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{"created":"2022-01-31T14:17:55.062671+00:00","id":"lit31405","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schumann, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24: 1-33","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus dem Psychologischen Institut der Universit\u00e4t Berlin.)\nBeitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen.\nVon\nF. Schumann.\nZweite Abhandlung.\nZur Sch\u00e4tzung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen.\n(Mit 55 Figuren.)\nI.\n\u00a7 1. Von gr\u00f6fster Wichtigkeit f\u00fcr die Psychologie ist die Analyse des Vergleichungsvorganges, von dem wir thats\u00e4chlich so gut wie nichts wissen. Ich habe schon an anderer Stelle1 versucht, die Gesetzm\u00e4fsigkeit des Geschehens durch eine Formel darzustellen, indem ich mich zun\u00e4chst nur auf die Thatsachen st\u00fctzte, welche die innere Wahrnehmung ohne eingehende Versuche sicher ergiebt. Da die R\u00fccksicht auf den Zusammen hang es bedingt, so wiederhole ich hier die Haupts\u00e4tze.\nWird mir zuerst eine Linie A von beispielsweise 100 mm L\u00e4nge gezeigt und darauf nach Verdeckung von A eine zweite Linie B von 110 mm L\u00e4nge, so erkenne ich im Allgemeinen richtig, dafs Bf> A ist. Die gew\u00f6hnliche innere Wahrnehmung vermag nun bei einem derartigen Versuche ausschliefslich die beiden Empfindungsinhalte und die Vorstellungsbilder, welche den gesprochenen Worten vorangehen, festzustellen.\nWenn wir demnach nur auf Grund des Thatbestandes, welcher ohne eingehendere Untersuchung sich darbietet, die Gesetzm\u00e4fsigkeit des Geschehens zu formuliren suchen, so werden wir sagen : Die Empfindungen A und B bilden ein einheitliches\n1 Diese Zeitschrift 17, S. 106 ff.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 24.","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nF. Schumann.\nGanzes und rufen als Ganzes das gesprochene Urtheil hervor. Drei verschiedene Arten von Complexen sind zu unterscheiden, je nachdem B > A oder B < A oder B = A ist. Die Wirkung,' welche von den Complexen hervorgerufen wird, ist unabh\u00e4ngig von den Ausdehnungen der einzelnen Elemente des Complexes und nur abh\u00e4ngig von dem Verh\u00e4ltnifs, in dem die Ausdehnungen zu einander stehen.\nEs liegt auf der Hand, dafs die Psychologie bei dieser Formulirung nicht stehen bleiben kann, dafs sie vielmehr tiefer in das psychische Geschehen einzudringen suchen mufs.\nDa stehen nun von vornherein drei Wege offen. Erstens haben vii mit der M\u00f6glichkeit zu rechnen, dafs die innere Wahrnehmung bei systematischen \"V ersuchen noch weitere Elemente im Bewufstsein nachweist, die den Zusammenhang zwischen Empfindungscomplex und ausgesprochenem Urtheil vermitteln helfen. Zweitens kann man versuchen, auf indirectem Wege solche Elemente zu erschliefsen. Drittens k\u00e4me die Heranziehung unbewufster Vorg\u00e4nge in Frage.\nJ\u00fcngst ist es nun gelungen, auf dem ersten Wege in einigen speciellen F\u00e4llen etwas weiter in das dunkle Gebiet vorzudringen.\nSo habe ich vor einiger Zeit1 Bewufstseinsinhalte aufgezeigt, welche bei der \"V ergleichung sehr kleiner Zeiten in Frage kommen. Werden mir drei kurze Signale angegeben, welche in gleichen oder verschiedenen Intervallen auf einander folgen, so vermag ich mit grofser Genauigkeit die Gleichheit oder Verschiedenheit der Zwischenzeiten zu erkennen. In solchen F\u00e4llen vermag nun die innere Wahrnehmung bei einem oberfl\u00e4chlichen Versuche meistens auch nur die drei Schallempfindungen und die Wortvorstellungen, welche dem ausgesprochenen Urtheile vorangehen, zu constatiren. Durch ausgedehnte Versuchsreihen ist aber nachgewiesen, dafs aufser den Schallempfindungen noch eine Erwartungsspannung bezw. ein Eindruck der Ueberraschung eiu-tritt, und dafs diese Nebeneindr\u00fccke als mittelbare Criterien bei der Sch\u00e4tzung eine grofse Rolle spielen.\nVor Kurzem haben sodann C. Stumpf und M. Meyeb Untersuchungen2 ver\u00f6ffentlicht, die sich mit der Empfindlichkeit unseres Geh\u00f6rs f\u00fcr Verstimmungen besch\u00e4ftigen. Bei den Ver-\n1\tZeitschr. f. Psychol. 18, S. 1 ff.\n2\tZeitschr. f. Psychol. 18, S. 390 ff.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. II\n3\nsuchen wurden z. B. der Versuchsperson zwei T\u00f6ne gegeben, welche theils ganz genau im Verh\u00e4ltnifs der Octave (bezw. Quinte, Quarte etc.) zu einander standen, theils nur angen\u00e4hert. Die Versuchsperson hatte anzugeben, ob ihr das Intervall rein oder zu grofs oder zu klein erscheine.\nHier waren bei oberfl\u00e4chlicher Betrachtung auch nur die beiden Tonempfindungen und die dem ausgesprochenen Urtheile vorangehenden Wortvorstellungen im Bewufstsein zu constatiren. Viele Forscher w\u00e4ren nun wohl geneigt gewesen anzunehmen, dais in solchen F\u00e4llen zun\u00e4chst eine m\u00f6glichst reine Octave re-producirt und dann das angegebene Intervall mit dem repro-ducirten verglichen w\u00fcrde. Stumpf hat aber gezeigt, dafs that-s\u00e4chlich eine solche Vergleichung nicht in Frage kommt, dafs viel mehr eigenartige Bewufstseinsinhalte auftreten, welche als Criterien dienen. Bei den vergr\u00f6fserten Intervallen macht sich n\u00e4mlich ein Unlustgef\u00fchl der \u201eSpannung, Sch\u00e4rfe, Ueberreizung\u201c geltend, bei den verkleinerten ein Unlustgef\u00fchl \u201eder Mattigkeit, Schalheit, Stumpfheit\u201c und bei den subjectiv reinen Intervallen ein Lustgef\u00fchl.\nDrittens kommen Untersuchungen von G. E. M\u00fcller und Lillie J. Martin 1 in Betracht, welche einen Beitrag liefern zur Analyse der psychologischen Factoren, auf denen das Urtheil bei der Vergleichung gehobener Gewichte beruht. Diese Autoren weisen ausf\u00fchrlich nach, dafs das Urtheil (bei Versuchen \u00fcber die Unterschiedsempfindlichkeit nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle) in zahlreichen F\u00e4llen nicht durch eine Art Vergleichung der beiden gehobenen Gewichte zu Stande kommt, sondern nur auf dem absoluten Eindr\u00fccke der Leichtigkeit oder der Schwere beruht, \u201eden ein gehobenes Gewicht isolirt genommen, d. h. ohne Vergleichung mit einem bestimmten vor oder nach ihm gehobenen Gewichte macht.\u201c Das Zustandekommen dieses absoluten Eindrucks wird folgendermaafsen erl\u00e4utert: \u201eWie uns ein Gegenstand des gew\u00f6hnlichen Lebens, ein Brief, ein Buch, ein Koffer u. dgl. oder z. B. auch ein Kind heim Heben schwer oder leicht erscheinen kann, ohne dafs wir hierbei diesen Gegenstand mit einem bestimmten anderen Gegenst\u00e4nde derselben Art vergleichen, so kann auch bei Versuchen mit gehobenen Gewichten uns ein Gewicht schwer oder leicht\n1 Beitr\u00e4ge zur Analyse der Unterschiedsempfindlichkeit. Leipzig 1899.\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nF. Schumann.\nerscheinen, ohne dafs es hierbei mit einem bestimmten anderen Gewichte verglichen wird. Erkl\u00e4ren wir z. B. ein gehobenes Buch f\u00fcr leicht oder f\u00fcr schwer, so ist der zu Grunde liegende Vorgang der folgende. Wir schicken den betreffenden Muskeln Impulse zu, deren St\u00e4rke dem Umstande angepafst ist, dafs es sich um die Hebung eines Buches (von dem und dem Aussehen) handelt. Finden wir nun, dafs auf diese Impulse hin das Buch sich schnell vom Boden l\u00f6st und schnell emporsteigt, so erkl\u00e4ren wir das Buch f\u00fcr leicht ; l\u00f6st sich das Buch langsam vom Boden und steigt es langsam in die H\u00f6he, so erkl\u00e4ren wir dasselbe f\u00fcr schwer. Ganz analog steht es bei unseren Gewichtsversuchen. Schon nach verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig wenigen Doppelhebungen sind wir auf eine bestimmte, der Gr\u00f6fsenordnung des Grundgewichtes und der Vergleichsgewichte angepafste St\u00e4rke der Hebungsimpulse eingestellt, und ein Gewicht erscheint uns schwer oder leicht (grofs oder klein), wenn es bei seiner Hebung langsam bezw. schnell sich vom Boden abl\u00f6st und in die H\u00f6he bewegt.\u201c In vielen F\u00e4llen bestimmt nun nach den vorliegenden Untersuchungen der absolute Eindruck des einen der beiden gehobenen Gewichte ganz allein das Urtheil, und zwar wird das Urtheil, \u201eda es jedesmal bei oder nach der zweiten Hebung abgegeben wird, selbstverst\u00e4ndlich leichter durch den absoluten Eindruck des zuzweit gehobenen Gewichtes bestimmt als durch denjenigen des zuerst gehobenen Gewichtes, der nur durch die Erinnerung auf das Urtheil zu wirken vermag.