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{"created":"2022-01-31T16:28:50.810939+00:00","id":"lit31407","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Heilbronner, Karl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24: 83-116","fulltext":[{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag zur Kenntnifs der Beziehungen zwischen Aphasie und Geisteskrankheit.\nVon\nPrivatdocent Dr. Karl Heilbronner, Halle a. S.\nVor mehreren Jahren habe ich in Wernicke\u2019s \u201ePsychiatrischen Abhandlungenu 1 \u00fcber die Resultate der eingehenden Untersuchung eines Krankheitsfalles berichtet, der von meinem damaligen Chef und Lehrer bereits wiederholt literarisch erw\u00e4hnt und dadurch zu einer gewissen Bedeutung gelangt war. Ende 1897 hatte ich m einer l\u00e4ngeren Untersuchungsreihe den damaligen Zustand des Kranken wieder genau festgestellt und \u00fcber das Resultat der Untersuchungen in der 74. Sitzung des Vereins Ostdeutscher Irren\u00e4rzte am 27. November 1897 berichtet.1 2\nEine eingehendere Wiedergabe der Untersuchungsresultate mufste ich aus \u00e4ufseren Gr\u00fcnden verschieben. Wenn ich dieselbe auch jetzt und gerade an diesem Orte nicht f\u00fcr versp\u00e4tet halte, so veranlafst mich dazu nicht nur der merkw\u00fcrdige Verlauf des Krankheitsfalles, sondern ganz besonders der Umstand, dafs allein das Zustandsbild, wie es sie bei der letzten Nachpr\u00fcfung dargestellt hatte, eine Reihe von Besonderheiten zeigt, die f\u00fcr die Frage der Aphasie ebenso wie f\u00fcr die der Demenz von einiger Bedeutung sein, somit auch aufserhalb des Kreises meiner engeren Fachgenossen vielleicht Interesse bieten d\u00fcrften.\nIch schicke zun\u00e4chst, indem ich bez\u00fcglich aller Details, besonders aber der an den Krankheitsfall gekn\u00fcpften theoretischen Er\u00f6rterungen auf die fr\u00fcheren Ver\u00f6ffentlichungen verweise,\n1\tHeft I: Aphasie und Geisteskrankheit.\n2\tVgl. das kurze Protokoll in: Zeitschrift f\u00fcr Psychiatrie 55.\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nKarl He\u00eflbronner.\neinen kurzen Bericht \u00fcber die fr\u00fcher erhobenen thats\u00e4chlichen Befunde voraus.\nDer 1842 geborene Tischlermeister Op. war von 1887 bis 1890 in der psychiatrischen Klinik zu Breslau wegen einer geistigen Erkrankung behandelt worden, die zun\u00e4chst unter Symptomen von Verfolgungswahnideen, Angstzust\u00e4nden und hypochondrischen Klagen eingesetzt hatte und 1888 in einen mehrmonatlichen Stupor \u00fcberging, nach dessen Nachlafs der Kranke mutazistisch erschien, d. h. kein Wort sprach, und durch Gesten zu verstehen gab, dafs er nicht sprechen k\u00f6nne. Ende Januar 1889 begann er wieder zu sprechen, aber unverst\u00e4ndlich, fl\u00fcsternd und, wie sich bald feststellen liefs, immer die gleichen Worte wiederholend (verbigerirend). Aufserdem gelang es damals zuweilen, den Kranken zum Nachsprechen einiger kurzer Worte zu veranlassen. Im Fr\u00fchjahr und Sommer 1889 machte der Kranke noch ein Stadium lebhafter Geh\u00f6rst\u00e4uschungen durch. Nach Ablauf derselben trat er in die Reconvalescenz ein; doch erschien er stumm, unf\u00e4hig, auch den einfachsten Laut hervorzubringen. Aufserdem war er einer Reihe weiterer Bewegungen verlustig gegangen : Er konnte nicht willk\u00fcrlich durch den Mund expiriren, kein Licht ausblasen, nicht pfeifen, nicht die Backen aufblasen, nicht ausspucken, nicht die Zunge zeigen, w\u00e4hrend er sie beim Kauen correct gebrauchte; er schien die Saugbewegung verlernt zu haben, denn beim Trinken steckte er das Glas in den Mund und gofs die Fl\u00fcssigkeit aus.1 Sp\u00e4ter2 liefsen sich noch eine Reihe analoger St\u00f6rungen feststellen : Der Gang wurde steif, die Stellung seitw\u00e4rts geneigt, im Zeigefinger der rechten Hand zeigten sich fast continuirliche Zuckungen; weiterhin liefs sich feststellen, dafs er keine Schn\u00fcffelbewegungen auszuf\u00fchren im Stande war, und dafs er beim Rauchen, statt zu inspiriren, den Rauch expiratorisch durch die Cigarre blies. Diese Symptome blieben bis zur Nachpr\u00fcfung im Jahre 1895 constant.\nEbenso blieb der vollst\u00e4ndige Mutarismus unver\u00e4ndert. Eine wesentliche Aenderung wurde schon 1894 durch Wernicke :3 in Bezug auf das Sprachverst\u00e4ndnifs festgestellt: W\u00e4hrend\n1\n2 3\nWernigke, Verhandlungen des IX. Congr. f. inn. Med. 1890, Wernicke, Deutsche med. WochenscJir, (11). .1895.\nS. o.\n273.","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs cl Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. 85\nder Kranke lange Zeit Alles, was man zu ihm sprach, verstanden hatte, liefs sich damals nur mehr ein zwar betr\u00e4chtlicher, aber doch umgrenzter Wortschatz nachweisen, auf den sich sein Spraehverst\u00e4ndnifs beschr\u00e4nkte. Dieser Wortschatz blieb constant, so oft man den Patienten auch untersuchte. Es hatten sich also zu der fr\u00fcher schon constatirten motorischen Aphasie die Erscheinungen einer \u2014 in dieser Form als Uni-cum dastehenden \u2014 partiellen sensorischen Aphasie hinzugesellt.\nDie F\u00e4higkeit, zu lesen und zu schreiben war zwar erhalten geblieben, aber nicht intact; der Kranke war nicht mehr im Stande, lateinische Schrift zu lesen oder zu schreiben, was er vorher gekonnt hatte, vermochte lateinische Buchstaben nur mehr verst\u00e4ndnifslos \u201eabzumalen\u201c. Er liefs beim Schreiben Buchstaben, namentlich die Dehnlaute aus, schrieb Alles mit kleinen Buchstaben, zeigte manche an Paragraphie erinnernde Eigent\u00fcmlichkeiten.\nDer Kranke war 1890 aus der Klinik entlassen worden ; er arbeitete wieder als Tischlermeister und war als geschickter Arbeiter gesch\u00e4tzt. Zum Ersatz der Lautsprache hatte er sich ohne jede Nachh\u00fclfe eine sehr ausgebildete Geberdensprache mit constanten Zeichen zurechtgelegt, mit deren H\u00fclfe es nach kurzer Beobachtung ohne Weiteres gelang, sich mit ihm zu verst\u00e4ndigen.\nResiduen der Geisteskrankheit zeigten sich auch in anderer Richtung immer wieder; schon bei der Nachuntersuchung im Jahre 1894 klagte der Kranke \u00fcber Angstzust\u00e4nde, sah \u00e4ngstliche Fratzen, litt unter depressiven Verstimmungen; weiterhin traten Geh\u00f6rshallucinationen auf, die er auf die Angeh\u00f6rigen zu projiciren begann, so dafs Ende 1895 die Wiederaufnahme in die Klinik erfolgen mufste. Hier beruhigte er sich bei geeigneter Behandlung bald.\nIn Bezug auf die bis dahin stabil gebliebenen Symptome trat nun sehr bald eine wesentliche Besserung ein.\nEnde Januar 1895 erlangte der Kranke pl\u00f6tzlich wieder die F\u00e4higkeit den Mund spontan weit zu \u00f6ffnen und die Zunge zu zeigen; er lernte wieder in gew\u00f6hnlicher Weise zu trinken und zu rauchen; auch die Gangst\u00f6rung besserte sich allm\u00e4hlich.\nDie wesentlichste Besserung erfolgte in Bezug auf Sprach-verm\u00f6gen und Spraehverst\u00e4ndnifs. Zun\u00e4chst lernte der Kranke","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nKarl Heilbronner.