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Maurice de Fleury: Introduction à la médecine de l'esprit. 5. édit. Paris, Felix Alcan, 1898. 477 S.

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{"created":"2022-01-31T16:15:56.112747+00:00","id":"lit31139","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22: 54-60","fulltext":[{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"\u00d64\nBesprechungen.\ngetrennt, m\u00fcssen im Bewusstsein getrennt bleiben, wenn ein Kunstgenufo zu Stande kommen soll. Die von der Phantasie vollzogene Erg\u00e4nzung des Scheinbildes zur Wirklichkeit, der Copie zum Original ist nur ein Versuch der Verschmelzung, keine wirkliche Verschmelzung. Dadurch unterscheidet sich die k\u00fcnstlerische Illusion auch vom Wiedererkennen, worin z. B. Aristoteles das Wesen des Kunstgenusses Behen wollte. Wenn ich einen Gegenstand, den ich fr\u00fcher schon einmal gesehen habe, noch einmal (im Original oder einem zweiten Exemplar) wiedersehe, so verschmelze ich beide Bilder in meinem Bewufstsein zu einem. Wenn ich aber das Bild eines Menschen sehe, den ich fr\u00fcher in Person gekannt habe, so entsteht keine Verschmelzung, sondern nur der Versuch einer Verschmelzung, da ich ja ganz genau weifs, dafs das, was ich da sehe, nur ein Bild ist. Und das ist ein wesentlicher Unterschied. Insofern die beiden Bilder im Bewufstsein getrennt bleiben, n\u00e4hert sich die bewufste Selbstt\u00e4uschung der Association. Aber diese ist mehr ein kaltes \u00e4ufserliches Nebeneinander, w\u00e4hrend die bewufste Selbstt\u00e4uschung als Versuch einer Verschmelzung \u00abin sehr lebhafter psychischer Akt ist, der wohl geeignet scheint, einen selbst\u00e4ndigen und \u00fcberwiegenden Lustwerth zu besitzen. Man wird freilich auch hier einwenden, ein solcher Versuch, demie gelingt und nie gelingen darf, sei eine Sisyphusqual, nicht ein \u00e4sthetischer Genufs. Allein man k\u00f6nnte gerade aus dem Gebiete des Spiels eine Menge Beispiele daf\u00fcr anf\u00fchren, dafs Versuche auch ohne Resultat, um des Lustwerths der Arbeit willen, gemacht werden, ja dafs manche Spiele ihrem Wesen nach nichts anderes als fortgesetzte mifslungene Versuche sind.\nMan sieht jetzt auch, dafs die bewufste Selbstt\u00e4uschung durchaus nicht mit Phantasie \u00fcberhaupt identisch, sondern eine ganz bestimmte Form der Phantasieth\u00e4tigkeit ist. Wie sich dies Princip auf die verschiedenen \u00e4sthetischen Erscheinungen, z. B. den Glanz, die Metapher, den Witz, das Erhabene, Komische u. s. w. anwenden l\u00e4fst, kann ich hier nat\u00fcrlich nicht ausf\u00fchren. Man mufs mir bis auf Weiteres schon glauben, wenn ich sage dafs hier der Schl\u00fcssel f\u00fcr das Verst\u00e4ndnifs aller \u00e4sthetischen Fragen liegt. Jedenfalls sieht man aber schon aus dem Gesagten, bis zu welchem Punkte ich mit dem Verf. gehen kann und wo sich unsere Wege scheiden. Denn nat\u00fcrlich h\u00e4ngen von dieser Differenz eine Menge Einzelfragen ab und ich m\u00fcfste die allgemeinen \u00e4sthetischen Er\u00f6rterungen des Verf.'s Satz f\u00fcr Satz durchgehen, wenn ich zeigen wollte, wie sich die Dinge in meiner Beleuchtung darstellen. Wer ein eigenes System hat, ist eben wenig geeignet, Recensionen zu schreiben.\tK. Lajjge (T\u00fcbingen).\nMa\u00fcbice de Fleubt. Introduction \u00e0 la m\u00e9decine de l'esprit- 5. \u00e9dit. Paris, Felix Alcan, 1898. 477 S.