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{"created":"2022-01-31T16:29:21.276442+00:00","id":"lit31398","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Kodis, J.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 23: 194-209","fulltext":[{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"Einige empirio-kritische Bemerkungen \u00fcber die neuere\nGehimphysiologie.\nVon\nDr. J. Kodis (St. Louis).\nSeit Kurzem wird eine neue Richtung in der Physiologie des Gehirns und der Sinnesorgane bemerkbar. Man ist gegen die alten Begriffe und Methoden mifstrauisch geworden und will sie mit H\u00fclfe der Experimente kritisch pr\u00fcfen. In dieser Rieh* tung haben sich speciell Jaques Loeb und Bethe sowohl durch ihre gelungenen und originellen Experimente, wie durch die K\u00fchnheit ihrer Ideen hervorgethan. Loeb hat sogar versucht, seine darauf bez\u00fcglichen Ideen zu systematisiren, und hat ein auch f\u00fcr die Philosophen sehr interessantes B\u00fcchlein: \u201eEin* leitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und die ver* gleichende Psychologie\u201c geliefert.\nUnseres Wissens stellt dieses Buch den ersten Versuch von Seiten der Physiologen vor, das sogenannte centrale Nerven* system seines metaphysischen Charakters zu entkleiden und in. irgend einer Weise begreiflich zu machen.\nWie kommt es, dafs das centrale Nervensystem, d. h. bestimmte Ganglien und Nervenzellen die Reaction des Organismus auf die \u00e4ufseren Reize \u00fcbernehmen? Bed\u00fcrfen sie dazu irgendwelcher specieller Eigenschaften, die dem ganzen Organismus nicht zukommen und Kraft deren die Nerven den Leib regieren k\u00f6nnen ? Keineswegs. Durch sinnvolle, jedoch zur entscheidenden Aufstellung der These wohl noch ungen\u00fcgende Experimente beweist Loeb, dafs die Nerven dieselben Eigenschaften wie das Protoplasma besitzen, und dafs sie ihr Ueber-gewicht nur durch die M\u00f6glichkeit einer schnelleren Action erhalten. Ueberhaupt: wo mehrere concurrirende Factoren sich an einer Erscheinung betheiligen, da gewinnt derjenige, welcher die betreffende Reaction am schnellsten liefert, die Oberhand \u00fcber alle Anderen und hebt deren Th\u00e4tigkeit entweder auf oder zwingt sie, sich in seinem Tempo zu bewegen. Es giebt keine","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Einige empirio-kritische Bemerkungen \u00fcber die neuere Gehirnphysiologie. 195\nspecielle, den Nerven innewohnende F\u00e4higkeit, Reize zu leiten: Das kann nach Loeb schon im Voraus behauptet werden, da auch das pflanzliche Protoplasma die Reize leiten kann. Loeb hat aber noch directe Versuche an Thieren angestellt. So beweisen seine Experimente mit Actinien, dafs die Reizbarkeit nicht an di\u00e9 normal gebildeten Mundtentakel dieser Thiere gebunden ist Die Analogie mit der Reizbarkeit der Pflanzen l\u00e4fst sich auch weiter in der thierischen Biologie verfolgen. Ebenso wie das pflanzliche Protoplasma ist auch das thierische verschiedenen \u201eTropismen\u201c unterworfen, welche die bisher n\u00f6thige Einf\u00fchrung in die Physiologie der psychologischen Begriffe \u201eIntelligenz\u201c, \u201eSeele\u201c, \u201eInstinct\u201c u. s. w. \u00fcberfl\u00fcssig machen. Sogar die Sinnesorgane sind keine Nothwendigkeit f\u00fcr die Reaction auf Reize, die wir in der menschlichen Physiologie als Resultate der Sinneswahrnehmung betrachten. Planarien, Tritonen und Regenw\u00fcrmer reagiren z. B. auf Licht auch ohne Augen u. s. w. Wo man im Centralnervensystem eine Coordination auftreten sieht, da ist diese einfach als ein \u201ebequemer Reizleiter\u201c zu betrachten, 80 kann z. B. Loeb bei niederen, segmental gebauten Thieren nachweisen, dafs auch im Falle des Ausschliefsens der Nerven-coordination die Einrichtungen der Peripherie im Stande sind, die coordinirten Bewegungen zu erm\u00f6glichen. Bei den Seg-mentalthieren ist jedes einzelne Segment als \u201eein einfaches Reflexthier\u201c anzusehen, nur mit dem Unterschied, dafs sich die Erregung von einem Segment auf das andere fortsetzt. Zu den Wirbelthieren \u00fcbergehend, stellt Loeb der Centrenlehre die Segmentaltbeorie gegen\u00fcber. Das Gehirn soll als aus Segmenten zusammengesetzt betrachtet werden. Infolge ihrer verschiedenen r\u00e4umlichen Lage, der verschiedenen Orientirung ihrer Elemente und auch ihrer verschiedenen protoplasmatischen Verbindungen ergeben diese Segmente das Resultat verschiedener Functionen. Eine Localisation verschiedener \u201epsychischer Functionen\u201c, wie \u201eInstinct\u201c, \u201eGed\u00e4chtnifs\u201c u.s.w., ist vollkommen unn\u00f6thig, um die damit verbundenen Erscheinungen zu erkl\u00e4ren.\nWas folgt nun aus dieser Theorie f\u00fcr die Physiologie der Sinnesorgane und des Gehirns, und folglich f\u00fcr die Psychologie? Loeb und Bethe 1 antworten : \u201eDafs die niederen Thiere bis auf\n1 Zut Zeit, wo ich diesen Aufsatz geschrieben habd, war mir noch die neuere Umgestaltung von Bkthe\u2019s Ideen unbekannt. In seinem Aufsatz, \u201eNoch\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nJ. Kodis.