\u201c\nDieser absolute Eindruck kommt aber nicht etwa nur ausnahmsweise, sondern sehr h\u00e4ufig in Betracht. So bemerkt M\u00fcller in einer Anmerkung (S. 48): \u201eNach Abfassung obiger Ausf\u00fchrungen bin ich wiederum Versuchsperson bei Gewichtsversuchen, die hier angestellt werden, und ich bin erstaunt dar\u00fcber, wie oft ich bei der zweiten Hebung eines Versuches gar keine Erinnerung mehr von dem Eindr\u00fccke habe, den das Gewicht der ersten Hebung gemacht hat. Eine andere Versuchsperson bei derselben Untersuchung, die von dem Gegenst\u00e4nde dieser unserer Abhandlung noch kein Wort geh\u00f6rt hat, gab gleichfalls ganz von selbst zu Protokoll, dafs sie h\u00e4ufig ihr Urtheil f\u00e4lle, ohne bei der zweiten Hebung des Versuches noch eine Erinnerung von dem Eindr\u00fccke der ersten Hebung zu haben.\u201c","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtsivahrnehmungen. II.\n5\nDie angef\u00fchrten drei Untersuchungen zeigen deutlich, dafs es m\u00f6glich ist, durch experimentelle Untersuchungen Bewufst-seinsthatsachen der inneren Wahrnehmung zug\u00e4nglich zu machen, die ihr ohne solche Untersuchungen entzogen sind. Es ergiebt sich daher f\u00fcr die Wissenschaft die Aufgabe, die Untersuchung auch auf die Vergleichung anderer Eindr\u00fccke auszudehnen.\nIm Folgenden unternehme ich es zun\u00e4chst, Factoren aufzuzeigen, welche das Urtheil \u00fcber das Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnifs r\u00e4umlicher Distanzen bezw. Linien bestimmen.\n/\u201c\\\n\u00a7 2. Da ich das Beweismaterial f\u00fcr meine Aufstellungen den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen entnehme, so sehe ich mich gen\u00f6thigt, einige Betrachtungen \u00fcber diese T\u00e4uschungen voranzuschicken.\nBei den im Folgenden in Frage kommenden F\u00e4llen werden immer Urtheile \u00fcber das Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnifs zweier oder mehrerer Distanzen, Linien u.s.w. abgegeben, die den thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnissen nicht entsprechen. Die Ursachen dieser falschen Urtheile k\u00f6nnen mannigfacher Art sein. Doch sind zwei Hauptf\u00e4lle zu unterscheiden: Entweder sehen wir die \u00fcbersch\u00e4tzte Distanz gr\u00f6fser als die andere (z. B. die eingetheilte Linie gr\u00f6fser als die nicht-eingetheilte), oder aber die Wahrnehmungsinhalte zeigen noch das objective Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnifs und erst das Urtheil wird irgendwie abgelenkt. Jeder Fall l\u00e4fst verschiedene Unterarten zu. Um alle M\u00f6glichkeiten in Bechnung zu ziehen, geht man am besten von einer Aufz\u00e4hlung der s\u00e4mmtlichen physiologischen und psychologischen Vorg\u00e4nge aus, welche zwischen den \u00e4ufseren Beizen und dem ausgesprochenen Urtheile liegen.\nA. Der Zusammenhang zwischen \u00e4ufserem Beiz und\nWahrnehmungsinhalt.\na)\tVon dem \u00e4ufseren Objecte wird ein Bild auf der Netzhaut entworfen. Hierbei k\u00f6nnen zun\u00e4chst anormale Verh\u00e4ltnisse im Auge eine St\u00f6rung hervorrufen. So erscheint bekanntlich bei ungenauer Accommodation eine schmale weifse Fl\u00e4che zwischen zwei schwarzen Fl\u00e4chen in Folge der Irradiation ver-gr\u00f6fsert.\nb)\tAuf der Netzhaut m\u00fcssen durch das Bild die lichtempfindlichen Elemente erregt werden. Da nun die Ausdehnung des Wahrnehmungsinhaltes von der Zahl der gereizten Elemente","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nF. Schumann.\nabh\u00e4ngt, und da die Elemente auf den verschiedenen Theilen der Netzhaut verschieden dicht gelagert sind, so h\u00e4ngt die gesehene Gr\u00f6fse auch von der Stelle der Netzhaut ab, auf die das Bild f\u00e4llt. Beispiel: Die von Recklinghausen zuerst beobachtete T\u00e4uschung (die bekannte Schachbrettfigur).\nc) Von der Netzhaut pflanzt sich der Procefs zum Sensorium fort und es entsteht der Wahrnehmungsinhalt. Ueber die Vorg\u00e4nge, welche zwischen Netzhauterregung und bewufstem Inhalt liegen und in Beziehung zu den r\u00e4umlichen Eigenschaften der Gesichtswahrnehmung stehen, wissen wir fast gar nichts. Entsprechend l\u00e4fst sich schwer sagen, wie weit T\u00e4uschungen durch diese Vorg\u00e4nge bedingt sein k\u00f6nnen. Man hat ja hypothetisch angenommen, dafs sich die Netzhauterregungen erst mit anderen sensorischen Erregungen, herr\u00fchrend von den Augenmuskeln, verbinden m\u00fcfsten, um die r\u00e4umlichen Eigenschaften des Wahrnehmungsinhaltes zu erzeugen. Indessen sprechen jetzt so viel Gr\u00fcnde gegen diese Theorie, dafs man sie als sehr unwahrscheinlich betrachten mufs. Auch lassen sich die optischen T\u00e4uschungen, die man mit der Anordnung des Bewegungsapparates der Augen in Zusammenhang gebracht hat, ganz ungezwungen in anderer Weise erkl\u00e4ren, wie ich gleich zeigen werde. Sehen wir aber auch von den Muskelempfindungen ab, so spielen doch jedenfalls die fortw\u00e4hrend stattfindenden Augenbewegungen eine gr\u00f6fsere Rolle beim Sehact, und wir haben damit zu rechnen, dafs T\u00e4uschungen durch sie bedingt sind.\nSicher k\u00f6nnen wir zur Zeit nur sagen, dafs bei einigen geometrisch-optischen T\u00e4uschungen eine falsche Tiefenlocalisation in Betracht kommt. Localisiren wir ein Object zu weit, so sehen wir es zu grofs ; localisiren wir es zu nahe, so erscheint es uns zu klein. Zwei parallele Linien scheinen unter Umst\u00e4nden zu divergiren, wenn sie nicht in dieselbe Ebene localisirt werden. Dieser Factor kommt unzweifelhaft bei vielen F\u00e4llen in Frage, doch haben einige Autoren (Thi\u00e9ky, Filehne) ihm eine zu weitgehende Bedeutung zugeschrieben. Allerdings ist zur Zeit noch nicht definitiv entschieden, ob wir die falsch localisirten r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen wirklich zu grofs bezw. zu klein sehen oder ob nur eine Urtheilst\u00e4uschung in Betracht kommt. Wer der zweiten Annahme zustimmt, wird den Einflufs der falschen Tiefenlocalisation unter B anf\u00fchren m\u00fcssen.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. II.\n7\nB. Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmungsinhalt und gesprochenem Urtheil.\nDieser Zusammenhang ist zur Zeit auch noch so unbekannt, dafs a priori die verschiedenen in Frage kommenden M\u00f6glichkeiten nicht aufgez\u00e4hlt werden k\u00f6nnen. Immerhin zeigen uns analoge Erfahrungen auf anderen Sinnesgebieten, dafs zun\u00e4chst die folgenden beiden F\u00e4lle in Betracht gezogen werden m\u00fcssen :\na.\tDas Urtheil wird durch mittelbare Kriterien hervorgerufen.\nb.\tDie eigentlich zu vergleichenden r\u00e4umlicnen Gr\u00f6fsen bestimmen nicht allein das Urtheil, sondern die Ausdehnungen benachbarter Eindr\u00fccke wirken mit.\nDa mehrere Forscher der Ansicht zu sein scheinen, dafs immer, wenn wir zwei r\u00e4umliche Gr\u00f6fsen mit der Absicht des Vergleichens betrachten, unser Urtheil nur durch diese beiden Gr\u00f6fsen bestimmt werden kann \u2014 abgesehen h\u00f6chstens von den F\u00e4llen, in denen unsere Aufmerksamkeit im Momente des Vergleichens gest\u00f6rt wird \u2014 so sehe ich mich in R\u00fccksicht auf die sp\u00e4ter folgenden Ausf\u00fchrungen gen\u00f6thigt, diese Ansicht etwas ausf\u00fchrlicher durch eine Reihe von Thatsachen zu widerlegen.\nFig.\n1.\nIn Figur 1 erblickt man zwei gleiche Quadrate, von denen das eine auf der Seite, das andere auf der Spitze steht. Ich habe nun zahlreiche Versuchspersonen diese Quadrate hinsichtlich ihrer Gr\u00f6fse mit einander vergleichen lassen. Die Mehrzahl hielt das auf der Spitze stehende f\u00fcr deutlich gr\u00f6fser. Andere und namentlich solche, die im Zeichnen ge\u00fcbt waren, hatten die T\u00e4uschung nicht. Einige der Letzteren fragte ich, ob sich ihnen nicht wenigstens im ersten Moment ein anderes Urtheil aufgedr\u00e4ngt h\u00e4tte, indem ich ihnen zugleich davon Mittheilung machte, dafs andere Versuchspersonen das rechts befindliche","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nF. Schumann.\nQuadrat f\u00fcr gr\u00f6fser gehalten hatten. Sie erkl\u00e4rten, dafs sie wohl auch einer solchen T\u00e4uschung verfallen k\u00f6nnten, wenn sie nicht genau zus\u00e4hen, weil sie dann unwillk\u00fcrlich die Seite des links stehenden Quadrats mit der Diagonale des rechts stehenden vergleichen w\u00fcrden.\nAus dieser Aussage ergiebt sich die Erkl\u00e4rung der T\u00e4uschung. Betrachte ich zuerst das links stehende Quadrat und wende ich dann den Blick dem anderen zu, so fallen mir von dem letzteren im ersten Augenblick die Diagonalen auf (vgl. Abhandlung 1, S. 18), welche dann das Urtheil bestimmen, da man ja gew\u00f6hnlich die Ausdehnung nach den verticalen und horizontalen Dimensionen sch\u00e4tzt.