\nFleury\u2019s Einf\u00fchrung in die Medicin des Geistes wurde von der franz\u00f6sischen Akademie gekr\u00f6nt, und vor uns liegt die f\u00fcnfte Auflage, beides Beweise, dafs wir es hier mit einem Werke zu thun haben, welches in Frankreich nicht unbeachtet geblieben ist und auch unsere Beachtung ver -dient, und dies vielleicht um so mehr, als es so durch und durch franz\u00f6sisch ist, vollendet in der Form, oft fast auf den Bahnen einer geistreichen Causerie, immer aber fesselnd und interessant.","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n55\nUm einen Ueberblick \u00fcber dae merkw\u00fcrdige Buch zu gewinnen, werden wir am besten thun, dem Verl auf seinem Gange zu folgen und den Inhalt der einzelnen Capitel wiederzugeben. Gegen\u00fcber der drohenden Verflachung der medicinischen Wissenschaft verlangt Fleuby mit Recht eine Vertiefung. Man m\u00fcsse der Theorie ihr Recht zur\u00fcckgeben, und nicht nur Dressur, auch allgemeine Bildung soll sich der Arzt zu erwerben suchen.\nWer zeigt heute ein Interesse f\u00fcr die Geschichte der Medicin oder gar f\u00fcr medicinische Psychologie, und doch kann das medicinische Wissen, das sich \u00dcberall in das \u00f6ffentliche Leben eindr\u00e4ngt, auf die Dauer nur durch Geistesbildung auf seiner H\u00f6he erhalten werden. Deshalb will der Verf. im ersten Theile seines Buches eine Uebersicht \u00fcber die Ideen geben, die ihre Verbreitung den Aerzten der neuesten Zeit verdanken, um in dem zweiten die Folgerungen zu entwickeln, die sich aus jenen Ideen ergeben, die Moral und Seelenheilkunde der Zukunft.\nNicht alle Aerzte unterliegen der Krankheit der Zeit, jede neue Entdeckung sofort auf dem Wege der Tagespresse hinauszuschleudern und zum Gemeingute der Masse zu machen, CIiabcot z. B. arbeitete langsam \u2022und methodisch, und das Geheimnifs seines Erfolges war, dafs er alles Complicirte \u201eseinen Vettern\u201c \u00fcberliefs und sich an die einfachsten Dinge hielt. In gleicher Weise will Fleuby Vorgehen.\nAn der Hand wissenschaftlich beobachteter und zweifellos festgestellter Thatsachen will er sich zun\u00e4chst mit dem Mesmerismus auseinandersetzen und den Nachweis liefern, dafs unter dem Einfl\u00fcsse hysterischer oder somnambuler Trugwahmehmungen vasomotorische St\u00f6rungen auftreten k\u00f6nnen, die zu k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen nach der Art der Verletzungen u. dergl. f\u00fchren.\nGenau so war es in den Hexenprocessen. Nichts hat sich seit jener Zeit ge\u00e4ndert als der Glaube und die Art der Bezeichnung.\nWas man jetzt als eine Krankengeschichte bezeichnen w\u00fcrde, nannte man zu jener Zeit einen Procefs, die Hemian\u00e4sthesie hiefs sigillum diaboli und der Louis von heute ist der Isaacaron von dazumal. Das Wunder hat von je eine merkw\u00fcrdige Neigung zu Dingen gehabt, die sich auch auf nat\u00fcrlichem Wege erkl\u00e4ren lassen, und man findet an den Weihealt\u00e4ren der Kirchen wohl Kr\u00fccken aufgeh\u00e4ngt, aber sicherlich kein h\u00f6lzernes Bein. Dem heilenden Glauben sind nun einmal seine Grenzen dort vorgezeichnet, \u2022Wo der Einflufs der Vorstellungen ein Ende hat, und er h\u00f6rt heutzutage auf den Namen der Suggestion.\nDas ist nun einmal nicht zu \u00e4ndern, wenn er auch trotzdem noch heute seine Kraft behalten hat, die er vor Jahrtausenden besessen.