\ndiejenigen, welche \u201eassociatives Ged\u00e4chtnifs\u201c besitzen, kein rBe* wufstsein\u201c haben, mithin als \u201eblofse Mechanismen\u201c betrachtet werden m\u00fcssen.\u201c\nDieses Ergebnifs, welches uns bis auf Descartes zur\u00fcck* bringt, ist jedoch keine nothwendige Schlufsfolgerung aus den von den beiden Autoren gegebenen Pr\u00e4missen. Es beweist, d&& ihr Kriticismus aufh\u00f6rte, sobald sie auf dem physiologischen Boden den psychologischen Begriffen begegneten. Eigentlich braucht man sich dar\u00fcber auch gar nicht zu wundern, weil es auch in der Psychologie erst zu d\u00e4mmern beginnt, wie man sich den alten metaphysischen Ueberlieferungen gegen\u00fcber zu verhalten habe. Es sei uns hier gestattet, einige dieser Begriffe n\u00e4her zu betrachten.\nVom Mittelalter ist uns die feste Ueberzeugung von der Zweiheit der Natur \u00fcberliefert worden. Laut dieser Ueberzeugung steht es fest, dafs wir einen Leib und eine Seele, eine \u00e4ufsere und eine innere Erfahrung besitzen, dafs die Welt in eine physische und eine psychische zerf\u00e4llt. Indem nun der allm\u00e4hliche Fortschritt der Naturkunde die Frage aufwarf, wie denn eigentlich die Seele auf den Leib wirken k\u00f6nne, so hat sich nach vielen Erkl\u00e4rungsversuchen schliefslich die Lehre Bahn gebrochen, dafs die Seele in dem ganzen Nervensystem oder in einem Theile desselben wohne und von da aus den Leib beherrsche. Dafs statt der Seele - Einheit am Ende eine Mehrzahl der sogenannten Seelenfunctionen angenommen und in das Gehirn verlegt wurden, ist vom philosophischen Standpunkte von untergeordneter Bedeutung. Im Princip bleibt es dasselbe, d. h. : die Seele wohnt im Nervensystem.\nNun, die neuzeitliche Entwickelung der Biologie lehrt uns, dafs verschiedene \u201eFunctionen\u201c, die als \u201eseelische\u201c bezeichnet werden, ohne das Gehirn oder \u00fcberhaupt ohne das centrale Nervensystem ausgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen. Psychologisch ist es nun ganz begreiflich, dafs man daraus folgert: wenn kein Nervensystem bei einer solchen Function betheiligt ist, so ist dieselbe auch ganz \u201emechanisch\u201c, ohne \u201eMitwirkung der Seele\u201c zu Stande gekommen. Obwohl man hierbei statt der \u201eSeele\u201c das \u201eBewufstsein\u201c sagt, so meint man eigentlich jedoch dasselbe, wie wir bald erkennen werden.\neinmal \u00fcber die psychischen Qualit\u00e4ten der Ameisen\u201c Ppl\u00fcoeb\u2019s Arck 17 (1 u. 2), vertritt er Ideen, welche den meinigen viel n\u00e4her kommen.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Einigt empirio-kritische Bemerkungen \u00fcber die neuere Gehimphysiologie. 197\nAus Obigem ersehen wir, dafs die neuen Theorien in der Gehimphysiologie in der alten, \u00fcberlieferten Weise mit zwei Principien, dem physischen und psychischen, operiren. Es handelt sich im Grunde genommen noch immer um dieselbe Frage nach der Selbst\u00e4ndigkeit und Begrenzung der beiden Principien; hier endigt das Eine und dort beginnt das Andere; Das Eine ist verantwortlich nur f\u00fcr soviel und soviel, das Andere ist verantwortlich f\u00fcr das Uebrige, das \u201eH\u00f6here\u201c. Und wie fr\u00fcher, so unterscheiden sich die Menschen heute noch dadurch von den Thieren, dafs sie neben ihrer \u201ephysischen\u201c Natur noch die \u201eSeele\u201c oder meinetwegen das \u201eBewufstsein\u201c besitzen.\nMan kann uns hier entgegnen, dafs gerade'die Naturforscher der Gegenwart in den meisten F\u00e4llen den Dualismus der Natur verneinen. Sie behaupten, dafs das Psychische als eine Pr\u00e4formation des Physischen entstehe. Aber selbst wenn man das Psychische als eine Art Secret der Gehirnzellen betrachtet, so ist damit der Dualismus nicht aus der Welt geschafft Er bleibt solange bestehen, wie die Natur des Psychischen als grundverschieden von der Natur des Physischen aufgefafst wird. Dafs man ein causales Verh\u00e4ltnifs zwischen Physischem und Psychischem auf stellt, hilft uns bei unseren jetzigen Begriffen \u00fcber die Causalit\u00e4t durchaus nicht \u00fcber diese Schwierigkeit hinweg. Wir wissen n\u00e4mlich, dafs die Causalit\u00e4t keineswegs die Identit\u00e4t des Inhaltes beider Erscheinungen umfafst, wie wir es z. B. aus der Thatsache, dafs W\u00e4rme durch mechanische Arbeit erzeugt wird, sehen k\u00f6nnen. Andererseits wissen wir, dafs \u201eUrsache\u201c praktisch gew\u00f6hnlich nichts weiter bedeutet als die letzte Complement\u00e4r-bedingung zu einem ganzen System von Bedingungen, wie solche einer bestimmten Erscheinung zeitlich vorangehen.\nDemnach bleibt der Dualismus fortbestehen, so lange wir das \u201ePsychische\u201c als \u201eimmateriell\u201c und das \u201ePhysische\u201c als \u201emateriell\u201c betrachten, ungeachtet der causalen Beziehungen der beiden Principe. Nun wird aber auch die Annahme der Causalit\u00e4t zwischen dem Physischen und Psychischen unhaltbar, sobald man sich \u00fcber die Natur dieser beiden Begriffe klar wird.