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{"created":"2022-01-31T16:14:30.456256+00:00","id":"lit31163","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Sommer","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22: 122-130","fulltext":[{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"Bin Experiment \u00fcber Termineingebung.\nYon\nProf. Sommes in Giefisen.\nDer Aufsatz yon Kabl Geoos: \u201eZum Problem der unbe-wufsten Zeitsch\u00e4tzung\u201c (vgL diese Ze\u00fcschr. EX, S. 321) veranlafst mich, in kurzer Form eine Beobachtung \u00fcber Termineingebung zu ver\u00f6ffentlichen, die ich schon im Winter 1895 gemacht und im Sommer 1896 in einem \u00e4rztlichen Verein (Versammlung mittelrheinischer Aerzte in Bad Nauheim) mitgetheilt habe.\nIm Sommer 1895 hatte ich mit einigen Studenten in Giefsen in einem Kurs Experimente \u00fcber den cerebralen Einflufs auf den Ablauf des Knieph\u00e4nomens angestellt und war aus gewissen motorischen Erscheinungen1 auf die Annahme gekommen, dafs einer derselben (Herr F.) aufserordentlich suggestibel sein m\u00fcsse. Diese Annahme wurde dadurch best\u00e4tigt, dafs ich in dem darauf folgenden Winter diese mir genau bekannte Pers\u00f6nlichkeit in einer yon dem Hypnotiseur Hansen veranstalteten Sitzung als vorz\u00fcgliches Medium wiederfand.\nDieses Zusammentreffen erschien mir geeignet, um unter verl\u00e4fslichen Bedingungen ein Experiment \u00fcber einige mich l\u00e4ngst interessirende Fragen aus dem Gebiet des Hypnotismus, speciell \u00fcber Termineingebung machen zu lassen.\nDie Voraussetzungen, von denen ich dabei ausging, waren folgende (s. Diagnostik der Geisteskrankheiten, 1894, S. 177):\n\u201eDas eigentlich Sonderbare bei diesen posthypnotischen Wirkungen ist die Thatsache, dafs dieselben zu einem vorausbestimmten Termin auftreten k\u00f6nnen. Wenn die Spur eines psychischen Vorganges eine Zeit lang latent vorhanden ist und dann gelegentlich durch Association wachgerufen wird, so erscheint das nicht sonderbar. Die Thatsache, dafs bestimmte Handlungen zu einem Termin suggerirt werden k\u00f6nnen, scheint dagegen eine bestimmte Beschaffenheit dieser Spuren der psychischen Function anzudeuten, dafs es sich n\u00e4mlich dabei nicht blos um reine Hirnmechanik, sondern um ein unter der Schwelle unseres Bewu\u00dftseins vor sich gehendes Denken handelt.\n1 Siehe Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungsmethoden. S. 47\u201466.","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Experiment \u00fcber Termineingebung.\n123\nEs wird hierbei nicht nur materialiter die Spur eines Gedankens festgehalten, sondern diese wird auch zu einer bestimmten Zeit ins Be-wufstsein erhoben. Nun muls man sich \u00fcberlegen, in welcher Weise gew\u00f6hnlich Zeiten eingehalten werden. Wir brauchen dazu nothwendiger-weise Meisinstrumente und eine dauernde Aufmerksamkeit zum Ver-: gleichen. Zeit im Allgemeinen ist ja nur eine Abstraction aus der Aufeinanderfolge von Zust\u00e4nden oder, wenn man sich der KANT\u2019schen Psychologie anschlierst, eine Anschauungsform. Es ist damit \u00fcber das Zustandekommen bestimmter Zeitbegriffe gar nichts ausgesagt, und die Zeitbestimmung im Einzelnen ist immer Empirie und Erkenntnifs a posteriori, zu welcher neue Denkth\u00e4tigkeit, Verwendung von bestimmten Erfahrungen nothwendig ist. Wir m\u00fcssen fortw\u00e4hrend den Termin in Erinnerung halten und die Zeit vergleichen.