The Virtual Laboratory - Resources on Experimental Life Sciences
  • Upload
Log in Sign up

Open Access

Auguste Sabatier: Esquisse d'une Philosophie de la Religion d'après la Psychologie et l'Histoire. 2. Edition. Paris, Fischbacher, 1897. - Deutsche Uebersetzung von D. August Baur: Religionsphilosophie auf psychologischer und geschichtlicher Grundlage. Freiburg i. B., J. C. B. Mohr, 1898. 326 S.

beta


JSON Export

{"created":"2022-01-31T16:14:36.640425+00:00","id":"lit31165","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Runze","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22: 135-142","fulltext":[{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n135\nmittelt, liefert letztere nur einen. Und so kann dieser eindeutige Tastein-druck zum Symbol f\u00f6r die vieldeutigen Gesiehtseindr\u00fccke werden und ihrem Zusammenh\u00e4nge unter einander erat den rechten Kitt verleihen. \u2014 Die Tiefenwahrnehmung erkl\u00e4rt C. empiristisch.\nDa f\u00fcr den Verfasser die objectiven Vorg\u00e4nge und Dinge im Grunde nichts als gewisse psychologische Thatbest\u00e4nde sind, so meint er, dafs Psychophysik und Physik eigentlich nicht grunds\u00e4tzlich verschiedene Aufgaben h\u00e4tten. Und doch liefse sich auch von C.'s Standpunkt aus dieser Unterschied definiren: die Physik h\u00e4tte n\u00e4mlich lediglich den Zusammenhang jener empirischen Begriffe, die wir als objective Vorg\u00e4nge bezeichnen, unter sich, die Psychophysik den Zusammenhang solcher Begriffe mit einzelnen Empfindungserlebnissen zu untersuchen.\nDas sechste Capitel behandelt \u201eWahrheit und Irrthum\u201c, Sinnest\u00e4uschungen, formale und materiale Erkenntnifsgr\u00fcnde.\nWenn ich zum Schlufs noch auf eine Aeufserlichkeit aufmerksam machen darf, deren Abstellung in einer k\u00fcnftigen Auflage zu w\u00fcnschen w\u00e4re, so sei erw\u00e4hnt, dafs die Verweisung s\u00e4mmtlicher Anmerkungen an den Schlufs des Buches im h\u00f6chsten Grade st\u00f6rend wirkt. Wenn man, durch eine Anmerkungszahl beunruhigt, erst l\u00e4ngere Zeit bl\u00e4ttern mufs, um dann zu finden. \u201e8. S. X\u201c, so bedeutet dies ein ebenso empfindliches wie zweckloses Hindemifs f\u00fcr den ruhigen Fortgang der Gedanken.\nW. Stebn (Breslau).\nAuguste Sabatieb. Esquisse d\u2019une Philosophie de la Religion d\u2019apr\u00e8s la Psycho-logle et l\u2019Histoire. 2. Edition. Paris, Fischbacher, 1897. \u2014 Deutsche Uebersetzung von D. August Baus: Religionsphilosophie auf psychologischer und geschichtlicher Grundlage. Freiburg i. B., J. C. B. Mohr, 1898. 326 S. Mk. 6.\u2014.\nDer ber\u00fchmte protestantische Theologe an der Pariser Universit\u00e4t hat sich an seinem Lebensabend entschlossen, das Gesammtergebnifs seiner Lebenserfahrung und seiner wissenschaftlichen Forschung, soweit beide sich auf das religi\u00f6se Gebiet beziehen, niederzuschreiben, um dieses Werk seinen Freunden und Sch\u00fclern gleichsam als sein literarisches Verm\u00e4cht-nifs darzubieten. Dafs zu den Anh\u00e4ngern seiner Denk- und Lehrweise auch Ausl\u00e4nder z\u00e4hlen, dafs namentlich in Deutschland seine Werke mit Interesse gelesen werden, ist bekannt. Sabatier verf\u00fcgt \u00fcber eine Darstellungsgabe, die schon durch die Sch\u00f6nheit der Form fesselt, noch mehr aber durch die Leichtigkeit \u00fcberrascht, mit welcher die Kunst der Analyse und der positive Aufbau der Gedanken organisch mit einander verbunden werden. Ein Buch wie das vorliegende, obwohl es einen Stoff behandelt, dessen Studium sonst nicht in jedermanns Geschmack liegen mag, ist seines Leserkreises sicher; es ist popul\u00e4r und wissenschaftlich zugleich, und man kann \u2014 bei nicht zu hoch geschraubten Anspr\u00fcchen \u2014 kaum sagen, dafs die Allgemeinverst\u00e4ndlichkeit der Gr\u00fcndlichkeit Abbruch thut.","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nBesprechungen.