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J. M. Baldwin: Die Entwickelung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse (Methoden und Verfahren). Unter Mitwirkung des Autors nach der dritten englischen Auflage ins Deutsche übersetzt von Dr. A. E. Ortmann. Nebst einem Vorwort von Th. Ziehen. Mit 17 Figuren und 10 Tabellen. Berlin, Reuther u. Reichard, 1898. 470 S.

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{"created":"2022-01-31T16:18:44.689359+00:00","id":"lit31188","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"K\u00fclpe","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22: 208-219","fulltext":[{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nBesprechungen.\nJ. M. Baldwin. Die Entwickelung des Geistes beim Kinde nnd bei der Raas (Methoden and Verfahren). Unter Mitwirkung des Autors nach der dritten englischen Auflage ins Deutsche \u00fcbersetzt von Dr. A. E. Om-mann. Nebst einem Vorwort von Th. Ziehen. Mit 17 Figuren und 10 Tabellen. Berlin, Reuther u. Reichard, 1898. 470 S.\nDafs die geistige Entwickelung ein Thatsachengebiet darstellt, das einer tiefer eindringenden und gr\u00fcndlicher verfahrenden Forschung bed\u00fcrftig ist, als sie ihm bisher zu Theil wurde, braucht dem Sachkundigen nicht erst gesagt zu werden. Was mit der zweischneidigen Waffe der Analogie mit der organischen Entwickelung hier geleistet werden kann, das hat insbesondere Spencer gezeigt. Eine Construction auf Grund von Analogien kann aber immer nur den Werth einer ersten Anregung, einer vorl\u00e4ufigen Uebersicht haben. Das ist namentlich dann der Fall, wenn die Analogien, deren man sich bedient, ein nur \u00e4ufserliches Verst\u00e4ndnifs der aufzuhellenden Erscheinungen erm\u00f6glichen. In dieser Lage befinden wir uns bei der Wahl biologischer Muster f\u00fcr die zu schildernde Gesetzlichkeit der Psychogenesis. Was beispielsweise ein Differenzirungsprocefs, mit dem ja die SpENCEB'sche Entwickelungsgeschichte in ausgiebiger Weise arbeitet, im Gebiet des Organischen bedeutet, daf\u00fcr haben wir zwar keine wirkliche Theorie bisher, aber wenigstens eine Reihe von anschaulichen, einander erg\u00e4nzenden Vorstellungen. Was dagegen eine Differenzirung mit ihren verschiedenen Graden vom Bewufstsein eines niederen Organismus bis zu dem eines Menschen hinauf eigentlich sei, dar\u00fcber pflegt man uns mit Worten abzuspeisen, die durch den Hinweis auf die biologischen Vorg\u00e4nge nicht sinnreich werden. Die wahren Analogien ruhen nicht in diesen, sondern in unserem eigenen Bewufstsein, auch die Vorg\u00e4nge und Gesetze der psychischen Entwickelung sind als Thatsachen zu verstehen nur von der allgemeinen Psychologie aus. Nur durch eine cons\u00e9quente Anwendung der von der letzteren ermittelten Einsichten in das Seelenleben wird auch die Lehre von der geistigen Entwickelung eine wissenschaftlich befriedigendere Gestalt annehmen k\u00f6nnen. Den Gedanken, dafs die allgemeine Psychologie eine wesentliche Bereicherung oder gar ihre Grundlegung von Seiten der unabh\u00e4ngig von ihr betriebenen genetischen Betrachtung erfahren werde oder m\u00fcsse, wird man daher zweckm\u00e4fsigerweise aufzugeben oder wenigstens vorl\u00e4ufig zur\u00fcckzudr\u00e4ngen haben, um daf\u00fcr den anderen einer bestimmenden Einwirkung allgemein-psychologischer Voraussetzungen auf die Entwickelungsgeschichte deutlich hervortreten und in der Forschung und Darstellung Leben gewinnen zu lassen.\nIn der Erwartung, die hier ausgesprochenen Forderungen erf\u00fcllt oder anerkannt zu sehen, habe ich das Buch des bekannten amerikanischen Psychologen, das im Original einen so grofsen Erfolg errungen hat, zu studiren begonnen. Das Resultat meiner Pr\u00fcfung war in Kurzem dies, daft ich mich get\u00e4uscht fand und einen neuen, geistreich durchgef\u00fchrten Versuch kennen- lernte, die Psychogenesis zu construiren, unter starker Anlehnung an biologische Analogien. Den Nachweis daf\u00fcr hat zun\u00e4chst die Angabe des Hauptinhalts zu erbringen. Die darauf folgende Kritik wird","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n209\n\u00abich auf wenige Punkte beschr\u00e4nken, die eine typische Bedeutung haben, und vieles Andere, wogegen ich Einw\u00e4nde vorzutragen h\u00e4tte, \u00fcbergehen.\nDie Einleitung bringt uns allgemeine, programmatisch gehaltene Ausf\u00fchrungen \u00fcber geistige Ontogenese und Phylogenese, \u00fcber die Tragweite biologischer Analogien, insbesondere die Geltung des sog. biogenetischen Grundgesetzes f\u00fcr die geistige Entwickelung, endlich die Darstellung einer neuen, \u201edynamogenetischen\u201c Methode zur Untersuchung des kindlichen Seelenlebens. Hieraus sei hervorgehoben zun\u00e4chst die Unterscheidung von f\u00fcnf Stufen geistiger Entwickelung. Die erste ist die affective, gebildet von Lust und Schmerz mit den ihnen entsprechenden motorischen Anpassungen, die zweite die objective, in der die Sinnesfunctionen einzelnes Vorstellungsmaterial vermitteln, die dritte die projective, charak-terisirt durch die Bildung von Vorstellungen, die sich auf einzelne Gegenst\u00e4nde beziehen, die vierte die subjective, wo die bewufste Nachahmung und das Ged\u00e4chtnifs \u00fcber das eigene Ich Aufschlufs geben, endlich die ej\u00e9crive, welche mit diesen subjectiven Erfahrungen das Wahrgenommene erg\u00e4nzt und deutet und zum Nachdenken sich erhebt. Ferner bedarf die von B. vorgeschlagene Methode der Erl\u00e4uterung. In dem ersten Stadium, bis etwa zum 24. Lebensmonat, besteht nach ihm eine unmittelbare reflec-torische Reaction auf Sinneseindr\u00fccke, die benutzt werden kann, um Art und Umfang der Sinneswahrnehmung u. A. in exacterer Form festzustellen, als dies bisher durch Pre\u00efbr, Buhst u. A. geschehen sei. Das Kind greift nach Gegenst\u00e4nden, die ihm in einer gewissen Entfernung vor die Augen gehalten werden. Anzahl und Intensit\u00e4t dieser Greifbewegungen ist abh\u00e4ngig von dem \u201esensationalen Charakter\u201c q der vorgezeigten Objecte und der Entfernung d, in der sie gehalten werden. Diese Abh\u00e4ngigkeit der dynamogenetischen Wirkung D von den beiden erw\u00e4hnten Factoren wird ln der aus verschiedenen Gr\u00fcnden recht unpassenden Formel D = h \u2022 qjd dargestellt.