\nF\u00fcr diese Erkl\u00e4rung spricht noch eine andere Thatsache. Ich habe fr\u00fcher gezeigt, dafs das auf der Spitze stehende Quadrat dem anderen \u00e4hnlicher wird, wenn man eine Seite durch die Aufmerksamkeit isolirt. Zugleich fallen dann die Diagonalen nicht mehr auf. Fasse ich nun zuerst das rechts stehende Quadrat in dieser Weise auf und betrachte ich darauf das andere Quadrat, so erkenne ich deutlich, dafs beide gleich grofs sind, w\u00e4hrend ich bei unbefangenem Blick auch der T\u00e4uschung verfalle.\nBesonders bemerkenswert!! ist dabei noch, dafs man sich Anfangs gar nicht bewufst ist, die Seite des einen Quadrats mit der Diagonale des anderen verglichen zu haben. Erst wenn man sich hinterher \u00fcberlegt, woher die T\u00e4uschung r\u00fchren k\u00f6nne, kommt man durch Deflexion auf die Erkl\u00e4rung. Geht man \u201em\u00f6glichst gedankenlos\u201c mit den Augen zwischen den Figuren hin und her, so hat man nur den unmittelbaren Eindruck, rechts eine gr\u00f6fsere Figur zu sehen. Eine solche etwas sorglose Beobachtung kommt aber \u00fcberhaupt den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen zu gute. Lipps (diese Zeitschr. 18, S. 423) sagt: \u201eNicht scharfe Beobachtung der wahrgenommenen Formen, nicht auf solcher Beobachtung beruhendes sicheres Vergleichen, sondern verlorenes, gedankenloses Dar\u00fcberhinwegblicken \u2014 bei dem man immerhin weifs, worum es sich handelt \u2014 ist den geometrischoptischen T\u00e4uschungen g\u00fcnstig.\u201c Nachdem sich jedoch an einem Beispiele sicher gezeigt hat, dafs bei solchem gedankenlosen \u201eDar\u00fcberhinwegblicken\u201c nicht diejenigen Dimensionen das Urtheil bestimmen, welche eigentlich verglichen werden sollen,","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtsivahrnehmungen. II.\n9\nhaben wir genauer zuzusehen, ob nicht noch andere T\u00e4uschungen in dieselbe Kategorie geh\u00f6ren.\nThats\u00e4chlich finden wir denn auch unter den bekannten T\u00e4uschungen eine ganze Beihe, welche offenbar in derselben Weise zu erkl\u00e4ren sind. Suchen wir z. B. den \u00e4ufseren Kreis des kleineren Binges der nebenstehenden Figur 2 mit dem inneren\nKreise des gr\u00f6fseren Binges zu vergleichen, so verfallen wir beim \u201egedankenlosen Dar\u00fcberhinwegblieken\u201c einer besonders starken T\u00e4uschung, weil dann nicht der innere Kreis des gr\u00f6fseren Binges, sondern die Ausdehnung des ganzen Binges beim Zustandekommen des Yergleichsurtheils mitwirkt (Brentano). Denn je sorgf\u00e4ltiger wir die zu vergleichenden Kreise im Be-wufstsein isoliren, desto mehr l\u00e4fst die T\u00e4uschung nach.\nWeiter kommt hier die T\u00e4uschung in Betracht, welche bei der Beurtheilung von gleichen Distanzen sich zeigt, die durch\nLinien von verschiendener|Dicke begrenzt sind. So erscheint in Figur 3 die Distanz der beiden d\u00fcnnsten Linien kleiner als die","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nF. Schumann.\nDistanz der n\u00e4chst dickeren Linien und diese wieder zuweilen kleiner als die Distanz der dicksten Linien. Dieser Versuch kann in mannigfacher Weise variirt werden. So habe ich mir z. B. eine Leihe von Kreisen neben einander auf einen Streifen Papier gezeichnet, indem ich die schwarzen Begrenzungslinien immer dicker und dicker zog, w\u00e4hrend die inneren weifsen Fl\u00e4chen in allen F\u00e4llen genau die gleiche Gr\u00f6fse behielten. Allen Versuchspersonen schienen die weifsen Kreisfl\u00e4chen mit der Dicke der Begrenzungslinien bis zu einer gewissen Dicke, die bei verschiedenen Versuchspersonen verschieden war, zuzunehmen, dann wieder abzunehmen. Bei solchen Versuchen ergiebt nun die innere Wahrnehmung, dafs bei den mit den sehr breiten schwarzen Bingen versehenen Kreisen die innere weifse Fl\u00e4che sich von selbst im Bewufstsein von dem schwarzen Ringe ganz isolirt; dafs dagegen eine solche Isolirung erst willk\u00fcrlich vorgenommen werden mufs bei den d\u00fcnneren Ringen. Bei den d\u00fcnnsten Linien gelingt sie auch nach h\u00e4ufigen Versuchen nicht.\nIch habe nun eine Reihe von Versuchspersonen zun\u00e4chst gefragt, bei welcher Fl\u00e4che die Gr\u00f6fsenzunahme aufzuh\u00f6ren scheine; dann habe ich sie aufgefordert, diese Fl\u00e4che sorgf\u00e4ltig durch die Aufmerksamkeit von dem angrenzenden Ringe zu isoliren. Sobald diese Isolirung vollzogen war, erschien nun die betreffende Fl\u00e4che nicht mehr gr\u00f6fser sondern im Gegentheil kleiner als die vorhergehende. Nach einiger Uebung gelang es dann, einige weitere noch d\u00fcnner begrenzte Fl\u00e4chen zu isoliren mit dem gleichen Erfolge hinsichtlich der T\u00e4uschung. Daraus ergiebt sich, dafs die T\u00e4uschung nur so lange besteht, als die weifse Fl\u00e4che mit dem umgebenden Ringe innig verbunden ist. Es liegt daher nahe anzunehmen, dafs die weifse Fl\u00e4che, so lange die einheitliche Auffassung stattfindet, nicht isolirt beim Vergleichen zur Wirkung gelangt, dafs vielmehr die Ausdehnung des aufgefafsten Ganzen bis zu einem gewissen Grade mit in Frage kommt.\nEine interessante Variation zeigt Figur 4. Der innere weifse, \u00fcberall gleich breite Streifen zerf\u00e4llt n\u00e4mlich in zwei H\u00e4lften, die verschieden breit erscheinen, w\u00e4hrend innerhalb jeder H\u00e4lfte die Gleichm\u00e4fsigkeit der Breite sofort in die Augen springt. Objectiv k\u00f6nnten die beiden H\u00e4lften nur dann verschieden breit sein, wenn die oberen bezw. unteren Grenzlinien der beiden H\u00e4lften nicht in demselben Punkte zusammentr\u00e4fen. Dafs dies aber der Fall","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtsivahrnehmungen. II.\n11\nist, davon \u00fcberzeugt man sich leicht durch den Augenschein und doch bleibt die T\u00e4uschung in unverminderter St\u00e4rke bestehen. Einige Versuchspersonen indessen, die den weifsen Streifen mit Leichtigkeit zu isoliren verm\u00f6gen, haben keine T\u00e4uschung.\nEndlich will ich hier noch zwei bekannte T\u00e4uschungen anf\u00fchren, die mir in dieselbe Kategorie zu geh\u00f6ren scheinen. In Figur 5 scheinen die Punktreihen und in Figur 6 die mittleren Linien abwechselnd nach oben und unten convergent. Die\nI\nI\nf\ni\nf\nI\nFig. 5.\tFig. 6.\nT\u00e4uschung h\u00f6rt sofort auf, sobald wir uns die zu beurtheilenden Linien im Bewufstsein isoliren. Thun wir dies nicht, so bildet jede dieser Linien mit den beiden (oben und unten) anstofsenden ein einheitliches Ganzes. Zwei solche benachbarte Ganze sind dann aber oben und unten thats\u00e4chlich verschieden weit von einander entfernt.\nBekanntlich hat schon M\u00fcller-Lyer diesen Factor zur Erkl\u00e4rung der nach ihm benannten T\u00e4uschung herangezogen. Er sagt : \u201eMan h\u00e4lt die beiden Linien f\u00fcr verschieden grofs, weil man bei der Absch\u00e4tzung nicht nur die beiden Linien, sondern unwillk\u00fcrlich auch einen Theil des zu beiden Seiten derselben abgegrenzten Baumes mit in Anschlag bringt.\u201c Ich glaube, dafs","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nF. Schumann.\ndiese Erkl\u00e4rung im Wesentlichen richtig ist, clafs sie sich aber besser formuliren lassen wird, wenn wir erst einige andere, unten zu besprechende Erscheinungen kennen gelernt haben. Ich werde daher sp\u00e4ter n\u00e4her auf diese T\u00e4uschung eingehen.\nUebrigens war schon fr\u00fcher auf anderen Gebieten nachgewiesen, dafs das Vergleichsurtheil nicht immer allein durch die zu vergleichenden Gr\u00f6fsen bestimmt wird. So finden wir auf dem Tongebiete, dafs eine Neigung besteht, einerseits von zwei gleich starken T\u00f6nen den h\u00f6heren f\u00fcr st\u00e4rker und andererseits von zwei gleich hohen T\u00f6nen den leiseren f\u00fcr tiefer zu halten. Ferner erscheint dem Unmusikalischen und vielfach sogar dem Musikalischen ein Clavierton h\u00f6her als der gleich hohe Stimmgabelton in Folge der helleren Klangfarbe. In anderen F\u00e4llen wird das Urtheil \u00fcber die H\u00f6he eines Tones durch einen zweiten gleichzeitig im Bewufstsein vorhandenen, h\u00f6heren bezw. tieferen Ton beeinflufst. So hat Stumpf Folgendes beobachtet (Tonpsychologie II, S. 397 f.) :\n\u201eWenn ich jedoch zum a1 der vor das Ohr gehaltenen Stimmgabel eine bedeutend tiefere Claviertaste anschlage und wieder loslasse, so kann es den Anschein gewinnen, als ob der Gabelton um ein Geringes herunter- und dann wieder hinaufginge. Noch besser verwendet man zwei Gabeln. So habe ich es mit den Gabeln A und e (an beide Ohren vertheilt, aber auch an demselben Ohr) beobachtet, e wird durch A scheinbar vertieft. Man ist versucht, dies aus der Schw\u00e4chung des Tones e durch den hinzutretenden st\u00e4rkeren zu erkl\u00e4ren, wodurch sich das Urtheil t\u00e4uschen lasse. Aber wenn wir A constant t\u00f6nen und e abwechselnd hinzu- und hinwegtreten lassen, so m\u00fcfste dann auch A beim Hinzutreten des e tiefer zu werden scheinen. Es wird aber dann scheinbar um ein Geringes h\u00f6her, und beim Hinwegfallen von e wieder tiefer.