\nDie Beweisf\u00fchrungen sind freilich oft kurz, aber manchmal gerade dann um so klarer und zwingender; jeder Apparat an umst\u00e4ndlicher Gelehrsamkeit wird mit Recht verschm\u00e4ht, wo durch ein schlagendes Beispiel di\u00bb Wahrheit zur Gen\u00fcge einleuchtend gemacht werden kann. Bedauerlich ist, dafs der Uebersetzer die reichlichen Literaturangaben des Originals weggelassen hat.\nDas Buch zerf\u00e4llt in drei Theile; der erste handelt von der Religion, der zweite vom Christenthum, der dritte vom Dogma. Zwar ist die ge-sammte Darstellung beflissen, neben dem geschichtlichen auch dem psycho* logischen Standpunkt gerecht zu werden, aber die Kunst der psychologischen Analyse, welche der Verfasser mit Gewandtheit zu \u00fcben versteht, kommt haupts\u00e4chlich in demjenigen Abschnitt des ersten Theils zur Geltung, welcher dem Problem des Ursprungs der Religion gewidmet ist. Wir h\u00e4tten freilich gern eine Auseinandersetzung mit einigen der Denkweise des Verfassers verwandten Theorien gesehen, aber das, was Sabatier \u00fcber die hervorragendsteu derselben sagt, gen\u00fcgt, um seinen eigenen Standpunkt deutlich erkennen zu lassen.\nDie historisch-pragmatische Herleitung der Religion aus dem Willen einzelner Machthaber oder frommem Priesterbetrug (Euhemerismus) ist ebenso unzul\u00e4nglich wie die positivistische Th\u00e9ogonie, wonach das Wesen der Religion mit dem Mythos zusammenf\u00e4llt und aus dem Eindruck der Naturph\u00e4nomene stammt, welche den Menschen von Urzeiten her zur Per8oniflcirung von aufsermenschlichen Gegenst\u00e4nden getrieben haben. Dort die Erkl\u00e4rung der Religion aus dem Priesterthum, hier die Erkl\u00e4rung derselben aus der Mythologie. Gegen ersteres sagt Sabatier: \u201eSicherlich ist die Religion oft f\u00fcr die Politik benutzt und als ein treffliches Werkzeug f\u00fcr weltliche Herrschaft angesehen worden; aber was beweisen diese Thatsachen? Nicht der fromme Betrug erzeugt die Religion, denn ohne Religion k\u00f6nnte es niemals einen frommen Betrug geben. Wenn ich sagen h\u00f6re, die Priester haben die Religion gemacht, so begn\u00fcge ich mich zu fragen \u201eJa, wer hat denn aber die Priester gemacht ?\" Gegen die mythologische Theorie, welche freilich genauer h\u00e4tte in Unterarten unterschieden werden m\u00fcssen, mindestens etwa nach dem Vorg\u00e4nge von 0. Gb\u00fcppr in die physikalisch-allegorische der Stoiker, den psychologischen Rationalismus der Eleaten und den kritischen Rationalismus der neueren Philologenschule, \u2014 macht Sabatier geltend, dafs die Religion noch andere Motive hat als das intellectuelle Bestreben, mittels einer bestimmten Weltanschauung das geheimnifsvolle Wesen der Dinge verst\u00e4ndlich zu machen (ob dies das Wesen des Mythos sei, ist freilich sehr zweifelhaft!) \u2014 dafs vielmehr der wesentliche psychische Beweggrund der Religion in den Ge-m\u00fcthsaffecten der Furcht und Hoffnung, in dem Trostbed\u00fcrfnifs und in der Besorgnifs vor dem Unbekannten zu suchen sei, w\u00e4hrend der intellectuelle Reiz des Unbekannten nur ein secund\u00e4res und mehr philosophisches Motiv ist. Darum ist auch das