\nEs folgt der erste Theil, die \u201eexperimentelle Begr\u00fcndung\u201c. Er bringt zun\u00e4chst Versuche \u00fcber Farben- und Entfernungswahrnehmungen bei einem Kinde, die im 9. Monat desselben begannen und sich \u00fcber mehr als 6 Monate erstreckten. Trotz dieser langen Zeit betr\u00e4gt die Gesammtzahl der tabellarisch mitgetheilten Experimente nur 217, f\u00fcr 5 Farben und Zeitungspapier bei 7 verschiedenen Entfernungen offenbar viel zu wenig, um mehr als eine nicht gerade sehr ermuthigende Demonstration der neuen Methode zu bilden. Ungleich wichtiger und ertragreicher sind die im Anschlufs daran mitgetheilten Versuche \u00fcber den Gebrauch der rechten bezw. linken Hand beim Greifen, angestellt an demselben Kinde vom 6.\u201410. Monat. Hier ergab sich aus zahlreichen Experimenten, dafs erst bei gr\u00f6fserer, Anstrengung erfordernder Entfernung oder lebhaft reizendem Object eine deutliche Bevorzugung der rechten Hand hervortrat Die sich daran an-schliefsenden theoretischen Er\u00f6rterungen \u00fcber den Ursprung der Rechtsh\u00e4ndigkeit bringen nichts eigentlich Neues. Aus den folgenden Mittheilungen \u00fcber \u201emalende Nachahmung\u201c geht zun\u00e4chst hervor, dafs anf\u00e4nglich nicht ein Bild, eine Vorlage, sondern die zu der Herstellung derselben erforderlichen, Bewegungen des Vorzeichners in sehr unbestimmter\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 22.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nBesprechungen.\nund allgemeiner Form nachgeahmt worden. Das Kind konnte hier auch sein eigenes Werk nicht identiflciren, obwohl es die Vorlage zu erkennen nnd zu benennen wufste. Erst im 27. Monat trat eine Aenderang ein, indem das Kind lernte, jeden Theil einer Figur einzeln zu zeichnen, und dadurch zugleich die F\u00e4higkeit erlangte, unabh\u00e4ngig von einer Vorlage, nach der blofsen Erinnerung ein Bild zu entwerfen. Im Zusammenhang mit diesen Beobachtungen wird von B. eine Theorie Aber die Entstehung der Handschrift dargelegt, die im Wesentlichen auf der Annahme einer Verschiebung, Specialisirung und Befestigung der associativen Verkn\u00fcpfung zwischen den Gliedern einer Reihe der gesehenen Formen, einer anderen der Muskelempfindungen und einer dritten der gesehenen Bewegungen beruht Die Versuche \u00fcber die malende Nachahmung leiden offenbar unter dem Fehler, mit zu complicirten Figuren den Anfang gemacht zu haben. Aufserdem w\u00fcrden sie wohl anders ausgefallen sein, wenn das Kind die Bewegungen des Vorzeichners nicht gesehen h\u00e4tte.\nDer letzte Theil der \u201eexperimentellen Begr\u00fcndung\u201c ist dem Nachweis gewidmet, dafs die Suggestion in ihren verschiedenen Entwickelungsstufen innerhalb des kindlichen Seelenlebens eine bedeutende Rolle spielt Die erete Stufe wird von der \u201ephysiologischen Suggestion\u201c gebildet, in der das Bewufstsein nur undeutlich und unbestimmt mitwirkt, sie wird auch \u201ehalbbewufste Suggestion\u201c genannt. Als sensori-motorische Suggestion wird ferner diejenige bezeichnet, bei welcher der eine Bewegung einleitende Procefs deutlich bewufst ist. Davon unterscheidet sich die ideo-motorische Suggestion dadurch, dafs der die Reaction anregende Reiz eine deutliche Vorstellung ist. Unter diesem Gesichtspunkt wird namentlich die Nachahmung behandelt. Der Titel \u201ehalbbewufste Suggestion bei Erwachsenen\u201c vereinigt sodann \u201egewisse Erscheinungen sehr auffallender Art, deren Einreihung hier so klar ist, dafs eine Besprechung der allgemeinen psychologischen Principien, die sie enthalten, nicht n\u00f6thig ist.\u201c Es sind F\u00e4lle der Anregung von Melodien durch rhythmische Ger\u00e4usche, ferner Einwirkungen von Tr\u00e4umen auf das Gem\u00fcthsleben des Wachenden, normale Auto-Suggestion und Versch\u00e4rfung der Sinne. Ich mufs gestehen, dafs mir die Einreihung dieser Erscheinungen an dieser Stelle durchaus nicht klar ist. Der Name \u201ehemmende Suggestion\u201c fafst alle die F\u00e4lle zusanmen, [in denen der suggerirende Reiz eine Unterdr\u00fcckung, Abschw\u00e4chung oder Verhinderung der Bewegung herbeif\u00fchrt. Als solche Reize gelten z.B. Schmerz oder Empfindungen, welche ein System zweckm\u00e4fsiger Bewegungen beimKinde controlirend begleiten. Aber auch die Tendenz, das Gegentheil von dem zu thun, was suggerirt wird, der Widerspruchsgeist, wird als \u201econtr\u00e4re Suggestion\u201c hier aufgenommen und \u2014 sehr ungen\u00fcgend \u2014 als eine Ueber-treibung der \u201eControl-Suggestion\u201c aufgefafst. Endlich wird in diesem Zusammenh\u00e4nge noch der Sch\u00fcchternheit eine eingehendere und interessante Betrachtung gewidmet. Alle diese Thatsachen der Suggestion werden schliefslich unter das allgemeine Princip der Dynamogenesis subsumirt, nach dem jeder von aufsen eindringende Reiz einen nach aufsen hin sich beth\u00e4tigenden Procefs von Seiten des gereizten Organismus und Bewufst-seins hervorzurufen sucht. Erfolgt dies gewohnheitsm\u00e4fsig, so nimmt der Antheil des Bewusstseins an der Reaction ab. Dagegen wird der letztere","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n211\nlebhaft, wo sich eine neue Bewegung im Sinne einer Accommodation aus-bildet. Gewohnheit und Accommodation sind somit zwei verschiedene Formen dynamogenetischer Reaction, auf die sich alles Handeln zur\u00fcckf\u00fchren Iftfst. Die Theorie der organischen Entwickelung soll zeigen, wann und wie diese beiden Formen entstehen und ablaufen.