\nsehr bald, vorgesprochene Phrasen nachzusprechen, eine F\u00e4higkeit, die nat\u00fcrlich mit der F\u00e4higkeit, \u00fcberhaupt zu sprechen, verloren gegangen war. W\u00e4hrend er aber Anfangs nur nachsprechen konnte, zun\u00e4chst sogar auf ein buchstabirendes Nach sprechen beschr\u00e4nkt blieb, gebrauchte er bald auch Worte, die ihm nicht vorbuchstabirt waren, die er \u00fcberhaupt kurz vorher nicht geh\u00f6rt haben konnte. Er sprach zun\u00e4chst leise, tonlos, oft so, als ob die Athemf\u00fchrung Schwierigkeiten machte ; doch gelang es bald, ihn wenigstens tempor\u00e4r zu lauterem Sprechen zu veranlassen. Die Neigung, sich der Gestensprache, wenn auch neben der Lautsprache, zu bedienen, bestand fort.\nSehr auffallend war eine Eigenth\u00fcmlichkeit in der Sprechweise des Kranken, die sich dann noch lange erhalten hat: er sprach ausschliefslich in Anakoluthen, gebrauchte weder Declination noch Conjugation, unterdr\u00fcckte die Endsilben meist g\u00e4nzlich, ebenso auch die kleinen Redetheile zumeist, ordnete die Worte im Satze nicht in der gewohnten Weise : Seine Sprechweise entsprach so der der Kinder bei ihren ersten sprachlichen Versuchen; doch verstand er es, durch Modification des Tonfalles den Defect einigermaafsen auszugleichen. In diesem Zustande habe ich den Kranken vor der 67. Versammlung des Vereins Ostdeutscher Irren\u00e4rzte im Februar 1895 vorgestellt; der damals erhobene Befund war im Wesentlichen der oben erw\u00e4hnten Abhandlung zu Grunde gelegt, deren haupts\u00e4chlichen Inhalt, soweit er die Untersuchungsergebnisse betrifft, ich im Folgenden wiedergebe.\nDie Pr\u00fcfung des Lese- und Schreibverm\u00f6gens hatte zun\u00e4chst die gleichen Pesultate wie fr\u00fcher ergeben: die Buchstaben des kleinen geschriebenen deutschen Alphabets konnten geschrieben, gelesen und abgeschrieben werden; die Buchstaben des grofsen deutschen Alphabets, sowie die des lateinischen fehlten mit wenigen Ausnahmen, bez\u00fcglich deren ich, wie bez\u00fcglich aller Details, auf die erw\u00e4hnte ausf\u00fchrliche Darstellung verweisen mufs.\nDas Nachschreibenlassen dieser zun\u00e4chst fremden Buchstaben gelang auffallend gut, auch wenn man den Kranken nur einen Blick auf die Vorlage hatte thun lassen; entsprach dies der bei dem im Zeichnen ge\u00fcbten Manne nicht sehr auffallenden F\u00e4higkeit zum Nachzeichnen \u00fcberhaupt, so erschien ein anderer Umstand von grofser, namentlich theoretischer Bedeutung: dafs n\u00e4mlich der Kranke sich nicht genau an die Z\u00fcge des vorge-","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. 87\nschriebenen Buchstabens hielt, sondern die Buchstaben in etwas anderer, aber constanter Weise schrieb. Im Verlaufe von ca. 14 Tagen bis 3 Wochen hatte sich der Kranke zum Theil durch die vielfachen Untersuchungen, zum Theil unter der Mith\u00fclfe von W\u00e4rtern und Mitkranken die Kenntnifs der verloren gegangenen Alphabete wieder angeeignet.\nTrotzdem blieb die F\u00e4higkeit, zu lesen, noch lange sehr beschr\u00e4nkt : er las buchstabirend, zun\u00e4chst sogar unter gesonderter Aussprache der Componenten der zusammengesetzten und Dehnlaute. Zusammenh\u00e4ngende S\u00e4tze resp. St\u00fccke mit \\ erst\u00e4ndnifs zu lesen, lernte er erst recht sp\u00e4t.\nDas bchi eiben geschah, wie fr\u00fcher, zun\u00e4chst rein phonetisch, das Abschreiben, auch das Uebertragen von einer Schrift in eine andere mechanisch, ohne Sinnverst\u00e4ndnifs.\nBez\u00fcglich der ebenso complicirten, als interessanten Verh\u00e4ltnisse bez\u00fcglich der Ziffern mufs ich wieder auf die erw\u00e4hnte Abhandlung verweisen.\nRecht werthvolle Ergebnisse f\u00f6rderte die \u2014 durch die neu-gev onnene F\u00e4higkeit zu sprachlichen Reactionen begreiflicherweise sehr erleichterte \u2014 Untersuchung des sensorischen Theiles des Sprachvorganges zu Tage: Es liefs sich noch eine ganze Reihe dem Kranken unverst\u00e4ndlicher Worte eruiren. So kannte er zwar die Namen der meisten K\u00f6rpertheile, doch fehlten die Bezeichnungen: Lider, Wimpern, Leber, Milz, Darm, die Namen der einzelnen Finger und Kehlkopf, wovon ihm nur Kopf bekannt war. Die Werkzeuge und Materialien, die er als Tischler ben\u00f6thigte, kannte er zum grofsen Theile dem Namen nach: doch fehlten die Worte: Pflock, Klotz, Beifszange, Stahl, und auffallenderweise die Namen aller Holzarten, f\u00fcr deren Verschiedenheiten und verschiedene Verwendbarkeit er im Uebrigen volles Verst\u00e4ndnifs besafs. Die Namen der Speisen und Getr\u00e4nke kannte er zum gr\u00f6fsten Theil; von den gew\u00f6hnlichsten fehlten: Obst, Compot, R\u00fcben, Pfeffer, Senf, aufserdem eine Reihe ganz specieller Bezeichnungen.\nZahlreiche ihm bekannte Gegenst\u00e4nde vermochte Patient nicht zu bezeichnen, resp. die Bezeichnungen nicht zu verstehen (Erscheinungen, die bei ihm stets parallel gingen); es liefsen sich z. B. als ausgefallen erweisen die Worte: Garn, Seide, Kattun, Schwefel, Blech, Schwamm, Kork, Pfropf, Clavier, Kalender, Handschuh, Zeitung, Kragen, Cravatte, Shlips, Helm,","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nKarl Ke\u00fcbronner.\nCylinder, Degen, Peitsche, Koffer, B\u00fcgeleisen, Pfanne, M\u00fchle, Trichter, Torte, Vorhang, Karren, K\u00e4fig, Strumpf, Bouquet, Schiff, Blatt, Leuchter, Reibeisen. Seine Bekanntschaft mit den betreffenden Gegenst\u00e4nden documentirte Patient in der gew\u00f6hnlichen Weise Aphasischer. Paraphasische Erscheinungen wurden nicht beobachtet, dagegen wurde h\u00e4ufig statt der pr\u00e4cisen Bezeichnungen der Gattungsbegriff genannt. Bekannte Worte erkannte Patient stets sofort; auch unterschied er sehr wohl dem Klange nach ihm bekannt erscheinende, aber inhaltlich unverstandene von dem Klang und der Bedeutung nach fremden.\nEbenso wie unter den Substantiven erwies sich unter den Verben und Adjectiven eine betr\u00e4chtliche Anzahl als fehlend; unter einer willk\u00fcrlich zusammengestellten Reihe liefsen sich als fehlend erweisen von Verben: reiten, tanzen, klettern, zappeln, h\u00fcpfen, schielen, schauen, sieden, sprudeln, meckern, wiehern, blitzen, donnern, senken, verdunsten, verzehren, st\u00f6ren, zerst\u00f6ren, vereinigen, beobachten, von Adjectiven: schmackhaft, herrlich, pr\u00e4chtig, geschickt, dumm, gescheidt, gemein, edel, nett, klar, tr\u00fcb, angenehm, schrecklich, entsetzlich.\nViel erheblicher als bei der Pr\u00fcfung concreter Bezeichnungen stellte sich der Ausfall dar, als das Verst\u00e4ndnis f\u00fcr Worte allgemeinerer \u2014 insbesondere abstracter \u2014 Bedeutung gepr\u00fcft wurde. Doch ergab sich hier viel h\u00e4ufiger als bei den eben erw\u00e4hnten Pr\u00fcfungen die Schwierigkeit, zu entscheiden, ob nicht neben dem Wortbilde auch der Begriff selbst ausgefallen w7ar.\nMit Bestimmtheit liefs sich ein derartiger Ausfall \u2014 und gerade in dieser Beziehung hatte die Untersuchungsreihe des Jahres 1895 eine wesentliche Erg\u00e4nzung des bis dahin Bekannten ergeben \u2014 f\u00fcr eine Reihe concreter Gegenst\u00e4nde erweisen : manche derselben erschienen dem Kranken ganz fremd und zwrar in gleicher Weise, ob Gesicht, Geh\u00f6r oder Tastsinn, sei es allein, sei es combinirt die Erkennung vermitteln sollten. H\u00e4ufiger erschienen dem Patienten aber wenigstens einzelne Eigenschaften der vorgef\u00fchrten Gegenst\u00e4nde bekannt, nach denen er sie als einer gewissen Gattung zugeh\u00f6rig erkannte. Begreiflicherweise f\u00fchrte eine derartige partielle Erkennung zu h\u00e4ufigen Verwechslungen, wenn gerade die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale dem Kranken fremd wraren ; bei Gegenst\u00e4nden, die ihm ihrem speciellen Zweck und ihrer Bedeutung","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"TT eifere?' Beitrag z. Kenntnifs cl. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. 89\nnach nicht bekannt waren, wufste er oft wenigstens das Material anzugeben, aus dem sie gemacht waren.\nEbenso wie auf sprachlichem Gebiete mehrte sich auch in Beziehung auf die Kenntnifs von Gegenst\u00e4nden der Besitzstand des Kranken sehr rasch; die Mehrung wurde gef\u00f6rdert durch das rege Interesse, das er bald an Allem, was er h\u00f6rte und sah, zu nehmen begann, und das ihn veranlafste sich \u00fcberall bei Arzt, W\u00e4rtern und verst\u00e4ndigen Mitkranken Rath und Auskunft zu erbitten.\nDabei mag als charakteristisch und f\u00fcr die Auffassung des Actes der Wiedererlernung vielleicht bedeutungsvoll angef\u00fchrt werden, dafs es kaum vorkam, dafs der Kranke bei wiederholter Pi iifung, v as ihm einmal gesagt oder gezeigt worden war, wieder vergessen h\u00e4tte; doch beschr\u00e4nkte sich sein Verst\u00e4ndnis auf diejenigen Eigenschaften eines Gegenstandes, auf diejenige Bedeutung der V orte, die ihm bei der Erkl\u00e4rung genannt worden waren; deshalb wohl erinnerte er sich auch lange Zeit sehr wohl der Personen, die ihm die Erkl\u00e4rung geliefert, der P mst\u00e4nde, unter denen sie ihm gegeben worden war, w\u00e4hrend er andererseits nie zu der Ueberzeugung gelangen konnte, dafs derartiger scheinbarer Neuerwerb in Wirklichkeit nur Wiedererwerb fr\u00fcheren Besitzes war.\nDie Erscheinung wurde erst voll verst\u00e4ndlich im Zusammenhalt mit einer anderen: der Kranke hatte aufser einer Menge einfacher Begriffe auch den gr\u00f6bsten Theil seiner \u201epers\u00f6nlichen Erinnerungen\u201d eingeb\u00fcfst. Es bestand ein Erinnerungsausfall, der die ganze Zeit von der fr\u00fchesten Jugend bis in die ersten Tage des letzten Aufenthaltes in der Klinik hinein umfafste. Aus dieser ganzen Zeit fehlte jede eigene Erinnerung an pers\u00f6nliche Schicksale und Erl\u00ebbnisse, und der Ausfall erschien so total, dafs der Kranke, wenn er sich auch von der Richtigkeit des Gegentheils \u00fcberzeugen liefs, doch subjectiv stets die Emp\u00dfndung behielt, dafs auch die Gewinnung der Lautsprache f\u00fcr ihn ein v\u00f6lliges Novum darstellte; er konnte sich nicht erinnern, dafs er derselben fr\u00fcher bereits m\u00e4chtig gewesen war.\nAuf der anderen Seite erschien es theoretisch bedeutsam und hat dem Krankheitsbilde, worauf sp\u00e4ter noch zur\u00fcckzukommen sein wird, sein wesentliches Gepr\u00e4ge gegeben, dafs ganz im Gegens\u00e4tze zu den gel\u00e4u\u00dfgen Erfahrungen bei Aphasischen der Ausfall sowohl auf dem sensorischen Sprachgebiet als auch","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nKarl Heilbronner.\nauf allen anderen der Untersuchung zug\u00e4nglichen Gebieten partiell und circumscript in dem Sinne erschien, dafs bei jeder Wiederholung der Nachpr\u00fcfung die positiven und negativen Resultate stets gleich blieben; es kam nicht vor, wie es sonst z. B. bei F\u00e4llen sensorischer Aphasie fast regelm\u00e4fsig zu geschehen pflegt, dafs der Kranke Worte, die er eben verstanden, bei einer sp\u00e4teren Untersuchung nicht verstanden h\u00e4tte, und wo das Umgekehrte der Fall war, dafs dem Kranken vorher fremde Begriffe pl\u00f6tzlich gel\u00e4ufig erschienen, wufste er selbst ganz prompt anzugeben, wie er zu den neuen Kenntnissen gekommen war.\nAusnahmslos wufste er diese Erkl\u00e4rung zu geben, solange er als Kranker unter den einfachen und leicht \u00fcbersehbaren Verh\u00e4ltnissen der Klinik lebte ; aber auch sp\u00e4ter, als er zun\u00e4chst h\u00e4ufig beurlaubt, sp\u00e4ter ganz entlassen war, und seine Kenntnisse unter den vielf\u00e4ltigeren Eindr\u00fccken des st\u00e4dtischen Lebens sich \u2014 namentlich im Beginn \u2014 sehr rasch mehrten, wufste er in den meisten F\u00e4llen \u00fcber die Genese seiner Kenntnisse sehr gut Bescheid zu geben, und das Interesse, das der Fall bei der sp\u00e4teren Nachuntersuchung bot, war nicht zum Mindesten der aufserordentlichen Pr\u00e4cision zu danken, mit der er \u00fcber den Erwerb seines psychischen Besitzstandes Auskunft zu geben verstand.\nDie Entlassung des Kranken aus der Klinik war im Herbst 1895 erfolgt. Er hatte wieder sein Tischlerhandwerk aufgenommen und mit seiner H\u00e4nde Arbeit seine Familie ern\u00e4hrt. Die manuelle Geschicklichkeit in seinem Berufe fehlte dem Kranken ebensowenig zu irgend einer Zeit, als ihm die sonstigen auf sein Handwerk bez\u00fcglichen Kenntnisse verloren gegangen waren; er hatte zu allen Zeiten wenigstens etwas als Tischler gearbeitet und hatte w\u00e4hrend seines klinischen Aufenthaltes ohne Vorlage eine ganze Reihe sehr sauber ausgef\u00fchrter Entw\u00fcrfe f\u00fcr allerlei M\u00f6bel und Einrichtungsgegenst\u00e4nde gezeichnet. Immerhin erscheint es von Interesse, dafs nach der Angabe seiner Ehefrau \u2014 er selbst wufste ja wegen der bereits erw\u00e4hnten totalen Amnesie dar\u00fcber nichts anzugeben \u2014 die Arbeitsf\u00e4higkeit des Kranken, damit auch sein Verdienst nach der Entlassung gegen fr\u00fcher gewachsen waren. Ich hatte selbst Gelegenheit, ihn als durchaus verst\u00e4ndigen und brauchbaren Arbeiter kennen zu lernen.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskranke 91\nDie Untersuchungen, durch die das Material f\u00fcr den nachfolgenden Devisionsstatus gewonnen worden ist, sind ausnahmslos in den Abendstunden, wenn der Kranke Feierabend gemacht hatte, vorgenommen. Er stellte sich stets sehr gerne und p\u00fcnktlich dazu ein: wufste er auch sehr wohl zu beurtheilen, dafs es sich f\u00fcr mich wesentlich um eine informatorische Besch\u00e4ftigung mit seinem psychischen Zustand handelte, so hoffte er doch \u2014 nicht mit Unrecht , dafs er gerade bei diesen Untersuchungen wieder Vieles \u201elernen\u201c w\u00fcrde.\nDas Interesse und die Ausdauer, mit der der Kranke durch solches \u201eLernen\u201c \u2014 nicht nur durch gelegentliches Erfahren \u2014 seine Kenntnisse zu erweitern suchte, haben jedenfalls nicht unwesentlich zu der eigenth\u00fcmlichen Gestaltung des ganzen Krankheitsbildes beigetragen : er war nicht nur stets bem\u00fcht, die Untersuchungen zu einer Bereicherung seines Wissens zu ben\u00fctzen, sondern er hat auch nach seiner oft gegebenen Versicherung in der Werkstelle und auf der Strafse jede Gelegenheit benutzt, sich durch Befragen der Mitarbeiter oder der Angeh\u00f6rigen Belehrung zu holen ; er hat endlich sich mitlernend an den Schularbeiten seiner die Elementarschule besuchenden Tochter betheiligt. Auf diese Weise war der Schatz seiner \u201eKenntnisse\u201c im weitesten Sinne seit der letzten eingehenderen Untersuchung sehr erheblich gewachsen.