\nAlso kann das Bewufstsein \u00fcberhaupt nicht die Ursache der Bewegungen werden? Nein! \u2014 und das aus zwei Gr\u00fcnden: erstens, weil es kein Bewufstsein als reale Kraft giebt,. und zweitens, weil es, wenn es vorhanden w\u00e4re, mit der ihm zuge-","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nJ. Kod\u00fc.\nechriebenen Beschaffenheit unm\u00f6glich die physikalischen Erscheinungen verursachen k\u00f6nnte.\nEs giebt kein \u201eBewufstsein\u201c, das wir als Naturkraft ansehen k\u00f6nnten, eben so wenig wie es \u201eSch\u00f6nheit\u201c oder \u201eG\u00fcte\u201c als Naturkr\u00e4fte giebt. Das sind nur allgemeine Namen f\u00fcr bestimmte Qualit\u00e4ten der menschlichen Erfahrung; die als Charaktere der Erfahrung, nicht aber als Elemente zu betrachten sind. Schon Steinthal hat seinerzeit vorgeschlagen, das Sub-8tantivum \u201eBewufstsein\u201c ganz aus dem W\u00f6rterbuche zu streichen und daf\u00fcr das bequeme deutsche Wort \u201eBewufstheit\u201c, das zwar auch ein Substantivum ist, aber keine Substanz voraussetzt, ein-zuf\u00fchren. Unsere Erfahrungen sind \u201ebewufst\u201c oder \u201enicht bewufst\u201c, sie besitzen den Charakter der Bewufstheit oder besitzen ihn nicht, wie sie den Charakter der Sch\u00f6nheit besitzen oder nicht besitzen. Die Elemente dieser Erfahrungen aber werden dadurch nicht im Mindesten beeintr\u00e4chtigt. Wenn wir uns nur beschreibend verhalten, so erkennen wir, streng genommen, dafs hinter dem Charakter der Bewufstheit nichts weiter steckt als das Abgehobensein einer Erfahrung. Eine Erfahrung, die sich von anderen abhebt, nennen wir bewufst, eine solche, die sich nicht abhebt, unbewufst. Es w\u00fcrde aber Niemandem einfallen, der Bewufstheit, welche ein Charakter unserer Erfahrung ist, die Rolle eines Elementes spielen zu lassen. Bei unserer jetzigen philosophischen Bildung kommt es uns nicht in den Sinn, z. B. die Sch\u00f6nheit als ein Element der Natur zu betrachten; z. B. wir stellen die Sch\u00f6nheit nicht neben die H\u00e4rte und die Farbe einer Statue. Wir wissen, dafs die Sch\u00f6nheit einer Statue eine Function der Beziehung der Gesammtheit der betreffenden Erfahrungselemente zu unserem Nervensystem ist. Wir k\u00f6nnen weiter untersuchen, welcher Art diese Function ist, k\u00f6nnen sie aber nicht ohne Weiteres mit den Elementen der Erfahrung zusammenstellen.\nDasselbe gilt auch f\u00fcr die Bewufstheit. Ja, wir k\u00f6nnen sogar auf experimentellem Wege, durch bestimmte Gliederung eines Erfahrungsinhaltes, die Aussagen des \u201ezum Bewufstsein-kommens\u201c des einen oder anderen Theiles dieses Erfahruugs-inhaltes erlangen. Das bedeutet eben, dafs sich der eine oder andere Theil eines solchen Erfahrungsinhaltes f\u00fcr ein betreffendes Menschen-Individuum abhebt, aber auch weiter nichts. Demnach ist es klar, dafs die Bewufstheit bisher in der Gehirn-","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Einige empirio-kritische Bemerkungen \u00fcber die neuere Gehimphysiologie. 199\nphysiologie ganz unberechtigter Weise als ein zu den anderen Elementen hinzugeh\u00f6riges Element betrachtet worden ist.\nNat\u00fcrlich hat das Wort \u201eBewufstsein\u201c aufser der erw\u00e4hnten noch viele andere Bedeutungen. Was hat man nicht Alles unter diesem Worte zusammengeworfen! So bedeutet das Bewufstsein f\u00fcr manche Philosophen nicht etwa das Substratum f\u00fcr die psychischen Werthe, wie z. B. ein elektrisches Fluidum das Substratum f\u00fcr die elektrischen Erscheinungen ist, sondern den Gesammtnamen f\u00fcr diese psychischen Werthe selbst, analog der Theorie, nach welcher jetzt die Ph\u00e4nomenologen das elektrische Substratum verwerfen und den Namen der Elektricit\u00e4t als den Gesammtnamen f\u00fcr alle elektrischen Erscheinungen behalten. Wir wollen daher, statt Bewufstsein zu sagen, lieber den bestimmteren Ausdruck \u201epsychische Werthe\u201c f\u00fcr den betreffenden Fall anwenden. Wir wollen untersuchen, was unter diesem gebr\u00e4uchlichen Begriffe \u201epsychische Werthe\u201c eigentlich gemeint ist.\nWas nennen wir psychisch? Die Frage soll hier nicht im \u00fcblichen metaphysischen Sinne, wo entweder alles oder nichts als psychisch betrachtet wird, beantwortet werden, sondern im gew\u00f6hnlichen wissenschaftlichen Sinne. Unsere ganze Erfahrung kann in zweifacher Weise getheilt werden: erstens, in Charaktere und Elemente, und zweitens in Sachen und Gedanken, wobei unter den Sachen auch \u201esinnliche Gef\u00fchle\u201c, unter den Gedanken auch \u201enichtsinnliche Gef\u00fchle\u201c zu verstehen sind.\nAndererseits theilt man die Erfahrung auch oft ein in Empfindungen, Vorstellungen und Wahrnehmungen. Wie es mit dieser Klassifikation bestellt ist, werden wir sp\u00e4ter sehen.