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{"created":"2022-01-31T16:23:06.360711+00:00","id":"lit31394","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Witasek","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 23: 110-116","fulltext":[{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\nHugo M\u00fcxsterbbbg. Psychology aid Lifo* Boston u. New York, Houghton, Mifflin & Co., 1899. 282 S. 2 Mk.\nDie Philosophie hat ihren einstigen Anspruch darauf, die h\u00f6here Einheit der Einzelwissenschaften darzustellen, aufgegeben. Cm so lebhafter macht sich jedem Specialforscher, sobald nur seine Gedanken \u00fcber den engen Raum des eigenen Laboratoriums hinausreichen, das Bed\u00fcrfnifs f\u00fchlbar, \u00fcber die Stellung, die seine Disciplin im Ganzen der Wissenschaften einnimmt, sowie \u00fcber ihre Bedeutung innerhalb der mannigfaltigen Gestaltungen des Menschenlebens selbst nachzndenken.\nEbensolchen Bed\u00fcrfnissen sind die \u2022 sechs Artikel entsprungen, die, fr\u00fcher bereits einzeln bei verschiedenen Gelegenheiten ver\u00f6ffentlicht, im vorliegenden Bande vom Yerf. zu einem auch inhaltlich zusammengeh\u00f6rigen Ganzen vereinigt worden sind. \u201eEin wissenschaftlicher Ausgleich des ethischen Idealismus mit der physiologischen Psychologie unserer Tage\" ist die Aufgabe, die er sich stellt. Dabei hat er es jedoch keineswegs auf eine Auseinandersetzung mit blofs ethischen Theorien abgesehen; es ist vielmehr eine alles umfassende Weltanschauung, die er unter der Bezeichnung des \u201eethischen Idealismus\u201c im Auge hat.\nWo es sich um einen Ausgleich handelt, dort mufs ein wenigstens scheinbarer Gegensatz vorliegen. Diesen Gegensatz zwischen Psychologie und Wirklichkeit \u2014 denn mit diesem Worte ist, paradoxer Weise, der Grundgedanke jenes ethischen Idealismus f\u00fcr jeden Unbefangenen zun\u00e4chst gekennzeichnet \u2014 wurzelt nach M\u00fcnsterbebg in der Entfremdung der psychologischen Begriffe und Gesetze von den Anschauungen des wirklichen Lebens. Wir f\u00fchlen uns nicht als Conglomerate von psychophysischen Elementen, und die Menschen, die wir bewundern oder verdammen, sind f\u00fcr uns identisch nicht mit jenen Anh\u00e4ufungen von einander nach festen Gesetzen anziehenden oder abstofsenden psychischen Atomen, als welche die Psychologie sie auffafst (S. 15). Diese weifs nichts von Freiheit und Pers\u00f6nlichkeit, den Grundfactoren des Lebens ; und wenn wir von Napoleon, Washington, Newton, Goethe sprechen, so meinen wir nicht jene zusammengesetzten chemischen Vorg\u00e4nge, die der Physiologe in ihrem physischen, noch jene begleitenden psychischen Vorg\u00e4nge, die \u00ab1er Psychologe in ihrem psychischen Leben von ihrer Geburt bis zu ihrem Tode ablaufen sieht (8. lfi). Ja, wenn es nach der Psychologie ginge, so","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\nIll\nm\u00fcfsten wir glauben, dafs all das Streben und K\u00e4mpfen unseres Lebens nichts anderes ist als das nach nothwendigen Gesetzen sich gestaltende Product gewisser psychischer Zust\u00e4nde, gewisser Lustgef\u00fchle (S. 17), dafs der Entschlufs zur Aufopferung des eigenen Wohles f\u00fcr fremdes auf gleicher Stufe stehe und ganz ebenso zu behandeln sei wie der entgegengesetzte, denn die Psychologie kann, wie jede Naturwissenschaft Wertunterschiede ihrer Gegenst\u00e4nde nicht anerkennen.\nDer Gegensatz besteht also wohl, und es ist gewifs eine w\u00fcrdige Aufgabe des Psychologen, diesen Gegensatz zu kl\u00e4ren und den Punkt aufzusuchen, von dem aus gesehen sich Philosophie und Psychologie in der nothwendig zu fordernden Harmonie darstellen.