\nDie nachfolgende Darstellung wird, wenn sie auch, so wenig vie die Exploration selbst es konnte, den geistigen Besitzstand des Kranken ersch\u00f6pfen wird, doch einen Ueberblick \u00fcber denselben vermitteln. Ich schicke voraus, dafs einzelne Erscheinungen, die als unmittelbare Beste der Geisteskrankheit aufzufassen waren, auch bei der letzten Vorstellung des Kranken noch nachweisbar waren : eine eigent\u00fcmliche Steifheit des Ganges und der Bewegungen \u00fcberhaupt, ein etwas starrer, aber durchaus nicht leerer Gesichtsausdruck, eine leicht singende, eint\u00f6nige Sprechweise, die in directer Beziehung zu den eben genannten Bewegungsst\u00f6rungen steht, w\u00e4hrend auf anderweitige St\u00f6rungen des Sprechverm\u00f6gens sp\u00e4ter einzugehen sein wird. L\u00e4hmungen der Bewegungsapparate bestanden nicht. Dagegen klagte der Kranke \u00fcber Empfindungen von Schwindel und Stofsen im K\u00f6rper.\nEs lie!s sich zun\u00e4chst feststellen, dafs die Erinnerungsl\u00fccke in dem oben bereits geschilderten Umfange weiter be-","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nKarl Heilbronner.\nstand, dermaafsen, dafs der Kranke sich irgend eines in diesen Zeitraum fallenden Ereignisses, des Erwerbes irgend welcher Vorstellungen aus dieser Zeit nicht zu entsinnen vermochte; dafs nicht Alles w\u00e4hrend dieser Zeit Erworbene einfach getilgt war, geht \u2014 abgesehen von dem immerhin betr\u00e4chtlichen Reste von Sprachverst\u00e4ndnifs, den der Kranke auch in seiner schlechtesten Zeit noch bewahrt hatte, daraus hervor, dafs er, wie bereits erw\u00e4hnt, seine beruflichen F\u00e4higkeiten \u2014 und zwar nicht nur die rein manuellen \u2014 keineswegs eingeb\u00fcfst hatte.\nWie weit anderseits der Ausfall gerade in Bezug auf das-j enige ging, was man als \u201epers\u00f6nliche Erinnerungen\u201c im eigentlichen Sinne bezeichnen kann, m\u00f6ge nur ein Beispiel beweisen: Wie bereits aus dem fr\u00fcheren Befund hervorging, spielte des Kranken Frau f\u00fcr ihn eine grofse Rolle, schon deshalb, weil sie Vermittlerin und Gehilfin bei zahlreichen Gesch\u00e4ften u. s. w. war, denen er infolge seiner Unf\u00e4higkeit, zu sprechen, allein nicht vorstehen konnte ; es war ferner fr\u00fcher bereits erhoben worden, dafs er \u00fcber Ehe, Heirath u. s. w. nicht Bescheid wufste. Es wurde aber erst bei der Nachuntersuchung festgestellt, dafs er \u00fcberhaupt bis vor Kurzem nicht gewufst hatte, dafs er mit seiner Frau in der Ehe lebe; er kannte sie als \u201eAnna\u201c und lebte mit ihr, ohne sich \u00fcber den Grund der Zusammengeh\u00f6rigkeit, die er als einmal gegeben hinnahm, irgend welche Gedanken zu machen. Er hat sich dann nachtr\u00e4glich von der Ehe-schliefsung, fr\u00fcheren Familienereignissen u. s. w. durch die Frau berichten lassen, und erz\u00e4hlte mir anl\u00e4fslich der Untersuchungen oft mit einer Art naiven Staunens, was er wieder Neues davon in Erfahrung gebracht, ohne dafs ihm aber jemals irgend eine eigene Erinnerung an das Geh\u00f6rte aufgetaucht w\u00e4re, ohne dafs er auch nur an die M\u00f6glichkeit gedacht h\u00e4tte, solche wieder auftauchen zu sehen.\nAnaloge Verh\u00e4ltnisse ergaben sich nun \u2014 abgesehen von den oben bereits erw\u00e4hnten beruflichen F\u00e4higkeiten \u2014 bez\u00fcglich all\u2019 derjenigen Erwerbungen, die nicht wie die Sprache u. A. bereits in die ersten Lebensjahre zur\u00fcck zu verlegen sind; es liefs sich nicht mehr als vorhanden nachweisen, als der Kranke etwa seit dem zweiten Aufenthalt in der Klinik, sei es durch Fragen, sei es durch Lect\u00fcre erworben haben konnte; bei sehr vielen Dingen liefs sich auch thats\u00e4chlich, wie bereits erw\u00e4hnt, Gelegenheit und Modus des Erwerbes feststellen und es mufste","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. GeisteskrankJi. Q\u00df\nwieder auffallen, einmal, in welch\u2019 pr\u00e4ciser Weise der Kranke auf entsprechende Fragen Bescheid zu geben wufste, andererseits aber, wie strenge sich seine Kenntnisse auf das beschr\u00e4nkten, was er bei dieser bestimmten Gelegenheit in Erfahrung gebracht hatte oder nach Maafsgabe einer relativ kurzen Erfahrung wissen konnte.\nDie Verh\u00e4ltnisse werden aus der Mittheilung einiger Beispiele am klarsten werden:\nEr weifs vhne Weiteres die Zahl der Monate anzugeben, und weifs auch, dafs einzelne 30, andere 31 Tage haben; als Quelle, aus der er gesch\u00f6pft hat, giebt er den Abreifskalender an, auf dem die Zahl ja \u201eoben stehe\u201c. Dagegen mufs er die Zahl der Tage eines Jahres erst berechnen; aus unmittelbarer Erfahrung, wie die Zahl der Monatstage, ist sie ihm nicht gel\u00e4ufig, und ebenso weifs er nicht, dafs der Februar nur 28 Tage hat, noch weniger, was ein Schaltjahr ist.\nEr weifs ferner, dafs die Kinder mit 14 Jahren aus der Schule entlassen werden : die Schulentlassung eines seiner Kinder f\u00e4llt in die Zeit, aus der er \u00fcber Erfahrungen resp. Erinnerungen verf\u00fcgt; dagegen weifs er auf die Frage: \u201ewann kommen die Kinder in die Schule\u201c? nur zu antworten: \u201eFr\u00fch gehe Frieda1 immer\u201c. Darauf beschr\u00e4nkt sich seine Erfahrung. Von seinen Kindern ist in der f\u00fcr Wissenserwerb in Betracht kommenden Zeit keines schulpflichtig geworden.\nEr kennt die Eisenbahn und erz\u00e4hlt gerne von einer kleinen Fahrt, die er gemacht; dagegen weifs er von den verschiedenen Klassen nicht mehr, als dafs \u201esie auch sch\u00f6nere Wage habe, als wo sie ganz billig fahr\u201c ; von den verschiedenen Categorien von Z\u00fcgen kennt er nur die G\u00fcterz\u00fcge (\u201edas ist, wo sie Alles auflade\u201c); Schnellzug ist ihm unbekannt; Postzug bringt er zweifelnd in Verbindung mit den Postwagen, die er oft in der Stadt verkehren sieht. Dagegen weifs er den Unterschied zwischen der staatlichen und privaten Post \u2014 allerdings nach den ihm wesen-lich erscheinenden Momenten \u2014 anzugeben: beide haben ihre Geb\u00e4ude an verschiedenen Stellen; die Brieftr\u00e4ger \u201eseh anderscher angezieh\u201c (verschieden angezogen) die einen \u201ewie Soldate\u201c, die anderen \u201emit gelben Kragen\u201c. Auf besonderes Befragen\n1 Seine Tochter.","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nKarl Heilbronner.\nweifs er aber auch anzugeben, dafs \u201edie mit gelb\u201c billigere S\u00e4tze hat, und setzt spontan hinzu, \u201edas ist nicht unser Kaiserpost\u201c.\nUeber die \u00e4ufseren Verh\u00e4ltnisse der Ehe hat er Einiges in Erfahrung gebracht, doch glaubt er z. B., dafs M\u00e4nner wie M\u00e4dchen, im Allgemeinen mit 20 Jahren heirathen, und was er gesehen oder auch nur geh\u00f6rt, hat ihn, wie er auf Befragen an-giebt, noch nicht zu einem Urtheil dar\u00fcber gelangen lassen, ob gew\u00f6hnlich der m\u00e4nnliche oder der weibliche Theil \u00e4lter zu sein pflegt.