ausf\u00fchren. Man mufs mir bis auf Weiteres schon glauben, wenn ich sage dafs hier der Schl\u00fcssel f\u00fcr das Verst\u00e4ndnifs aller \u00e4sthetischen Fragen liegt. Jedenfalls sieht man aber schon aus dem Gesagten, bis zu welchem Punkte ich mit dem Verf. gehen kann und wo sich unsere Wege scheiden. Denn nat\u00fcrlich h\u00e4ngen von dieser Differenz eine Menge Einzelfragen ab und ich m\u00fcfste die allgemeinen \u00e4sthetischen Er\u00f6rterungen des Verf.'s Satz f\u00fcr Satz durchgehen, wenn ich zeigen wollte, wie sich die Dinge in meiner Beleuchtung darstellen. Wer ein eigenes System hat, ist eben wenig geeignet, Recensionen zu schreiben.\tK. Lajjge (T\u00fcbingen).\nMa\u00fcbice de Fleubt. Introduction \u00e0 la m\u00e9decine de l'esprit- 5. \u00e9dit. Paris, Felix Alcan, 1898. 477 S.\nFleury\u2019s Einf\u00fchrung in die Medicin des Geistes wurde von der franz\u00f6sischen Akademie gekr\u00f6nt, und vor uns liegt die f\u00fcnfte Auflage, beides Beweise, dafs wir es hier mit einem Werke zu thun haben, welches in Frankreich nicht unbeachtet geblieben ist und auch unsere Beachtung ver -dient, und dies vielleicht um so mehr, als es so durch und durch franz\u00f6sisch ist, vollendet in der Form, oft fast auf den Bahnen einer geistreichen Causerie, immer aber fesselnd und interessant.","page":54}],"identifier":"lit31138","issued":"1900","language":"de","pages":"47-54","startpages":"47","title":"Karl Groos: Die Spiele der Menschen. Jena, Fischer, 1899. 539 S.","type":"Journal Article","volume":"22"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:15:04.602524+00:00"}

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