theoretische Moment der Religion verg\u00e4nglich. Cultische und dogmatische Formen veralten und sterben ab; hingegen erweist sich die Religion einer best\u00e4ndigen Auferstehungskraft theilhaftig, deren Ursache durch keine \u00e4ufsere Formel und durch keinen dogmatischen Begriff ersch\u00f6pft werden kann. Selbst die extremsten Positivisten haben","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n137\nder Religion nicht v\u00f6llig Valet sagen k\u00f6nnen, wie Sabatier an den Beispielen von Auguste Comte und Littr\u00e9 , sowie an Herbert Spencer als Typus des modernen Agnosticismus nachznweisen sucht.\nDie Religion ist also aus praktischen Motiven des Gef\u00fchls und Willens-lebens abzuleiten. Darin stimmt Sabatier mit den beiden bedeutendsten neueren Religionspsychologen \u00fcberein, die er leider nicht als seine Vorg\u00e4nger nennt, mit Hume und Feuerbach; Otto Pfleiderer beispielsweise hat offen und dankbar Feuerbach\u2019s Th\u00e9ogonie als mafsgebend anerkannt. \u2014 Die Art ferner, wie Sabatier das besondere Wesen gerade der religi\u00f6sen Gem\u00fcthserregungen kennzeichnet, erinnert wiederum an eine gewisse Theorie, die in der deutschen Religionsphilosophie durch den Anfangs scharfen Gegensatz zwischen der SchleieRMACHER\u2019schen und der HBOEL\u2019schen Auffassung vom Wesen der Religion angebahnt ist, mittels eines an Kart augelehnten Ausgleiches zwischen beiden sich mehr und mehr eingeb\u00fcrgert hat und gegenw\u00e4rtig beinahe typisch geworden ist, nicht nur unter protestantischen Theologen, namentlich aus der Schule Lipsius' und Ritschl\u2019s, sondern auch unter Philosophen. Rauwenhoff\u2019s leider nicht vollendete Religionsphilosophie und seine Controverse mit Hoekstra dreht sich um den n\u00e4mlichen Grundgedanken: ist die Religion blos Abh\u00e4ngigkeitsgef\u00fchl, Nothgef\u00fchl, Furcht vor dem Unbekannten, oder ist sie zugleich Freiheits-bewufstsein, Streben nach Weltbeherrschung, Glaube an die wurzelhafte und wesentliche Einheit des Menschen mit den Grundkr\u00e4ften der Welt? \"\u00ee)der ist sie vielleicht beides, \u2014 die Ausgleichung des Gegensatzes selber? Wie kommt sie urspr\u00fcnglich zu Stande ; welches ist psychologisch-genetisch ihr Grundmotiv? Die Antwort, wie sie durchschnittlich jetzt in Deutschland gegeben wird, k\u00f6nnten wir, ohne auf die verschiedenen Spielarten R\u00fcck sicht zu nehmen, etwa so zusammenfassend wiedergeben : Aus dem Contrast zwischen dem Verflochtensein des menschlichen Daseins in den erdr\u00fcckenden Naturzusammenhang einerseits, und dem unserem Ichbewufstsein un-ver\u00e4ufserlich eigenth\u00fcmlichen Freiheitsgef\u00fchl mit seinen Anspr\u00fcchen auf geistige Weltbeherrschung, auf Selbstbeth\u00e4tigung einer unbez\u00e4hmbaren und unmefsbaren logischen, \u00e4sthetischen, ethischen Kraft andererseits, \u2014 aus diesem Widerspruch zwischen Nothgef\u00fchl und Selbstgef\u00fchl, zwischen Abh\u00e4ngigkeits- und Freiheitsbewufstsein, zwischen Causalit\u00e4tsvorstellung und Selbstbestimmung, zwischen Denken und Wollen, \u2014 rettet uns nur der Glaube an eine h\u00f6here Einheit beider : wir sehnen uns nach Aufl\u00f6sung des Widerspruches und wir finden diese L\u00f6sung in der Hypothese, dafs die gesetzgebende Macht der Natur, welche uns, den individuellen Menschen, als ein verschwindendes Atom dem unendlichen Mechanismus von Ursache uud Wirkung eingereiht und gleichsam eingezw\u00e4ngt hat, zugleich das Urbild unseres Selbstgef\u00fchls, der sch\u00f6pferische Urheber unseres Freiheits-bewufstseins, der wohlwollend unser Ichbewufstsein durchleuchtende \u201eGarant\u201c unserer idealen Bestrebungen sei.