\nUntersuchen wir zuerst die Eintheilung unserer Erfahrung in Charaktere und Elemente ! Als Elemente bezeichnet man Qualit\u00e4ten der Erfahrung, die in Abh\u00e4ngigkeit von der specifischen Beschaffenheit der Sinnesorgane auftreten, wie S\u00fcfse, H\u00e4rte, Farben, T\u00f6ne u. s. w. Als Charaktere bezeichnet man Werthe wie Intensit\u00e4t, Gr\u00f6fse, Sch\u00f6nheit, Bedeutung u. s. w. Weder das Eine noch das Andere kann entweder als physisch oder als psychisch betrachtet werden. Das Theilungsprineip steht hier \u00fcber dem Gegensatz des Physischen und Psychischen. Zwar giebt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die in den Elementen das Physische vom Psychischen zu scheiden trachten, ja die Wissenschaft selbst hat in der mechanisch-materialistischen Hypothese einen grofsartigen Versuch einer derartigen Scheidung durchgef\u00fchrt, aber Bchon","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nJ. Kodis.\nseit langem hat sich in der Philosophie und in letzter Zeit auch in der Wissenschaft die Ueberzeugung Bahn gebrochen, dafe eine derartige Scheidung keine reelle Bedeutung besitzt, dafs sie h\u00f6chstens ein H\u00fclfsmittel der Untersuchung sein kann. Die Ausdehnung und die Materie sind um nichts reeller als Farben, Licht, T\u00f6ne u. s. w. Bei der Bildung aller dieser Erfahrungen sind immer Umgebungsbestandtheile und lebende menschliche Organismen in gleicher Weise implicirt Das Zerreifsen dieser Erfahrungseinheit, die als abh\u00e4ngig von diesen Factoren auf-tritt, ist ja immer nur eine k\u00fcnstliche. Es ist ebenso unrichtig zu behaupten, dafs diese Elemente psychisch sind, wie die Behauptung falsch ist, dafs sie physisch sind, eben weil psychisch und physisch correlative Begriffe sind und bis zu einer gewissen Grenze die Bedeutung des Einen von der Bedeutung des Anderen abh\u00e4ngt.\nDasselbe l\u00e4fst sich in Bezug auf die Charaktere sagen. Intensit\u00e4t, Bekanntheit, Bewufstheit u. s. w. k\u00f6nnen weder als psychisch noch als physisch bezeichnet werden. Die Zerreifsung der einheitlichen Erfahrung ist auch hier unm\u00f6glich.\nSteht es aber besser mit der Klassifikation der Erfahrung in Sachen und Gedanken? Sind etwa Sachen physisch und Gedanken psychisch? Wenn wir nur ein wenig nach denken, m\u00fcssen wir uns eingestehen, dafs auch diese Trennung nicht aufrecht erhalten werden kann. \u201eSache\u201c und \u201eGedanke\u201c, als Erfahrungs-werthe betrachtet, haben beide, was ihren Inhalt anbetrifft, denselben Ursprung. Wie bei der Entstehung der Erfahrung \u201eSache\u201c, so kommen auch bei der Entstehung der Erfahrung \u201eGedanke\u201c ein Umgebungsbestand theil und ein lebendiger Organismus als Bedingungen mit ins Spiel. Dieser Umgebungs-bestandtheil und dieser lebendige Organismus k\u00f6nnen anderem seits als Complexe von Elementen und Charakteren betrachtet werden, wobei nur der eine Unterschied ins Gewicht f\u00e4llt, dafs der Organismus eine gr\u00f6fsere Mannigfaltigkeit derselben darstellt als der unbelebte Umgebungsbestandtheil. Wenn wir die Beziehungen, in welchen diese beiden Erfahrungsarten zu einander stehen, ausschliefsen, so besteht der Unterschied zwischen beiden haupts\u00e4chlich in der Abschw\u00e4chung des Inhaltes der Erfahrung bei dem Gedanken und in dem zeitlichen Abstande, in welchem derselbe zu der ihn bedingenden Sache steht. Mach hat trefflich bemerkt, dafs ja Begriffe (als eine Art von Gedanken) auch","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Einige empirio-kritische Bemerkungen \u00fcber die neuere Gehirnphysiologie. 201\nreell sind, nur dafs ihr Dasein ein physiologisches ist Es ist auch kein Grund vorhanden, warum wir ein Gef\u00fchl, z. B. das Schmerzgef\u00fchl, entweder als psychisch oder als physisch betrachten sollten. Es ist in unserer Anschauung zwar mehr mit dem lebenden Organismus verbunden als z. B. der Werth \u201eBuch\u201c, aber dennoch ist \u201eSchmerz\u201c genau eine solche Qualit\u00e4t wie Ton, Farbe, H\u00e4rte u. s. w.\nMan k\u00f6nnte uns entgegnen: \u201eJa, gewifs, die Sache \u201eBuch\u201c ist nicht psychisch, sondern physisch, w\u00e4hrend aber die Vorstellung oder Wahrnehmung \u201eBuch\u201c psychisch ist.\u201c Demnach w\u00e4ren Sachen und Gedanken physisch, Wahrnehmungen und Vorstellungen aber psychisch. Eine derartige Trennung der Erfahrung ist aber logisch unberechtigt, weil sie auf einem doppelten Theilungsprincipe beruht. Wir k\u00f6nnen die uns umgebende Welt entweder absolut betrachten und erkennen, ohne der Beziehungen der Erscheinungen zu unserem Organismus gewahr zu werden, wie es z. B. Physik und Chemie thuen, oder wir k\u00f6nnen die Erscheinungen in ihrer Abh\u00e4ngigkeit von unserem oder unserer Mitmenschen Organismus erkennen. In letzterem Falle bezeichnen wir gew\u00f6hnlich Sachen als Wahrnehmungen, Gedanken als Vorstellungen. Im Grunde genommen treffen die Worte Vorstellung und Wahrnehmung die charakteristischen Merkmale der Sachen und Gedanken, da ja eine Sache wahrgenommen und ein Gedanke vorgestellt wird. Bei der Erfahrung \u201eSache\u201c oder \u201eGedanke\u201c sind bestimmte Organgef\u00fchle des lebendigen Menschenindividuums implicirt, die bei der relativen Betrachtungsweise in den Vordergrund treten.1 Fassen wir also besonders die Relation der Erfahrungen zu dem menschlichen Organismus (speciell zu den Sinnesorganen) ins Auge, so k\u00f6nnen wir nat\u00fcrlich die ganze Erfahrung in Vorstellungen und Wahrnehmungen classificiren. Diese Klassifikation aber mit dem Klassificirten vom absoluten Standpunkte aus zusammenwerfen zu wollen, ist ein logischer Irrthum.