\nSehr gut sind bezeichnender Weise die Kenntnisse des Kranken bez\u00fcglich aller Arbeitsverh\u00e4ltnisse ; er hat mir z. B. einmal ganz treffend auseinandergesetzt, dafs es f\u00fcr ihn vortheil-liafter sei, unter einem Meister in einer Werkst\u00e4tte zu arbeiten, allerdings unter dem Vorbehalte, dafs er gelegentlich auch sich frei machen d\u00fcrfe, um auf Bestellung f\u00fcr eigene Rechnung zu arbeiten; im Uebrigen w\u00fcrde der h\u00f6here Verdienst, den er durch selbst\u00e4ndiges Arbeiten gegen\u00fcber der Lohnarbeit erzielen k\u00f6nnte, mehr als aufgewogen durch den Entgang beim Fehlen von Arbeit, wie er ihn als Kleinmeister oft getroffen habe. Ueber St\u00fcck-und Stundenlohn, den Unterschied in der Bezahlung von en masse hergestellter Waare einer-, besonders bestellter Waare andererseits weifs er sehr gut Bescheid; ebenso weifs er bez\u00fcglich der Versicherungsgesetzgebung, der Beitragspflichten des Meisters und Arbeiters, der Leistungen der verschiedenen Kassen besser Auskunft zu geben, als es der Arbeiter, wie mich h\u00e4ufige Pr\u00fcfungen gelehrt haben, im Allgemeinen vermag. Dabei exemplificirt er immer ganz gesehickt auf pers\u00f6nliche Erlebnisse und Erfahrungen. Recht bezeichnend ist auch, dafs er \u00fcber die Rangordnung: Recrut, Gefreiter, Unteroffizier Bescheid weifs, weil einer der Mitarbeiter als Unteroffizier vom Milit\u00e4r abgegangen war und in der Werkst\u00e4tte davon erz\u00e4hlt hatte; er weifs auch noch, dafs der \u201eda wieder Knopf hat mit die Dinger (Tressen), wieder wase mehr\u201c ist. Weiter aber reichen seine Kenntnisse nicht, weil es ihm an Gelegenheit zu unmittelbarer Erfahrung in seinem Bekanntenkreise gefehlt hat.\nUeber eine ganze Reihe \u00e4hnlicher Verh\u00e4ltnisse, soweit sie der unmittelbaren Beobachtung zug\u00e4nglich sind, und soweit sie aufserdem durch h\u00e4ufigeres Vorkommen oder Beziehung zu seiner Person sein Interesse erregten, wufste er ihn \u00e4hnlicher Weise Auskunft zu geben.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen ziu. Aphasie u. Geisteshrankh. 95\nViel schlechter waren seine Kenntnisse bez\u00fcglich derjenigen Vorg\u00e4nge, die sich erst in gr\u00f6fseren Zwischenr\u00e4umen wiederholen, deren Wesen also erst auf Grund l\u00e4ngerer Erfahrung, als sie ihm zu Gebote stand, deutlich werden konnte; jedenfalls erschienen seine diesbez\u00fcglichen Vorstellungen viel d\u00fcrftiger, weil sie sich nur an einzelne oder wenige Erfahrungen anschlossen : so \\\\ eifs er auf die Frage, wann Kirschenzeit sei, nur anzugeben, dafs er an seinem Geburtstage im Juli Kirschen bekommen, dafs die Kirschenzeit also im Sommer sein m\u00fcsse: nach der Zeit der Getreideernte gefragt, erinnert er sich, dafs er an seinem Geburtstage das Getreide noch hat stehen sehen, im August aber Erntearbeiten sehen konnte. Er weifs auf Befragen anzugeben, dafs im April das Wetter noch nicht so sch\u00f6n ist, wie im Sommer, dagegen weifs er nicht, welcher Begriff gew\u00f6hnlich mit der Bezeichnung: Aprilwetter verbunden wird.\nZeigt sich bei derartigen Pr\u00fcfungen stets, dafs der Kranke den sich ihm bietenden Eindr\u00fccken reges Interesse entgegenbringt und seine Kenntnisse theils durch directe Beobachtung, theils durch anschliefsende Fragen zu mehren bestrebt ist, so zeigt sich auf anderen Gebieten, dafs der Kranke \u2014 und zwar mit einer gewissen Absichtlichkeit \u2014 selbst gegebene Gelegenheit zur Erwerbung von Kenntnissen unbenutzt l\u00e4fst. Er hat mir wiederholt und in recht treffender Weise auseinandergesetzt, dafs er so viel L\u00fccken f\u00fchle und eigentlich so viel Neues zu erlernen h\u00e4tte, dafs er eine gewisse Beschr\u00e4nkung eintreten lassen m\u00fcsse; er resignire sich also dahin, nur nach dem zu fragen und sich \u00fcber das klar zu werden, was f\u00fcr ihn von unmittelbarem Werthe oder durch \u00f6fteres Vorkommen von lebhafterem Interesse sei. Das m\u00fcsse er schon deshalb, weil er sonst durch best\u00e4ndiges Fragen, namentlich \u00fcber etwas complicirtere Verh\u00e4ltnisse, Anderen allzul\u00e4stig zu fallen f\u00fcrchte. So blieben beispielsweise seine Kenntnisse in geographischen Dingen ganz rudiment\u00e4re: er weifs zwar die Namen mehrerer deutscher Bundesstaaten, aber nur, weil er sie als Heimath der verschiedenen Aerzte der Klinik hat nennen h\u00f6ren. Weder \u00fcber ihre Lage, noch ihre Gr\u00f6fse noch sonstige Eigenarten weifs er auch nur entfernt Bescheid, hat auch nicht die d\u00fcrftigsten Vorstellungen davon, wie weit die \u2014 relativ wenigen \u2014 ihm bekannten St\u00e4dte von Breslau oder von einander entfernt sein m\u00f6gen. Er hat geh\u00f6rt, dafs meine Heimathsstadt M\u00fcnchen","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nKarl Heilbronner.\nnicht in Preufsen, sondern in Bayern liege ; er weifs weiter, dafs es zn Deutschland geh\u00f6rt. Trotzdem giebt er einen Augenblick sp\u00e4ter an, dafs Preufsen und Deutschland identisch seien, und es gelingt merkw\u00fcrdigerweise \u2014 worauf noch zur\u00fcckzukommen sein wird \u2014, nur mit sehr grofser M\u00fche, ihm klar zu machen, dafs seine eigene vorhergegangene Angabe ihn die Unrichtigkeit dieser Annahme h\u00e4tte lehren k\u00f6nnen.\nNicht besser steht es mit den historischen Kenntnissen des Kranken: er weifs, dafs Bismarck ein ber\u00fchmter Mann war, denn er hat gelesen, dafs \u201eder Kaiser und viele Herren\u201c zum Geburtstage bei ihm erschienen sind; doch weifs er von seiner Th\u00e4tigkeit nichts anzugeben. Ueber Wilhelm I. weifs er als Wesentlichstes anzugeben, dafs er ein \u2014 damals neu errichtetes \u2014 Denkmal in der Stadt habe.\nNach der Darstellung, wie sie der Kranke gab, ebenso nach der Art dessen, was sich als erhalten resp. fehlend nachweisen liefs, konnte nicht bezweifelt werden, dafs jedenfalls ein nachweisbarer alter Besitz an Kenntnissen auf den eben besprochenen Gebieten nicht existirte, dafs Alles, was von positivem Wissen vorhanden war, als neuerworben erachtet werden konnte.\nIn sehr auffallendem Gegens\u00e4tze dazu stand es nun, dafs sich eine Eeihe ethischer Gef\u00fchle nachweisen liefsen, die kaum in der kurzen Zeit, w\u00e4hrend deren die \u00fcbrigen Erwerbungen geschehen waren, erwacht resp. anerzogen sein konnten. Es war schon bei der fr\u00fcheren eingehenderen Untersuchung constatirt worden, dafs der Kranke mit grofser Liebe seinem Berufe nachging; er hat bei der sp\u00e4teren Nachpr\u00fcfung, entsprechend seiner gemehrten sprachlichen F\u00e4higkeit, mir bei verschiedenen Gelegenheiten erkl\u00e4rt, dafs er die einzige wirkliche Freude nur in seiner Th\u00e4tigkeit finde. Er hatte ferner schon fr\u00fcher lebhaftes Interesse an dem Ergehen der ihm zun\u00e4chst Stehenden bekundet \u2014 selbst zu einer Zeit, wo er, wie oben erw\u00e4hnt, \u00fcber die Art seiner Beziehungen zu diesen Personen nur sehr d\u00fcrftige Vorstellungen hatte. Er hat sp\u00e4ter seiner Liebe namentlich f\u00fcr die Kinder sehr vielfach Ausdruck gegeben und dieselbe, soweit es in seinen Kr\u00e4ften stand, auch praktisch beth\u00e4tigt: er hat beispielsweise S\u00fcfsigkeiten u. dergl., die ihm bei den Untersuchungen zuweilen geschenkt wurden, stets f\u00fcr die Kinder mit nach Hause genommen, trotzdem er selbst f\u00fcr solche Dinge keineswegs unempf\u00e4nglich war.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. 