\nM\u00fcksterberg behandelt diese Aufgabe nicht in der Art, dafs er der Darstellung einer geschlossenen Weltanschauung die Lehren der Psychologie gegen\u00fcber h\u00e4lt, sondern er geht von den concreten Erscheinungen der Wirklichkeit und des Lebens aus und mifst diese an den entsprechenden Constructionen der Psychologie. So bespricht er in je einem Abschnitte das Verh\u00e4ltnifs der Psychologie zur Kunst, zur Erziehung und zur Geschichte (wobei jeder dieser Titel, besonders der letzte, in m\u00f6glichst weitem Sinne zu verstehen ist). Jeder dieser Abschnitte behandelt daher im Allgemeinen das gleiche Problem, jeder aber an einem anderen concreten Substrate. Als vorbereitende Einleitung stellt sich der erste Abschnitt dar, der die Grundgedanken des Buches vorgiebt und das Problem, in seiner Allgemeinheit charakterisirt. Der folgende, zweite Abschnitt, Psychology and Physiology, bespricht die Aufgaben der wissenschaftlichen Psychologie und vertheidigt ihre v\u00f6llige Freiheit in der Schaffung von f\u00fcr ihre Zwecke geeigneten Theorien. Ein letzter Abschnitt, Psychology and Mysticism, soll, gewissermaafsen als Probe auf die vom Verf. entwickelten Ideen, zeigen, auf welche Abwege die Verwendung der Conceptionen des Lebens zu wissenschaftlichen Operationen f\u00fchrt.\nMcxsterbero geh\u00f6rt zu den F\u00fchrern der Psychologie in Nord-Amerika und deshalb ist seinen Aeufserungen eine gewisse Bedeutung beizumessen. Es steht aber zu erwarten, dafs er trotzdem mehr Gegner finden wird, als er in r\u00fchmenswerther Unvoreingenommenheit und Selbstverleugnung zu erwarten \u00e4ufsert. Nicht nur diejenigen, die von einer Philosophie der Psychologie \u00fcberhaupt nichts wissen wollen, ferner die, die sich lieber mit einer blos gef\u00fchlsm\u00e4fsigen als verstandesm\u00e4fsigen Ueberbr\u00fcckung des Gegensatzes begn\u00fcgen, schliefslich die, die die Abgrenzung des Bereiches ihrer Wissenschaft als einen unziemlichen Angriff auf deren Lebensinteresse zur\u00fcck-weisen, werden ihm ihre Gefolgschaft versagen, sondern meines Erachtens auch alle diejenigen, die in ihren erkenntnifstheoretischen Ueberzeugungen ungezwungener, nat\u00fcrlicher Klarheit huldigen. Denn aus erkenntnifstheoretischen Grundlagen, und zwar solchen ganz eigener Art, ergeben sich die Gedanken, in denen Mcnsterbbrg seine Aufgabe gel\u00f6st findet.\nDer Sinn dieser L\u00f6sung ist in folgenden Worten kurz charakterisiert: \u201eDie popul\u00e4re Ansicht \u00fcber Psychologie geht dahin, dafs die psychologische Beschreibung und Erkl\u00e4rung der Thatsachen des Seelenlebens die Wirklichkeit unserer inneren Erfahrung ausdr\u00fcckt. Es ist die nat\u00fcrliche Folge einer solchen Ansicht, dafs unsere ethischen und \u00e4sthetischen, unsere","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nBestechung.\npraktischen und erzieherischen, unsere socialen und historischen Ueber-zeugungen den Lehren der Psychologie untergeordnet seien. Die vorliegende Schrift bem\u00fcht sich zu zeigen, dafs die Psychologie keineswegs Ausdruck der Wirklichkeit, sondern eine complicirte Umbildung derselben ist, ausgearbeitet f\u00fcr bestimmte logische (wissenschaftliche) Zwecke im Dienste unseres Lebens\u201c (S. VI f.). Sie beweist, \u201edafs eine solche cons\u00e9quente Psychologie, wenn sie auch noch so tief geht, sich mit den Begriffen und Categorien, die den Bet\u00e4tigungen des Lebens und dessen historischer Betrachtung entsprechen, niemals vermengen kann\u201c (S. VIII).\nAuf welchem Wege nun M\u00fcnsterberg zu diesem Ergebnisse gelangt, das will ich durch ein etwas eingehenderes Referat \u00fcber einen der drei erw\u00e4hnten Hauptabschnitte des Buches, n\u00e4mlich \u00fcber den, der sich mit dem Verh\u00e4ltnifs der Psychologie zur Geschichte befafst, mittheilen.