\nAus dem zweiten Theil, der \u201ebiologischen Entwickelung\u201c, sei zun\u00e4chst hervorgehoben, dafs sich B. denen anschliefst, die Leben und Bewusstsein gleichzeitig beginnen lassen und die Wurzel des letzteren in Lost and Unlust sehen. Gewohnheit wird als die Tendenz des Organismus betrachtet, die f\u00fcr die Erhaltung des Lebens nothwendigen und angenehmen Bewegungen auszuf\u00fchren und zu wiederholen, denn f\u00fcr die schmerzhaften Bewegungen existirt keine Gewohnheit. Die Accommodation aber ist nach dieser Auffassung blos eine Uebertreibung oder Erh\u00f6hung der gew\u00f6hn-heitsm\u00e4fsigen Tendenz, das Resultat und die Frucht der Gewohnheit. Ferner sei auf eine \u201eTheorie der Ausdrucksbewegungen der Affecte\u201c hingewiesen. Auch diese Theorie arbeitet mit den immer mehr zu einem festen Schema werdenden Begriffen der Dynamogenesis, der Gewohnheit und der Accommodation. In ihnen sind alle m\u00f6glichen Verhaltungsweisen des Organismus ersch\u00f6pft, also mufs auch stets auf sie zur\u00fcckgegriffen werden. Wie sch\u00e4dlich Bich diese constructive Betrachtungsweise geltend macht, geht hier namentlich aus einem Beispiel hervor. Unser Geist besitzt nach Jambs niemals genau denselben Inhalt. Wenn nun, so folgert Baldwin, der sich dieser Ansicht anschliefst, unsere Erfahrung niemals sich wiederholt, dann bandeln wir auch niemals zwei Mal in derselben Weise. Das neue x, das zu dem alten c des Inhalts gef\u00fcgt wird, mufs ein neues x in der Handlung hervorrufen, das zu dem alten a der Handlung hinzutritt. Somit sind in jeder Handlung eines jeden Organismus und in jedem Entwickelungs-stadium zwei Elemente vorhanden: eines, das allein der Gewohnheit zuzu-schreiben ist, und ein anderes, das durch die neue Gr\u00f6fse des Inhalts bedingt wird und eine Accommodation bilde. Charakteristisch ist auch eine andere Stelle in demselben Abschnitt. Ich schliefse, sagt der Verf. w\u00f6rtlich, dafs Affect in allen F\u00e4llen Folgendes ist: Lust und Schmerz der Accommodation -j- Lust und Schmerz der Gewohnheit -f- einer gewissen Menge von Qualit\u00e4ten, die dem Bewufstsein durch mehr oder weniger habituelle Vorg\u00e4nge in den Muskeln, Organen und Dr\u00fcsen, die z\u00fcr betreffenden Zeit stattfinden, zugef\u00fcgt werden. Und der Ausdruck eines Affectes ist in allen F\u00e4llen Folgendes : gewisse mehr oder weniger habituelle Processe, die im Organismus Vorgehen -f- den Elementen von Muskel- und K\u00f6rpercontractionen, die durch augenblickliche Lust oder Schmerz erzeugt\u2019 werden. Das ist Alles. Ref. braucht diesen Worten wohl auch nichts hin-zuzuf\u00fcgen.\nDas letzte Capitel dieses Theils behandelt die \u201eorganische Nach-ahmnng\u201c. Unter diesem Namen wird in Anlehnung an den popul\u00e4ren Sprachgebrauch sehr Vieles zusammengefafst, alle Reactionen, die eine Wiederholung oder Fortdauer des sie einleitenden Reizes herbeizuf\u00fchren streben und daher auch gelegentlich \u201ecircul\u00e4re Reactionen\u201c heifsen. Die Adaptation aller Organismen wird auf diesen Typus zur\u00fcckgef\u00fchrt. F\u00fcr\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nBesprechungen.\n\u2022die \u00e4ufseren Reize k\u00f6nnen nun aber auch, selbstst\u00e4ndig oder vermittelnd, innere, die physischen Aequivalente der Ged\u00e4chtnifsbilder, auf Grund der Association eintreten. \u201eEine Erinnerung ist eine Nachahmungsvorlage, die von der Welt ins Bewufstsein (Ibergegangen ist. Ged\u00e4chtnifs ist eine Einrichtung, um die Entfernung in Raum und Zeit zu \u00fcberwinden.\u201c \u00a3. selbst hebt die Verwandtschaft dieser Auffassung mit derjenigen des Sociologen Tabdb hervor, meint jedoch, diese durch seine Analyse, seine \u201eAbleitung\u201c der Nachahmung wesentlich verbessert zu haben. Er \u00fcbersieht offenbar zun\u00e4chst, dafs Ged\u00e4chtnifs und Wiederholung nur dann in einer realen Beziehung zu einander stehen, wenn ein (an und f\u00fcr sich nicht nothwendiges) Resultat der Wiederholung, die Disposition zur Erneuerung der gleichen oder einer \u00e4hnlichen Function, stillschweigend hinzugedacht wird. Er \u00fcbersieht sodann, dafs die Nachahmung, die circul\u00e4re Reaction, doch nur eines der Mittel ist, die Wiederholungen zu Stande zu bringen. Es wiederholen sich ja auch, unabh\u00e4ngig von aller Nachahmung, Processe der Aufsenwelt, die Reize, und man wird es nicht unwahrscheinlich nennen k\u00f6nnen, dafs diese Wiederholung eine urspr\u00fcnglichere und umfassendere Bedeutung f\u00fcr das Ged\u00e4chtnifs hat, als die durch Nachahmung bewirkte.