\nIch mufs nun gestehen, dafs mir diese Erkl\u00e4rung f\u00fcr den Ursprung der Religion etwas k\u00fcnstlich, mindestens sehr einseitig erscheint ; und der einseitig theoretische Charakter der Religionspsychologie, den Sabattbr tmd andere Religionsphilosophen gegenw\u00e4rtig mit Recht ablehnen, schl\u00fcpft hier sicherlich durch die Hinterth\u00fcr des angeblich praktischen Bed\u00fcrfnisses","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nBesprechungen.\nder Aufl\u00f6sung eines zwischen Theorie und Praxis sich bewegenden Widerspruches wieder herein. Aber immerhin ist es eine Erkl\u00e4rung, die beispielsweise die Wahrheit verr\u00e4th, dafs manchem philosophisch gebildeten Manne, dem der Sinn f\u00fcr die religi\u00f6se Weltbetrachtung geschwunden war, auf diesem theoretischen Wege der Funke des Glaubens neu angefacht sein mag. Somit ist es von Interesse, zu sehen, wieweit bei Sabatieb der geschilderte Gedankengang sich wiederfindet. Seine bez\u00fcgliche Ausf\u00fchrung ist folgende.\nDer Mensch, objectiv betrachtet, ist ein h\u00f6heres Thier, ein nur stufenweise vollkommenstes Product des Erdplaneten. Aber verm\u00f6ge der Entwickelung seines geistigen Lebens tritt in ihm eine neue Sph\u00e4re des Wirklichen ins Dasein: Erscheinungen und Gesetze treten zu Tage, die ein ge* heimnifsvolles Leben des Geistes wie eine g\u00f6ttliche Blume sich entfalten machen. Sie erst verleiht dem Weltall, das wir kennen, seinen Sinn und seine Sch\u00f6nheit. Es \u00f6ffnet sich dem Bewufstsein die Welt des Sch\u00f6nen, Wahren, Guten; insbesondere die sittliche Welt, als jene h\u00f6here Ordnung, der der Mensch allein angeh\u00f6rt. Gesetze des sittlichen Lebens, m\u00e4chtig genug, die Naturgesetze unter ihre Herrschaft zu zwingen, bilden in der H\u00fclle des animalischen Menschen die reine Humanit\u00e4t aus. Er weifs sich nur insoweit Mensch, als er diesen Gesetzen gehorcht ; hier liegt die Krise, durch die er sich von der m\u00fctterlichen Thierheit loszuringen hat: erhebt er sich nicht \u00fcber das Thier, so erniedrigt ihn seine Lebensartung unter dasselbe.\nNun ist aber auch innerhalb des reinmenschlichen Seelenlebens eine psychische Polarit\u00e4t, der Gegensatz der Passivit\u00e4t und Activit\u00e4t, des Centri-petalen und des Centrifugalen zu unterscheiden. In diesem Strom und Gegenstrom der Empfindung und des Willens, der Sensibilit\u00e4t und Irritabilit\u00e4t, besteht das Geistesleben. Hier erscheint ein Grundwiderspruch. Die Empfindung erdr\u00fcckt den Willen. Die harmonische Anlage der Seele wird fortw\u00e4hrend unterbrochen und aufgehoben. Die Activit\u00e4t, die freie Entfaltung des Ich, sein Streben, sich auszubreiten und seinen Besitz auszudehnen, wird schwer bedr\u00fcckt durch die Wucht der Welt, die von allen Seiten auf das Ich reagirt. So bricht sich die Lebenswoge, die aus dem Centrum hervordringt (das FiCHTE\u2019sche Ich, k\u00f6nnten wir sagen), wie eine ohnm\u00e4chtige Welle an der Klippe der Aufsendinge. In dieser best\u00e4ndigen Collision zwischen Ich und Welt liegt der Ursprung alles Schmerzes. Die zur\u00fcckgedr\u00e4ngte Activit\u00e4t sammelt Bich in ihrem Centrum, wo sie sich, wie die Axe des Bades, in ihrer Bewegung erhitzt. Doch bald springt der Funke leuchtend hervor und das Geistesleben des Ich kommt zur Kl\u00e4rung. So wird das Bewufstsein; das