\n\u2022 Alles, was Gegenstand der Wissenschaft sein kann, ist entweder physisch oder psychisch, alle Wissenschaft m\u00fcfste daher entweder Physik (im weitesten Sinne des Wortes) oder Psychologie sein. Die Geschichte betrachtet das Schicksal der Menschheit, und scheint daher, da das Menschenschicksal doch zu einem Haupttheil im Menschengeiste wurzelt, der Psychologie zu verfallen. Dabei k\u00e4me sie aber gewaltig zu kurz. Denn die heutige Psychologie mit ihrer Analyse und mechanischen Causal-Erkl\u00e4rung kann dem lebendigen Menschen, dessen Thun und Lassen sich durch bewufste Zwecke und Werthsch\u00e4tzungen bestimmt, nicht gerecht werden; eine Unterordnung der Geschichte unter die Psychologie ist ganz unzul\u00e4ssig. Soll also die Psychologie der Geschichte Zugest\u00e4ndnisse machen? Nein; dabei m\u00fcfste sie selbst Schaden nehmen. Die beiden Wissenschaften sollen vielmehr unabh\u00e4ngig neben einander stehen. Wie stellt sich dann aber ihr Verh\u00e4ltnifs zu einander, da sie doch in der Hauptsache dasselbe Gebiet behandeln?\nSo ungef\u00e4hr d\u00fcrften sich die Gedanken wiedergeben lassen, die M\u00fcnsterberg zur Frage der Abgrenzung von Psychologie gegen die Geschichte f\u00fchren. Sie wurzeln, wie man leicht sieht, in den oben mit-getheilten Gedanken \u00fcber Psychologie und Leben, und wem diese fremd bleiben, der wird einer besonderen Wichtigkeit des hier aufgeworfenen Problems kein Verst\u00e4ndnifs entgegenbringen k\u00f6nnen. Wir aber haben diese Gedanken vorl\u00e4ufig hingenommen, und so fragen wir in diesem Sinne mit M\u00dcN8TERBERG:\nWie ist Psychologie gegen Geschichte abzugrenzen?\nDie schon fr\u00fcher von anderer Seite vorgeschlagene Entscheidung, dafs Psychologie allgemeine, die Geschichte besondere, individuelle Thatsachen behandelt, gen\u00fcgt M\u00fcnsterberg nicht. Zun\u00e4chst wendet er dagegen ein, dafs es die Psychologie (sowie die Physik) nicht nur mit Allgemeinem (bezw. Gesetzen) zu thun habe, denn jedes Gesetz schliefse die Behauptung von Existenzen, somit von Individuellem, ein; die Erkenntnisse der Psychologie verl\u00f6ren allen Sinn, wenn man ihnen die Voraussetzung nehme, dafs die Objecte, von welchen diese Erkenntnisse gelten, thats\u00e4chlich existieren. Andererseits aber sei, wo immer es sich um wirkliche Beschreibung eines Individuellen handele, der Allgemeinbegriff, das Gesetz unentbehrlich und unvermeidlich, und auch der Historiker k\u00f6nne","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n113\nseiner nicht entrathen. M\u00fcnsterberg meint vielmehr, jede Wissenschaft, anch die Geschichte, habe es auf \u201eVerbindung\u201c (connections) und \u201eVerallgemeinerung\u201c (generalities) abgesehen; Wissenschaft bedeute eben Verbindung und nichts anderes, und auch die Geschichte ziele auf allgemeine Thatsachen ab. Das Individuelle, Einzelne in seiner Isolirung sei Gegenstand der Kunst.\nPsychologie und Geschichte unterscheiden sich also nach M\u00fcnsterberg nicht durch die Methode der Behandlung ihres Gegenstandes. Da sie sich aber thats\u00e4chlich doch unterscheiden, so kann ihr Unterschied nur im Gegenstand liegen. Daran glaubt M\u00fcnsterberg festhalten zu m\u00fcssen und hier setzt er nun, um damit auszukommen, mit seiner eigenen Erkenntnistheorie ein. Die Gesammtheit des Realen zerf\u00e4llt nicht in Physisches und Psychisches, sondern zun\u00e4chst in Subject und Object. Wir f\u00fchlen unsere pers\u00f6nliche Realit\u00e4t in unseren subjectiven Zust\u00e4nden, in unseren Willensacten, die wir nicht wahrnehmen sondern die wir durchleben, und mit der gleichen Unmittelbarkeit anerkennen