\nGewohnheit und Accommodation erhalten eine weitere \u00fcberraschende Anwendung dadurch, dafs jene zur motorischen Seite des nerv\u00f6sen Apparates, diese zur sensorischen in Beziehung gesetzt wird. Die Reactionen des Organismus werden durch den den Sinnen und den h\u00f6heren geistigen Functionen gemeinsam dienenden motorischen Apparat wiederholt Sie stellen \u201edie grofse Antithese der Ebbe und Fluth in den vitalen Processen dar, durch die alle Arten von Reizungen sich ausdr\u00fccken lassen\u201c. \u201eNach der motorischen Gewohnheit l\u00e4fst sich also die nerv\u00f6se und geistige Einheit abmessen.\u201c Im Gegensatz dazu steht die sensorische Seite als die Ursache der Accommodation, als die Summe schwankender, variirender Vorg\u00e4nge. Die Associationen gestalten sich im Laufe der Entwickelung immer complicirter, indem Bich abgek\u00fcrzte Verkn\u00fcpfungen ausbilden, die den urspr\u00fcnglichen Nachahmungscharakter der Accommodation verwischen. Auf solchen Abk\u00fcrzungen beruht das Geheimnifs der Abk\u00fcrzung der Phylogenese in der Ontogenese. Accommodationen werden auf diesem Wege allm\u00e4hlich zu Gewohnheiten.\nDer dritte Theil, der die psychologische Entwickelung behandelt, setzt mit einem Capitel \u00fcber bewufste Nachahmung, d. h. zun\u00e4chst \u00fcber den Ursprung des Ged\u00e4chtnisses und der Einbildung ein. Vorausgesetzt wird als ein Resultat vorangegangener Er\u00f6rterungen, dafs das Bewufstsein \u201eeine h\u00f6here Sph\u00e4re organischer Accommodation\u201c sei und mit dem Gef\u00fchl als dem Ausdruck eines Ueberschusses centraler Energie sehr fr\u00fch \u201ein der Lebensreihe\u201c entstanden sei. \u201eDa es der Kern unserer Accommodationslehre ist, dafs die imitative Reaction der Typus aller organischen Accommodationen ist, so wird es zu unserer ferneren Aufgabe, die Gegenwart der Nachahmung in der Entwickelung des Bewufstseins zu verfolgen und zu erkl\u00e4ren.\u201c Nat\u00fcrlich giebt es zwei Arten der Nachahmung, eine instinctive und eine bewufste, von denen jene auf Gewohnheit, diese auf Accommodation zur\u00fcckgeht. Die Nachahmung kann ferner beim Kinde sogar trotz eines an ihre Aus\u00fcbung gekn\u00fcpften Schmerzes erfolgen. \u201eDas","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n213\nPrincip der Accommodation verlangt, dafs es bo sein mufe, denn auf andere Weise k\u00f6nnte keine Entwickelung stattflnden.\u201c Dieser Satz ist ebenso bezeichnend f\u00fcr das Verfahren B.\u2019s bei seinen theoretischen Er\u00f6rterungen, wie der wenige Seiten darauf folgende: Die neurologische Function des Ged\u00e4chtnisses giebt uns sofort auch die psychologische Doctrin daf\u00fcr. Nachdem sodann einige recht oberfl\u00e4chliche Betrachtungen \u00fcber die Association \u201edurch Nebeneinander\u201c, nach Aehnlichkeit und Contrast, sowie \u00fcber die Ausschaltung von Verbindungsgliedern mitgetheilt worden sind, heilst es: alle intelligenten Handlungen haben ihren Ursprung in der Nachahmung\u00bb Immer st\u00e4rker wird jetzt bei B. die Neigung, den motorischen Elementen des Nervensystems eine bestimmende Rolle f\u00fcr das Seelenleben und seine Entwickelung zuzuweisen. Diese aus M\u00fcnsterbbrg\u2019s Schriften zur Gen\u00fcge bekannte Tendenz macht sich dem Thatbestande der Association gegen\u00fcber in der verbl\u00fcffenden Behauptung geltend : \u201ejede beliebigen zwei Elemente, die im Bewusstsein verbunden sind, sind es nur, weil sie motorische Effecte gemeinsam haben.\u201c Diese Behauptung ist um so merkw\u00fcrdiger, als sie in der neurologischen Function, die ja die ausreichende Grundlage der psychologischen Doctrin sein sollte, keine St\u00fctze findet. In derselben Richtung bewegt sich die Theorie der Assimilation. Die neuen Sinneseindr\u00fccke, die \u201ePerceptionsmasse\u201c, regen hiernach motorische; Reactionen an, w\u00e4hrend diese die alten Eindr\u00fccke, die \u201eApperceptionsmasse\u201c, reproduciren, mit denen sie bereits verbunden waien. Diese und andere Stellen machen den Eindruck, als wenn B. nicht nur eine Reproductionstendenz von der Empfindung zur Bewegung, sondern auch die umgekehrte zuliefse. Um so seltsamer ist es, dafs er sich \u00fcber diese sehr unwahrscheinliche und der herrschenden Ansicht durchaus widerstreitende Annahme gar nicht n\u00e4her \u00e4ufsert. Endlich wird in diesem Capitel noch das Wiedererkennen behandelt und theils auf die Assimilation, theils auf die Erleichterung des Vollzugs motorischer Reactionen zur\u00fcckgef\u00fchrt.\nDas folgende Capitel soll den Ursprung des Denkens und des Affects darstellen, wird jedoch dieser Aufgabe in wesentlichen Punkten nicht gerecht. Die Begriffsbildung geht nach B. \u201edurch Identit\u00e4ten und zureichende Gr\u00fcnde vor sich\u201c. Das Princip der Identit\u00e4t wird nun mit der Wiederholung, Nachahmung, Gewohnheit zusammengebracht und in die Forderung gekleidet, \u201eauf eine Verschiedenheit von Erfahrungen in einer einzigen Weise zu handeln\u201c. Anwendung des Principe vom zureichenden Grunde aber bedeutet nichts Anderes als Accommodation im Gebiete des Denkens, Assimilation des Neuen oder auch Glauben. \u201eSo oft wir ein neues Ding glauben,\u201c nehmen wir es in das bestehende Vorlagensystem auf, accommodiren wir uns daran. Aufser diesen allgemeinen logischen Axiomen, deren eigentliche Bedeutung durch diesen Parallelismus mit Gewohnheit und Accommodation nat\u00fcrlich keine Aufhellung, geschweige denn Erkl\u00e4rung empf\u00e4ngt, wird noch der Unterschied des Allgemeinen und Besonderen gew\u00fcrdigt. Beide entstehen nach B. mit einander durch die apperceptive Function des Bewufstseins, jedoch ist das Allgemeine kein besonderer Inhalt desselben, sondern \u201eeine Haltung, eine Erwartung, eine motorische Tendenz\u201c. Das Denken des Philosophen ist somit, da es sich zumeist in Allgemeinbegriffen bewegt, ein Ablauf motorischer Tendenzen! Von der","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nBesprechungen.