\u201c\n\u201eDie scheinbare Ver\u00e4nderung findet also in der Richtung des hinzukommenden Tones statt. Ein hinzutretender betr\u00e4chtlich tieferer Ton scheint den vorhandenen zu vertiefen, ein h\u00f6herer ihn zu erh\u00f6hen. Es wird beim Hinzutritt des neuen Tones, der f\u00fcr einen Moment einen Theil der Aufmerksamkeit auf sich lenkt, gleichsam etwas von seiner Qualit\u00e4t auch auf den anderen \u00fcbertragen.\u201c\n,,Das N\u00e4mliche habe ich auch bei A g gefunden, obgleich hier fast nur in Hinsicht des g. Es war als ob der h\u00f6here Ton","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. II.\n13\nmehr diesen scheinbaren Einflufs erlitte. Ebenso trat die T\u00e4uschung noch bei cg ein.\u201c\n\u201eIn allen diesen F\u00e4llen ist nat\u00fcrlich zugleich eine scheinbare Verkleinerung bezw. Vergr\u00f6fserung der Distanz gegeben. Aber wie alle blofsen Urtheilst\u00e4uschungen tritt auch diese nur unter besonderen Umst\u00e4nden ein (z. B. in der H\u00f6he nicht, weil hier Ver\u00e4nderungen merklicher und somit auch die Constanz deutlicher ist), und sie verschwindet \u00fcberhaupt, wenn man seine Aufmerksamkeit durch den neuen Ton nicht ablenken l\u00e4fst, sondern auf den alten concentrirt h\u00e4lt.\u201c\nVach den vorstehenden Ausf\u00fchrungen scheint es mir unzweifelhaft, dafs bei einem Theil der geometrisch - optischen T\u00e4uschungen die zu vergleichenden Gr\u00f6fsen das Urtheil nicht allein hervorrufen. Nicht ganz einfach aber wird es wohl sein, in vielen speciellen F\u00e4llen zu bestimmen, ob dieser Gesichtspunkt zur Erkl\u00e4rung heranzuziehen ist oder ob eine andere T\u00e4uschungsursache in Frage kommt. Auch bleibt es der weiteren Forschung Vorbehalten, die Bedingungen zu formuliren, unter denen eine solche Beeinflussung des Urtheils stattfindet.\nII.\nIn doppelter Weise k\u00f6nnen wir zu einem Vergleichsurtheil \u00fcber zwei r\u00e4umliche Gr\u00f6fsen gelangen, welche im Gesichtsfelde dicht neben einander gleichzeitig sichtbar sind. Entweder werden die beiden zu vergleichenden Gr\u00f6fsen gleichzeitig von der Aufmerksamkeit erfafst und das Urtheil dr\u00e4ngt sich sofort beim ersten Blick auf; oder aber wir concentriren die Aufmerksamkeit nach einander auf die beiden Gr\u00f6fsen und das Urtheil bildet sich erst bei der Betrachtung der zweiten. Den ersten Fall bezeichnet man als Simultanvergleich, den zweiten als Successiv-vergleich. In diesem Abschnitt soll zun\u00e4chst das Zustandekommen des Urtheils beim Simultanvergleich n\u00e4her untersucht werden.\n\u00a7 3. Werden Elemente (Punkte, Linien, Kreise etc.), die unter sich ganz gleich sind, in gleichen Distanzen neben einander angeordnet, so bilden sie ein einheitliches Ganzes. Ver-gr\u00f6fsert man dagegen die Distanz zwischen zwei benachbarten Elementen der Beihe, so zerst\u00f6rt diese Distanz immer die Einheitlichkeit und tritt selbst im Bewufstsein hervor. Diese That-","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nF. Schumann.\nsache habe ich in Abhandlung 1 an gr\u00f6fseren Complexen von Elementen gezeigt, sie ist aber auch noch zu beobachten, wenn wir nur drei Elemente, z. B. Linien nehmen. Allerdings ist hier der Eindruck nicht so deutlich wie in den fr\u00fcher angef\u00fchrten F\u00e4llen, doch wird man ihn bei l\u00e4ngerer Erfahrung in der Selbstbeobachtung auch noch sicher constatiren k\u00f6nnen.\nDas Hervortreten einer Distanz ist also eine Wirkung, die nicht durch ihre absolute, sondern durch ihre relative Gr\u00f6fse bedingt ist. Andererseits ist aber auch das gesprochene (bezw. gedachte) Vergleichsurtheil in letzter Linie von dem Gr\u00f6fsenver-h\u00e4ltnifs abh\u00e4ngig. Man kann daher vermuth en, dafs zwischen diesen beiden Wirkungen des Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisses ein Zusammenhang besteht, in dem das Hervortreten einer Distanz als Factor f\u00fcr das Vergleichsurtheil mit in Frage kommt.\nIn der That wird diese Vermuthung best\u00e4tigt durch eine Reihe von Versuchsthatsachen. Es zeigt sich n\u00e4mlich, dafs von mehreren objectiv gleichen Distanzen diejenige, welche aus besonderen Gr\u00fcnden hervortritt, auch f\u00fcr gr\u00f6fser gehalten wird.\nSo habe ich schon in der ersten Abhandlung (S. 9) erw\u00e4hnt, dafs bei der willk\u00fcrlichen Zerlegung eines grofsen Complexes von schwarzen Quadraten auf weifsem Grunde in kleinere Gruppen vielfach die weifsen Streifen, welche die Gruppen trennen, im Bewufstsein hervortreten und dabei breiter erscheinen als die anderen, objectiv gleich grofsen, aber mehr im Hintergr\u00fcnde befindlichen weifsen Distanzen.\nFassen wir ferner die parallelen Linien in Figur 7 in Gruppen zu je zwei auf, so treten in der Regel die weifsen Fl\u00e4chen zwischen den Elementen einer Gruppe hervor, w\u00e4hrend die Fl\u00e4chen zwischen den Gruppen im Hintergr\u00fcnde bleiben. Hier erscheinen die hervortretenden Fl\u00e4chen ebenfalls breiter als die anderen. Jedoch ist nicht ausgeschlossen, dafs bei dieser T\u00e4uschung ein anderer, schon oben von mir besprochener Factor mit in Frage kommt (vgl. S. 9f).\nBeweisender ist eine dritte Thatsache. Betrachtet man eine Druckseite, deren Zeilen objectiv gleich weit von einander entfernt sind, w\u00e4hrend einzelne Zeilen durch einen helleren und darum hervortretenden Zwischenraum getrennt sind, so erscheinen die letzteren auch weiter von einander entfernt zu sein. Ein Aufwallen einzelner Distanzen in Folge gr\u00f6fserer Helligkeit macht sich z. B. bei solchen Druckseiten geltend, auf deren","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. TL\n15\nR\u00fcckseite sich Zeichnungen befinden, die aus weifsen Linien auf ausgedehntem schwarzem Grunde bestehen. Befinden sich dann\nzwei solche Zeichnungen dicht unter einander, so dafs nur ein schmaler weifser Zwischenraum zwischen den beiden schwarzen Fl\u00e4chen besteht, so scheinen die auf den weifsen Zwischenraum fallenden Zeilen der R\u00fcckseite erheblich weiter von einander entfernt zu sein als die benachbarten Zeilen.1\nWeiter kommt hier die in Figur 8 abgebildete Form der M\u00fceler-Lyer sehen T\u00e4uschung in Betracht \u2014 vorausgesetzt, dafs\nFig. 8.\nman sich nicht erst successiv die beiden eigentlich zu vergleichenden Distanzen zwischen den Scheitelpunkten der drei Winkel wirklich im Bewufstsein isolirt, sondern das Urtheil gleich auf Grund des Eindrucks abgiebt, den man beim ersten fl\u00fcchtigen Hinsehen durch Simultanvergleich erh\u00e4lt. Je fl\u00fcchtiger man hinsieht, desto st\u00e4rker ist ja die T\u00e4uschung. Um das Zu-\nMan vergleiche z. B. das Buch von Sommer, \u201ePsychopathologische Untersuchungsmethoden\u201c, Wien 1899, S. 33.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nF. Schumann.\nstandekommen des Urtheils unter diesen Umst\u00e4nden zu erkl\u00e4ren, haben wir zu ber\u00fccksichtigen, dafs die Zeichnung aus drei Winkeln besteht, von denen die ersten beiden durch eine kleinere Distanz getrennt sind. Entsprechend finden wir, dafs diese beiden Winkel inniger mit einander verbunden sind, und dafs der weifse Zwischenraum zwischen zweitem und drittem Winkel auff\u00e4llt, w\u00e4hrend die weifse Fl\u00e4che zwischen den ersten beiden Winkeln mehr zur\u00fccktritt. Wir verm\u00f6gen daher auf den ersten Blick zu erkennen, dafs der mittlere Winkel nicht genau in der Mitte zwischen den beiden anderen liegt. Nun soll ja allerdings nicht \u00fcber die Distanzen der ganzen Winkel geurtheilt werden, sondern \u00fcber die Distanzen der drei Scheitelpunkte, und bei einem sorgf\u00e4ltigen Vergleichen wird man sich nat\u00fcrlich auch die eigentlich zu beurtheilenclen Distanzen erst im Bewufstsein m\u00f6glichst zu isoliren suchen. Bei einem ..gedankenlosen Dar\u00fcber-hinwegblicken\u201c dagegen bestimmen meiner Ansicht nach einfach die Distanzen der Winkel das Urtheil. Dies geschieht um so leichter, da die eigentlich zu vergleichenden Punktdistanzen Theile der beiden breiteren Zwischenr\u00e4ume sind und da in Folge dessen jede Punktdistanz die Eigenschaft des zugeh\u00f6rigen breiteren Streifens mit besitzt.\nUm diese Ansicht weiter zu pr\u00fcfen, habe ich Versuche in der Weise angestellt, dafs ich die Figur nur f\u00fcr einen Moment sichtbar machte, indem ich zuerst ein Blatt Papier \u00fcber die Zeichnung hielt und dieses Blatt dann einen Augenblick zur Seite schob. Unter diesen Umst\u00e4nden war die T\u00e4uschung ganz auffallend stark. Ich variirte dann die Distanz der drei Winkel und stellte so bei verschiedenen Versuchspersonen fest, dafs die falschen Urtheile andauerten, bis der mittlere Winkel ann\u00e4hernd in der Mitte zwischen den beiden anderen lag : Eine Thatsache, die deutlich zu Gunsten meiner Ansicht spricht. Als ich dann sp\u00e4ter etwas mehr Zeit zur Beobachtung liefs, wurde die T\u00e4uschung erheblich geringer, und die Versuchspersonen wunderten sich selbst, dafs sie sich vorher in so hohem Maafse get\u00e4uscht hatten.