\nDarf man zum Zwecke eines Gest\u00e4ndnisses einen Angeschuldigten hypnotisiren? Abgesehen davon, dafs das Gest\u00e4ndnifs auf dem freien Willen beruhen soll, m\u00fcfste es erst \u00fcber allen Zweifel erhaben sein, ob der Hypnotisirte unbedingt die Wahrheit sagt.\nWer aber m\u00f6chte das behaupten? Wenn es aber keine Folter mehr giebt, wird man den Wiederstand des Richters begreifen und ihn nicht gleich des Festhaltens am alten Zopfe beschuldigen, wenn er sich str\u00e4ubt,","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nBesprechungen.\nderartigen Laboratoriumsexperimenten Eingang in die Praxis der Gerichte-zu gew\u00e4hren.\nWohl aber wird man ihm jenen Vorwurf machen d\u00fcrfen, wenn er ia anderen Punkten hinter den Fortschritten der Wissenschaft zur\u00fcckgeblieben ist und ihren Forderungen sein non possumus entgegenstellt. Trotz alles-Haders \u00fcber die freie Willensbestimmung wird es Niemandem beikommen,, die richterliche Verantwortlichkeit, den freien Willen in rechtlichem Sinne in Frage zu stellen, wenn wir auch andererseits in der Praxis den Wunsch nach Stufen der Verantwortlichkeit nicht unterdr\u00fccken k\u00f6nnen. Ebensowerden sich Jurist und Mediciner \u00fcber den Begriff des angeborenen Verbrechers verst\u00e4ndigen m\u00fcssen. Dafs es derartige minderwerthige Individuen, giebt, die Dank ihrer unvollkommenen Constitution den Anforderungen des Lebens weniger Widerstand zu leisten verm\u00f6gen, und daher zur Begehung von Verbrechen mehr geneigt sind, wird man Lombboso zugestehen m\u00fcssen, obwohl Fle\u00fcry als echter Franzose, der nicht verstehen kann,, wie etwas auf einem anderen Wege, als von aufsen in ihn hineingebracht werden kann, die Ursachen mehr in dem milieu social sucht, im Alkohol und dem Ueberwuchern des religi\u00f6sen Unglaubens, als in der angeborenen Natur der betreffenden Person.\nDieser Anschauung entsprechend wird das Heilmittel in der Entfernung von der Heimath und der Verschickung in ein anderes Milieu gefunden. Es soll aus jenen Minderwerthigen eine Colonialarmee gebildet werden, um die Segnungen der heimathlichen Cultur nach dem Senegal oder nach Madagaskar zu verpflanzen, wobei der stillen Hoffnung Baum gegeben wird, dafs die Ueberbringer der Cultur dem heimathlichen Boden dauernd fern bleiben m\u00f6chten.\nNoch reicher gestaltete sich das Verh\u00e4ltnis der Aerzte zu der Literatur. Der Verf. hat seiner Zeit eine Preisaufgabe \u00fcber den Tabak und seinen Einflufs auf die Zukunft der franz\u00f6sischen Literatur gel\u00f6st, und er theilt uns hier die Ergebnisse seiner Forschungen mit.\nDer Schriftsteller ist durchweg nerv\u00f6s und er ist es durch die Art seines Lebens und seiner Th\u00e4tigkeit, nicht etwa umgekehrt. Der Nerv\u00f6se aber kann den Tabak nicht vertragen. Bekanntlich herrscht in diesen Dingen die Neigung vor, das Urtheil von der pers\u00f6nlichen Liebhaberei abh\u00e4ngig zu machen, der Raucher lobt, der Nichtraucher tadelt. Soviel aber kann als feststehend angenommen werden, dafs die Nichtraucher die That-kr\u00e4ftigeren, Geistreicheren und T\u00fcchtigeren sind.\nNebenbei erfahren wir, wer von den heutigen Schriftstellern raucht und wer es bleiben l\u00e4fst.\nIm Uebrigen konnten die Schriftsteller von 1830 mehr vertragen. Die heutigen sind fast ohne Ausnahme nerv\u00f6s und neurasthenisch, und kaum, einer ist unter ihnen, der nicht magenleidend w\u00e4re. Hieraus erkl\u00e4rt sich: ihre Sucht nach dem Sonderbaren, Auffallenden, Abweisenden, nach dem Buddhismus, dem Neukatholicismus u. dergl. mehr. Sie geh\u00f6ren zum. Theil zu jener Classe von Menschen, die man als d\u00e9g\u00e9n\u00e9r\u00e9s sup\u00e9rieurs bezeichnet. und wenn wir Aerzte uns ein Urtheil \u00fcber sie zuerkennen, so thun wir dies auf Grund unserer wissenschaftlichen und apeciell unserer medicinisch wissenschaftlichen Kenntnisse.