\nWenn wir also nach einer Suggestion \u00e0 \u00e9ch\u00e9ance (\u201eTermineingebung\u201c) keine Erinnerung daran haben und doch zu einer bestimmten Zeit einen suggerirten Gedanken auftauchen f\u00fchlen, so scheint das zu beweisen, dafs nicht blos der suggerirte Gedanke festgehalten worden ist, sondern dafs wir unbewufst einen complicirten Denkact, n\u00e4mlich das Vergleichen der wirklichen Zeit mit dem eingegebenen Zeittermin vollzogen haben. Dies spricht also an erster 8telle daf\u00fcr, dafs, abgesehen von dem klaren Bewufstsein, welches wir haben, noch unbewufste, aber ihrer Natur nach mit den bewufsten Vorstellungen ganz \u00fcbereinstimmende psychische Processe in uns Vorgehen.\u201c\nWenn man nun die Vorg\u00e4nge bei der Termineingebung erforschen will, so m\u00fcfste man Individuen finden, welche an die in der Hypnose vorhandenen Vorg\u00e4nge Erinnerungen bewahren. Ebenso wie nach epileptischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden kommen nach hypnotischen Zust\u00e4nden mehr oder minder klare Erinnerungen vor. Allerdings wird man bei der Auswahl der Individuen, denen man im Bezug auf solche Aussagen Vertrauen schenkt, sehr vorsichtig sein m\u00fcssen.\nIn dieser Beziehung glaubte ich nun auf Grund des fr\u00fcheren Verhaltens des Betreffenden bei anderen psychophysischen Experimenten seiner Verl\u00e4fslichkeit sicher zu sein.\nEs handelte sich darum, zun\u00e4chst einen Einblick zu ge-.winnen, ob bei F. im Allgemeinen ein solches posthypnotisches .Erinnerungsverm\u00f6gen vorhanden war und dann speciell sein Verhalten zur Termineingebung zu pr\u00fcfen.\nEs schien mir zu diesem Zweck am besten, ihn in der Hypnose eine lange Wortreihe produciren zu lassen, diese genau nachzuschreiben und dann zu pr\u00fcfen, was davon erhalten war. Dann konnte die gleiche Methode auf seinen .Zustand w\u00e4hrend der Zeit bis zur Ausf\u00fchrung der f\u00fcr","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nSommer.\n\u00abinen bestimmten Termin gegebenen Suggestion angewendet werden. Ich bat demnach Hansen, welcher mir in der bereitwilligsten Weise entgegen kam, den F. im hypnotischen Zustand .zun\u00e4chst zu einer Rede zu veranlassen, die ich nachschreiben -wolle. H. gab nun die folgende, sehr ausf\u00fchrliche Suggestion: \u201eSie haben \u00f6fters davon gesprochen, dafs Sie als Stadtrath gew\u00e4hlt werden wollen. Ich habe das Terrain sondirt. Sie haben einen Opponenten, der ist ein gemeiner Kerl, er sagt : Sie haben verschwendet. Nun ist eine Versammlung von W\u00e4hlern in Hannover; der andere Bewerber ist auf dem Wege dahin im Schnee stecken gebheben. Sie sollen jetzt f\u00fcr ihn die Wahlrede halten. Kommen Sie, wir gehen hin (er macht das Steigen auf einer Treppe nach), da sehen Sie die 1000 W\u00e4hler. Versprechen Sie Alles f\u00fcr die Stadt. Jetzt halten Sie mal die Rede.