Ich, zu sich selbst gekommen; erfafst sich als Gegenstand seiner eigenen Beflexion, erkennt sich in seiner Zweitheilung selbst, macht sich zum Object seines Urtheilens, unterscheidet sich von dem Organismus, mit dem es sich bis dahin naiver Weise identi-ficirt hatte, und weifs somit um den Contrast zwischen dem empirischen und dem idealen Ich. Hier liegt der Ursprung seiner Qual, seiner K\u00e4mpfe, seiner Gewissensbisse, aber auch des immer neuen Aufschwungs und des unermefslichen Fortschritts seines Geisteslebens.","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n139\nOhne diese Geburtswehen w\u00fcrde das geistige Leben nicht aus dem physischen entbunden werden; des Schmerzes Bestimmung ist, das Be-wufstsein zu entwickeln. Darum finden wir die feinste Intensit\u00e4t geistigen Lebens oft bei solchen Personen, deren Th\u00e4tigkeit durch physisches Leiden oder sociale Noth yon aufsen nach innen gewendet war und die den radikalen Widerspruch erfahren haben, welcher zugleich das Elend des Menschen und die Erhabenheit seiner Bestimmung ausmacht. Der Verfasser erinnert an Pascal, das Tagebuch des Amtbl, Maine de Biran; er h\u00e4tte, \u00fcber die Grenzen seines Vaterlandes hinausgehend, auch an Lichtbnberg, Lenau, Leopardi, an Beethoven, an Schopenhaueb\u2019s Aeufserungen \u00fcber Pbtbabca, vor Allem in das psychologische Problem, welches Fbibdrich Nietzsche f\u00fcr unser Zeitalter darstellt, erinnern k\u00f6nnen; und wenn man diesen Ausnahmen gegen\u00fcber auf die zahlreicheren gesunden Naturen verweisen will, so wird der mit der Literatur des Pessimusmus Vertraute auch bei Friedrich dem Grofsen, bei Kant und Alexander von'H\u00fcmboldt, bei 8hellby und Goethe die Symptome entdecken, welche eine allgemeinere Fassung jener These wohl rechtfertigen. Sabatier geht einen Schritt weiter und findet, dafs der Schmerz, der dem Widerspruche entspricht, nicht blos die Ursache, sondern auch das stetig wechselnde und doch bleibende Ziel unserer geistigen Entwickelung ist. Mit dem schmerzlichen Ignoramus, dem Widerspruch zwischen Erkenn en wollen und Wissenk\u00f6nnen, endigt unser Verstandesstreben, mit Entt\u00e4uschung und Genufsunf\u00e4higkeit endigt unser Trachten nach Vergn\u00fcgen und Gl\u00fcck. Die Freude tr\u00e4gt in sich den Grund ihrer Ersch\u00f6pfung, die Lustempfindung wandelt sich in Ueberdrufs, im Vergn\u00fcgen selbst steckt schon der Stachel des Schmerzes; durch Haschen nach Wohlsein stumpft die Genufsf\u00e4higkeit sich ab, w\u00e4hrend oft die Empfindlichkeit f\u00fcr das Leiden sich steigert, \u2014 wie Meister Eckhabt sagt : Des Lebens Wollust ist gemischt mit Bitterkeit. Und was die sittliche Sph\u00e4re betrifft, so erinnert der Verfasser an das Wort des Paulus: Was ich will, das thue ich nicht, und was ich nicht will, das thue ich. Je mehr ich Kraft aufwende, um eine ideale Gerechtigkeit zu erlangen, um so mehr merke ich, wie das S\u00fcndenbewufstsein in mir w\u00e4chst; in meinem Wollen f\u00fchle ich mich frei, aber ich bin ein Sclave in meinem Handeln; lauter verzweiflungsvolle Antinomien. Aus dieser Sachlage rettet nur ein Ausweg: etwa der Fortschritt der Wissenschaft? Keineswegs, da dieser den Widerspruch unseres Daseins theilweise noch verschlimmert und geradezu t\u00f6dlich macht, weil durch den Auf weis der durchg\u00e4ngigen causalen Noth-wendigkeit das Gewicht des universalen Determinismus, der auf unser Innenleben dr\u00fcckt und nur an dem Stachel des Gewissens, unter dem die \u00dfeele seufzt, ein