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\nbl\nVon besonderem Interesse ist die Schilderung der Bewegung, welche diese Kreise nach der Erkrankung Maupassant\u2019s ergriff, der bei einer ausgesprochenen erblichen Belastung dem Gen\u00fcsse von Aether ergeben war.\nErblichkeit und Intoxication sind an sich eine hinreichende Erkl\u00e4rung f\u00fcr den geistigen Zusammenbruch eines Menschen, ohne dafs man hierf\u00fcr das Metier eines Schriftstellers in Anspruch zu nehmen braucht. Ein Schriftsteller, der n\u00fcchtern und nicht erblich belastet ist, wird schwerlich geisteskrank, und zudem steht die Geisteskrankheit dort, wo sie auftritt, in keinem directen Verh\u00e4ltnisse zur H\u00f6he des Talentes oder zu seiner besonderen Natur, noch auch zur Gr\u00f6fse der Arbeit und den Schwierigkeiten des Lebens.\nWenn auch manche Menschen von literarischem Verdienste nachweislich verschroben und sonderbar sind, so ist das Genie trotz alledem nie and nimmer eine Neurose oder gar eine epileptische Neurose. Das Beste hier\u00fcber hat uns Toulouse in seiner famosen Analyse Zola\u2019s geliefert, und wer sich in dem Gewirre von Schulen und Namen \u00fcberhaupt ausfinden will, mufs zum Mindesten ein Gelehrter, wenn nicht ein Mediciner sein. Der Seelenarzt allein kann aus den Zeilen des Schriftstellers sein psychisches Geschehen herauslesen, und dieser Art der Kritik geh\u00f6rt die Zukunft. Fi\u00e6\u00fcby kn\u00fcpft hieran die Frage, welche Art der Th\u00e4tigkeit h\u00f6her zu veranschlagen sei, die des schaffenden oder des kritischen Geistes. Die Art des Geschehens n\u00e4mlich ist bei beiden eine grundverschiedene. Der erstere schafft, und jeder Sinneseindruck gestaltet sich zu einem Bilde, das er sich wiederzugeben bem\u00fcht. Er ahmt die Natur nach. Daher lesen Dichter kaum die Werke Anderer. Beim Kritiker gestaltet sich der Denkprocefs reicher, vielfacher, er bedarf der Belesenheit, des Vergleiches, der Belehrung. Trotzdem neigt sich die Waage auf die Seite des schaffenden Genies und nicht auf die des kritisirenden, und wir sehen, wie grofse Kritiker sehr bald zum Schaffen \u00fcbergehen. Boubqet, A. France, J. La-ilaitbe, Lessing u. A.\nIn dem Capitel \u00fcber den Arzt und die Psychologie giebt er eine kurze und recht klare Uebersicht \u00fcber den Aufbau des Gehirns und besonders \u00dcber Neurone und die Localisation. Ueber das Erkennbare hinaus gehe die Wissenschaft nicht, dort seien ihre Grenzen. Die Seele sei ihrer Natur nach unerkennbar und daher kein Gegenstand der wissenschaftlichen (medicinischen) Forschung. Aus diesem Grunde k\u00f6nne zwischen Medicin und Religion eigentlich kein Streit bestehen.\nDas letzte Capitel des ersten Theiles handelt \u00fcber die menschliche Erm\u00fcdung und Kraft. Der moderne Feind des Menschen ist die Erm\u00fcdung, die ihn bei jedem \u00e4ufseren Reize ergreift. Daher das Bed\u00fcrfnifs nach Ruhe, das] sich in wilden und erregten Zeiten zum Zuge nach dem Kloster steigern konnte.