wir andere Personen als Willens-Subjecte. Auch diese sind nicht Objecte der blofsen Wahrnehmung, sondern wir anerkennen sie durch unser Gef\u00fchl als Subjecte. Unsere Acte sind ge* richtet gegen Objecte, die in Wirklichkeit nur als solche Objecte des Willens, d. h. als Werthe existiren. Subjective Willensacte und Objecte des Willens machen die Realit\u00e4t aus. Jede dieser beiden Gruppen theilt sich aber wieder in zwei Untergruppen, je nach dem \u201eindividuellen\u201c oder \u201e\u00fcberindividuellen\u201c Charakter des Realen, und zwar ist der Willensact \u00fcberindividuell, wenn er gewollt ist in der Meinung, dafs er jedem Subject zukommt, das Object, insofern es angesehen wird als m\u00f6gliches Object des Willens eines jeden Subjectes. Die Abgrenzung der Wissenschaften ergiebt sich nun in der Art, dafs der Psychologie die individuellen Objecte, der Geschichte die individuellen Willensacte zugeh\u00f6ren, w\u00e4hrend die \u00fcberindividuellen Objecte den Gegenstand der Physik, die \u00fcberindividuellen Willensacte den der normativen Wissenschaften (Ethik, Aesthetik, Logik) ausmachen. Dieser ontologische Unterschied, der sonach zwischen dem Gegenstand der Psychologie und dem der Geschichte besteht, bringt zugleich eine Verschiedenheit der von der zugeh\u00f6rigen Wissenschaft zwischen diesen Gegenst\u00e4nden aufzusuchenden Beziehungen mit sich. Physik und Psychologie verfolgen die Bahnen der Causalit\u00e4t und constatiren Ursachen und Wirkungen; die Geschichte sucht die teleologischen Zusammenh\u00e4nge der Willenszust\u00e4nde auf und hat es mit Zwecken und Mitteln zu thun. Der Gegensatz von Psychologie und Geschichte ist sonach nicht der zwischen Allgemeinem und Individuellem, Gesetz und einzelnem Ereignifs, sondern der von Causalit\u00e4t und Freiheit, der sich als Folge der ontologischen Verschiedenheit zwischen den beiderseitigen Gegenst\u00e4nden darstellt.\nSo ungef\u00e4hr d\u00fcrfte sich die Entscheidung M\u00fcnsterberg\u2019s in K\u00fcrze wiedergeben lassen, wobei ich mir die Bemerkung erlauben darf, dafs sie anch schon in der Originaldarstellung dem Verst\u00e4ndnifs manche Schwierigkeiten entgegensetzt. Sie m\u00f6gen haupts\u00e4chlich in den eigenartigen erkenntnifs-theoretischen Grundanschauungen liegen. Der Versuch einer Klarstellung\n8\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 23.","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nBesprechung.\nkann Jedoch hier, weil viel zu weit f\u00fchrend, nicht unternommen werden. Ich m\u00f6chte eie nur, soweit es die Psychologie angeht, einer n\u00e4heren Betrachtung unterziehen.\nDie Psychologie ist nach M\u00fcs stub erg die Wissenschaft von den individuellen Objecten- Objecte wessen? m\u00fcssen wir zun\u00e4chst fragen, um dieser Bestimmung einen Sinn beilegen zu k\u00f6nnen. Des Willens, durfte M\u00fcxstekbkbg antworten. Aber als Gegenstand der Psychologie kurz die Objecte des Willens au bezeichnen, ergiebt offenbar eine gleichzeitig zu enge wie zu weite Definition; eine Heise, eine Summe Geldes, ein Sparzierstock etc. k\u00f6nnen Objecte des Willens sein, ohne darum Gegenstand der Psychologie zu werden. Deshalb also offenbar der einschr\u00e4nkende Zusatz: die individuellen Objecte. Individuell sind nun nach M\u00fcnsterberg die Objecte dann, wenn der Wollende sie betrachtet als nur seinem individuellen Selbst m\u00f6gliche Objecte. Dadurch wird aber meines Erachtens die erforderliche Einschr\u00e4nkung nicht geleistet. Es kann einerseits Objecte geben, die dem Willen nur eines einzigen Sabjectes zug\u00e4nglich sind, allenfalls deshalb, weil sie nnr diesem einen Individuum vorstellbar sind und man doch nur das wollen