Gegengewicht findet, noch vermehrt wird. Und dadurch ist der letzte und tragischste Widerspruch eingeleitet, der zwischen Wissen und Gewissen, zwischen psychischem und moralischem Gesetz. \u201eDamit ber\u00fchren wir die Ursache eines seltsamen Uebels, das man das Uebel des Jahrhunderts nennen k\u00f6nnte, einer Art von innerer Auszehrung, von welcher alle Kulturv\u00f6lker in ihrem Geistesleben mehr oder weniger angesteckt sind. In diesem B\u00fcrgerkriege k\u00e4mpft das menschliche Ich gegen sich selbst und ersch\u00f6pft seine eigenen Lebensquellen. Je mehr man \u00fcber die Gr\u00fcnde nachdenkt, die uns zum Leben und zum Handeln treiben","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nBesprechungen.\nk\u00f6nnen, nm so tiefer sinkt die F\u00e4higkeit znr Kraftentfaltung und zum Handeln selber. Die durchdringende Sch\u00e4rfe des Denkens steht im umgekehrten Verh\u00e4ltnifs zur Energie des Wollene. Die Pessimisten sagen uns, dafs ein vollkommenes Selbstbewusstsein in uns sogar die Lust zum Leben und zum Handeln zerst\u00f6ren w\u00fcrde. Und wer ist nicht heutzutage mehr oder minder ein Pessimist? Wer klagt nicht fiber die allzudr\u00fcckende Wucht des Denkens oder fiber die allzugrofoe Schw\u00e4che unserer Natur? Wer hat nicht schon das sonderbare, fast allt\u00e4glich gewordene Bfindnifis zwischen der gr\u00f6fsten Frivolit\u00e4t des Charakters und der gr\u00f6fsten Raffinirtheit der Verstandescultur bemerken k\u00f6nnen? Worin besteht denn die eint\u00f6nige Klage, die sich von allen Seiten erhebt und die aus dem neuesten philosophischen Buch wie aus dem modernen Roman oder aus dem mit gr\u00f6fstem Beifall auf genommenen Theaterst\u00fcck entgegen t\u00f6nt, anders als in dem melancholischen Seufzer eines Lebens, das dem Erl\u00f6schen nahe scheint, und einer greisenhaften Welt, die im Todeskampf liegt? Soll man also auf das Denken verzichten, um sich den Lebensmuth zu erhalten, oder sich in den Tod ergeben, um das Recht zum Denken sich zu bewahren ?\u201c\nAus diesem Gef\u00fchl der Noth, welches als ein urspr\u00fcnglicher Widerspruch des menschlichen Geisteslebens bezeichnet wird, entsteht nun nach Sabatier die Religion! \u201eAus dieser Felsenspalte entspringt die lebengebende Quelle.\u201c Die Religion besteht in der freien Hinwendung der ge\u00e4ngsteten Seele zu jener geheimnifsvollen Macht, von welcher sie sich und ihr Schicksal schlechterdings abh\u00e4ngig f\u00fchlt. Dieser Verkehr mit der geahnten Macht tritt in Activit\u00e4t mittels des Gebetes; dasselbe ist recht eigentlich die wirkliche Religion.\nC\u2019est un commerce, un rapport conscient et voulu, dans lequel l'ftme en d\u00e9tresse entre avec la puissance myst\u00e9rieuse dont elle sent qu'elle d\u00e9pend et que d\u00e9pend sa destin\u00e9e. So lautet Sabatibb\u2019b \u201eDefinition\u201c der Religion. Das Geffihl unserer Abh\u00e4ngigkeit ist zugleich das Gef\u00fchl der geheimnilsvollen Gegenwart Gottes in unserem Innern. Diesen von Schleiermacher entlehnten Gedanken bem\u00fcht sich Sabatieb zu erg\u00e4nzen durch die Versicherung, dafs das Abh\u00e4ngigkeitsbewufstsein eben durch die gl\u00e4ubige Hingabe sich in Freiheit verwandle; und ebenso versichert er, dafs die dargelegte Ursprungstheorie nicht auf einen durch die Logik geschaffenen Widerspruch zur\u00fcckgreife, dafs die Rettungsthat des religi\u00f6sen Vertrauens nicht eine That der Willk\u00fcr, sondern eine praktische Nothwendigkeit sei, demselben Lebenstriebe entstammend, der urspr\u00fcnglich blind und als Naturgabe in den Organismen waltet, hier aber in Verbindung mit dem Geistesleben eine Umgestaltung erf\u00e4hrt und in der Form der Religion erscheint.