\u201c\nF. hielt darauf zum grofsen Erg\u00f6tzen des grofsen Publikums fast w\u00f6rtlich folgende Candidatenrede: \u201eMeine Herren! Eigentlich war ja mein Herr Gegner heut Abend so g\u00fctig, Sie zn dieser Versammlung einzuladen. Jedoch er konnte nicht kommen, weil er bei der Fahrt hierher im Schnee stecken blieb, und dafe dies geschah, ist wohl ein Fingerzeig des Schicksals. Ein Beweis n\u00e4mlich, dafs ich f\u00fcr den Posten als Stadtrath der bessere Candidat bin, als mein Gegner. Er hat versucht, mich zu verunglimpfen ; er hat gesagt, dafs ich \u00f6ffentliche Gelder unterschlagen habe. Aber wohl m\u00f6chte ich sagen, dafs ich bereit bin, den Posten anzunehmen, dafs ich, wenn Sie mich f\u00fcr den Posten eines Stadtraths f\u00fcr tauglich halten, f\u00fcr Alles Sorge tragen will, was das Wohl der Stadt erheischt. Die Steuern werden heruntergesetzt werden (starkes Gel\u00e4chter), es m\u00fcssen wohlth\u00e4tige Anstalten errichtet werden, Kan\u00e4le m\u00fcssen gebaut werden. Kurz, ich sage Ihnen, ich werde, wenn Sie mir Ihre Stimmen geben, mich bem\u00fchen, ein t\u00fcchtiger Stadtrath zu werden.\u201c\nDamit war eine im hypnotischen Zustande ge\u00e4ufserte Wortreihe gegeben, und es handelte sich darum, sp\u00e4ter zu pr\u00fcfen, wieviel davon in der Erinnerung behalten oder durch Fragen wieder hervorgerufen werden konnte.\nZun\u00e4chst wurde jedoch an dieses Experiment, nachdem F. aufgeweckt war, ein Versuch mit Termineingebung angeschlossen. Hansen gab ihm mm folgende Suggestion: \u201eSie werden auf Kommando einschlafen und nach 2 Minuten anfangen \u00fcber","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Experiment \u00fcber Termineingebung.\n125\nSchlittschuhlaufen zu sprechen. Dabei werden Sie noch eine Minute sitzen bleiben, dann aufstehen und ausrufen : Es lebe die Stadt Giefsenl\u201c Mit der Uhr in der Hand verfolgte ich dieses Experiment Fast auf die Sekunde, 2 Minuten nach dem Moment des Kommandos zum Einschlafen begann F. \u00fcber das Wetter, den Winter und dann \u00fcber Schlittschuhlaufen zu reden. Genau eine Minute nach dem Anfang seiner Rede \u00fcber das Schlittschuhlaufen erhob sich F. pl\u00f6tzlich, trat vor und rief laut : \u201eEs lebe die Stadt Giefsenl\u201c\nHansen\u2019s Experiment war also vollst\u00e4ndig gegl\u00fcckt, und es kam nun meine Aufgabe, sofort festzustellen, woran sich F. nach dem Erwachen erinnerte.\nEs war Vorsorge getroffen, dafs F. nicht vorher noch mit einem der Zuschauer reden konnte; demnach ist die Vermittelung von Vorstellungen durch Dritte ausgeschlossen.\nIch ging sofort mit F. in ein benachbartes Zimmer, wo sich folgender Dialog abspielte:\nS. Wie standen Sie zu Hansen bei Beginn des Experimentes?\nF. Ich safs auf einem Stuhl, dann schlief ich ein. (Hier liegt eine Erinnerungsf\u00e4lschung vor, da F. bei Beginn dieses Experimentes gestanden hat.)\nS. Was geschah dann?\nF. Hansen hat mich auf der B\u00fchne herumgef\u00fchrt und hat dabei eine Rede gehalten.\nS. Was hat er denn gesagt?\nF. (nach einer Pause, in der er sich angestrengt besinnt): Jetzt f\u00e4llt mir\u2019s ein: Ich h\u00e4tte einen Gegner, der w\u00e4re mit dem Zug im Schnee stecken gebheben. (Die Worte \u201emit dem Zug\u201c bilden eine Zuthat) Die W\u00e4hler w\u00e4ren da. Dann bin ich eine Treppe hinauf.