kann, was man vorstellt, ohne dafs darum diese Objecte schon der Psychologie zugeh\u00f6ren m\u00fcfeten; andererseits geh\u00f6rt ein bestimmter Entschlafe, irgend eine Einsicht etc. eines Individuums nicht mehr und nicht weniger der Psychologie zu, ob dieses Factum nun von einer oder von vielen Personen gew\u00fcnscht wird. \u2014 Mag sein, dafs M\u00fcsstekbebg diese doch so sehr an der Oberfl\u00e4che liegenden Einw\u00e4nde nicht berechtigt, vielleicht sogar trivial and naiv findet. Dann meint er aber jedenfalls mit seinen Bestimmungen etwas anderes, als was seine Worte, nat\u00fcrlich and genau verstanden, sagen. So, wie seine Darlegungen dem Wortlaute nach verstanden werden m\u00fcssen, sind sie einfach falsch.\nEs ist daher aach schwer zu entscheiden, ob Mcsstehbkbg's Abgrenzung von Psychologie und Geschichte etwas nichtiges trifft. Das eine l\u00e4fst sich jedoch zweifellos sagen, dafe die Einw\u00e4nde, die er gegen die ziemlich herk\u00f6mmliche Scheidung, Geschichte besch\u00e4ftige sich mit dem Individuellen, Psychologie dagegen mit dem Allgemeinen, erhebt, nicht stichhaltig sind. Denn wenn auch jede Constatierung von allgemeinen Erkenntnissen die des Individuellen nat\u00fcrlich voraussetzt, andererseits eine Berichterstattung \u00fcber einzelne Ereignisse der Worte, somit \u2014 vielleicht h\u00e4ufig, gewife nicht immer \u2014 der Allgemein-Yorstellungen bedarf, so ist doch der Weg der Naturwissenschaft dem der Geschichte gerade entgegengesetzt: Dort vom Individuellen zum Allgemeinen, hier, wenn man schon dem Gedanken, der Mgnstbkbebg\u2019s Einwand zu Grunde liegt, soweit folgen soll, vom Allgemeinen zum Individuellen. Und wenn er sagt, rjede Wissenschaft betrachtet die einzelnen Thatsachen in ihren Beziehungen zu anderen That-sachen, strebt nach Verbindung, nach Allgemeinheiten\u201c so ist das, von anderen Bedenken dagegen abgesehen, zun\u00e4chst nur eine Vermengung der Begriffe Relation und Allgemeinheit. \u2014 Es d\u00fcrfte also in jener herk\u00f6mmlichen Unterscheidung, wenn auch nicht die ganze, so doch ein Theil der Wahrheit stecken. Auch hier ist M\u00fcxsterbbbg vielleicht nur dem Wortlaute, nicht der Sache nach im Unrecht. Aber dann sind seine Worte nichts weniger als geeignet, anf diese Sache zu f\u00fchren und geben nur eine","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n\u00cf15\neindringliche Mahnung daf\u00fcr ab, dafs man in der Wissenschaft nicht ungestraft den nat\u00fcrlichen Ausdruck gegen den gesuchten, unklaren und ungenauen hintansetzt.\nFreilich wird man gegen die m\u00f6gliche Richtigkeit dessen, was sich hinter den schwer zu interpretirenden Worten des referirten Abschnittes verbirgt, nur um so milstrauischer, wenn man sich zur F\u00f6rderung des Verst\u00e4ndnisses an den Grundgedanken des Buches, der ja in der Einleitung mit ziemlicher Klarheit ausgesprochen ist, erinnert. Da dr\u00e4ngt sich einem unabweisbar der Verdacht auf, M\u00fcnstkrberg schreibe den Gegenst\u00e4nden der Begriffs- und Theorien-Bildung ein gleiches Sein zu wie den Gegenst\u00e4nden der realen Wirklichkeit. Er sagt: Die Psychologie analysirt in Elemente und gerade so wie die physischen Dinge nicht wirklich aus Atomen bestehen, und wir uns unter einer Rose etwas anderes denken als eine Anh\u00e4ufung von Atomen, so sind auch die psychischen Elemente blos Ergebnis psychologischer Analyse und Abstraction und nichts reales. Ferner bildet sich die Psychologie ihre Begriffe; diese Begriffe haben mit den seelischen Dingen und Vorg\u00e4ngen, um die sich das psychologische Interesse des Lebens aufserhalb der wissenschaftlichen Psychologie k\u00fcmmert, gar nichts zu thun. Es sind also verschiedene Gegenst\u00e4nde hier und dort, verschiedene Gegenst\u00e4nde, beide ganz gleich existenzberechtigt, aber jeder nur an seiner Stelle, beide gleich existirend, oder vielleicht noch mehr im Sinne M\u00fcnstkrberg\u2019s beide gleich nicht existirend. Gedankenkreise nun, die sich mit ganz verschiedenen Gegenst\u00e4nden befassen, k\u00f6nnen doch nicht mit einander in Gegensatz stehen noch in irgendwelchen Streit ge-rathen.