\nWie dieser Irrthum entstanden ist, wie wir dazu gekommen sind, den Sachen und Gedanken vom absoluten Standpunkte aus die Wahrnehmungen und Vorstellungen zu substituiren, ist in h\u00f6chst geistvoller Weise von R. Av\u00ebnarius beschrieben worden.\n1 Siehe meinen Aufsatz \u201eDer Empfindungsbegriff\u201c, Vierteljahrsschr. f. vm. Philos. 1897.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nJ. Kodis.\nSeit seiner genialen Entdeckung der Introjection sollte es eigentlich nicht mehr Vorkommen, dafs dieser Fehler gemacht wird. Da die Introjection die Schuld tr\u00e4gt an der dualistischen Weltauffassung, an der Scheidung der Erfahrung in eine \u201einnere\u201c und eine \u201e\u00e4ufsere\u201c und an der Bildung der meisten metaphysischen Begriffe (zu welchen auch der Begriff der Psyche mit seinen Modificationen wie Gem\u00fcth, Bewusstsein, Intelligenz geh\u00f6rt), so wollen wir uns mit ihr noch etwas l\u00e4nger besch\u00e4ftigen.\nWenn einer von uns die ihn umgebende Welt voraussetzungslos betrachtet, so findet er zuerst darin Sachen und, obwohl in einer anderen W eise, auch auf diese bez\u00fcgliche Gedanken. \u201ePsychisch\u201c und \u201ePhysisch\u201c, \u201eInneres\u201c und \u201eAeufseres\u201c existirt f\u00fcr ihn noch nicht. Die Erfahrung ist vom absoluten Gesichtspunkte erkannt und bleibt einheitlich. Die Sachlage \u00e4ndert sich, sobald er sich \u00fcber das Verhalten seiner Mitmenschen oder anderer belebter, ihm \u00e4hnlicher Wesen Aufschlufs geben will. Dann hat er n\u00e4mlich in seiner Betrachtung nicht nur einen bestimmten Umgebungs-bestandtheil, sondern auch einen Menschen, der wiederum als ein Umgebungsbestandtheil betrachtet werden kann. Nun will er wissen, in welcher Relation dieser Umgebungsbestandtheil zu diesem Menschen steht. Er erkennt die Abh\u00e4ngigkeit, in welcher die Bildung der \u201eErfahrung\u201c dieses bestimmten Umgebungs-bestandtheils zu den Sinnesorganen des Mitmenschen steht u. 8. w. Er sagt : \u201eDer Mensch nimmt den Umgebungsbestandtheil wahr.\u201c In einer derartigen Aussage aber mufs man zweierlei unterscheiden, den empirischen und den hypothetischen Theil der Behauptung. Empirisch erkennen wTir nur Bewegungen (Sprache ist auch Bewegung) des Mitmenschen, hypothetisch ist aber die amechanische Bedeutung, die wir diesen Bewegungen zuschreiben, indem wir annehmen, dafs diese Erfahrungen gleichbedeutend mit unseren eigenen Erfahrungen sind. Wir k\u00f6nnen nicht umhin, diese Hypothese zu machen, und es liegt uns n\u00e4her, sie zu machen, als z. B. alle lebendigen Wesen mit Ausnahme des \u201eIch\u201c als blofse Mechanismen zu betrachten. Diese Hypothese aber kann als richtig angesehen werden, wenn sie keine Momente enth\u00e4lt, zu deren Annahme wir nicht logisch und empirisch aus unserer eigenen Erfahrung berechtigt w\u00e4ren. Dies ist aber gew\u00f6hnlich nicht der Fall mit unseren erkenntnifstheoretischen Hypothesen.\nStatt einfach zu erkl\u00e4ren, dafs jeder Mensch Sachen und Gedanken vorfindet, dafs er Erfahrungen macht, wie wir, dafs","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Einige empirio-kritieche Bemerkungen \u00fcber die neuere Gehimphysiologie. 203\ner gewissermafsen als Centrum zur Bildung der Erfahrungen angesehen werden kann, legen wir ihm irrth\u00fcmlicherweise die Erfahrungen bei, wir introjiciren die Erfahrungen zwischen den Mitmenschen und die Sachen. Wir sagen: der Mensch hat Wahrnehmungen von den Sachen. Dadurch verdoppeln wir den Inhalt der Erfahrung der Sache und bekommen neben der \u201eSache\u201c ^ noch eine Wahrnehmung derselben. Der n\u00e4chste Schritt auf dem falschen Wege ist der, dafs wir uns selbst an den Platz des Mitmenschen stellen, ohne dabei zu bedenken, dafs wir in einem derartigen Fall auch unsere eigene Erfahrung als relativ betrachten m\u00fcssen. Wir sagen folglich, dafs wir Wahrnehmungen und nicht Sachen in unserer Erfahrung haben. Damit wird die Wahrnehmung, die als abh\u00e4ngig von der Sache und unserem Organismus auftrat, an Stelle der Sache absolut betrachtet. Wir wechseln hier unseren r\u00e4umlichen Standpunkt des Beobachters mit dem des Beobachteten, ohne den ersten verlassen zu wollen. Consequent k\u00f6nnten wir nur hier behaupten, dafs wir die Sachen auch von dem Standpunkte unserer Mitmenschen aus wahmehmen, dafs diese das, was sie als Sachen absolut betrachten, in Bezug auf uns als Wahrnehmungen bezeichnen, nicht aber, dafs wir statt der Sachen Wahrnehmungen besitzen.