\nS. Wo war denn die Versammlung?\nF. (schweigt.)\nS. In welcher Stadt?\nF. Nein, das weifs ich nicht. (Er hat den Namen Hannover, vergessen.)\nS. Was hat denn Hansen \u00fcber Ihren Gegner zu Ihnen gesagt?\nF. Der habe mich verleumdet, ich habe Gelder unterschlagen.\nS. Hat Hansen Ihnen die Zahl der Zuh\u00f6rer genannt?","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nSommer.\nF. Ja, \u201eviele Tausend\u201c. (Das Wort \u201eviele\u201c ist eine Zuthat.)\nS. Was geschah dann?\nF. Dann sah ich eine ganze Menge, lauter K\u00f6pfe. Mir kam/s vor, als kennte ich die Leute. Im Anfang kam es mir spanisch vor, dann sagte Hansen: \u201eSo jetzt halten Sie mal die Rede.\u201c\nS. Was haben Sie denn gesagt?\nF. Eigentlich war es mein Herr Gegner, der die Versammlung einberief. Aber er konnte nicht kommen, und dafs er nicht kommen konnte, das betrachten Sie als eine F\u00fcgung des Schicksals. (F\u00fcr das Wort \u201eFingerzeig\u201c wird das Wort \u201eF\u00fcgung\u201c reproducirt.) Er hat es gewagt, mich zu verleumden. (Dann fortfahrend : Ich habe in apodiktischer Weise gesagt:) Ich habe keine Gelder unterschlagen. Vorausgesetzt, dafs Sie mich w\u00e4hlen, werde ich bereit sein, in jeder Weise f\u00fcr das Wohl der B\u00fcrger zu wirken. Die Steuern m\u00fcssen herabgesetzt werden (dabei haben die Herren gelacht), Kan\u00e4le m\u00fcssen gebaut werden. \u2014 Von dieser Stelle an kann sich F. an nichts mehr erinnern bis zu dem Momente des Aufwachens.\nDer Vergleich dieser Erinnerungen mit der wirklich vorgebrachten Wortreihe ergiebt:\n1.\teine Menge richtiger Erinnerungen,\n2.\teine Anzahl von Erinnerungsl\u00fccken,\n3.\teine kleine Anzahl von Zuthaten,\n4.\teine Anzahl von Aenderungen in der Wahl der Worte.\nDas principiell Wichtige ist die partielle Erinnerungsf\u00e4higkeit bald nach dem Aufwachen aus dem hypnotischen Zustand.\nF. geh\u00f6rte demnach zu den Individuen, welche im Stande sind, etwas \u00fcber ihre eigenen Zust\u00e4nde in der Hypnose zu berichten. Um so gespannter war ich deshalb auf das Ergebnifs der Pr\u00fcfung des Erinnerungsverm\u00f6gens in Bezug auf die Termin-\u2022eingebung.\nS.\tWo waren Sie, als Sie Hansen das zweite Mal hypnotisirte ?\nF. Ich schlief auf dem Stuhl ein. (Richtig.)\nS. Haben Sie sich unterhalten ?\nF. Ich sollte mit meinem linken Nachbar sprechen und habe es auch gethan.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Experiment \u00fcber Termineingebung.\n127\nS. Wor\u00fcber haben Sie geredet?\nF. Das weifs ich nicht.\n'S. Was geschah dann?\nF. Ich hatte unbewufst die Empfindung, als wenn ich z\u00e4hlte. Jedenfalls habe ich nie vollst\u00e4ndig geschlafen. Im Anfang habe ich gedacht: Du mufst z\u00e4hlen bis 120, 2x60, sonst wirst Du nicht wach.\nS. Wie weit kamen Sie damit?\nF. Ich kam bis 31 oder 32. Dann konnte ich nicht mehr.\nS. Haben Sie sp\u00e4ter weiter gez\u00e4hlt?\nF. Das weifs ich nicht.\nEs zeigen sich nun hier genau wie bei der Erinnerung an die Rede L\u00fccken. Er weifs nicht, wor\u00fcber er geredet hat.