\nDiese Erm\u00fcdbarkeit tritt besonders dann hervor, wenn das Gehirn ohnehin geschw\u00e4cht oder minderwerthig ist. Die grofsen Schriftsteller arbeiteten regelm\u00e4fsig und waren m\u00e4fsig. Man begeht einen Irrthum, wenn man glaubt, dafs man sich von einer geistigen Ueberanstrengung durch k\u00f6rperliche Arbeit erholen k\u00f6nne, denn die Erm\u00fcdung ist mehr ein","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nBctyrcr\u00e0nngra.\ncerebrales als ein muskul\u00e4res Symptom. Das ohne Unterbrechung arbeitende Herz erm\u00fcdet nie.\nDagegen findet Fletkt ein Mittel zur Herstellung der verlorenen Kraft in der Injection eines Serams, dem er einen grafen Werth beimiist, auf dessen Werth oder Unwerth wir indes an dieser Stelle nicht n\u00e4her einzugehen haben.\nIn seinem zweiten Theile entwickelt der Verf. die Grundz\u00fcge einer medicinischen Moral, nnd gleich sein erstes Capitel Cap. VI \u201eDie Faulheit nnd ihre Behandlung\" ist eine pr\u00e4chtige Leistung nnd werth, nicht nnr gelesen, sondern auch beherzigt nnd befolgt zu werden. Die Zahl der Tr\u00e4gen ist Legion and ihre Ursache meist die Erm\u00fcdbarkeit, die Neurasthenie. Der Tr\u00e4ge ist durchweg ein Neurastheniker, und daher ist seine Behandlung gleichbedeutend mit der Hygiene des Nervensystems. Mancher der gr\u00f6fsten Arbeiter des Geistes war von Haus aus tr\u00e4ge und arbeitsunf\u00e4hig \u2014 Dabwiv, Zola, Balzac, nnd wenn sie es trotzdem zu jenen Erfolgen gebracht haben, die unsere Bewunderung herausfordern, so haben sie dies nur auf dem Wege der Energie, der Gewohnheit und der Regelm\u00e4\u00dfigkeit erreicht. Bei vielen bedurfte es des \u00e4ufseren Antriebes, ohne diesen w\u00fcrden sie aus eigener Kraft es zu nichts gebracht haben. Bei dem einen war es der Lehrer oder der Freund, bei dem anderen die Eltern oder die Frau, die ihm zum \u00e4ufseren Anstofse wurden, und sollten wir Aerzte zu dieser Aufgabe berufen werden, dann d\u00fcrfen wir keinen Augenblick au\u00dfer Acht lassen, dafs hier nur die genauesten Vorschriften, die strengste Regelung des Lebens eine HeiluDg in Aussicht stellen. Stundenzettel, K\u00fcchenzettel, Arbeitszettel, jeder auf das Sorgf\u00e4ltigste ausgearbeitet, das mufs unsere Aufgabe sein.\nDabei werden wir uns immer wieder davon zu \u00fcberzeugen haben, dafs unsere Vorschriften auf das Genaueste befolgt und ausgef\u00fchrt werden. Wenig Arznei und leichte Speisen, vor Allem aber den Ideen einen Inhalt zu geben, eine einzige, m\u00e4chtig treibende Idee an die Spitze zu stellen, den Beruf des Tr\u00e4gen finden, ihn aus seiner Tr\u00e4gheit aufzur\u00fctteln und auf die richtige F\u00e4hrte bringen.\nUnd dann die Alles besiegende Macht der Gewohnheit.\nDie grofsen M\u00e4nner arbeiteten regelm\u00e4fsig, stets zu derselben Stunde, stets w\u00e4hrend der gleichen Zeit. Wann und wie? Am zweckm\u00e4fsigsten des Morgens, und zwar sofort nach dem Aufstehen, ohne Zwischenfall. Abends ist es zu unsicher, und der moderne Mensch hat eigentlich nur die ersten Morgenstunden f\u00fcr sich. Wie lange? Nicht zu lange und im Anf\u00e4nge sicherlich nicht mehr als eine Stunde.