\nDie weitere Vermischung der Begriffe kommt dadurch zu Stande, dafs wir \u201epar dessus le march\u00e9\u201c, die Erfahrungen, beziehungsweise Wahrnehmungen, Vorstellungen etc., in den menschlichen Leib einschliefsen, dafs wir sie diesen Leib bewohnen lassen. Der alte mythologische Anthropomorphismus ist schuld an diesem Irrthum. Da dieser nun einmal vorhanden ist, so entsteht die Frage, wie denn der Leib die Welt erfahre. Die Antwort lautet : durch \u201everschiedene psychische F\u00e4higkeiten\u201c unter welchen auch wiederum das \u201eBewufstsein\u201c steckt.\nNun giebt es aber weder psychische F\u00e4higkeiten, noch psychische Verm\u00f6gen.\nWenn wir uns noch nicht ganz von diesen Begriffen frei machen k\u00f6nnen, so liegt es daran, dafs wir unserer Natur nach conservativ sind, und dafs ein cons\u00e9quentes Durchdenken dieser Probleme einer gewaltigen Denkarbeit bedarf.\nWelchen Schlufs k\u00f6nnen wir aus dem Vorhergesagten ziehen? Welche Anwendung findet es auf die Gehirnphysiologie und besonders auf ihre neue kritische Richtung?","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nJ. Kodis.\n, Dieselbe behauptet :\n1.\tDafs die niederen Thiere (bis auf die Insekten), welche bestimmte, biologisch bedeutsame Functionen ohne Nerven ausf\u00fchren k\u00f6nnen, kein Bewufstsein besitzen;\n2.\tDafs das Bewufstsein nur dort auftritt, wo es ein associatives Ged\u00e4chtnifs giebt, und dafs ersteres aus \u201ebe-wufstem Wollen\u201c und \u201ebewufstem Empfinden\u201c bestehe.\n3.\tDafs associatives Ged\u00e4chtnifs eine physische Erscheinung sei und in der M\u00f6glichkeit des Organismus bestehe, auf eine\n. gewisse Reizursache nicht nur mit der ihr zugeh\u00f6rigen Wirkung, sondern auch mit Wirkungen, die zu ganz heterogenen Reizen geh\u00f6ren, antworten zu k\u00f6nnen, und zwar deshalb \u201eweil die letzteren in der Vorgeschichte des Individuums zuf\u00e4llig einmal mit jener eintraten\u201c.\n4.\tDafs Empfindungen nur da vorhanden seien, wo es ein associatives Ged\u00e4chtnifs giebt.\n5.\tDafs das Organ des Bewufstseins bei den Wirbelthieren das Gehirn oder sogar das ganze centrale Nervensystem sei, dafs es demnach keine Localisation der einzelnen Erinnerungsbilder gebe. Diese m\u00fcfsten dynamisch aufgefafst werden. Sie tauchten auf unter dem Einflufs eines Reizes in Abh\u00e4ngigkeit von der r\u00e4umlichen Lage, der verschiedenen Orientirung und den Verbindungswegen der nerv\u00f6sen Elemente.\nWas den ersten Punkt betrifft, so ist nach dem Vorhergesagten evident, dafs hier \u201eBewufstsein\u201c substantiell, als eine Modification der Substanz \u201eSeele\u201c aufgefafst wird. Hierbei er-giebt sich eine Vermischung zweier Methoden der Betrachtung der mechanischen und der amechanischen. Mechanisch betrachtet, sind alle Thiere, h\u00f6here und niedere, und auch die Menschen nichts weiter als Mechanismen in der weiteren Bedeutung des Wortes. Wenn wir nicht nach dem Inhalte der Erfahrungen, sondern nur nach den biologisch bedeutenden Bewegungen der Individuen fragen, so m\u00fcssen wir auch die h\u00f6heren Thiere und die Menschen gerade in der Weise betrachten, wie es Loeb z. B. bei den Untersuchungen der Tropismen von den Anneliden und Planarien that. Indem wir so zu Werke gehen, betreiben wir auch in der einzig m\u00f6glichen Weise die exakte Naturforschung. Alles wird jetzt zur\u00fcckgef\u00fchrt auf unsere eigenen Sinneswahrnehmungen oder soll es in der Zukunft werden. Alle Reactionen der Thiere und Menschen, seien sie nun durch nerv\u00f6se oder","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Einige empirio-kHtische Bemerkungen \u00fcber die neuere Gehirnphysiologie. 205\neinfach durch protoplasmatische Processe hervorgerufen, sollten als mechanisch, d. h. als Bewegungen, dargestellt werden. Dem \u201eBewufstsein\u201c sollten wir auf diesem Wege gar nicht begegnen, ebensowenig wie anderen psychologischen Begriffen, wie Empfindung, Wahrnehmung u. s. w.\nWir k\u00f6nnen aber auch den Inhalt der Erfahrungen der Thiere und Menschen von der sie umgebenden Welt in Betracht ziehen. Dann betrachten wir den Gegenstand amecha-nisch. Das Thier bleibt trotz alledem f\u00fcr uns der fr\u00fchere Complex von Elementen und Charakteren; die es umgebende Welt ist ein anderer derartiger Complex, \u201eBewufstsein\u201c oder \u201epsychische Functionen\u201c sind jedoch nirgends vorhanden. Sofern wir uns mit den Bedingungen der \u201eErfahrung\u201c besch\u00e4ftigen, haben wir nur mit physiologischen und physikalischen Gr\u00f6fsen zu thun. Nur als bedingt von der einheitlichen (gemeinsamen), speciell physiologisch bestimmbaren Action dieses gegebenen Organismus und der gegebenen Bestandteile seiner Umgebung betrachten wir \u201eErfahrungen\u201c des Thieres. Diese \u201eErfahrungen\u201c, wenn sie in Bezug auf unsere Mitmenschen anzunehmen sind, sind genau dieselben, wie wir selbst sie als Sachen oder Gedanken kennen. Unter diese Complexe von Sachen und Gedanken l\u00e4fst sich auch das sogenannte \u201eBewufst-sein seiner selbst\u201c (Selbstbewufstsein) bringen.