\n\u00a7 4. Wie wir in Abhandlung 1 sahen, ist das Quadrat aufser durch seine rechten Winkel noch dadurch charakterisirt, dafs alle vier Seiten gleichwerthig unter einander verbunden sind (vorausgesetzt, dafs seine Seiten horizontal und vertical","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. II.\n17\nstehen). Das Oblongum unterscheidet sich von ihm dadurch, dafs die l\u00e4ngeren Seiten besonders innig mit einander verbunden sind und hervortreten, wobei das Hervortreten h\u00e4ufig successiv verl\u00e4uft.\nDie folgenden Beobachtungen sollen nun beweisen, dafs die angef\u00fchrten Eigenschaften f\u00fcr Quadrat und Oblongum charakteristisch sind, und dafs sie unser Urtheil \u00fcber diese geometrischen Gebilde bedingen. Ich f\u00fchre den Beweis, indem ich zeige, dafs ein Quadrat als Oblongum erscheint, sobald durch besondere Umst\u00e4nde zwei Seiten hervortreten und sich besonders innig mit einander verbinden.\n1. Ich habe einer grofsen Anzahl von Versuchspersonen ein Quadrat vorgelegt und sie aufgefordert, die beiden senkrechten Seiten willk\u00fcrlich durch die Aufmerksamkeit herauszuheben und zur Einheit zusammenzufassen. War das Quadrat nicht zu grofs (die Seite ein bis zwei Centimeter), so gelang dies den meisten V ersuchspersonen ohne alle Schwierigkeit. Sie erkl\u00e4rten dann, sie h\u00e4tten dabei den unmittelbaren Eindruck eines Oblongums. Dieser Eindruck bestand nur so lange, als die betreffenden Linien wirklich im Bewufstsein hervortraten, nachher war wieder der deutliche Eindruck eines Quadrats da. Bei kleinen Quadraten ist es mir auch \u00f6fter vorgekommen, dafs die beiden senkrechten Linien von selbst hervortraten und l\u00e4nger erschienen. Schwieriger ist es dagegen, die beiden Horizontalen durch die Aufmerksamkeit herauszuheben, doch gelingt dies auch nach einiger Uebung vielen Versuchspersonen.\n\" \u2022 \u2022\nFig. 9.\tFig. 10.\tFig. 11.\nMan kann daher wohl den Satz aufstellen, dafs eine Tendenz besteht, die verticalen Linien eines Quadrats zu \u00fcbersch\u00e4tzen; es scheint mir aber zu weit gegangen, wenn Wttndt allgemein behauptet: \u201eein wirkliches Quadrat erscheint wie ein Rechteck, dessen H\u00f6he gr\u00f6fser ist als seine Basis\u201c (Physiol. Psych., 4. Aufl.| II, S. 137). Einige Versuchspersonen habe ich allerdings ge-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 24.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nF. Schumann.\nfund en, die angaben, dafs ihnen ein Quadrat gew\u00f6hnlich als ein Rechteck erscheine; aber die meisten sahen das Quadrat auch als Quadrat \u2014 wenigstens wenn die begrenzenden Linien wirklich gezeichnet waren. Wurden nur zwei parallele Seiten gezeichnet oder wurden nur die vier Ecken des Quadrats durch Punkte oder kleine schwarze Quadrate angedeutet, dann machte sich allerdings eine deutlichere Uebersch\u00e4tzung der verticalen Distanz geltend. So scheinen die beiden horizontalen Linien in Figur 10 die k\u00fcrzeren Seiten eines Oblongums zu sein; dreht man aber die Figur um 90\u00b0, so h\u00e4lt man sie f\u00fcr die l\u00e4ngeren Seiten. Dabei habe ich den deutlichen Eindruck, dafs der Zwischenraum im zweiten Falle mehr hervortritt. Vielleicht noch deutlicher erscheint mir das Hervortreten der senkrechten Distanz in Figur 11, in der nur die Ecken durch Punkte angedeutet sind. Je zwei horizontale Punkte verbinden sich zu einer Gruppe und die beiden Gruppen scheinen durch einen breiteren, mehr hervortretenden Zwischenraum getrennt.\nIndessen das Hervortreten des Zwischenraums ist in den zuletzt angef\u00fchrten Beispielen nicht sehr deutlich zu beobachten. Wer nicht schon vorher vielfach auf das Hervortreten von Linien oder leeren Zwischenr\u00e4umen geachtet hat, wird es hier wohl nicht bemerken. Dazu kommt noch, dafs in diesen F\u00e4llen sich entschieden ein successives Vergleichen geltend macht. Ich habe mich wenigstens \u00f6fter dabei ertappt, dafs ich unwillk\u00fcrlich erst die eine der beiden parallelen Linien sorgf\u00e4ltig durch die Aufmerksamkeit isolirte und dann die leere Distanz, bezw. erst die horizontale und dann die verticale Punktdistanz. Dabei war die T\u00e4uschung entschieden deutlicher als beim gew\u00f6hnlichen Simultanvergleich.\nWeshalb aber die verticalen Linien beim Quadrat im Allgemeinen leichter hervortreten und sich dann einheitlicher verbinden, ist nicht ganz einfach definitiv zu entscheiden. Jedenfalls sind a priori zwei Hauptf\u00e4lle m\u00f6glich : entweder werden die verticalen Linien gr\u00f6fser gesehen aus irgend welchen physiologischen Gr\u00fcnden, oder es kommen psychische Factoren in Frage. Bekanntlich hat man Muskelempfindungen des Auges in erster Linie zur Erkl\u00e4rung herangezogen. Indessen ist die Annahme, dafs diese Empfindungen f\u00fcr die Raum Wahrnehmung die ihnen zugeschriebene grofse Bedeutung besitzen, sehr hypothetisch. Aufserdem sind noch andere einfache physiologische Erkl\u00e4rungen","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. II.\n19\ndenkbar. So hat man doch immerhin mit der M\u00f6glichkeit zu rechnen, dafs die empfindlichen Elemente der Netzhaut in verti-caler Richtung dichter an einander gelagert sind als in horizontaler.\nMir scheint aber wahrscheinlicher, dafs die Tendenz zur Uebersch\u00e4tzung der verticalen Distanzen rein psychologisch zu erkl\u00e4ren ist. Denn w\u00fcrden die verticalen Distanzen wirklich gr\u00f6fser gesehen, d. h. w\u00e4ren die Wahrnehmungsinhalte in verti-caler Richtung wirklich ausgedehnter als in horizontaler, so m\u00fcfste das Quadrat allgemein als Rechteck und der Kreis als Ellipse erscheinen. Man hat zwar angenommen, dafs hinsichtlich dieser beiden Figuren das Urtheil durch die Erfahrung corrigirt w\u00fcrde. Dabei ist aber \u00fcbersehen, dafs der unmittelbare sinnliche Eindruck der Ungleichheit nicht ohne Weiteres durch ein theoretisches Wissen von dem objectiven Verh\u00e4ltnifs der Linien, wie es die Erfahrung giebt, corrigirt wird. Die vier den objectiven Linien des Quadrates entsprechenden Empfindungsinhalte verbinden sich, wenn sie verschieden ausgedehnt sind, nicht einfach deshalb in gleichm\u00e4fsiger Weise zu einer Einheit; weil ich indirect weifs, dafs die Linien objectiv gleich grofs sind.\nAuch ist es nicht schwer, eine psychologische Erkl\u00e4rung zu geben. Einmal kann man daran denken, dafs verticale Distanzen ganz allgemein die Tendenz haben, im Bewufstsein hervorzutreten, weil wir gewohnt sind, die verticalen Linien der Aufsenobjecte besonders zu beachten. Sodann ist noch zu ber\u00fccksichtigen, dafs Linien, welche zur Medianebene symmetrisch liegen, eine besondere Tendenz zukommt, sich einheitlich zu verbinden. Da nun die beiden veiticalen Seiten des Quadrats symmetrisch zur Medianebene liegen, so werden sie sich auch leicht inniger verbinden als die beiden horizontalen Linien. So lange jedoch die vier Linien ein in sich geschlossenes Ganzes bilden, \u00fcberwiegt im Allgemeinen die Tendenz zur gleichm\u00e4fsigen Verbindung der vier Linien, bis wir willk\u00fcrlich die Tendenz zur Vereinigung der verticalen Linien unterst\u00fctzen. Nehmen wir dagegen nur die vier Eckpunkte eines Quadrats, so haben wir keine geschlossene Figur mehr. Es verbinden sich daher gleich von vornherein je zwei horizontale Punkte inniger,\nweil sie symmetrisch zu einem (hinzuzudenkenden) Mittelpunkte liegen.\nEtwas complicirter liegen die Verh\u00e4ltnisse, wenn nur zwei paiallele Linien des Quadrats gegeben sind, da ja dann nicht vier Elemente objectiv vorliegen, die sich im Bewufstsein gleich-\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nF. Schumann.\nm\u00e4fsig verbinden k\u00f6nnen. Indessen wir haben schon in Abhandlung 1 gesehen, dafs bei Parallelen gew\u00f6hnlich zwei subjective Linien auftreten, welche die Endpunkte mit einander verbinden. In diesem Falle liegen also zwei verschiedene Paare von Parallelen vor, die sich zwar nicht hinsichtlich ihrer L\u00e4nge, wohl aber in anderer Weise unterscheiden, so dafs eine ganz gleichm\u00e4fsige Verbindung der vier Linien nicht eintritt und die Tendenz zur einheitlichen Verbindung der Verticalen leichter zur Geltung kommt.\nHierzu kommt dann weiter, dafs auch alle bekannten F\u00e4lle, in denen ein Quadrat als Oblongum erscheint, sich in einfacher Weise psychologisch erkl\u00e4ren lassen, wie ich jetzt zeigen werde.