\nWas? Das ist sehr individuell. Im Allgemeinen empfiehlt es sich, mehr von sich zu geben, als in sich hinein zu nehmen. Der Schaffende ist lebensfreudiger, der Andere h\u00e4ufig ein Pessimist. In gleicher Weise geht Flfxry auf die Behandlung der Traurigkeit ein. Schmerz und Traurigkeit sind die Zeichen einer mangelnden Ern\u00e4hrung, einer Ersch\u00f6pfung des Gehirns. Es gilt daher die Traurigen zu st\u00e4rken und ihren verminderten Blutumlauf wieder in den Gang zu bringen. Ich bin furchtsam und niedergeschlagen, weil die Spannkraft meiner Muskeln herabgesetzt ist, und ich bin furchtlos und hochgemuth, weil ich mich kr\u00e4ftiger f\u00fchle, als meine","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n59\nFeinde. Daher die Wirksamkeit der sogenannten tonischen Mittel, del oben erw\u00e4hnten Injectionen, der Abreibungen, des Frottirens und der 'Massage.\nDaneben erweisen sich geistige Anregung, Musik, Kunst u. dgl. wirksam.\nDiese Behandlung des seelischen Schmerzes mit kalten Abreibungen nnd Massage wird Manchem etwas krafs erscheinen, und von dem folgenden Capitel, das \u00fcber Liebe und Eifersucht handelt, kann man dreist dasselbe behaupten.\nDie Liebe, wie sie Stendhal und A. Daudet (Sappho) beschrieben haben, als Leidenschaft, wirkt ganz in der Art der Gifte, wie Tabak, Morphium und Alcohol, durch Angew\u00f6hnung, Gewohnheit, Unterjochung des Willens, Unm\u00f6glichkeit der Entw\u00f6hnung. Es ist eine Vergiftung mit Leidenschaft Man kann davon nicht lassen, wenn man auch m\u00f6chte, und man geht daran zu Grunde.\nFleury hat diese Gifte in eine Schablone gebracht und diese Schablone lautet :\n1.\tGruppe: Alcohol, Opium, Haschisch,\n2.\tGruppe: Morphium, Cocain, Aether,\n3.\tGruppe: Tabak,\n4.\tGruppe: Die Liebe.\nDie Heilung erfolgt nach den gleichen Grunds\u00e4tzen.\nNur braucht man den Verliebten nicht gerade in ein Trinkerasyl zu sperren und es d\u00fcrfte gen\u00fcgen, ihn oder sie zur Abreise zu bewegen.\nEifersucht ist dagegen ein Zeichen der Schw\u00e4che und sie tritt besonders gerne bei neurasthenischen Individuen auf, bei den M\u00e4nnern im Zustande der Ersch\u00f6pfung, bei den Frauen zur Zeit der Hegeln und des Klimakteriums.\nAuch die vorhin erw\u00e4hnte Wirkung der Liebe als eines Giftes entfaltet sich vorzugsweise bei den Minderwerthigen, den erblich Entarteten.\nIn der gleichen Weise ist der Zorn eine Begleiterscheinung der Ersch\u00f6pfung, und er tritt vorwiegend bei solchen Zust\u00e4nden auf. Seiner Natur nach ist der Zorn ein Problem des Hirnmechanismus. Der Blutdruck ist erh\u00f6ht, das Gef\u00e4fssystem im Zustande der Zusammenziehung und dadurch eine vermehrte Spannung in allen Muskeln, w\u00e4hrend gleichzeitig eine Einschr\u00e4nkung des Gesichts- und Geh\u00f6rssinnes stattfindet, desgleichen der Empfindung. Es ist ein Anfall von Furor brevis wie bei der Epilepsie, mit der er \u00fcberhaupt eine gewisse Aehnlichkeit und oft sogar eine Verwandtschaft hat. Wie bei jenem Furor besteht auch im Wuthanfall eine Neigung zum Zerst\u00f6ren und Vernichten, worin er sich Luft macht, und ebenso ist bei beiden die Empfindung aufgehoben und die Erinnerung fehlt. Der Zorn zeigt sich besonders bei Kindern und bei Neurasthenischen. Ein besonderer Wunsch, irgend ein Verlangen dr\u00e4ngt alle Nervenkraft nach einem Punkte, ein Befehl, ein Verbot schneidet hier mit einem Schlage ein und damit erfolgt der j\u00e4he Ausbruch, weil die Hemmung der Pflicht fehlt. Fleury konnte den ausl\u00f6senden Einfluls von Gewittern u. dgl. direct messen. Die Nervenkraft stieg und ein Zornausbruch war nahei Das gleiche Experiment ist mit Alcohol anzustellen. Alles in Allem ist der Zorn umsonst verausgabte Nervenenergie, verlorene Arbeit, und daher","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nBesprechungen.