\nEine solche Versicherung, auch wenn sie nicht oder nur unvollkommen bewiesen w\u00fcrde, ist doch mehr als eine petitio principii; es steckt in ihr \u00abin Niederschlag pers\u00f6nlicher Erfahrung, und hier handelt es sich um die Erfahrung eines w\u00fcrdigen Greises. Dafs in der seelischen Stimmung, welche man Religion im subjectiven Sinne nennt, nicht blos Abh\u00e4ngigkeit\u00ab', sondern Freiheitsgef\u00fchle enthalten sein k\u00f6nnen, ist zweifellos ; dasselbe behaupteten gegen Schleiermacheb aufser Hegel und Daub schon A. Twesten und A. Schweizer, die \u00e4ltesten und bedeutendsten Sch\u00fcler","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n14 \u00ee\nSchlkebbiiacheb's ; ferner J. T. Bkck, K. J. Nitzsch, R. A. Lipsius und viele: Andere. Aber das Mischungsverh\u00e4ltnis der beiden psychischen Factoren, ist thate\u00e4chlich sehr verschieden; der Fatalismus und die buddhistische*, Karmanlehre weichen in extremer Weise von jener gesunden Mitte ab, wie* sie die Vorstellung von einer v\u00e4terlichen Vorsehung im christlichen Sinnfr innehalten lehrt. \u2014 Ebenso ist es andererseits richtig, dafs die Religion nicht blos theoretischen Erw\u00e4gungen entstammt; aber die Art der Sfeelen-conflicte, welche Sabatier uns als Wurzel der Religion vorf\u00fchrt, erinnert doch vorwiegend an die mit k\u00fcnstlichen Bildungsmitteln \u00fcberladenen und, namentlich mit philosophischer und \u00e4sthetischer Geistesnahrung \u00fcbers\u00e4ttigten Decadents des ausgehenden Jahrhunderts, nicht blos in Frank' reich, \u2014 jene \u201eKranken\u201c, als deren einen unser Nietzsche sich selbst be-mtheilt hat. Wer literarischen und musikalischen Einfl\u00fcssen in der Art wie Nietzsche in seinen besseren Jahren unterliegt, dem mag das Recept der SABATiER\u2019schen Religionspsychologie m\u00f6glichenfalls noch zu wirklicher, Fr\u00f6mmigkeit und damit zur Gesundung verhelfen; wahrscheinlich ist ee glicht, denn gerade die liier gebotene Selbstanalyse vermehrt die Opfergaben, welche der Zeitgeist dem Illusionismus darzubringen sich gew\u00f6hnt, hat. Wenn wirklich nur der Nothschrei des gequ\u00e4lten Herzens, das den Widerspruch zwischen Denken und Wollen nicht zu l\u00f6sen vermag, die Religion hervorgerufen haben sollte, so ist f\u00fcr den, der den Widerspruch klar zu \u00fcberschauen meint, der Verdacht allzu naheliegend, mit dieser L\u00f6sung strebe eben das Wollen nur von neuem, wie mit letztem entscheidendem Ansturm, die Herrschaft \u00fcber das Denken zu gewinnen. Diese sehnsuchtsvolle Selbstbehauptung der Freiheit gegen\u00fcber der Einsicht in das absolute Walten des Naturgesetzes erinnert an das bekannte Gem\u00e4lde von Sascha Schneider, betitelt \u201eAbh\u00e4ngigkeitsgef\u00fchl\u201c: ein gefesselter Mensch, frei dastehend im Bereich der Klauen eines ungeschlachten nachl\u00e4ssig hin gestreckten, einstweilen noch im Verdauungsprocefs verharrenden Riesenreptils ; von dem stieren Blick des plumpen Unget\u00fcms, dessen geifertriefender Rachen ebenso an das \u201ealles verschlingende Grab\u201c wie an das \u201eewig wiederk\u00e4uende Ungeheuer\u201c erinnert, von dem \u201eWerther\u2019s Leiden\u201c erz\u00e4hlt, erscheint der Ungl\u00fcckliche wie hypnotisch gebannt; man weifs nicht, harrt er ohnm\u00e4chtig nur noch seines sicheren Verderbens, spottet er durch seine stampfe Miene trotz inneren Siegesgef\u00fchls der physischen Obmacht, oder wird er durch die magnetisirende Umschlingung des allm\u00e4chtigen Pythons za Btummer Ergebung, zu williger Bereitschaft, sein Selbst in das allgewaltigere Selbst zu versenken, d\u00e4monisch gereizt?