\n2. Verl\u00e4ngert man zwei parallele Linien eines Quadrates auf beiden Seiten (vgl. Fig. 12), so ist die Einheitlichkeit gest\u00f6rt.\nFig. 12.\tFig. 13.\nDie l\u00e4ngeren Linien verbinden sich enger unter einander, treten von selbst im Bewufstsein hervor, und das Quadrat erscheint als Oblongum. Gem\u00e4fs dem Satze, dafs verticale Distanzen leichter hervortreten als horizontale, ist die T\u00e4uschung deutlicher, wenn die verticalen Linien verl\u00e4ngert werden. Dabei ist es vom Standpunkte meiner Theorie aus besonders interessant, dafs man die T\u00e4uschung nach einiger Uebung ganz beseitigen kann, wenn man die Aufmerksamkeit m\u00f6glichst auf die nicht verl\u00e4ngerten","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. II.\n21\nLinien concentrirt. Dann treten diese wieder mehr in den Vordergrund; auch werden die Theile der l\u00e4ngeren parallelen Linien, welche zur Begrenzung des Quadrats geh\u00f6ren, von den \u00fcbrigen Theilen im Bewufstsein isolirt, und die Begrenzungslinien sind wieder mehr gleichwerthig unter einander verbunden.\nEine interessante Variation dieses Versuches zeigt Figur 13. Hier sind die horizontalen Linien des Quadrats etwas verl\u00e4ngert und doch werden die verticalen Linien in auffallendem Maafse \u00fcbersch\u00e4tzt. Besonders deutlich ist aber zugleich hier das Hervortreten der Verticalen, die Horizontalen bilden mit ihnen gar kein einheitliches Ganzes, scheinen gar nicht zu dem Quadrate zu geh\u00f6ren, sondern zu den umgebenden Gebilden. Unterst\u00fctzen wir dagegen wieder die Horizontalen willk\u00fcrlich durch die Aufmerksamkeit, so k\u00f6nnen wir es durch einige Uebung erreichen, dafs sie sich von den benachbarten Horizontalen isoliren und mit den Verticalen die einheitliche Verbindung eingehen. Zugleich l\u00e4fst dann auch die T\u00e4uschung nach bezw. h\u00f6rt ganz auf. Drehe ich die ganze Figur um 90 \u00b0, so sehe ich bald die dann senkrecht stehenden (verl\u00e4ngerten) Linien, bald die anderen hervortreten, und entsprechend glaube ich ein aufrecht stehendes oder liegendes Buchteck zu sehen.\nBetrachte ich die Figur bei der gew\u00f6hnlichen Haltung des Buches, so durchlaufe ich auch \u00f6fter das Quadrat in der Richtung der l\u00e4nger erscheinenden Seiten mit der Aufmerksamkeit. Mir ist diese Erscheinung schon aufgefallen, bevor ich sie mit der Erkl\u00e4rung optischer T\u00e4uschungen in Zusammenhang brachte. Immerhin ist sie hier nur von geringer Deutlichkeit, wir werden aber sp\u00e4ter F\u00e4lle kennen lernen, in denen sie besonders stark auftritt.\n3. Wir theilen das Quadrat durch eine horizontale Mittellinie in zwei congruente Rechtecke (Fig. 14). Jetzt ist die Einheitlichkeit der vier Begrenzungslinien gest\u00f6rt: die horizontalen Begrenzungslinien sind mit der Mittellinie besonders eng verbunden und der Complex dieser drei Linien tritt im Bewufstsein entschieden hervor. Auch bemerke ich oft, dafs ich die Mittellinie unwillk\u00fcrlich mit der Aufmerksamkeit durchlaufe. Ich kann der T\u00e4uschung wieder entgegen wirken, wenn ich die beiden Verticalen willk\u00fcrlich mehr hervortreten lasse.\nZieht man mehrere Parallelen, wTelehe das Quadrat in congruente Rechtecke theilen, so macht sich ein in entgegengesetzter","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nF. Schumann.\nRichtung wirkender Factor geltend (Figur 17). Wir verm\u00f6gen n\u00e4mlich, wie ich fr\u00fcher gezeigt habe (in Abhandlung 1, S. 6), von einer Reihe paralleler Linien meistens nur drei und h\u00f6chstens f\u00fcnf gleichzeitig durch die Aufmerksamkeit herauszuheben. Wir haben daher immer die Tendenz, die Linien der Reihe nach\nFig. 14.\nFig. 16.\n\u00c8 l -1\nFig. 17.\nmit der Aufmerksamkeit zu durchlaufen. Dementsprechend f\u00e4llt die Richtung auf, welche auf den Verticalen senkrecht steht, und es entsteht eine Tendenz zur Uebersch\u00e4tzung dieser Richtung. Sind die Parallelen nicht zu zahlreich, so f\u00e4llt das Urtheil bei wiederholter Betrachtung sehr verschieden aus. Bei Betrachtung des Quadrats in Figur 17 habe ich z. B. bald den Eindruck, es sei zu hoch, und bald den Eindruck, es sei zu breit.1 Ich glaube auch sicher beobachtet zu haben, dafs das erstere dann eintritt, wenn im ersten Augenblicke eins von den langgestreckten kleinen Rechtecken von der Aufmerksamkeit erfafst wird und dabei die l\u00e4ngeren Linien desselben in besonderem Maafse auffallen. Im zweiten Falle durchlaufe ich\n1 Deutlicher ist diese Erscheinung noch, wenn man das Quadrat etwas gr\u00f6fser zeichnet.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. II.\n23\ndagegen unwillk\u00fcrlich das Quadrat in der horizontalen Richtung, indem ich successiv die Parallelen heraushebe. Dies letztere tritt dann ausschliefslich ein, wenn man eine Mittellinie senkrecht zu den Parallelen hinzuf\u00fcgt (vgl. Figur 15) oder die beiden Begrenzungslinien des Quadrats wegl\u00e4fst, welche senkrecht zu den Parallelen stehen (vgl. Figur 16).\nThi\u00e9ry (Wundt\u2019s Philos. Stud. 12, S. 113) hat schon bemerkt, dafs bei Betrachtung von Figur 15 die Aufmerksamkeit der horizontalen Mittellinie entlang geht, bei Betrachtung von Figur 17 dagegen die verticale Richtung einschl\u00e4gt ; und Sanford (A Course in Experimental Psychology, Boston 1898, S. 214) hat diese Beobachtungen best\u00e4tigt. Auch stellt Thi\u00e9ry den Satz auf: \u201eDie Linien, welche vorwiegend in einer Figur die Aufmerksamkeit fesseln und so den Blick bestimmen, sie in ihrer Richtung zu durchlaufen, treten lebhafter hervor; in dieser Richtung wird daher die Gr\u00f6fse der Linien \u00fcbersch\u00e4tzt.\u201c Doch nimmt Thi\u00e9ry, wenn ich ihn recht verstehe, an, dafs die betreffenden Linien auch gr\u00f6fser gesehen wTerden.\nDie in das Quadrat eingeschriebene Ellipse wirkt gerade wie die eingezeichneten parallelen Linien.\n4. Lassen wir eine Seite des Quadrats fort, so erscheint es in der Richtung der fehlenden Seite verk\u00fcrzt. Vergleichen wir die beiden Quadrate in Figur 18 mit einander, so ist besonders\nFi g. 18.\tFig. 19.\ndeutlich, dafs das eine h\u00f6her, das andere breiter erscheint. Zugleich wird man sofort bemerken, dafs links die Verticalen hervortreten und unter sich enger verbunden sind, rechts","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nF. Schumann.\ndagegen mehr die Horizontalen. Vielleicht noch deutlicher ist die T\u00e4uschung in Figur 19.\nur\t\u2014\ti\t\t\u2014\n\t\t\nL\tL\ti\t\nFig. 20.\n5. Bei Figur 20 glauben wir, dafs die innere weifse Fl\u00e4che in verticaler Richtung eine gr\u00f6fsere Ausdehnung bes\u00e4fse. Der Grund d\u00fcrfte nach dem Bisherigen wohl ohne Commentar verst\u00e4ndlich sein.\n\u00a7 5. In Abhandlung 1 sahen wir, dafs sich Kreis und Ellipse in \u00e4hnlicher Weise von einander unterscheiden wie Quadrat und Oblongum : bei der Ellipse tritt eine Richtung\nFig. 21.\nFig. 21a.\nhervor. Entsprechend finden wir, dafs ein Kreis als Ellipse erscheint, sobald in Folge besonderer Umst\u00e4nde eine Richtung hervortritt. Als Beispiel mag Figur 21a dienen. Hier ist man geneigt, die \u00e4ufsere kreisf\u00f6rmige Peripherie der Figur f\u00fcr eine Ellipse zu halten, und zwar ist die T\u00e4uschung besonders deutlich, wenn man vorher die nebenstehende Figur 21 betrachtet hat. Isolirt man sich jedoch die \u00e4ufsere, zu beurtheilende Peripherie sorgf\u00e4ltig im Bewufstsein, so h\u00f6rt die T\u00e4uschung auf.\n\u00a7 6. Das schiefwinklige, gleichseitige Parallelogramm unterscheidet sich vom ungleichseitigen, wie wir oben gesehen haben, in derselben Weise wie das Quadrat vom Oblongum. Dementsprechend k\u00f6nnen wir auch beim Rhombus ganz analoge T\u00e4uschungen erzielen, wenn wir zwei parallele Seiten willk\u00fcrlich herausheben, oder zwei parallele Linien verl\u00e4ngern, oder eine","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. II.\n25\nMittellinie ziehen u. s. w., wie dies an nebenstehenden Figuren (22 und 23) sofort ersichtlich ist.\nFig. 22.\nGehen wir weiter zu den \u00fcbrigen gleichseitigen Figuren wie F\u00fcnfeck, Sechseck u. s. w., so haben ja auch diese wieder etwas Gleichm\u00e4fsiges, Einheitliches, wenn auch in geringerem Grade als das Quadrat. Beim Achteck sahen wir nun schon in Abhandlung 1, dafs es leicht in zwei Gruppen von je vier Linien zerf\u00e4llt, die die Neigung haben abwechselnd etwas hervorzutreten. Wenn ich dann willk\u00fcrlich die eine Gruppe besonders lebhaft im Bewufstsein hervortreten lasse, so scheinen mir auch die betreffenden Linien gr\u00f6fser zu sein.