\ndurch zweckm\u00e4fsige Arbeit zu ersetzen. Nicht selten wird der Held des Krieges im Frieden zum Friedensst\u00f6rer und Verbrecher.\nMan lerne die Nervenkraft zu bemeistem, das ist die Zukunft der Behandlung. Fle\u00fcbt will daher eine Poljklinik f\u00fcr nerv\u00f6se Kinder errichten, um auf diesem Wege dem zuk\u00fcnftigen Verbrechen die Wurzeln zu unterbinden.\nAusgehend von den Ideen Charcot\u2019s und seiner Schaler \u00fcber Hysterie und Hypnotismus hatte es der Verf. unternommen, nach und nach die Beziehungen der ftrztlichen Wissenschaft mit der Gerechtigkeit, der Literatur und der Kunst zu untersuchen. Er hat es versucht, sich eine Vorstellung von den Functionen des Gehirns >u bilden, von den Localisationen, und das Gehirn als ein Associationsorgan aufzufassen. Durch das Studium der Erm\u00fcdung und der Kraft, der Ersch\u00f6pfung und der Spannung hat er versucht, besonders an Neurasthenischen den Mechanismus der Lebenskraft zu ergr\u00fcnden und ihn experimentell nachzubilden. So ist er zu der Erkl\u00e4rung von der Natur der Faulheit, der Traurigkeit, des Zornes und der krankhaften Liebe gekommen, und endlich darauf, eine Heilmethode zu gr\u00fcnden, die sich zu einer Moral entwickeln soll.\nDie dritte franz\u00f6sische Republik hat Diamanten und Perlen, aber keine Moral. Der Katholicismus that es nicht mehr, die Religion der Entsagung, der Verweisung auf das Jenseits ist nicht mehr zeitgem\u00e4fs, sie h\u00e4lt dem Utilitarismus der germanischen Rassen nicht mehr Stand.\nUnd dann die grofse Menge Derer, die \u00fcberhaupt nicht mehr in dem Katholicismus stehen. Die Fehler der Zeit sind Liebe und Eifersucht, Vergeudung der Nervenkraft, Neigung zur Melancholie und zum Zorn. Alle dem will er auf \u00e4rztlichem Wege entgegentreten.\nZun\u00e4chst wird es sich um eine Verbesserung der Constitution handeln. Flecby hat uns in den fr\u00fcheren Capiteln gezeigt, wie das geistige Geschehen in directer Abh\u00e4ngigkeit von dem k\u00f6rperlichen steht, wie Zorn, Liebe, Hafs u. dergl. Ent\u00e4ufserungen der Ersch\u00f6pfung sind, und dafs bei der Behandlung dieser Zust\u00e4nde dieselben Mittel in Frage kommen, die sich uns bei der Behandlung der Neurastheniker von Nutzen erweisen.\nNoch zwar stecken wir mit dieser Behandlung ebenso in den Kinder-schuhen, wie dies mit der Moral der Zukunft der Fall ist. Aber der Weg ist er\u00f6ffnet, die Concurrenz ausgeschrieben.\nDer Verf. wollte zun\u00e4chst die Grundlagen legen, auf denen weiterzubauen ist, er wollte anregen, Hoffnung spendend wirken und seinen Enthusiasmus auf weitere Kreise \u00fcbertragen.\nDafs er dieser Aufgabe getreu, sein Buch bis zu Ende gef\u00fchrt, dieses Zeugnifs k\u00f6nnen wir ihm nicht versagen, wenn auch gerade das letzte Capitel vielfach verschwommen und das vielleicht am wenigsten Befriedigende ist.\nEs ist mit der Moral ohnehin eine etwas heikle Sache und vielleicht d\u00fcrfte auch die Moral des vorliegenden Buches darauf hinauslaufen, dafs es mehr Dinge im Himmel und auf Erden giebt, als unsere Schulweisheit sich tr\u00e4umen l\u00e4fst.\tPblmak.","page":60}],"identifier":"lit31139","issued":"1900","language":"de","pages":"54-60","startpages":"54","title":"Maurice de Fleury: Introduction \u00e0 la m\u00e9decine de l'esprit. 5. \u00e9dit. Paris, Felix Alcan, 1898. 477 S.","type":"Journal Article","volume":"22"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:15:56.112752+00:00"}

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