97\nEr hat aber auch andere \u2014 in gewissem Sinne complicirtere\n\u2014\tethische Empfindungen bekundet. Er erschien dankbar in hohem Maafse gegen Jeden, der ihm Gutes gethan, insbesondere ihn bei seinen \u201eLern \u201c-Versuchen unterst\u00fctzt hatte, und hatte auch f\u00fcr gewisse conventioneile Ausdrucksweisen der Dankbarkeit Verst\u00e4ndnifs und Empfinden : er versicherte mir wiederholt, dafs er eine Pfeife, die ich ihm vor langer Zeit geschenkt, noch in Ehren halte und bis an sein Lebensende zu gebrauchen hoffe. Er will es f\u00fcr kaum glaublich halten, dafs ein Verk\u00e4ufer so unehrlich sein sollte, seine noch zu besprechende Ungeschicklichkeit im Rechnen zu einem Betrugsversuche zu benutzen meint auf meine diesbez\u00fcgliche Frage, \u201edas wird einer doch nicht thue\u201c, ist aber allerdings vorsichtig genug gewesen, was er gekauft, gelegentlich von Kundigen nachmessen zu lassen und sich so zu \u00fcberzeugen, dafs er nicht doch \u00fcbervortheilt wurde. Sogar der Satz, dafs man nicht Wiedervergeltung \u00fcben solle, scheint ihm \u2014 nicht nur dem Wortlaute nach \u2014 gel\u00e4ufig.\nIm Allgemeinen schien \u00fcbrigens das Verh\u00e4ltnifs so, dafs er des Oefteren die Bezeichnungen f\u00fcr abstracte Begriffe nicht kannte, die ihm inhaltlich gel\u00e4ufig waren, w\u00e4hrend ich mich von dem umgekehrten Verhalten \u2014 Verst\u00e4ndnifs des Wortes bei Unverst\u00e4ndnifs f\u00fcr die eigentliche Bedeutung des Begriffes\n\u2014\tin keinem Falle \u00fcberzeugen konnte.\nDie Pr\u00fcfung war jetzt begreiflicherweise um Vieles leichter als bei der fr\u00fcheren Untersuchung; er wufste meist recht pr\u00e4gnant, oft in einem begriffsverwandten Worte sein Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr die ihm vorgelegten Worte abstracten Inhalts zu documentiren. So erkl\u00e4rte er:\nTugend \u2014 wenn man halt nicht garstig ist,\nLaster \u2014 der, wie h\u00e4fslich ist,\nBarmherzigkeit \u2014 der, wie Gutes thue,\nBescheidenheit \u2014 wenn man nicht zu viel verlange, Trauer \u2022\u2014 wenn einer sterbe,\nTapferkeit \u2014 Soldate.\nEinige Bezeichnungen fehlten ; so Uneigenn\u00fctzigkeit, Keuschheit. Bei Scharfsinn und Stumpfsinn wufste er nur, dafs das -wohl \u201emit dem Kopfe\u201c zu thun habe ; doch kennt er die eigentliche Bedeutung, folglich auch den Unterschied der beiden Begriffe nicht. Fremd war ihm auch \u201eUeberflufs\u201c; er kannte nicht nur das Wort nicht, sondern konnte sich auch selbst mit Nach-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 24.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nKarl Heilbronner.\nh\u00fclfe eine zugeh\u00f6rige Vorstellung nicht bilden. Das Resultat einer l\u00e4ngeren Auseinandersetzung war, dafs er zuletzt bei seiner Meinung beharrte : \u201eaber zu yiel kann einer doch gar nicht habe\u201c.\nNoch mehr als auf dem Gebiete der Abstracta war sein Wortschatz bez\u00fcglich der concreten Begriffe gewachsen: so liefs sich z. B. durch specielle Pr\u00fcfung nachweisen, dafs er von den Verben, die er fr\u00fcher nicht gekannt hatte, alle bis auf sieden und verdunsten jetzt kannte. Unter einer langen Reihe neu gepr\u00fcfter waren ihm noch seufzen, leiten, spriefsen und dingen fremd, w\u00e4hrend ihm der Ausdruck \u201esich verdingen\u201c gel\u00e4ufig war.\nDafs ihm vielfach Bezeichnungen ganz specieller Dinge und Verh\u00e4ltnisse fremd waren, erkl\u00e4rt sich ganz so, wie es fr\u00fcher auch bez\u00fcglich gebr\u00e4uchlicher Objecte zu geschehen hatte, aus seiner Unkenntnifs der betreffenden Dinge und Verh\u00e4ltnisse selbst. Beispielsweise waren ihm die meisten im politischen Leben gebr\u00e4uchlichen Bezeichnungen unbekannt ; zuweilen allerdings bemerkte er auch bei Nennung solcher Worte, dafs er sie zwar geh\u00f6rt, einen Sinn damit aber nicht habe verbinden k\u00f6nnen.\nMit der mehrfach erw\u00e4hnten Eigenth\u00fcmliehkeit des Kranken, dafs seine Bekanntschaft mit Worten und Begriffen sich auf das beschr\u00e4nkte, was er nach seiner relativen Wiederherstellung neu dar\u00fcber erfahren hatte, h\u00e4ngt eine weitere sehr in die Augen fallende Erscheinung zusammen : er kennt eine ganze Reihe von Worten zwar in ihrer einfachsten Bedeutung, dagegen nicht den Sinn, den sie in mancher speciellen Anwendung haben : So kennt er zwar das Wort Kranz, weifs aber nicht, was ein \u201eKranz\u201c beim Kegeln ist, trotzdem er beim Kegelspiel in der Klinik oft zugesehen, sich auch selbst darin versucht hat; er weifs nicht, was ein \u201eStich\u201c beim Kartenspiel bedeutet, nicht was ein Holzstich ist, w\u00e4hrend ihm das Wort Stich sonst gel\u00e4ufig ist; derartige Beobachtungen konnten sehr zahlreich gemacht werden.\nAehnlich verhielt es sich mit der Anwendung von Worten in \u00fcbertragener Bedeutung; dieselbe erschien ihm meist fremd, in Folge dessen war er \u2014 ganz abgesehen von seinem Unverst\u00e4ndnis f\u00fcr die Mehrzahl der darin behandelten Verh\u00e4ltnisse \u2014 schon wegen der Schwierigkeiten des sprachlichen Verst\u00e4ndnisses unf\u00e4hig, den Zeitungstext zu lesen, und mufste sich auf die","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Ajpliasie u. Geisteskrankh. 99\nLekt\u00fcre der ihn interessirenden Annoncen beschr\u00e4nken; ebenso blieb ihm auch der Sinn der gebr\u00e4uchlichen Gebete verschlossen; man k\u00f6nnte die Beobachtungen dahin resumiren, dafs ihm das Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr alle \u201eFeinheiten\u201c der Sprache v\u00f6llig abging.\nMit dieser Erscheinung h\u00e4ngt es weiter zusammen, dafs er Spr\u00fcchw\u00f6rter und \u00e4hnliche gel\u00e4ufige Redensarten nicht verstand. Unter 18 zugeh\u00f6rigen Beispielen war nur eines, womit er einen Sinn zu verbinden wufste: nach der Bedeutung des Spr\u00fcch-wortes: \u201eMorgenstunde hat Gold im Munde\u201c gefragt, erkl\u00e4rt er: \u201ewenn man fleifsig ist\u201c. Dafs ihm das Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr derartige Wendungen fehlte, soweit sie ihm fremde Worte enthielten oder auf ihm fremde Verh\u00e4ltnisse Bezug nahmen, war von vornherein zu erwarten. Er war aber auffallenderweise auch nicht im Stande, die Analogieschl\u00fcsse zu ziehen, die zum Verst\u00e4ndnifs von S\u00e4tzen n\u00f6thig gewesen w\u00e4ren, deren un\u00fcbertragene Bedeutung er ohne Weiteres auffassen konnte. Er erkl\u00e4rt z. B. nach dem Sinne der Redensart \u201evom Regen in die Traufe kommen\u201c gefragt: \u201edas weifse nicht, das ise doch egal nafs\u201c. Es gelingt, wenn auch mit einiger M\u00fche, ihm den Sinn durch Anf\u00fchrung einer Reihe von Beispielen begreiflich zu machen, doch ergiebt sich \u2014 ganz im Gegensatz zu seiner sonst sehr guten Merkf\u00e4higkeit \u2014 bei Nachpr\u00fcfungen wiederholt, dafs er den eigentlichen Sinn wieder vergessen hat, auch wenn ihm der Wortlaut der gegebenen Erkl\u00e4rungen noch ziemlich im Ge-d\u00e4chtnifs geblieben ist. Zum Theil mag daran der Umstand Schuld tragen, dafs der Kranke, stets bestrebt, f\u00fcr seinen Beruf oder sein Verh\u00e4ltnifs zur Umgebung verwerthba,re und n\u00fctzliche Kenntnisse sich anzueignen, derartigen ferner liegenden Dingen weniger Interesse entgegenbrachte; zum anderen Theil aber mag die Erscheinung doch auch mit der auch sonst zu constatirenden und nachher zu w\u00fcrdigenden Unf\u00e4higkeit des Kranken zu Abstractionen Zusammenh\u00e4ngen.\nDie bedeutendsten Fortschritte hatte der Kranke seit der letzten Pr\u00fcfung in der Kenntnifs concreter Gegenst\u00e4nde gemacht; es gelang bei zahlreichen Pr\u00fcfungen nur mehr ganz wenige einfachere Gebrauchsgegenst\u00e4nde zu finden, die ihm nicht gel\u00e4ufig gewesen w\u00e4ren: so wufste er den Zweck eines Abreifsblockes nicht anzugeben, glaubte vielmehr, die Perforirung sei zur Verzierung angebracht; auch ein h\u00f6lzernes Papiermesser erschien ihm sehr merkw\u00fcrdig: er meinte: \u201esehe balde wie\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nKarl Heilbronner.