\nEr erinnert sich an seine Absicht bis 120, 2x60 zu z\u00e4hlen, tun die Zeit einzuhalten, glaubt aber nur bis 31 oder 32 gez\u00e4hlt zu haben. \u201eDann konnte ich nicht mehr!\u201c\nEs hegt nun sehr nahe, nach Analogie aller \u00fcbrigen Erscheinungen dieses Abbrechen so zu erkl\u00e4ren, dafs er thats\u00e4chlich im Sinne seiner Absicht 2x60 gez\u00e4hlt und dadurch die Zeit innegehalten hat, w\u00e4hrend er sich nur an das Z\u00e4hlen bis 31 oder 32 erinnert. Der Satz: \u201eDann tonnte ich nicht mehr\u201c ist h\u00f6chst wahrscheinlich eine Umdeutung der subjectiven Thatsache, dafs er sich nur an das Z\u00e4hlen bis 31 oder 32 erinnert und in Folge dessen glaubt, thats\u00e4chlich nicht weiter gez\u00e4hlt zu haben. Fafst man die vielen partiellen Ged\u00e4chtnifsdefecte, welche er f\u00fcr die Zeit der Hypnose zeigt, ins Auge, so liegt es nahe, auch obiges Ph\u00e4nomen als partielle Amnesie zu erkl\u00e4ren, und anzunehmen, dafs er thats\u00e4chlich in dem hypnotischen Zustande 2x60 gez\u00e4hlt hat.\nObgleich damit das Wesentliche dieser Mittheilung schon gesagt ist, f\u00fcge ich auch die weitere Amnesiepr\u00fcfung, welche am n\u00e4chsten Tage mit F. vorgenommen wurde, an, weil sie diese Auffassung noch mehr st\u00fctzt.\nIch hatte F. gebeten, an diesem Abend mit keinem seiner Kameraden, welche bei der Sitzung anwesend waren, \u00fcber die Vorg\u00e4nge zu reden. F. versichert auch, sich dementsprechend verhalten zu haben. Er habe mit Niemanden dar\u00fcber gesprochen, habe aber viel \u00fcber die Vorg\u00e4nge nachgegr\u00fcbelt. Heute, d. h. am Tage der zweiten Amnesiepr\u00fcfung, habe er bis 12 im Bett","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nSommer.\ngelegen und viel \u201esimulirt\u201c, d. h. im hiesigen Dialekt \u201enachgedacht\u201c. Ich halte also auch f\u00fcr die Zeit bis zu der zweiten Pr\u00fcfung Erweckung von Vorstellungen, bezw. Erinnerungen durch Dritte f\u00fcr sicher ausgeschlossen.\nEs ergab sich nun Folgendes : Schon in der Erz\u00e4hlung \u00fcber die einleitenden Vorg\u00e4nge zeigen sich Abweichungen. F. erinnert sich, dafs ihn H. durch Fixiren ohne Handauflegen hyp-notisirt hat. \u201eDann nahm er mich mit, erz\u00e4hlte, er habe geh\u00f6rt, ich wolle in den Stadtrath gew\u00e4hlt werden. Er sagte, ich h\u00e4tte noch einen Gegner, einen Konkurrenten, der h\u00e4tte mich beschuldigt, ich h\u00e4tte \u00f6ffentliche Gelder unterschlagen.\u201c Er glaubt sich an das Wort, \u201eLump\u201c zu erinnern (in Wirklichkeit hatte H. den Ausdruck \u201egemeiner Kerl\u201c gebraucht). (Erinnerungst\u00e4uschung, bei der ersten Amnesiepr\u00fcfung nicht beobachtet). Der Gegner h\u00e4tte f\u00fcr heute Abend eine Versammlung einberufen, er w\u00e4re im Schnee stecken geblieben, da solle ich die Gelegenheit benutzen und in den Saal gehen, wo die W\u00e4hler versammelt seien. Dann f\u00fchrte er mich eine Treppe hinauf und sagte, hier w\u00e4re eine tausendk\u00f6pfige Menge, da sollte ich eine Rede halten. (Es liegt hier gegen die Angabe bei der ersten Pr\u00fcfung: \u201eviele Tausend\u201c eine leichte Abweichung vor.)