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{"created":"2022-01-31T16:15:33.715299+00:00","id":"lit31157","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Giessler","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22: 77-79","fulltext":[{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Litera turbericht.\n77\nReferent h\u00e4lt mit Kant an der Ansicht fest, dafs der Glaube an Gott ein Postulat ist. Dieser Glaube geh\u00f6rt als integrirender Bestandtheil zur menschlichen Vernunft, aus welcher er ohne Beeintr\u00e4chtigung der inneren Harmonie des Menschen nicht entfernt werden kann. Auch kann er durch nichts Anderes ersetzt werden. Eine Religion, die keinen pers\u00f6nlichen Gott annimmt, hat keinen Werth f\u00fcr den Menschen, denn sie bietet ihm keine Garantie f\u00fcr die Erf\u00fcllung seiner W\u00fcnsche. Dem Vorwurf, dafs der Protestantismus seine Kritik nur bis zu einem gewissen Punkte auszu\u00fcben vermag, von welchem an der Gl\u00e4ubige doch auf die Tradition angewiesen ist, k\u00f6nnte man entgegenhalten, dafs jede Wissenschaft am letzten Ende auf etwas st\u00f6fst, was unmittelbar geglaubt werden mufs und sich der Kritik entzieht. \u201eWunder\u201c mufs man im Sinne von Rabibb fassen als freie Acte Gottes, welcher, indem er sich der Naturgesetze bedient, Wirkungen hervorbringt, die nach dem allgemeinen Verlauf der Ereignisse nicht zu Stande gekommen w\u00e4ren.\tGibssler (Erfurt).\nE. Mubisieb. Le sentiment religieux dans l\u2019extase. Rev. philos. 46 (11), 449\u2014472, (12), 607-626. 1898.\nDie Versuche einer Anwendung der Psychologie auf Religion sind noch neueren Datums. Man versuchte, die Religion als Ausdruck von inneren Energien zu erkl\u00e4ren, welche sich dem Bewufstsein dunkel kund geben, jedoch dem Ich fern bleiben, Energien, von denen der Mensch sich abh\u00e4ngig f\u00fchlt, und welche er personificirt. Auch hat man bereits versucht, den kritischen Zeitpunkt zu studiren, in welchem das religi\u00f6se Gef\u00fchl eine derartige Intensit\u00e4t gewinnt, dafs es die Pers\u00f6nlichkeit umwandelt, den Zeitpunkt der \u201eWiedergeburt\u201c. In der vorliegenden Abhandlung soll versucht werden, die religi\u00f6se Exstase zu analysiren.\nDie Exstase ist ein intermittirender Zustand. Zu Zeiten interessirt sich der Mystiker auch f\u00fcr das Leben, dann zieht er sich in die Einsamkeit zur\u00fcck, lebt bei asketischem Verhalten der Betrachtung und kommt sp\u00e4ter wieder hervor.\nDie Furcht vor der H\u00f6lle ist die urspr\u00fcngliche Reaction im Kindesalter des Mystikers. Es folgt eine Periode religi\u00f6ser Indifferenz, am Ende welcher der S\u00fcnder Bufse thut. Die Mystiker leben in fortw\u00e4hrender innerer Zerrissenheit und sehen die Harmonie, den inneren Frieden als ein Ideal an. Im K\u00f6rper des Mystikers herrschen Schw\u00e4che, hervorgerufen durch mangelhafte Ern\u00e4hrung, h\u00e4ufige und heftige Bluterg\u00fcsse, l\u00e4ngere Schlaflosigkeit, Verlust des Appetits, Neuralgien begleitet von Ausspeiungen. Zu dieser physischen Schw\u00e4che kommt eine moralische, welche ihn verhindert, seine Pers\u00f6nlichkeit der Aufsenwelt anzupassen. Seine Pers\u00f6nlichkeit schwebt immer in Gefahr, in eine Anzahl verschiedener Empfindungen, unzusammenh\u00e4ngender Bilder, entgegengesetzter W\u00fcnsche, ungeordneter Vorstellungen aus einander zu gehen. Das Individuum ist fortw\u00e4hrenden Umwandlungen unterworfen, die es in den entgegengesetzten Zustand versetzen. Die niederen Tendenzen, namentlich sexuelle, k\u00e4mpfen gegen die h\u00f6heren und bewirken eine Art Verdoppelung der Pers\u00f6nlichkeit. Das Streben nach Befreiung von diesen Zust\u00e4nden macht sich geltend.