\nBedeutung der Association und Reproduction f\u00fcr das Denken verlautet -nichts. Ebenso ungen\u00fcgend ist, was \u00fcber die Affecte gesagt wird. B. beschr\u00e4nkt sich darauf, die Wichtigkeit des Nachahmungsprincips in diesem Gebiet dadurch zu illustriren, dafs er die sympathischen Affecte als imitative kennzeichnet. In einem weiteren kurzen Capitel werden sodann die Er\u00f6rterungen \u00fcber die bewufste Nachahmung durch eine Eintheilung der Nachahmungsformen zum Abschlufs gebracht. Neben der organischen Nachahmung, die auch prim\u00e4r subcortical genannt wird, und der bewufsten oder corticalen erscheint hier als eine neue Form die plastische oder secund\u00e4r subcorticale, welche alle Reactionen umfafst, \u201edie wir auf die Handlungen, Suggestionen etc. von Anderen hin machen, einfach in Folge von Gewohnheit, in der wir uns befinden, von Vererbung und Erfahrung, um mit einer socialen \u201eVorlage\u201c \u00fcbereinzustimmen\u201c, also das halbbewufete Nachahmen dessen, was wir an Anderen wahrnehmen. Einige beachten\u00bb* werthe p\u00e4dagogische Reflexionen, in denen unzweifelhaft eine besondere St\u00e4rke des Verf.\u2019s liegt, beschliefsen in sehr wirksamer Weise den ganzen Abschnitt.\nEinen weit g\u00fcnstigeren Eindruck, als von den bisherigen, gewinnen wir von dem n\u00e4chsten Capitel, das eine umfangreiche Darlegung von der Entstehung des Wollens liefert, offenbar weil die Vorliebe f\u00fcr das Motorische hier mit einem angemesseneren Gebiet ihrer Beth\u00e4tigung zusammentrifft. B. glaubt beobachtet zu haben, dafs beim normalen Bonde die wiederholten Anstrengungen etwas Aeufseres oder Vorgestelltes nachzuahmen die ersten Willensacte bilden. Dabei setzt sich nach ihm das Wollen aus drei Elementen, dem Begehren, der Ueberlegung und der Anstrengung zusammen. [Das Wort \u201eAnstrengung\u201c ist kein Aequivalent f\u00fcr das englische \u201eeffort\u201c; Impuls, Entschlufs dr\u00fccken besser aus, was der Verf. meint.] Das Begehren bezieht sich stets auf eine Vorstellung und enth\u00e4lt etwas Unbefriedigtes, motorische Tendenzen, die sich nicht vollstrecken lassen. Die ersten F\u00e4lle von wirklichem Begehren finden ihren Ausdruck in Handbewegungen nach gesehenen Objecten oder von ihnen fort. Die Ueberlegung, das zweite Element, schliefst die Aufmerksamkeit und deren motorische Coordinationen ein. Die Anstrengung endlich setzt der Ueberlegung ein Ende, f\u00fchrt das Wollen in die Handlung \u00fcber. In der \u201eandauernden\u201c Nachahmung, d. h. den wiederholten und sich allm\u00e4hlich vervollkommnenden Versuchen, eine festgehaltene Vorlage nachzubilden, erblickt B. den urspr\u00fcnglichen Typus aller Willensth\u00e4tigkeit. Er wendet sich daher, nicht ohne Erfolg, gegen die namentlich von Bain vertretene Annahme, dafs das Wollen aus spontanen Reactionen hervorgehe, die zuf\u00e4llig Lust oder Unlust erzeugen und sp\u00e4ter auf Grund von Associationen mit ihren Effecten wiederholt werden. Nach seiner Auffassung ist die Willenshandlung vielmehr ein Fall von functioneller Selection aus \u00fcber-producirten, \u00fcbersch\u00fcssigen Bewegungen. Freilich \u00fcbersieht er dabei, dafs sein Begriff des Willens sich von demjenigen anderer Psychologen nicht unwesentlich unterscheidet. Wer das Moment der Ueberlegung und Wahl nicht als constitutives Merkmal des Wollens auffafst, wird in die Lehre vom Ursprung des Wollens auch keine Selection aufzunehmen brauchen.\nWir \u00fcbergehen das folgende Capitel, das sich mit Sprache, Geaang,","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n215\nmusikalischem Ausdruck und absolutem Tonged\u00e4chtnifs unter dem nicht gerade treffenden Titel \u201eDer Mechanismus der Wiedererweckung\u201c besch\u00e4ftigt, und wenden uns zu dem letzten Capitel des dritten Theils, in dem der Ursprung der Aufmerksamkeit behandelt wird. Wir verweilen bei diesen Ausf\u00fchrungen etwas l\u00e4nger, nicht nur weil B. selbst ihnen ein gr\u00f6fseres Gewicht beimifst, sondern auch um das Verfahren, das er in der psychischen Entwickelungsgeschichte einschl\u00e4gt, etwas deutlicher illustriren zu k\u00f6nnen. So selbstverst\u00e4ndlich es zu sein scheint, dafs die Natur desjenigen Ph\u00e4nomens, dessen Entwickelung man darstellen will, vorerst einigermaarsen genau bestimmt wird, falls man sie nicht von vorn herein als allgemein bekannt voraussetzen kann, so hat sich doch B. eine solche Angabe oder Analyse unter Hinweis auf sein Handbuch der Psychologie ersparen zu d\u00fcrfen geglaubt. Die Folge davon ist, dafs wir ein ganzes B\u00fcndel mehr oder weniger mit einander \u00fcbereinstimmender Aussagen \u00fcber das Wesen der Aufmerksamkeit erhalten, die s\u00e4mmtlich ein dogmatisches Gepr\u00e4ge tragen und daher eine inhaltliche Pr\u00fcfung unm\u00f6glich machen. Wir h\u00f6ren zun\u00e4chst: \u201eDie Aufmerksamkeit ist die Geistesfunction, die der ge-wohnheitsm\u00e4fsigen motorischen Coordination der Processe der erh\u00f6hten oder \u201eUeberschufs\u201c-Aeufserung entspricht.