\nEs fehlt in Sabatier\u2019s Religionspsychologie trotz jener Versicherungen an einem \u00fcber das individuelle Erleben hinausreichenden Beweise f\u00fcr die Allgemeinheit und Nothwendigkeit gerade dieser Ableitung und Begriffsbestimmung der Religion. Und das h\u00e4ngt mit dem Mangel zusammen, dafs das sprachpsychologische Gesetz der gegenseitigen Bedingtheit zwischen dem individuellen Lebensideal und der Auswahl der zur Urtheilsbildung erforderlichen Thatsachen sowie der Bedingtheit beider durch den \u2014 namentlich auf religionsphilosophischem Gebiet \u2014 so \u00fcberaus schillernden Sprachgebrauch nicht auch nur im entferntesten erkannt ist, was freilich auch von s\u00e4mmtlichen deutschen Religionspsychologen gilt. Thats\u00e4chlich ent-","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nBesprechungen.\nsteht und verj\u00fcngt sich das, was viele \u201eReligion\u201c nennen, oft aus ganz anderen Ursachen, z. B. aus der freudigen Bewunderung der Natur und aus dankbarer R\u00fchrung in Folge unverdienten Gl\u00fcckes, etwa, wie du Moht gelegentlich ausgef\u00fchrt hat, in der Zeit des Brautstandes. Wie die Lerche ihr Lied schmettert, so entstr\u00f6mt dem Herzen des Menschen die Religion.\nDer beachtenswertheste Ertrag, den die Psychologie aus der noch \u00fcberall vorherrschenden Methode, Religionsphilosophie zu treiben, bis jetzt gewinnen kann, scheint mir der zu sein: wir k\u00f6nnen gerade hier recht deutlich beobachten, wie weit das wissenschaftlich sein wollende Urtheil beeinflufst wird durch heterogene Motive: Sprachgewohnheiten, Denkgewohnheiten, pers\u00f6nlichen Geschmack, Alter, Temperament, Volksthum, Bildungsstufe und manches Andere. Auch die psychologisch sehr erkl\u00e4rliche Gewohnheit, wenn man sich bei einer Einseitigkeit ertappt (z. B. bei dem Bestreben, die Religion blos auf theoretische Ursachen zur\u00fcckzuf\u00fchren, oder sie blos in das Abh\u00e4ngigkeitsgef\u00fchl zu setzen) \u2014 alsbald durch Hervorkehrung des erg\u00e4nzenden Correlates eine Berichtigung zu versuchen, entstammt durchaus nicht immer sachlichen Gr\u00fcnden der Wahrheitsliebe und der objectiven Beobachtung, sondern bezeichnet einen der Punkte, da die Erkenntnifstheorie vielleicht ganz auf Psychologie zu gr\u00fcnden w\u00e4re.\nR\u00fcnze (Gr. Lichterfelde).","page":142}],"identifier":"lit31165","issued":"1900","language":"de","pages":"135-142","startpages":"135","title":"Auguste Sabatier: Esquisse d'une Philosophie de la Religion d'apr\u00e8s la Psychologie et l'Histoire. 2. Edition. Paris, Fischbacher, 1897. - Deutsche Uebersetzung von D. August Baur: Religionsphilosophie auf psychologischer und geschichtlicher Grundlage. Freiburg i. B., J. C. B. Mohr, 1898. 326 S.","type":"Journal Article","volume":"22"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:14:36.640431+00:00"}

VL Library

Journal Article
Permalink (old)
http://vlp.uni-regensburg.de/library/journals.html?id=lit31165
Licence (for files):
Creative Commons Attribution-NonCommercial
cc-by-nc

Export

  • BibTeX
  • Dublin Core
  • JSON

Language:

© Universitätsbibliothek Regensburg | Imprint | Privacy policy | Contact | Icons by Font Awesome and Icons8 | Powered by Invenio & Zenodo