\nMesser, ise aber doch Holz\u201c ; auf die Erkl\u00e4rung, es sei ein Papiermesser, meinte er ungl\u00e4ubig: \u201eSchneide doch nicht, ise wohl blos zum dalieg\u201c, und war sehr \u00fcberrascht, als man ihn sich von der Brauchbarkeit des Instrumentes \u00fcberzeugen liels. Derartige Beobachtungen mufsten schon darauf hinweisen, wo etwa bei dem Kranken noch als \u201easymbolisch\u201c zu bezeichnende Defecte zu erwarten waren. Es war zu untersuchen, wie weit er im Stande war, Gegenst\u00e4nde, die zwar aus bekanntem Material gefertigt waren, die aber in bestimmter Form oder Anordnung ganz bestimmten Zwecken dienten oder besondere symbolische Bedeutung im engeren Sinne besafsen, eben diesem Zwecke resp. der Bedeutung nach kannte. Thats\u00e4chlich ergaben sich bei dieser Untersuchung neben einzelnen guten Leistungen \u2014 er erkennt z. B. ein Stethoskop als einen Gegenstand \u201ef\u00fcr Herrn Doctor zu h\u00f6r\u201c, einen Augenspiegel als etwas, was einiger-maafsen \u00e4hnliche Zwecke haben m\u00fcsse wie eine Brille \u2014 recht grobe Ausf\u00e4lle ; dieselben sind einigermaafsen analog zu setzen den oben (S. 98) bez\u00fcglich des sprachlichen Verst\u00e4ndnisses erw\u00e4hnten. Es fehlt ihm vielfach, auch wo er die \u00e4ufserlicli erkennbaren Eigenschaften der Gegenst\u00e4nde sehr wohl erkennt und anzugeben weifs, die Kenntnifs der ihnen beigelegten con-ventionellen resp. symbolischen Bedeutung ; wo er \u00fcber Derartiges Bescheid weifs \u2014 Namen der Spielkarten, Dambrett, Halma, Zweck einer Postpacketadresse \u2014 vermag er ausnahmslos wieder anzugeben, unter welchen Umst\u00e4nden er zu der Kenntnifs gelangt ist. Ganz fremd ist ihm der Stempel, den die zu oberst hegende Karte jedes Kartenspieles tr\u00e4gt, ebenso aber auch das doch wohl ganz gel\u00e4ufige Bild des in der \u00fcblichen Weise eingewickelten Kartenspieles. Die Bedeutung der Briefmarken kennt er, weifs aber zun\u00e4chst nur von Zehnpfennig-Marken und ist sehr erstaunt, als ihm gezeigt wird, dafs es verschiedenartige und je nach dem Werthe verschieden gef\u00e4rbte Marken giebt. Bezeichnenderweise fehlt dem Kranken, der sonst als guter Beobachter gelten kann, und dies in vielen ihn interessirenden Dingen beweist auch der \u201eBlick\u201c f\u00fcr nur symbolisch Wichtiges, die F\u00e4higkeit, Differenzen, die nur conventionell bedeutsam sind, rasch zu sehen. So erscheint ihm eine Bayrische Zehnpfennig-Marke nicht eher ungew\u00f6hnlich, als bis ihm eine Reichspostmarke zum Vergleich vorgelegt wird ; dann zieht er \u2014 auf Grund von Erfahrungen am Schaufenster einer Briefmarken-","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. 101\nhandlung \u2014 allerdings spontan den richtigen Schlufs : \u201eise vielleicht nicht von hier\u201c. Welche Bedeutung aber dem \u201eAdlerwappen\u201c auf der Reichspostmarke zukommt, welche den \u201ePferdl\u201c, als welche er die L\u00f6wen des Bayrischen Wappens anspricht, weifs er nicht anzugeben. Kartenbrief und Telegrammformulare sind ihm fremd; dagegen kennt er einen Steuerzettel, da er selbst solche aufbewahrt hat. Ganz fremd ist ihm die Bedeutung von Trauerpapier, und er fragt sehr erstaunt nach dem Zweck des schwarzen Randes, w\u00e4hrend er auf Befragen sehr wohl anzugeben weifs, dafs zum Zeichen der Trauer schwarze Kleider und Florbinden getragen werden. Eine ihm vorgelegte Palette kennt er ihrem Zwecke nach nicht, begn\u00fcgt sich zu constatiren, dafs es ein Gegenstand aus Kiefer- oder Erlenholz zu sein scheine.\nDie Symbole im engsten Sinne \u2014 Buchstaben und Ziffern \u2014 hatte er, wie oben erw\u00e4hnt, schon sehr bald wieder beherrschen gelernt; er schreibt jetzt gewandt das grofse und kleine Alphabet, dessen Reihenfolge er NB. ! wieder auswendig gelernt hat, Anschliefsend sei noch bemerkt, dafs er auch \u2014 namentlich durch Mitbetheiligung an den Schularbeiten seiner Tochter \u2014 sich wieder leidliche Kenntnifs der Orthographie angeeignet hat, sodass er in dieser Beziehung hinter dem Durchschnitt wenig gebildeter Personen kaum zur\u00fcckbleibt.\nDagegen hat er eine andere Reihe von Symbolen, die er fr\u00fcher gleichfalls beherrscht hatte, \u2014 er war Mitglied eines Gesangvereins gewesen, in dem nach Noten gesungen wurde, \u2014 die Notenschrift, nicht wieder erlernt: er weifs zwar die Bedeutung der f\u00fcnf parallelen Striche als \u201eLinie zu die Not\u201c, weifs auch, dafs die oben stehenden T\u00f6ne die hohen, die unten stehenden die tiefen sind, kennt aber weder die Bezeichnungen der T\u00f6ne, noch die Bedeutung der in den Noten vorkommenden sonstigen Zeichen (Schl\u00fcssel, Vorzeichnungen u. s. w.).\nAnschliefsend mag erw\u00e4hnt werden, dafs der Kranke das Singen vollst\u00e4ndig verlernt hat (er war nur mit M\u00fche zu einer sehr unvollst\u00e4ndigen Reproduction des ihm vorgespielten c-Dur Dreiklanges zu bewegen), und dafs er von fr\u00fcher her sich keiner einzigen Melodie mehr erinnert, und nur wenige, im Arbeiterverein gesungen, also neuerworbene, kennt.\nDas Lesen gelingt im Ganzen ohne Schwierigkeiten; er hat jetzt gelernt, Diphthonge, Dehnlaute u. s. w. zusammen zu lesen; dagegen fehlt ihm auch hier wieder das Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr con-","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nKarl Heilbronner.\nyentionelle Zusammenstellungen, vor Allem f\u00fcr die allermeisten Abk\u00fcrzungen (NB! der Ausdruck Abk\u00fcrzung ist ihm ebenso fremd, wie es ihm zun\u00e4chst der Begriff zu sein scheint ; nachdem ihm mehrere Beispiele angef\u00fchrt sind, ist er sehr erstaunt, dafs eine derartige Vereinfachung \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist).\nBekannt erscheint ihm von zahlreichen gel\u00e4ufigen Abk\u00fcrzungen, die gepr\u00fcft wurden, nur die Combination \u201eCompA in Gesch\u00e4ftsfirmen; das bedeutet nach seiner Erkl\u00e4rung, \u201edafs zwei das Gesch\u00e4ft haben\u201c, wie er vor Kurzem erfahren hat; doch weifs er bezeichnenderweise \u00fcber die Genese dieses Zusatzes gar nichts, nicht einmal, dafs er sich um die Abk\u00fcrzung eines l\u00e4ngeren Wortes handelt.\nDie Combinationen Breslau i. Schl., Frankfurt a. 0., Gen.-Landschaft, Hauptmann a. D. erscheinen ihm ganz fremd : die Abk\u00fcrzung Kgl. veranlafst ihn nach l\u00e4ngerem Bem\u00fchen zu der resignirten Bemerkung, \u201edas k\u00f6nne man nicht aussprechen\u201c. Begreiflicherweise waren ihm auch Zeichen wie \u00a7 u. \u00e4. fremd.