\u201c Etwas weiter lesen wir: \u201eDie Muskeln dr\u00fccken den Einflufs der centralen Erregung aus; dies \u00e4ufsert sich nach innen als erh\u00f6hte Erregung, die wir Aufmerksamkeit und Affect nennen.\u201c Gleich darauf heifst es: \u201ewir identificiren die willk\u00fcrliche Aufmerksamkeit mit motorischer Reaction, die zugleich in der Hauptsache habituell, aber doch in den Centren der h\u00f6chsten Coordination auch theil-weise \u201eexcessiv\u201c ist. Aufmerksamkeit ist im Wesentlichen eine Anh\u00e4ufung Ton Gewohnheit.\u201c Und noch auf derselben Seite: Wir haben \u201eunzweifelhaft in der Aufmerksamkeit die eine [soll heifsen: die einzige] selective Function des Bewufstseins. Wer sollte etwas Anderes behaupten? Was sonst noch die Aufmerksamkeit bewirken mag, jedenfalls sind alle die Selectionen, die das Bewufstsein trifft, auf sie zur\u00fcckzuf\u00fchren\u201c. Wieder etwas sp\u00e4ter erfahren wir, \u201edafs die Aufmerksamkeit eine Art von gene-ralisirter motorischer Erscheinung ist. Generalisirt, weil sie sich gleichm\u00e4\u00dfig auf alle vorgestellten Inhalte bezieht\u201c. Endlich wird erkl\u00e4rt: Die Aufmerksamkeit \u201eist eine Reaction von motorischem Charakter auf Sinnesqualit\u00e4ten und geistige Inhalte im Allgemeinen, die in ihrem Grade der Leichtigkeit und Wirksamkeit nach der Gr\u00f6fse der Gewohnheit und der Entwickelung der Structur variirt\u201c. Aus diesen und anderen S\u00e4tzen geht hervor, dafs B. der Aufmerksamkeit das Festhalten einer Vorstellung zuschreibt. \u201eDie Function des Geistes ist einfach die, eine andauernde Vorstellung \u2014 eine Suggestion, eine \u201eVorlage\u201c \u2014 zu besitzen. Das Uebrige erfolgt nach dem Gesetz der motorischen Reaction, plus dem Einflufs des angesammelten Ueberschusses.\u201c Insbesondere vollzieht sich auch auf diesem Wege die Selection, die unter den m\u00f6glichen dynamogenetischen Beziehungen den zweckm\u00e4fsigen Bestand gewinnen l\u00e4fst. \u201eWenn ... die Muskelanstrengung durch die einfache Thatsache der vermehrten Masse und Diffusion der Reaction Erfolg hat, dann fallen die nutzlosen Elemente weg, da sie nicht l\u00e4nger von der Aufmerksamkeit festgehalten werden.\u201c Doch ist diese nicht etwa \u201eeine F\u00e4higkeit, die den Inhalt er-","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nBesprechungen.\ngreift\", sondern sie ist \u201eeine Function des Inhalts\u201c, und es giebt daher \u201enicht eine einzige Aufmerksamkeit, sondern viele\", je nach den Inhalten, auf die aufgemerkt wird.\nDie Uebertreibung des Motorischen tritt, wie man sieht, auch in diesem Abschnitt deutlich hervor, ja sie erreicht hier geradezu ihren H\u00f6hepunkt B. formulirt ein \u201eGesetz der sensori-motorischen Association\u201c, wonach jeder geistige Zustand ein Complex von sensorischen und motorischen Elementen ist und jeder Einflufs, der die einen verst\u00e4rkt, auch die anderen zu verst\u00e4rken sucht. Aehnlich heilst es an einer anderen Stelle, dafs wir in jeder Art von Bewufstsein ein motorisches Element erwarten m\u00fcssen. Zugleich ist die Nachahmung wiederum der Typus, auf den alle geistige Entwickelung zurtickgef\u00fchrt wird. Die Aufmerksamkeit entsteht daher bei der circularen Reaction, sie ist \u201eder Zwischentr\u00e4ger zwischen der nachgeahmten Vorlage und der Nachahmung, die sie copirt\u201c. Vielleicht wird die constructive Natur des von B. eingeschlagenen Verfahrens nirgends so deutlich, wie gerade hier. Denn Jeder, der an Kindern in den ersten Monaten oder auch an Thieren seine Beobachtung unbefangen ge\u00fcbt hat, wird wissen, dafs bereits vor dem Auftreten circul\u00e4rer Reactionen und neben ihnen Ausdrucksbewegungen erscheinen, die wir nach dem auch sonst dem Nicht-Ich gegen\u00fcber allein anwendbaren Analogieschlufs als Zeichen aufmerksamer Besch\u00e4ftigung mit bestimmten Objecten deuten m\u00fcssen. Gerade das Festhalten von Vorstellungen, worin B. allein die Beth\u00e4tigung der Aufmerksamkeit erblickt, ist, soweit wir die Erfahrung befragen, keineswegs an die wenn auch noch so primitiven Nachahmungsreactionen gebunden. Die Tendenz, das Seelenleben zu vereinfachen, auf ein Grundgesetz, auf eine Grundform zu reduciren, ist hier unverkennbar von nachtheiligem Einflufs auf die \u201eexperimentelle Begr\u00fcndung\u201c gewesen.\nNicht ohne ein Gef\u00fchl erheblicher Entt\u00e4uschung wird man den vierten und letzten Theil des Buches, eine sehr kurz gehaltene \u201eAllgemeine Synthese\u201c aus der Hand legen. Man erwartet die F\u00e4den der organischen und der geistigen Entwickelung darin verkn\u00fcpft zu sehen, statt dessen erh\u00e4lt man, von einigen Digressionen abgesehen, nur eine Wiederholung dessen, was fr\u00fcher \u00fcber Gewohnheit und Accommodation, sowie \u00fcber die Nachahmung bereits gesagt war. Gewohnheit ist hiernach die Tendenz eines Organismus, vital wohlth\u00e4tige Processe immer leichter und leichter fortdauern zu lassen. Dazu mufs der Organismus Contractilit\u00e4t besitzen und den Antrieb, die g\u00fcnstigen Bewegungen auszuf\u00fchren und zu erhalten. Dieser Antrieb stammt aus dem Lust-Schmerz-Procefs, der durch die Reize angeregt wird. Accommodation dagegen ist das Princip, nach dem ein Organismus sich an complicirtere Zust\u00e4nde der Reizung durch Leistung complicirterer Functionen adaptirt. Die Form, in der das geschieht, ist die Nachahmung, die durch motorischen Ueberschufs