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nLiteraturbericht\nvon Krafft-Ebino f\u00fchrt den Mysticismus auf den sexuellen Instinct zur\u00fcck. Doch ist damit nicht das Wesen der Erscheinung ersch\u00f6pft. \u2014 Die Irren\u00e4rzte haben Aehnlichkeiten herausgesucht zwischen der religi\u00f6sen Exstase und dem Somnambulismus. Die Kranken befinden sich einige Zeit nach dem Hypnotisiren wohl: die hysterischen Krisen, die fixen Ideen verschwinden, Aufmerksamkeit und Ged\u00e4chtnifs verdoppeln sich merklich, die angenehmen Gef\u00fchle bekommen die Oberhand. Ungl\u00fcck* licherweise aber erscheinen am Ende einiger Zeit die pathologischen Erscheinungen wieder mit den Gef\u00fchlen der Unruhe, Verzweiflung. Der Kranke verlangt alsdann nach seinem Hypnotiseur, der ihn am h\u00e4ufigsten eingeschl\u00e4fert hat. Ebenso erreichen die Mystiker innere Ruhe, solange sie sich dem Gef\u00fchl der Abh\u00e4ngigkeit von Gott hingeben. Diese Periode entspricht der hypnotischen Periode. Allm\u00e4hlich l\u00e4fst. jedoch die Wirkung der religi\u00f6sen Betrachtungen nach, die Seele glaubt sich von Gott verlassen, sie sucht ihn im Gebet wiederzugewinnen...... Also das religi\u00f6se\nGef\u00fchl ist nur ein specieller Fall des allgemeinen Gef\u00fchls der Lenkung durch ein anderes Wesen, mag dieses menschlich oder \u00fcbermenschlich, sichtbar oder unsichtbar sein.\nDer Mystiker geht darauf aus, die profanen Bilder, die nat\u00fcrlichen Affectionen zu bannen, andererseits die Idee der Gottheit zu befestigen, bis sie die Seele ganz und gar erf\u00fcllt. Die asketischen Uebungen sollen hierzu beitragen. Die negativen sollen die Pers\u00f6nlichkeit verkleinern, das Bewufstsein leeren, die Zahl seiner simultanen und successiven Zust\u00e4nde und deren Intensit\u00e4t vermindern. Die positiven sollen der religi\u00f6sen Idee zum Siege \u00fcber die anderen verhelfen. Zu den negativen geh\u00f6ren die Einsamkeit und das Schweigen, das Liegen auf einem Bett von Dornen, das Erzeugen von Bluterg\u00fcssen durch B\u00fcfserhemden und Eisenspitzen, Enthaltsamkeit von Nahrung und Schlaf. Die Mystiker verweigern \u00bbich das, was sie gern m\u00f6chten, und nehmen das, was sie verabscheuen. Durch die Schw\u00e4chung der \u00fcbrigen Zust\u00e4nde gewinnt die religi\u00f6se Idee an Macht. Sie wird aber noch positiv verst\u00e4rkt durch die Annahme einer bestimmten K\u00f6rperhaltung, durch Sichniederwerfen zur Erde, durch Kreuzen der H\u00e4nde \u00fcber die Brust, durch Umfassen eines Crucifixes, durch Betrachten von religi\u00f6sen Bildern, durch religi\u00f6se Lekt\u00fcre. Der Mystiker vergegenw\u00e4rtigt sich eine Scene aus der Evangelienhistorie und aus dem Leben eines Heiligen, er sucht ihm \u00e4hnlich zu werden und erlangt dadurch den inneren Frieden. Von Wichtigkeit aber ist auch das Fixiren des der Idee corre-spondirenden Gef\u00fchls. Loyola will, dafs man angenehme und erregende Empfindungen zu H\u00fclfe nimmt, z. B. die W\u00e4rme und Klarheit eines angenehmen Feuers im Kamin, die Sch\u00f6nheit und den Duft der Blumen.\nEine h\u00f6here Stufe der Ekstase wird erreicht, wenn der Mystiker sich derartig mit seinem Ideal identificirt, dafs er alle affectiven Zust\u00e4nde erlebt, welche er der Person zuertheilt, deren Bild seine Seele erf\u00fcllt. In dem durch die Krankheit eingeschr\u00e4nkten Feld des Bewufstseins tauchen Visionen und Hallucinationen des Gesichts, Geh\u00f6rs, Geruches auf, sie verst\u00e4rken das \u201eGef\u00fchl der Realit\u00e4t\u201c, wodurch der zur Herrschaft gelangte kleinere Complex von religi\u00f6sen Bildern eine unwiderstehliche Gewalt bekommt.