\nUns scheint es, als h\u00e4nge die Frage, \u201eob ein Thier Bewufst-sein hat\u201c, im Grunde an dem Bed\u00fcrfnifs zu wissen, ob es als Centrum f\u00fcr das Entstehen der Erfahrungen von Sachen und Gedanken angesehen werden kann. Jede Erfahrung mufs n\u00e4mlich als ein von einer Coordination Bedingtes betrachtet werden. Biese Coordination enth\u00e4lt ein centrales Glied, bestehend in dem lebenden Organismus, und ein von irgend einer Sache gebildetes Gegenglied. W\u00e4hrend das centrale Glied verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig weniger ver\u00e4nderlich ist, ist das Gegenglied eher der Ver\u00e4nderung unterworfen. Genau genommen bedeutet die Frage, ob ein Individuum \u201eBewufstsein\u201c hat: geht es mit seiner Umgebung dieselben physiologischen, chemischen und physikalischen Re-actionen ein, wie wir es selbst thun?\nDies bringt uns zu der zweiten These, dafs n\u00e4mlich das \u201eBewufstsein\u201c ein objectives Kriterium in dem associativen Ge-dftchtnifs besitze. Es sei hier beil\u00e4ufig bemerkt, dafs ein vollkommen sicheres objectives Kriterium f\u00fcr die Bildung der Er-","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nJ. Kodis.\nfahrungen im Zusammenh\u00e4nge mit irgend einem anderen als unserem eigenen Organismus unm\u00f6glich zu haben ist, weil eg nothwendigerweise immer einen Analogieschlufs enthalten m\u00fcfste. Demgem\u00e4fs h\u00e4ngt es gewissermaafsen von der pers\u00f6nlichen Neigung ab, wie weit man diese Analogie verfolgen wilL Sind wir doch gezwungen, bei den Thieren, die einen anders gebauten K\u00f6rper haben, auch Erfahrungsinhalte, die sich von den unseren unterscheiden, vorauszusetzen, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze. Wenn man von einer mechanischen Theorie des Lebens ausgeht, sollte man jedenfalls auch ein mechanisches Kriterium haben. Das aber ist das associative Ged\u00e4chtnis nicht. Ein Kriterium sollte sich auf die Natur der mechanisch-physiologischen Erscheinungen, die bei der Entstehung der Erfahrungen auftreten, beziehen (wie es z. B. Avenabius in seinem Begriffe der Vitalreihe angiebt); es sollte auf keinen Fall ein Kriterium des Bewufstseins sein, sondern ein Kriterium f\u00fcr die Annahme eines neuen centralen Gliedes der Coordinationen die f\u00fcr die Entstehung der Erfahrungen nothwendig sind. Es sei hier zugleich bemerkt, dafs es principiell f\u00fcr diese Auffassung ganz gleichg\u00fcltig ist, ob bei der Entstehung der Erfahrungen nerv\u00f6se oder \u00fcberhaupt protoplasmatische Processe ins Gewicht fallen. Unbeschadet aber unserer kritischen Bemerkungen erkennen wir r\u00fcckhaltlos an, dafs Loeb\u2019s Ideen \u00fcber das centrale Nervensystem f\u00fcr Jeden, der ein Freund der Reinheit der Erfahrungen ist, eine freudig begr\u00fcfste, willkommene Gabe sein m\u00fcssen.\nDas Ged\u00e4chtnifs ist mithin als objectives Kriterium nicht geeignet, weil wir das, was Ged\u00e4chtnifs ist, ja nur aus unserer pers\u00f6nlichen Erfahrung wissen. Sogar an unseren Mitmenschen k\u00f6nnen wir das Ged\u00e4chtnifs nicht objectiv wahmehmen. Es hilft auch nichts zu behaupten, das Ged\u00e4chtnifs sei eine physische (Loeb sagt physikalische, aber damit meint er wohl physische) Erscheinung, denn wir haben schon gesehen, dafs das Ged\u00e4chtnifs als \u201epsychisches Verm\u00f6gen\u201c nur eine Wortexistenz hat. Es ist ein Gesammtname f\u00fcr die Wiederentstehung der Gedanken u. s. w. Das Wort \u201eGed\u00e4chtnifs\u201c bezieht sich auf den vollen Inhalt der Erfahrung, nicht nur auf dessen mechanische Seite. Deswegen kann eine Phonographeinrichtung dem Ged\u00e4chtnisse zwar substituirt werden, aber nur partiell. Andere als mechanische Elemente k\u00f6nnen ja in dieser Substitution keine Vertretung finden. Deshalb gen\u00fcgt ein Phonograph f\u00fcr die","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Einige cmpirio-kritische Bemerkungen \u00fcber die neuere Gehirnphysiologie. 207\nmechanische Auffassung, f\u00fcr die amechanische w\u00e4re diese Substitution unrichtig.\nDas Verschwimmende aller Bestimmungen mit H\u00fclfe der psychologischen Begriffe geht auch daraus hervor, dafs stets die eine durch die andere gest\u00fctzt wird. So ist Bewufstsein z. B. dort anzunehmen, wto es associatives Ged\u00e4chtnifs giebt, Ged\u00e4chtnifs aber nur da, wo es Empfindung giebt. Andererseits aber ist Empfindung nur dort zu finden, wo es Ged\u00e4chtnifs giebt; Und so geht es im Kreise, und zwar nur aus dem Grunde, weil wir, ohne dessen gewahr zu werden, immer wieder in die alte Gewohnheit verfallen, Ged\u00e4chtnifs, Bewufstsein und Empfindung als Verm\u00f6gen zu betrachten.