m\u00f6glich wird. Daneben erfahren wir, dafs die sociale Vererbung, die an die Stelle der physischen treten soll, ein Procefs der imitativen Absorption dessen ist, was die Tradition bietet, dafs die Intelligenz die h\u00f6chste und specialisirteste Form der Accommodation durch circul\u00e4re Reaction ist, und einige, an sich nicht uninteressante, aber der allgemeinen Synthese recht fern stehende Ausf\u00fchrungen \u00fcber Lust und Unlust als Qualit\u00e4ten des Bewusstseins. Der","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n217\nVollst\u00e4ndigkeit halber erw\u00e4hnen wir noch, dafs ein Anhang A \u00fcber den. Gebrauch der rechten und linken Hand bei Indianern berichtet und ein. Anhang B die Ansicht des Uebersetzers \u00fcber B.'s Princip der organischen Selection darlegt. Ein ziemlich unvollst\u00e4ndiges Register beschliefst daa Ganse. \u2014\nWir sind altmodisch genug, um von einer Theorie nicht nur eine Auf\u00bb kl\u00e4rung \u00fcber das Wie, sondern auch eine Antwort auf das Warum zu ver\u00bb langen. Die genetische Theorie, die uns B. vorgef\u00fchrt hat, befriedigt keine von beiden Forderungen. So z. B. suchen wir in dem Abschnitt \u00fcber die Aufmerksamkeit vergeblich nach einer Angabe der Bedingungen, die das Festhalten bestimmter Vorstellungen im Unterschiede von anderen zur Folge haben. Ein anderes Beispiel liefert uns die Lehre von der Accommodation. Von ihr heifst es S. 208, dafs sie das Princip aller fortschreitenden Entwickelung ist. Fragt man nun, wodurch sie das ist, so ergiebt sich, dafs ihr diese Bedeutung durch die mit ihr verbundene organische Selection zukommt. Das Princip der organischen Selection aber besagt nichts Anderes, als dafs Individuen, die sich accommodiren k\u00f6nnen, einen Vortheil f\u00fcr die Erhaltung haben. B. meint mit der Aufstellung dieses Prin-cips, dem er eine grofse Bedeutung beimifst, die Schwierigkeiten der darwini8tischen Lehre von der nat\u00fcrlichen Selection \u00fcberwunden zu haben und \u00fcbersieht, dafs er mit der Aufnahme der Accommodationsf\u00e4higkeit unter die Variirungsvortheile keinen der Einw\u00e4nde entkr\u00e4ftet hat, die sich gegen die ausschliefsliche Bedeutung der Variirungs vortheile f\u00fcr alle Entwickelung richten und den Darwinismus zu entwurzeln drohen. Ebenso wenig merkt er, dafs sein Accommodationsbegriff, weil er sich von dem gew\u00f6hnlichen biologischen Anpassungsbegriff unterscheidet, nicht blos erhaltungs\u00bb gem\u00e4fse Reactionen zul\u00e4fst.\nUm nun aber wenigstens den Hergang der Entwickelung, das Wie ihres Verlaufs im Wesentlichen richtig schildern zu k\u00f6nnen, dazu bed\u00fcrfte, es eines engeren Anschlusses an die Erfahrung, als ihn die wenigen Versuche nach der dynamogenetischen Methode bilden. An entscheidenden Punkten tritt daf\u00fcr, wie wir gesehen haben, die Construction, das Dedu-ciren aus unzureichend begr\u00fcndeten allgemeinen Voraussetzungen ein. Als eine solche Voraussetzung hat vor Allem die Dynamogenesis zu gelten, die, weit entfernt davon, empirisch nachgewiesen zu sein, vielmehr mit R\u00fccksicht auf junsere sonstigen Kenntnisse nicht einmal den Ehrentitel einer wahrscheinlichen Hypothese erhalten darf. Es besteht ja ein offenkundiger Mangel an einfachen, gesetzm\u00e4fsigen Beziehungen zwischen Reizung und Reaction, ein Mangel, der die thierpsychologischen Unter-\u00bb Buchungen schon bei den niedersten Organismus empfindlich beeintr\u00e4eh-. tigt Man pflegt sich daher den Organismus \u00fcberhaupt und seine nerv\u00f6sen Theile ganz besonders als ein System vorzustellen, in dem sich in sehr, hohem und unberechenbar wechselndem Maafse potentielle Energie anh\u00e4uft und anh\u00e4ufen l\u00e4fst. In diesem Verhalten liegt der tiefere Grund, warum, die dynamogenetische Methode so unbefriedigende Resultate ergeben hat, die ihre eigene Voraussetzung, dafs eine unmittelbare Correspondenz zwischen Reizung und Reaction herrsche, g\u00e4nzlich in Frage stellen. Damit soll nat\u00fcrlich nicht bestritten werden, dafs wir ein solches Verfahren an wenden","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nBesprechungen.\nm\u00fcssen, wo wir die experimentell-psychologische Erforschung von Orga nismen in Angriff nehmen, die uns nicht sagen k\u00f6nnen, was sie leiden, \u00f9nd thats\u00e4chlich ist es ja bei thierpsychologischen Untersuchungen \u2014 freilich ohne den blendenden Aufwand einer mathematischen Formel \u2014 schon seit l\u00e4ngerer Zeit in Gebrauch. Aber es geziemt sich nicht, aus der Noth eine Tugend zu machen und als eine sichere St\u00fctze f\u00fcr eine Psycho-genesis zu benutzen, was eine kritische Pr\u00fcfung so wenig vertr\u00e4gt. Insbesondere sollte dabei, was B. offenbar g\u00e4nzlich entgangen ist, eine Annahme Beachtung finden, der wir eine weit gr\u00f6fsere Wahrscheinlichkeit zugestehen, als dem dynamogenetischen Princip. Diese Annahme lautet: Das Seelenleben ist reicher als sein Ausdruck. Hat sie f\u00fcr das vollkommenste Ausdrucksmittel, die Sprache, Geltung, so wird sie wohl auch auf andere Ausdrucksbewegungen Anwendung finden d\u00fcrfen.