\nGrenz- und Interessenstreitigkeiten sind dadurch, wie es scheint, radical abgeschnitten. Aber es scheint nur so. Es ist ja gar nicht wahr, dafs Gedankenkreise, die sich mit verschiedenen Gegenst\u00e4nden befassen, nicht mit einander in Widerspruch gerathen k\u00f6nnen. Das stimmt nur dann, wenn die Gegenst\u00e4nde zu einander in gar keiner Beziehung stehen. Und an diesem Punkte scheint mir ein grofses Versehen M\u00fcnsterberg\u2019s zu liegen. Gewifs, die Psychologie schafft sich ihre Abstractionen, Begriffe und Theorien. Aber der Ausgangspunkt und die Grundlage zur Bildung dieser f\u00fcr die wissenschaftliche Bearbeitung zurecht gemachten Gegenst\u00e4nde, das empirisch gegebene Thatsachenmaterial ist identisch mit den Thatsachen des Denkens, Werthens, Wollene und F\u00fchlens, an denen das psychologische Interesse des Alltagslebens h\u00e4ngt. Es besteht also eine sehr innige Beziehung zwischen den Begriffen der wissenschaftlichen Psychologie und den psychologischen Conceptionen des Lebens, beide st\u00fctzen sich auf dieselben Thatsachen, jene verhalten sich zu diesen etwa wie das exacte Ergebnifs der Analyse des Chemikers zu den Angaben unseres Geruch- und Geschmacksinnes; was in der wissenschaftlichen Psychologie wahr ist, mufs, das ist eigentlich nicht viel mehr als eine Tautologie, auch von den Seelenvorg\u00e4ngen des wirklichen Lebens Geltung haben.\nEin Widerspruch zwischen der wissenschaftlichen Psychologie und der des gew\u00f6hnlichen Lebens ist also sehr wohl m\u00f6glich. Ein solcher\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nBesprechung.\nWiderspruch ist aber keineswegs, dafs zum Beispiel hier von Pers\u00f6nlichkeit und Freiheit, dort von Elementen-Conglomeraten und Causalit\u00e4t die Rede ist. Das Wort Pers\u00f6nlichkeit bezeichnet mit Betonung der Einheit denselben Gegenstand, der unter Ber\u00fccksichtigung seiner Zusammengesetztheit als Elementen-Conglomerat bezeichnet werden kann; und Freiheit ist innere Causiertheit.\nDie Psychologie hat es also wirklich mit Gegenst\u00e4nden zu thun, die auch in der Kunst, der Erziehung und der Geschichte eine Rolle spielen und zur Sprache kommen. Und wenn sie sich nicht anmafst, zu verlangen, dafs diese Zweige menschlicher Bethfitigung ihre Grundlagen einzig und allein bei ihr zu suchen h\u00e4tten, so kommt das daher, dafs zun\u00e4chst einmal den Psychologen an dem gemeinsamen Gegenst\u00e4nde etwas anderes interes-sirt als den K\u00fcnstler, den Erzieher, den Historiker, ferner daher, dafs seine Wissenschaft noch nicht, oder wenigstens nur zum Theil im Stande ist, das hochcomplicirte Geschehen dieser Gebiete in exacte, wissenschaftliche Gesetze zu zerlegen, um dadurch die Intuition der Vulg\u00e4r-Psychologie zu ersetzen, und schliefslich daher, dafs es die Kunst, die Erziehung und besonders die Geschichte eben doch auch mit aufserpsychischen Thatsachen zu thun haben.\nWitasek (Graz).","page":116}],"identifier":"lit31394","issued":"1900","language":"de","pages":"110-116","startpages":"110","title":"Hugo M\u00fcnsterberg: Psychology and Life. Boston u. New York, Houghton, Mifflin & Co., 1899. 282 S","type":"Journal Article","volume":"23"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:23:06.360717+00:00"}