\nEs ist bemerkenswerth, dafs immer eine grofse Unsicherheit mit der psychologischen Deutung des biologischen Erfahrungsmaterials verbunden ist. Das beweisen auch die andererseits so bewunderungsw\u00fcrdigen Experimente von Bethe mit den Ameisen. Falls wir uns in die Psychologie einlassen wollten, k\u00f6nnten wir noch zu ganz anderen Deutungen als der betreffende Autor gelangen. Wir wollen nur beispielsweise das Experiment erw\u00e4hnen, wobei eine Ameise mit der gequetschten Ameise eines anderen Nestes beschmiert wird.1\nDa A. Bethe von der Voraussetzung ausgeht, dafs alle psychischen Eigenschaften, wie Empfindung, Ged\u00e4chtnifs etc. nur da Vorkommen, wo das Thier durch sie zweckgem\u00e4fs sein Handeln \u00e4ndern kann, so findet er den Pr\u00fcfstein der psychischen Qualit\u00e4ten in dem Im-Stande-sein des Thieres modifient zu handeln. Demgem\u00e4fs kann Bewufstsein nur dort angenommen werden, wo die Handlungen des Thieres gegen\u00fcber den angeborenen Handlungen etwas Neues zeigen. Deswegen, um zu pr\u00fcfen, ob die Ameisen Bewufstsein besitzen, erdachte er unter anderen folgendes Experiment. Bekanntlich wird eine verletzte Ameise, die nach ihrem Neste zur\u00fcckkehrt, von anderen Ameisen betrillert. Nach Bethe\u2019s Hypothese ist dies ver\u00e4nderte aber nicht feindliche Benehmen der Nestgenossen\nnichts Weiteres als eine Reaction auf den Geruchsreiz der von\n*\nden Stoffen kommt, die aus der er\u00f6ffneten K\u00f6rperh\u00f6hle des\n1 Albrboht Bethe. D\u00fcrfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualit\u00e4ten zuachreiben ? Ppl\u00fcgeb\u2019s Arch. f. d. ges. Phys. 70 (1 u. 2.)","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nJ. Kodis.\nThieres stammen. Nun w\u00e4lzte Bethe die Ameisen in einer Quetschung von Ameisen einer anderen Art oder eines fremden und feindlichen Nestes derselben Art Eine derartige beschmierte Ameise wurde immer, nachdem sie in ihr eigenes Nest zur\u00fcckgebracht war, wie ein Thier des fremden Nestes behandelt, gekniffen, gezerrt, mit Gift \u00fcbergossen oder get\u00f6dtet.\nDieses Experiment ist in der Weise gedeutet worden, dafs sich Ameisen wegen des ver\u00e4nderten Geruches nicht wieder-erkennen k\u00f6nnten. Es kann jedoch auch dahin gedeutet werden, dafs Ameisen den fremden Geruch nicht vertragen k\u00f6nnen, und dafs sie den-Freund, obwohl sie ihn erkennen, wie einen Feind behandeln, eben weil er einen fremden Geruch an sich hat\nZum Schl\u00fcsse wollen wir uns zu der letzten These der neuen Gehimphysiologie wenden. Die Kritik der Localisationslehre k\u00f6nnen wir nur willkommen heifsen. Seit Goltz und seine Nachfolger durch ihre Experimente diese Lehre ersch\u00fcttert haben, ist sie auch von der Seite der Philosophie angegriffen worden. Eine ausf\u00fchrliche Behandlung dieser Frage liegt uns in der Arbeit von Carl Hauptmann vor. Dieses Werk, das von dem Gesichtspunkte der Nothwendigkeit eines consequent durch-gef\u00fchrten methodologischen Dualismus in der Biologie die Gehirnphysiologie kritisch beleuchtet, fordert eine derartige Behandlung der Probleme der gesammten Gehirn- und Nerven-physiologie, wie sie Loeb consequent nur in Bezug auf die niederen Thierarten durchf\u00fchrt. Deswegen wollen wir uns hier nicht weiter in diese Fragen einlassen und nur einen bestimmten Punkt ber\u00fchren.\nDas Gehirn kann auch bei den h\u00f6heren Wirbelthieren nicht als Organ des Bewufstseins angesehen werden. Wir k\u00f6nnen nicht einmal sagen, dafs es ein \u201eOrgan\u201c der \u201eErfahrung\u201c sei, weil dies eine physiologische Function impliciren w\u00fcrde. Erfahrung ist aber keine physiologische Function des Gehirns. Eine psychologische Erscheinung als physiologische Function aufzufassen, ist wiederum nichts Anderes, als von Neuem in die alte, verh\u00fcllte Theorie zu verfallen, dafs der Leib die Seele behause. Das Gehirn als physiologische Erscheinung hat nur physiologische Functionen: Ern\u00e4hrung, Reizleitung u. s. w. Erfahrung als Totalit\u00e4t ist nur als ein von den physiologischen Zust\u00e4nden Bedingtes anzunehmen. Es soll auch nicht be*","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Einige empirio-kritiscke Bemerkungen \u00fcber die neuere Oehtmphysiologie. 209\nhauptet werden, dais es wissenschaftlich nicht gen\u00fcge, nur die Abh\u00e4ngigkeit der Erscheinungen zu kennen. Wir brauchen nur auf die Enthaltsamkeit der Physik zu verweisen. Die ph\u00e4nomenologische Physik und sogar theilweise die energetische, enthalten sich aller Deutungen der Erscheinungen; sie verhalten sich nur beschreibend. Warum sollten wir nicht auch in den Wissenschaften, die mit viel complicirteren Erscheinungen zu thun haben und deshalb auch viel leichter zu falschen \u201eErkl\u00e4rungen\u201c hinleiten, diesem Beispiele folgen?!\n(Eingegangen am 6. M\u00e4rz 1900.)\nZeitschrift fdr Psychologie 23\n14","page":209}],"identifier":"lit31398","issued":"1900","language":"de","pages":"194-209","startpages":"194","title":"Einige empirio-kritische Bemerkungen \u00fcber die neuere Gehirnphysiologie","type":"Journal Article","volume":"23"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:29:21.276448+00:00"}