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n79\nIn einem noch h\u00f6heren Stadium der Ekstase, dem des Quietismus, verschwinden die Bilder und Visionen. Es bleibt in der Seele nur noch ein isolirtes Bild, begleitet von einer einzigen Emotion. Dieses Bild ist meist ein Extract oder eine Vereinfachung fr\u00fcherer Vorstellungen. Auch dieses verbleicht, und nachdem so die intellectueilen Elemente des Glaubens verschwunden sind, ist die Seele nichts weiter als Liebesgluth. Gott offenbart sich ihr nun ohne Vermittlung von Bildern, auf eine unfafsbare Weise. Der Zustand des Quietismus bietet Aehnlichkeit mit dem Zustande der Verz\u00fcckung. Hier ist das Bewufstsein f\u00fcr die Aufsenwelt aufgehoben, der K\u00f6rper bewahrt die einmal angenommene Haltung, er verliert scheinbar sein Gewicht oder wird g\u00e4nzlich empfindungslos. Diese vollkommene Reihe dauert aber nur kurze Zeit.\nUeberblicken wir noch einmal das Ganze, so sehen wir, dafs der TJebergang von der Verschiedenheit zur Einheit bewirkt wird durch die Entwickelung einer Idee, welcher Alles geopfert wird. Jedoch kann die Entwickelung auch im umgekehrten Sinne erfolgen. Manche Mystiker wie Luthkk, Pascal betheiligen sich am \u00f6ffentlichen Leben, an Kunst, Literatur und Wissenschaft. Bei der Coordination der Zust\u00e4nde, welche zum Ich geh\u00f6ren, ist eine leitende Idee von grofser Bedeutung. Namentlich besitzt die religi\u00f6se Idee die gr\u00f6fste Wirksamkeit auf die Entwickelung der Pers\u00f6nlichkeit. Bei Krankheit hat sie, wie die obigen Ausf\u00fchrungen zeigen, eine regressive Entwickelung zur Folge, bei Gesundheit tr\u00e4gt sie m\u00e4chtig zum \u201eAufbau\u201c der Pers\u00f6nlichkeit bei. \u2014\nAus dem Gesagten erhellt zugleich die hohe Bedeutung der Religion f\u00fcr die Charakterbildung. Die Annahme, dafs Lutheb ein Mystiker war, ist eine irrige. F\u00fcr ihn war der krankhafte Zustand der Mystiker ein \u00fcberwundener Standpunkt. Hinzuf\u00fcgen m\u00f6chte ich noch, dafs eine Anzahl unserer \u00e4lteren christlichen Gesangbuchslieder die religi\u00f6se Stimmung des Mystikers treffend zum Ausdruck bringt.\tGiessleb (Erfurt).\nM. L. Patbizi. Per lo Studio dei rapport! fra i movimentl del respiro e la parola scritta e articolato. liiv. Speriment. di Fr en. 24 (3\u20144), 605\u2014611. 1898.\nDie Vorg\u00e4nge beim Schreiben, Lesen und Sprechen sind nicht einheitlicher Natur, sondern bestehen aus zusammengesetzten Handlungen, deren jede f\u00fcr sich den Rhythmus und die St\u00e4rke der Respiration beeinflu\u00dft und vice versa beeinflufst wird.\nSo zeigt ein Schriftst\u00fcck z. B. eine Reihe coordinirter Bewegungen, die von Zeit zu Zeit mehr oder minder lang unterbrochen ist von der Form der Buchstaben, vom Ende der Worte, von der Interpunction, von Abs\u00e4tzen u. s. w. \u2014 kurz eine Verstandesoperation, die auch von Gem\u00fcths-eindr\u00fccken begleitet wird.\nAuch beim Vorlesen und Sprechen \u00e4ufsern sich diese 3 Th\u00e4tig-keiten, die mechanische, intellectuelle und die des Gem\u00fcthes. \u2014 Ihr Verh\u00e4ltnis zur Respiration vor\u2019s Auge zu f\u00fchren und zu ermitteln, hat sich der Verf. zur Aufgabe gestellt. Die Bilder, die er vermittels einer neu construirten electrischen Schreibfeder, durch Photogramme und Phonogramme herstellt, zeigen in der Schrift allerdings Verschiedenheiten beim Ein- und Ausathmen, in den Pausen, beim Anfang und Ende der","page":79}],"identifier":"lit31157","issued":"1900","language":"de","pages":"77-79","startpages":"77","title":"E. Murisier: Le sentiment religieux dans l'extase. Rev. philos. 46 (11), 449-472, (12), 607-626. 1898","type":"Journal Article","volume":"22"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:15:33.715305+00:00"}