\nAn den Wortlaut der Rede erinnert er sich bei der zweiten Pr\u00fcfung in folgender Form:\n\u201eEigentlich sollte ja mein Herr Gegner hier sein, aber betrachten Sie es als einen\u201c : (F. unterbricht sich und sagt : nein ! denkt dann nach und f\u00e4hrt fort) \u201eaber er blieb im Schnee\u201c \u2014 (F. unterbricht sich von Neuem und sagt: nein, das habe ich nicht gesagt, genau weifs ich nur:) \u201edafs er nicht kommen konnte, betrachten Sie es als einen Fingerzeig des Schicksals!\u201c (Wurde bei der ersten Pr\u00fcfung nicht erinnert, ist also als Erinnerungsbild hinzugetreten). \u201eEr hat es gewagt, mich zu beschuldigen, ich h\u00e4tte \u00f6ffentliche Gelder unterschlagen, aber das ist nicht wahr, ich habe keine Gelder unterschlagen\u201c. (Dann f\u00e4hrt F. fort:) \u201eJetzt ist mir der Wortlaut nicht mehr da.\u201c \u2014 (Nach einer Weile sagt er:) \u201eIch habe nur gesprochen: Vorausgesetzt, dafs Sie mich w\u00e4hlen, werde ich mich bem\u00fchen, f\u00fcr das Wohl der B\u00fcrger th\u00e4tig zu sein.\u201c (F. f\u00fcgt hinzu:) \u201eDas ist nicht w\u00f6rtlich, das weifs ich nicht genau.\u201c (Dann f\u00e4hrt er fort:) \u201eDie Steuern m\u00fcssen herabgesetzt werden, Kan\u00e4le m\u00fcssen gebaut werden, kurz ich werde in jeder Weise mich bem\u00fchen \u2014 jetzt weifs ich-","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Experiment \u00fcber Termineingebung.\n129\nnicht, ob ich gesagt habe: Die Interessen der B\u00fcrger zu vertreten oder etwas Anderes; dann wurde ich wach.\u201c\nVergleicht man das Original und die beiden reproduzirten Reihen, so zeigt sich, dafs der Bestand von Erinnerungen nicht mehr der gleiche ist, wie unmittelbar nach der Aufnahme: Einige L\u00fccken sind durch Erinnerungsbilder erg\u00e4nzt, andere sind noch vorhanden ; an einigen Stellen sind Zuthaten gemacht, andere Stellen sind unklarer und zweifelhafter geworden im Verh\u00e4ltnis zu der bald nach dem hypnotischen Experiment gemachten Aufnahme. Im Allgemeinen handelt es sich um partielle Amnesie, welche graduell von der bald nach der hypnotischen Sitzung beobachteten verschieden ist.\nUeber die Vorg\u00e4nge vor und bei der Termineingebung berichtet F. diesmal Folgendes: \u201eEr hypnotisirte mich, indem er sagte, ich wr\u00fcrde schl\u00e4frig; da schlief ich ein. Da sagte er: (In Wirklichkeit war das vorher) \u201eSie schlafen genau 2 Minuten, dann wachen Sie auf, unterhalten sich mit Ihrem Nachbar zur Linken \u00fcber Schlittschuhlaufen. (Diese bei der ersten Pr\u00fcfung fehlende Vorstellung ist wieder aufgetaucht.) Dann wachen Sie auf (Zuthat), unterhalten sich genau eine Minute, dann stehen Sie auf, treten auf die Mitte des Podiums und rufen in den Saal hinein: Es lebe die Stadt Giefsen!\u201c (Diese Reproduction ist genauer als bei der ersten Aufnahme.) Ueber die weiteren Vorg\u00e4nge giebt er Folgendes an: \u201eIch schlief sofort ein und z\u00e4hlte, um denTermin nicht zu vergessen, ich kam bis 31; von da ab z\u00e4hlte ich nicht mehr, sondern schlief fest, h\u00f6rte auch nichts mehr von den anderen Leuten. Dann wurde ich wach, pl\u00f6tzlich, fing dann an zu reden, besann mich eine Zeit lang, um eine Vermittelung zu haben, fing ich an vom Wetter