\nDafs in der Entwickelung der Lebewesen zwei Factoren maafsgebend sind, ein das Vorhandene erhaltender\u201eund ein Ver\u00e4nderungen, Modificationen bedingender oder ein conservativer und ein fortschrittlicher bezw. r\u00fcckschrittlicher, dr\u00e4ngt sioh einer allgemeineren Betrachtung der Thatsachen alsbald auf und hat in den verschiedenen Entwickelungstheorien durch Begriffe, wie Vererbung, Varriirung, Auslese u. dgl., seinen Ausdruck gefunden. B., der auf die R\u00fcckbildung nicht eingeht, hat diese beiden Factoren als Gewohnheit und Accommodation bezeichnet. Dabei ist der Begriff der Gewohnheit trotz der ihm hier zugefallenen principiellen Bedeutung ohne tiefere Begr\u00fcndung geblieben. Dafs die angenehmen und zugleich n\u00fctzlichen Bewegungen erhalten werden, dafs eine native Tendenz besteht, derartige Bewegungen auszuf\u00fchren, erscheint als eine letzte That-sache. Indem B. auch diese angeborene Tendenz als Gewohnheit bezeichnet, wird diesem Begriff eine merkw\u00fcrdige Erweiterung zu Theil, die ihn des Vortheils der \u00fcblichen Auffassung beraubt, mit der bekannten Erscheinung der Nachwirkung einer einmal erfolgten Reizung und Reaction in Zusammenhang gebracht werden zu k\u00f6nnen. Der Accommodationsbegriff ist scheinbar einer sch\u00e4rferen Analyse unterzogen worden. Der Vorgang der Nachahmung, der circul\u00e4ren Reaction, empf\u00e4ngt hier eine typische Bedeutung. Dieser Vorgang unterscheidet sich von dem der einfachen, gewohnheits-m\u00e4fsigen Reaction dadurch, dafs er sich unter dem Einflufs einer andauernden Reizung durch verschiedene Versuche hindurch, die selbst wieder suggestiv wirken, als eine relativ am meisten befriedigende Reaction herausbildet, dafs also auf dem Umwege der Selection eine zweckm\u00e4fsigere Bewegung entsteht. Der Zeichner, der sich bem\u00fcht, eine neue Vorlage zu copiren und erst nach mancherlei Fehlstrichen sein Ziel erreicht, d\u00fcrfte das beste Paradigma f\u00fcr diesen Vorgang sein. Aber genauer betrachtet, versagt das Schema der circul\u00e4ren Reaction schon bei einer solchen Nachahmung im engeren Sinne, weil der f\u00fcr die Selection wesentliche Act der Vergleichung darin keine Unterkunft findet. Doch auch abgesehen von diesem Falle d\u00fcrfte es nicht allzu viele Anpassungen geben, die nach diesem Typus verlaufen, dessen Hauptmangel darin besteht, dafs er einen season-motorischen Automaten voraussetzt.\nDamit kommen wir unter Uebergehung anderer den Widersprach herausfordernder Punkte zur Hauptsache. Dem Titel nach handelt das","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n219\nBuch von der Entwickelung des Geistes, thats\u00e4chlich jedoch wird den Erscheinungen des Geisteslebens selbst viel zu wenig Rechnung getragen. Sie werden auf Anderes, scheinbar Bekannteres zur\u00fcckgef\u00fchrt, der organischen Entwickelung als ein einfacher Zweig derselben angeheftet. Dabei wird alle Entwickelung als eine auf motorische Acte hinzielende, in Re-actionen sich vollendende angesehen, und die Bewufetseinsvorg\u00e4nge erhalten lediglich die Bedeutung von anregenden oder vermittelnden Factoren innerhalb dieses Verlaufs. Die Frage, ob sie nothwendige Durchgangsstationen darstellen, vermag ich auf Grund von B.\u2019s Er\u00f6rterungen nicht zu entscheiden. Nur so ist es verst\u00e4ndlich, dafs die Begriffe der Ueber-prodnction und Selection, der Gewohnheit und Accommodation eine so maafs gebende Rolle in dieser Entwicklungsgeschichte des Geistes spielen, dafe das Wesen der Aufmerksamkeit in einer motorischen Coordination gesucht wird, die Allgemeinbegriffe den Charakter motorischer Tendenzen aunehmen, Wahrnehmungen und Erinnerungsbilder zu Vorlagen oder Suggestionen werden. Darum m\u00fcssen wir in jeder Art von Bewufstsein ein motorisches Element erwarten, haben wir in jedem geistigen Zustande einen Complex sensorischer und motorischer Bestandteile zu erblicken, wobei freilich die Art, wie das Motorische im Bewufstsein enthalten sein soll, v\u00f6llig dunkel bleibt. Auf diese Weise ist die Psychogenesis des Psychologen im Grunde nicht verschieden von derjenigen des Biologen ausgefallen, ein Werk, das uns mehr die Anforderungen eindringlich macht, die wir an eine solche Aufgabe zu stellen haben, als dafs es einen Beitrag zu ihrer L\u00f6sung liefert.\nM\u00f6glicherweise ist auf dies Urtheil die Form des Buches, die durch den Uebersetzer keinesfalls gewonnen hat, nicht ohne Einflufs gewesen. Die begriffliche Klarheit und Consequenz im Aufbau des Ganzen und in der Durchf\u00fchrung der einzelnen Gedanken geh\u00f6rt nicht zu seinen Vorlagen. Das alte Uebel, dafs Begriffe, die zur Schilderung des Fliefsenden, Ver\u00e4nderlichen verwandt werden, unwillk\u00fcrlich mitfliefsen, macht sich, wie das Referat stellenweise gezeigt haben wird, nicht selten f\u00fchlbar. Dar\u00fcber helfen auch die zahlreichen neuen Ausdr\u00fccke, mit denen der Verf. die wissenschaftliche Terminologie bereichert hat, nicht hinweg. Worte allein thun es eben nicht. So mag denn, wie ich bereitwillig zugestehe, ein MiJfeverst\u00e4ndnifs hier und da meine Auffassung getr\u00fcbt, meine Kritik verschuldet haben.\tK\u00fclpe (W\u00fcrzburg).\n/","page":219}],"identifier":"lit31188","issued":"1900","language":"de","pages":"208-219","startpages":"208","title":"J. M. Baldwin: Die Entwickelung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse (Methoden und Verfahren). Unter Mitwirkung des Autors nach der dritten englischen Auflage ins Deutsche \u00fcbersetzt von Dr. A. E. Ortmann. Nebst einem Vorwort von Th. Ziehen. Mit 17 Figuren und 10 Tabellen. Berlin, Reuther u. Reichard, 1898. 470 S.","type":"Journal Article","volume":"22"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:18:44.689365+00:00"}

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