\nBeim gleichseitigen Dreieck ist die Einheitlichkeit nicht vorhanden. Die Grundlinie tritt mehr im Bewufstsein zur\u00fcck, w\u00e4hrend die anderen beiden hervortreten und besonders innig mit einander verbunden sind. Entsprechend finden wir, dafs die Grundlinie des gleichseitigen Dreiecks, wie schon fr\u00fcher gefunden ist, untersch\u00e4tzt wird.\n\u00a7 7. Besonders innig verbinden sich zwei gleiche Linien, die zur Senkrechten symmetrisch liegen, wie wir dies oben bei dem auf der Spitze stehenden Quadrate und bei anderen Figuren gesehen haben. Sind die Linien nicht gleich, so ist die Einheitlichkeit eine erheblich geringere. Denn zeichnen wir z. B. ein","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nF. Schumann.\nOblongum (ygl. Figur 24), dessen Seiten unter 45\u00b0 gegen die Verticale geneigt sind, so verbinden sich die l\u00e4ngeren Linien auf den ersten Blick unwillk\u00fcrlich ebensogut zur Einheit wie diejenigen eines Oblongums, dessen Seiten vertical und horizontal stehen. Auch wenn ich die Aufmerksamkeit auf eine Ecke des nebenstehenden Oblongums concentrire und dadurch die beiden\nFig. 24.\nin der Ecke zusammenstofsenden Linien inniger verbinde, ist doch die Einheitlichkeit nicht so grofs wrie beim Quadrat. Ferner gaben mir mehrere Versuchspersonen an, dafs ihre Aufmerksamkeit, wenn sie die obere oder untere Ecke des Quadrats fixirten, immer die beiden anstofsenden Linien vollst\u00e4ndig umfasse ; dafs dagegen beim Oblongum unter denselben Umst\u00e4nden nur die kleinere Linie ganz von der Aufmerksamkeit erfafst w\u00fcrde, von der gr\u00f6fseren Linie aber nur ein St\u00fcck, welches ungef\u00e4hr der kleineren gleich sei, w\u00e4hrend der Rest aus dem Felde der Aufmerksamkeit herausrage. Diese Erscheinung steht wrohl mit einigen anderen in Zusammenhang. So erw\u00e4hnte ich schon oben (S. 17), dafs wir beim Oblongum vielfach die l\u00e4ngeren Linien mit der Aufmerksamkeit successiv durchlaufen, w\u00e4hrend die k\u00fcrzere immer simultan als Ganzes erfafst wird. Ferner werden wir unten (\u00a7 10) noch F\u00e4lle sehen, in denen bei der Auffassung zweier mit einander in Verbindung stehender Linien die l\u00e4ngere von der Aufmerksamkeit durchlaufen wird, auch wenn ihre absolute L\u00e4nge so gering ist, dafs sie isolirt genommen im Allgemeinen gleichzeitig als Ganzes von der Aufmerksamkeit erfafst wird. Diese Thatsachen deuten darauf hin, dafs allgemein der Satz gilt: Die Aufmerksamkeit vermag bequem nur zwei gleiche Linien zu umfassen, wie sie ja auch bequem nur drei Elemente (Punkte, parallele Linien, Quadrate etc.), die in gleichen Distanzen angeordnet sind, gleichzeitig umfafst.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtsivahrnehrnungen. II.\n27\nAber weiter verbinden sich bei dem auf der Spitze stehenden Quadrate nicht nur die beiden oberen Linien einerseits und die beiden unteren Linien andererseits zu einer Einheit, sondern aufserdem sind diese beiden Gruppen wieder infolge ihrer Gleichheit zu einer Einheit h\u00f6herer Ordnung verbunden. Nehmen wir die rechte H\u00e4lfte des Quadrats fort und setzen daf\u00fcr zwei l\u00e4ngere Linien an, die wieder unter sich gleich sind und einen spitzen Winkel einschliefsen, so ist die Einheitlichkeit der beiden Gruppen von Linien gest\u00f6rt : die l\u00e4ngeren Linien treten mehr hervor und sie sind enger verbunden (weil n\u00e4her an einander gelagert).\nWenn nun die rechte H\u00e4lfte des Quadrats in Figur 25 vielfach ausgedehnter erscheint als die linke H\u00e4lfte, so ist das wohl darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs durch die angef\u00fcgte Linie die f\u00fcr das Quadrat charakteristische Verbindung der vier anderen Linien gest\u00f6rt wird. Die beiden Linien der rechten H\u00e4lfte sind selbst unter sich enger verbunden, weil sie mit der angef\u00fcgten Linie ein einheitliches Ganzes bilden, und sie treten vor den Linien der linken H\u00e4lfte hervor. So haben wenigstens zuverl\u00e4ssige Versuchspersonen ausgesagt, welche die T\u00e4uschung lebhaft hatten. Bei mir selbst (auch bei vielen anderen Personen) tritt keine T\u00e4uschung auf, offenbar weil die charakterische Verbindung der vier Linien des Quadrats bei mir durch die zugef\u00fcgte Linie nicht gest\u00f6rt wird.\nHaben wir andererseits eine Figur, die aus zwei Theilen von etwas verschiedener Gr\u00f6fse besteht, und sehen wir diese Figur h\u00e4ufig, so werden wir wohl annehmen k\u00f6nnen, dafs sich dann allm\u00e4hlich die beiden H\u00e4lften einheitlicher verbinden. Darauf w\u00fcrde dann zur\u00fcckzuf\u00fchren sein, dafs wir gew\u00f6hnlich nicht bemerken , dafs die 8 aus einer kleineren oberen und einer gr\u00f6fseren unteren H\u00e4lfte besteht. Indessen m\u00f6chte ich hier dahingestellt sein lassen, ob bei dieser und bei anderen analogen\nT\u00e4uschungen nicht ein anderer Factor haupts\u00e4chlich in Frage kommt.\nLassen wir von den beiden auf der Spitze stehenden Figuren, Quadrat und Oblongum, die unteren (bezw. oberen) H\u00e4lften weg,\nFig. 25.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nF. Schumann.\nso \u00e4ndert sich nichts in dem gegenseitigen Verhalten der \u00fcbrig bleibenden Linien (ygl. Figur 26). Wir k\u00f6nnen noch immer sagen, dafs die gleichen Schenkel des einen rechten Winkels\nFig. 26.\nenger verbunden sind als die un der l\u00e4ngere Schenkel auff\u00e4llt. Auch erkl\u00e4rten wieder mehrere Versuchspersonen, dafs sie die Tendenz h\u00e4tten, von der l\u00e4ngeren Linie ein der kleineren gleiches St\u00fcck durch die Aufmerksamkeit zu isoliren.\nNun verm\u00f6gen wir das Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnifs der beiden ungleichen Schenkel doch auf den ersten Blick zu erkennen. Ein successives Erfassen der beiden Linien durch die Aufmerksamkeit ist offenbar g\u00e4nzlich \u00fcberfl\u00fcssig. Es l\u00e4fst sich daher vermuthen, dafs das Auffallen des gr\u00f6fseren Schenkels und die grofse Einheitlichkeit der gleichen Schenkel wieder Kriterien f\u00fcr das Vergleich surtheil bilden.1\nIst diese Ansicht richtig, so l\u00e4fst sich die bekannte T\u00e4uschung in Figur 27 erkl\u00e4ren. Sie w\u00e4re darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs der Punkt, welcher so dicht an dem Endpunkte des rechten Schenkels sich befindet, mit diesem Schenkel eine Einheit bildet und in Folge dessen die Einheitlichkeit der beiden Schenkel in der Weise st\u00f6rt, dafs der rechte mehr auff\u00e4llt. Ob aber diese Erkl\u00e4rung zutrifft, vermag ich nicht sicher zu entscheiden, da ich selbst die T\u00e4uschung nicht habe. Fig. 27. Ich mufs mich auf die Aussagen einiger Versuchspersonen verlassen, welche die T\u00e4uschung hatten. Ich selbst habe\n1 Ich will jedoch keineswegs behaupten, dafs diese Kriterien allein maafsgebend sind. Beim Betrachten der Figur 26 pflegen wir z. B. vielfach die freien Endpunkte je zweier zusammengeh\u00f6riger Linien durch eine subjective Linie zu verbinden, welche horizontal oder schr\u00e4g gerichtet ist, je nachdem die objectiven Linien gleich oder verschieden sind. Die Richtung der subjectiven Linie bestimmt daher unter LTmst\u00e4nden vielleicht das Urtheil.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtsioahrnekmungen. II.\n29\nwahrscheinlich eine zu grofse Neigung, die zu vergleichenden Linien im Bewufstsein zu isoliren.\nVergr\u00f6fsern wir die Winkel in Figur 26 bis auf 180\u00b0, so erhalten wir getheilte gerade Linien. Und in der That auch eine in der Mitte getheilte Gerade scheint mir dasselbe Eigenartige, Insichgeschlossene zu haben, was auch die beiden gleich langen Schenkel besitzen, w\u00e4hrend bei der ungleich getheilten Geraden die l\u00e4ngere H\u00e4lfte wohl wieder auff\u00e4llt. Noch deutlicher wird dies, wenn wir die Endpunkte der getheilten Geraden in derselben Weise wie den Mittelpunkt markiren (vgl. Figur 28). Bei\na\tb\tc\nFig. 28.\nBetrachtung einer Linie, wie sie Figur 28 a zeigt, bin ich mir ferner der Gesammtl\u00e4nge gew\u00f6hnlich gar nicht so unmittelbar bewufst, wie bei einer ungetheilten Geraden ; ich sehe vielmehr eigentlich nur zwei kleine Linien von bestimmter L\u00e4nge neben einander. Nur wenn ich den Theilungspunkt im Bewufstsein ganz zur\u00fccktreten lasse, bin ich mir der Gesammtl\u00e4nge unmittelbar bewufst. Dies Zur\u00fccktretenlassen gelingt mir leichter bei der ungleich getheilten Linie. Noch leichter aber bei der Linie Figur 28 c, weil ich bei dieser nur die Endpunkte hervorzuheben brauche. Auch gelingt es bei einer getheilten Senkrechten leichter als bei der Horizontalen, wovon man sich leicht \u00fcberzeugen kann, wenn man die Figuren um 90\u00b0 dreht.