zu reden, sagte, wir bek\u00e4men einen kalten Winter. W\u00e4hrend dieser Zeit z\u00e4hlte ich gar nicht. Ich sagte dann, da k\u00f6nnten wir hoffentlich Schlittschuh fahren W\u00e4hrend der Zeit dachte ich an gar nichts, blos dafs ich mich unterhalten sollte. Dann brach ich pl\u00f6tzlich ab, ging auf die Mitte des Podiums und rief in den Saal hinein : Es lebe die Stadt Giefsen 1 Dann wurde ich aufgeweckt\u201c\nBei dieser Pr\u00fcfung zeigt F. zum Theil viel genauere Erinnerungen als bei der fr\u00fcheren, besonders was den Inhalt der Unterhaltung mit dem Nachbarn betrifft. Es scheint so, als ob\nZeitschrift far Psychologie 22.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nSommer.\ndas Auftauchen der Vorstellung Schlittschuhlaufen, welche fr\u00fcher fehlte, eine Reihe von anderen nach sich gezogen h\u00e4tte. In Bezug auf die Vorg\u00e4nge des Z\u00e4hlens in dem Zustande ist dagegen ein zwar geringer, aber sehr interessanter, weiterer Verlust eingetreten: die bestimmte Angabe bei der ersten Pr\u00fcfung, er erinnere sich an den Vorsatz bis 120, 2 x 60 zu z\u00e4hlen, um die Zeit einzuhalten, fehlt hier. Es ist nur die Erinnerung an die Thatsache des Z\u00e4hlens und die allgemeine Absicht : \u201eum den Termin nicht zu verpassen\u201c geblieben. Bei der Angabe der Zahl, bis zu der gez\u00e4hlt worden ist, zeigt sich ein kleiner Verlust: w\u00e4hrend er bei der ersten Aufnahme sich erinnert an 31 oder 32, d. h. die Zahl 32 noch halb klar in der Erinnerung hat, ist dieses Element jetzt verschwunden Er sagt diesmal bestimmt, \u201eich kam bis 31\u201c. Wiederum lautet seine Erz\u00e4hlung: \u201eVon da ab z\u00e4hlte ich nicht mehr.\u201c Diesmal mit dem bekr\u00e4ftigenden Zusatz: \u201esondern schlief fest\u201c\nDas Wiederauftauchen von Erinnerungsbildern an der einen Stelle, sowie der Verlust an anderen Stellen stimmt zu der Auffassung, dafs es sich um Erscheinungen partieller Amnesie mit gradueller Verschiedenheit handelt, sehr gut\nIch nehme also mit Wahrscheinlichkeit f\u00fcr den vorliegenden Fall an, dafs F. in dem hypnotischen Zustand die Terminein-gebung durch einen vorbedachten Z\u00e4hlact (120 Secunden, 2x60) auszuf\u00fchren im Stande gewesen ist, von welchem ihm ein Theil, das Z\u00e4hlen bis 31 oder 32 in der Erinnerung geblieben ist Es liegen demnach wahrscheinlich in diesem Falle Ausfallserscheinungen vor, d. h. Mangel an Erinnerung f\u00fcr Vorg\u00e4nge, welche qualitativ von den im normalen Bewufstsein sich abspielenden nicht abweichen.\nDiese Beobachtung beweist, welche Rolle die v\u00f6llige oder partielle Amnesie f\u00fcr normalpsychologische Vorg\u00e4nge im Gebiete des sogenannten \u201eUnbewufsten\u201c und der Hypnose spielen kann, ohne dafs es m\u00f6glich w\u00e4re, hieraus ein allgemeines Erkl\u00e4rungsprincip f\u00fcr die Thatsachen der Termineingebung abzuleiten.\n(Eingegangen am 19. October 1899.)","page":130}],"identifier":"lit31163","issued":"1900","language":"de","pages":"122-130","startpages":"122","title":"Ein Experiment \u00fcber Termineingebung","type":"Journal Article","volume":"22"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:14:30.456262+00:00"}