\nErrichten wir in der Mitte einer Horizontalen eine gleich lange Verticale, so wird diese bekanntlich ganz\nbedeutend \u00fcbersch\u00e4tzt_________________________________________\n(Figur 29), und zwar dr\u00e4ngt\tFig. 29.\nsich das Urtheil auf den\nersten Blick auf. Hier ist nun besonders deutlich, dafs die Verticale in hohem Maafse auff\u00e4llt. Zugleich wird man be-","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nF. Schumann.\nmerken, dafs unwillk\u00fcrlich der Blick sich zuerst auf den Schnittpunkt richtet und dafs dann die Horizontale sofort in allen Theilen gleichzeitig von der Aufmerksamkeit erfafst wird, w\u00e4hrend die Verticale erst successiv durchlaufen wird. Fixirt man fest den Schnittpunkt der beiden Linien, so umfafst die Aufmerksamkeit die beiden H\u00e4lften der Horizontalen, w\u00e4hrend die Verticale erheblich aus dem Felde der Aufmerksamkeit herausragt.\nDas Auffallen der Verticalen d\u00fcrfte durch den Umstand bedingt sein, dafs wir uns bei der Betrachtung einer in der Mitte getheilten Linie gew\u00f6hnlich gar nicht der Gesammtl\u00e4nge bewufst sind, dafs wir vielmehr eigentlich nur zwei kleinere Linien neben einander sehen. In Folge dessen haben wir in Figur 29 drei von demselben Punkte ausgehende Linien, von denen dann die erheblich gr\u00f6fsere Verticale auff\u00e4llt.\n\u00a7 8. Haben wir eine Reihe gleicher Objecte (z. B. Linien) neben einander und zwischen ihnen ein ausgedehnteres, so tritt letzteres hervor. Befindet sich dagegen unter der Gruppe gleicher Objecte ein kleineres, so tritt es zur\u00fcck. Bei Betrachtung von Figur 30 wird man sich leicht davon \u00fcberzeugen.\nFig. 30.\nFig. 31.\nAndererseits treten z. B. gesperrt gedruckte Worte auf einer Druckseite hervor, auch wenn die Buchstaben nicht gr\u00f6fser sind","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtsivahrnehmungen. II.\n31\nals die entsprechenden Buchstaben der \u00fcbrigen Worte der Druckseite. Meistens wird dann aber die Gr\u00f6fse der Buchstaben der gesperrt gedruckten Worte \u00fcbersch\u00e4tzt. Nur wenn durch einen sorgf\u00e4ltigen Successivvergleich das Urtheil zu Stande kommt, h\u00f6rt die T\u00e4uschung auf. Lassen wir ferner willk\u00fcrlich aus einer Leihe gleicher Objecte einzelne hervortreten, so finden wir ebenfalls wieder, dafs diese \u00fcbersch\u00e4tzt werden. Man versuche nur z. B. von den sieben gleichen Kreisfl\u00e4chen in nebenstehender Figur die zweite, vierte und sechste willk\u00fcrlich herauszuheben: sobald sie lebhaft hervortreten, ist auch die Uebersch\u00e4tzung da.\n9 9 9 9\nFig. 32.\nBei den in Abhandlung 1 (S. 7f.) beschriebenen Versuchen, bei denen die Versuchspersonen aus der grofsen Gruppe von 64 schwarzen Quadraten eine kleinere zusammenh\u00e4ngende Gruppe herauszuheben hatten, erhielt ich schon gelegentlich die Aussage, dafs die herausgehobenen gr\u00f6fser erschienen. Indessen gaben nur wenige diese Erkl\u00e4rung ab und ich stellte durch directe Fragen fest, dafs hier die Mehrzahl die T\u00e4uschung \u00fcberhaupt nicht hatte. Dies d\u00fcrfte folgenden Grund haben. In dem obigen Falle, wo von den f\u00fcnf Kreisfl\u00e4chen die zweite und vierte herausgehoben werden soll, liegt zwischen den herauszuhebenden noch eine andere Kreisfl\u00e4che, die nicht mit hervortreten soll. Meiner Erfahrung nach ist es nun nothwendig, die zweite und vierte besonders stark hervortreten zu lassen, wenn der Eindruck auch nur eine kurze Zeit festgehalten werden soll, weil sich sonst immer die zwischenliegende Kreisfl\u00e4che mit in den Vordergrund dr\u00e4ngt. Wenn wir dagegen einfach vier benachbarte, in den Ecken eines gr\u00f6fseren Quadrats angeordnete Elemente herausheben, so geht das viel leichter und bei einem m\u00e4fsigen Grade des Hervortretens k\u00f6nnen wir den Eindruck schon ziemlich lange festhalten. An einen solchen m\u00e4fsigen Grad des Hervortretens sind wir aber gew\u00f6hnt, da ja immer die Tendenz vorhanden ist, aus einer Reihe gleicher Elemente diejenigen, welche gerade in der N\u00e4he des Fixationspunktes liegen, herauszuheben.\n\u00a7 9. Wir sehen also, dafs allgemein eine gr\u00f6fsere Linie, Distanz u. s. w. vor der kleineren hervortritt. Es ist daher leicht","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nF. Schumann.\nverst\u00e4ndlich, dafs diese Eigenschaft der ausgedehnteren r\u00e4umlichen Gr\u00f6fse von uns als Kriterium f\u00fcr das Vergleichsurtheil benutzt wird. Haben wir eine Druckseite vor uns, so wird der weifse Zwischenraum zwischen zwei Zeilen im Allgemeinen nur dann hervortreten, wenn er die benachbarten an Breite \u00fcbertrifft. Ausnahmen von dieser Regel werden von uns so selten constat\u00e2t, dafs wir uns durch sie in unserem Urtheil nicht st\u00f6ren lassen. Das Gleiche gilt f\u00fcr alle Gruppen von gleichen Elementen, die auf gleichm\u00e4fsig gef\u00e4rbtem Hintergr\u00fcnde in einer Reihe neben einander angeordnet sind. Wollen wir aber nicht die gr\u00f6fseren Zwischenr\u00e4ume zwischen den Elementen, sondern die Gr\u00f6fse der Elemente selbst beurtheilen, so bildet das Hervortreten ein sehr unsicheres Kriterium: pflegt ja doch aus einer grofsen Gruppe von gleichen Elementen, die in gleichen Zwischenr\u00e4umen angeordnet sind, bald hier, bald dort eine kleinere Gruppe herauszutreten. Das ist eine so gew\u00f6hnliche Erscheinung, dafs unser Urtheil in diesen F\u00e4llen nicht in eine falsche Richtung gedr\u00e4ngt wird. Denn das Hervortreten eines Gesichtseindrucks kann nat\u00fcrlich nicht als eine Eigenschaft betrachtet werden, welche schlechthin immer das Urtheil \u201egr\u00f6fser\u201c zur Folge hat, sondern nur als eine solche, welche unter bestimmten Umst\u00e4nden f\u00fcr das Urtheil maafsgebend ist.\nIn den meisten F\u00e4llen sind jedoch, wie wir gesehen haben, die ausgedehnteren r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen noch in anderer Weise ausgezeichnet. So sind die gr\u00f6fseren Linien beim Parallelogramm enger unter einander verbunden als die kleineren und zugleich werden sie vielfach successiv von der Aufmerksamkeit erfafst. Dadurch erhalten wir Kriterien, welche schon in viel innigerer Beziehung zur gr\u00f6fseren Ausdehnung stehen.\nIch m\u00f6chte noch weiter sagen, dafs in einigen besprochenen F\u00e4llen von einem ausgedehnteren bezw. \u00fcbersch\u00e4tzten Gesichtseindrucke speciell die Ausdehnung auff\u00e4llt. So glaube ich sicher zu sein, dafs mir in Figur 31 links die Breite des Rechtecks auff\u00e4llt und nicht etwa seine schwarze Farbe. Wer nun annimmt, dafs Intensit\u00e4t, Qualit\u00e4t und Ausdehnung wirkliche Theilinhalte sind, die sich bis zu einem gewissen Grade im Bewufstsein trennen lassen, wird sich mit dem Auffallen der Ausdehnung leicht abfinden. Wer dagegen an der vollen Einheitlichkeit des Empfindungsinhaltes festh\u00e4lt, wird hier immerhin einige Schwierigkeiten haben. In dem eben erw\u00e4hnten Falle k\u00f6nnte man viel-","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. II.\n33\nleicht einfach sagen, dafs die horizontalen Grenzlinien des breiteren Rechtecks hervortreten; und ich bin nicht ganz sicher, ob nicht wirklich etwas derartiges hier stattfindet. Dagegen kann ich mit Bestimmtheit sagen, dafs mir in Figur 30 die Breite des dickeren Striches aber nicht seine obere bezw. untere Grenzlinie auff\u00e4llt. Ferner scheint mir auch in Figur 29 speciell die L\u00e4nge der senkrechten Linie aufzufallen. Ich glaube daher, dafs bei den Vorg\u00e4ngen, welche bei der Auffassung eines hinsichtlich der Gr\u00f6fse auffallenden Gesichtseindrucks stattfinden, ein charakteristisches sinnliches Moment sich geltend macht, welches von uns auf die Gr\u00f6fse bezogen wird. Als ein solches Moment k\u00f6nnte man etwa das successive Erfassen der l\u00e4ngeren bezw. \u00fcbersch\u00e4tzten Linie etc. durch die Aufmerksamkeit betrachten, welches ich mehrfach erw\u00e4hnte. Wir werden diese Erscheinung im n\u00e4chsten Abschnitt noch \u00f6fter antreffen und werden sehen, dafs sie sich auch beim Successivvergleich zeigt, wenn eine Ausdehnung auff\u00e4llt bezw. \u00fcbersch\u00e4tzt wird.\nIst diese Ansicht richtig, so haben wir das Auffallen der Ausdehnung als ein Kriterium zu betrachten, welches kaum als ein mittelbares bezeichnet werden kann.\t(Schlufs folgt.)\n(.Eingegangen am 27. Mai 1900.)\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 24\n3","page":33}],"identifier":"lit31405","issued":"1900","language":"de","pages":"1-33","startpages":"1","title":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. Zweite Abhandlung: Zur Sch\u00e4tzung r\u00e4umlicher Gr\u00f6\u00dfen","type":"Journal Article","volume":"24"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:17:55.062676+00:00"}