\nDas Lesen von Zahlen gelang, soweit dieselben nicht mehr als drei Stellen hatten; dar\u00fcber hinaus vermochte er nur die Jahreszahl, die ihm als Gesammtbild bekannt war, zu lesen. Es gelingt ohne wesentliche Schwierigkeit ihn auch im Lesen (resp. Schreiben) von vier- und f\u00fcnfstelligen Zahlen zu unterrichten (\u00fcber seine F\u00e4higkeit sich derartige Gr\u00f6fsen vorzustellen, siehe sp\u00e4ter). Dagegen macht es etwas gr\u00f6fsere Schwierigkeiten, ihm begreiflich zu machen, dafs beispielsweise achttausendsieben-hundertundsechsundf\u00fcnfzig gleich siebenundachtzighundertund-sechsundf\u00fcnfzig ist, resp. dafs die Zahl 8756 auf beiderlei Art gelesen werden kann. Es gelingt ihm auch nicht, aus dem Kopfe die Uebertragung von der einen in die andere Modification zu vollziehen, er bleibt vielmehr gen\u00f6thigt, sich die Zahl aufzuschreiben, um sie in der verlangten Weise abzutheilen, und kann sie erst dann aussprechen. Besondere Schwierigkeiten machte ihm wie den Kindern in der Schule im Anfang das Lesen und Schreiben von Zahlen wie 5004, 70025 u. \u00e4. Ueberhaupt scheint ihm die Bedeutung des Decimalsystems nicht recht klar geworden zu sein. Deeimalbr\u00fcche kennt er nicht, hat zwar bei den Untersuchungen gelernt, dafs 0,5 = 3/2, 1,5 = 11/2, steht aber der weiter gestellten Aufgabe 0,7, 1,7 zu lesen, rathlos gegen\u00fcber. So kennt er auch die einfachste Methode der Multiplication mit 10 durch Anh\u00e4ngen einer Null nicht; er rechnet beispielsweise","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. 103\ndie Aufgabe: 10x12 in folgender Weise aus: 10x10 = 100 (eine feste Association) 2 X 10 = 20 also zusammen 120. Mit dem vereinfachten Verfahren bekannt gemacht, das \u00fcbrigens wieder nur gelingt, wenn er sich die Ziffern aufzuschreiben Gelegenheit hat, controllirt er erst noch genau nach seiner Methode nach (10 X 23: 10 X10 = 100, nochmal dasselbe ist 200, dazu 3x10 = 30, also 230) und ist von der Uebereinstimmung der Resultate sehr erfreut, meint: \u201eDa kanne man doch schnell rechne, da mufs ich mal mit die Frieda seh, in die Buch, wie die rechne.\u201c Als parat liegendes Ged\u00e4chtnifsmaterial haftet das Einmaleins bei ihm, wie zahlreiche Proben ergeben haben, abgesehen von dem Product 10 X 10 nur, soweit die Resultate 50 nicht \u00fcbersteigen ; dabei ist noch zu beachten, dafs er beispielsweise das Product 9x4 nicht ohne Weiteres zu finden vermag, sondern erst, nachdem er \u2014 spontan \u2014 die Aufgabe umgedreht hat : 4 X 9 = 36 ist ihm gel\u00e4ufig ; bei Multiplicationen, die h\u00f6here Producte ergeben, mufs er theilen, rechnet z. B. 8x9 = 4x9 -j- 4 X 9. Er geht dabei, wenn ihm auch begreiflicherweise nicht allzuselten Fehler mit unterlaufen, in recht geschickter Weise vor und versteht insbesondere, durch seine gute Merkf\u00e4higkeit unterst\u00fctzt, sehr wohl, im Laufe der Untersuchung gewonnene Resultate sp\u00e4ter wieder nutzbar zu machen. So berechnet er z. B. 9x9, indem er zu dem fr\u00fcher berechneten Producte 9 X 7 = 63 noch 2 X 9 = 18 hinzuz\u00e4hlt. Kleinere zweistellige Zahlen mit einstelligen zu multipliciren, vermag er ; dagegen ist er zur Multiplication zweier zweistelliger Zahlen nicht im Stande. Die Folge davon ist, dafs er, wie oben bereits erw\u00e4hnt, den Inhalt von Brettern und den Preis derselben nicht zu berechnen vermag. Dagegen weifs er die Gr\u00f6fse der gangbaren Bretter sehr wohl auf Grund seiner Erfahrungen zu sch\u00e4tzen, ebenso hat er die ungef\u00e4hren Preise der gangbaren Sorten pr\u00e4sent. Es l\u00e4fst sich mit Sicherheit nachweisen, dafs diese Vorstellungen bei ihm vorwiegend als optische, vom Zahlbegriffe relativ unabh\u00e4ngige Complexe bestehen; Beweis daf\u00fcr, dafs er in praxi, trotzdem er die Zahlenschrift jetzt sehr wohl beherrscht, seine in der fr\u00fcheren Abhandlung geschilderte, primitive und zeitraubende Art der Fixirung vorzieht.\nIn wie hohem Grade z. B. L\u00e4ngenmaafse bei ihm als optische Einheiten fixirt sind, hat am Schlagendsten die folgende Beobachtung ergeben : Er weifs \u2014 innerhalb der Gr\u00f6fse von 1 Meter","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nKarl He\u00eflbronner.\nsehr genau und rasch Zoll in Centimeter und umgekehrt zu \u00fcbertragen, aber nicht, wie urspr\u00fcnglich vermuthet wurde, durch Umrechnung, sondern, wie er mit aller Pr\u00e4cision angab, so, dafs er sich beispielsweise vorstellte, wo der 75. cm auf seinem Maafs-stabe angezeichnet ist und dann direct \u2014 ohne hinzusehen \u2014 sich die an gleicher Stelle auf der R\u00fcckseite stehende, das Zoll-maafs angebende Ziffer, vorstellte.\nDem entsprechend zeigte er auch eine aufserordentliche Sicherheit in der Sch\u00e4tzung von Gr\u00f6fsen, soweit es sich um Maafse handelt, die ihm aus seinem Berufe gel\u00e4ufig sind, wobei allerdings Bedingung war, dafs er die Gegenst\u00e4nde, die er sch\u00e4tzen sollte, direct und gerade vor sich hatte ; die Fehler, die er durch die scheinbare Verk\u00fcrzung bei Betrachtung von der Seite zustande kamen, zu corrigiren, war er aufser Stande, irrte sich beispielsweise ganz erheblich, als er vor die Kante eines Ofens gestellt, die Breite seiner Mauern angeben sollte. (Die Aufgabe gegebene Strecken in drei, vier, f\u00fcnf Theile u. s. w. zu zerlegen, l\u00f6st er sehr prompt und viel besser, als ich selbst es in Controlversuchen vermochte.)\nIm Gegens\u00e4tze zu diesen sehr sicheren absoluten L\u00e4ngenvorstellungen war es jedenfalls von Interesse, dafs absolute GewichtsVorstellungen dem Kranken so gut wie ganz fehlten. Dafs er \u00fcber unser Gewichtssystem nur sehr d\u00fcrftige Vorstellungen hatte, eigentlich nur wufste, dafs man Leim u. \u00e4. nach Pfunden kaufe, nicht wufste, dafs ein Kilo \u2014- 2 Pfund u. s. w., sei nur nebenbei erw\u00e4hnt; er war aber absolut aufser Stande, als ihm eine ganze Reihe von Gegenst\u00e4nden vorgelegt wurde, einen auszuw\u00e4hlen, der ungef\u00e4hr das Gewicht von 1 Pfund h\u00e4tte, dabei h\u00e4tte er oft genug Gelegenheit gehabt, entsprechende Eifahrungen zu sammeln : er kauft seinen Leim pfundweise und veils aufs Genaueste anzugeben, wie grofs eine D\u00fcte mit den verschiedenen Leimsorten aussieht, resp. wie viele Tafeln auf 1 Pfund gehen.\nWie schon fr\u00fcher (cf. die Eingangs erw\u00e4hnte Darstellung) der Zahlbegriff des Kranken im engsten Connex mit seinem Maafsstab sich entwickelt hatte, so konnte auch jetzt constatirt werden, dafs der Begriff der Zahl f\u00fcr ihn nur in unmittelbarer Verbindung mit optischen Vorstellungen lebendig wurde: L\u00e4ngen-maafse sind f\u00fcr ihn feststehende, in seinem Beruf als Tischler oft wiederkehrende Einheiten ; aber auch bei anderen Operationen","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"We 'terer Beitrag z. Kenntni\u00df d. Beziehungen zw. Aphasie u. GeisteskrankJi. 105\nmit Zahlen, sucht er optische Vorstellungen zu H\u00fclfe zu nehmen: um sich beispielsweise, wrie ihm auf getragen war, 50 Menschen vorzustellen, stellt er sich in Gedanken den Raum vor, den 25 Personen, die er j\u00fcngst in seinem Verein versammelt gesehen, eingenommen haben, und stellt sich dann diesen Raum verdoppelt und mit Menschen besetzt vor. Sich 50 Einheiten vorzustellen, scheint er aufser Stande, und tausend Menschen sind ihm nur mehr eine nicht vorstellbare \u201eMasse\u201c. Ebensowenig ist er zun\u00e4chst im Stande, sich eine L\u00e4nge von 1000 cm vorzustellen; dagegen gelingt dies als er darauf aufmerksam gemacht wird, dafs 1000 cm = 10 m.\nAus der ganzen, in dem bisher Mitgetheilten schon ziemlich deutlich charakterisirten Art der Denkth\u00e4tigkeit des Kranken ergab sich endlich noch ein recht eigent\u00fcmliches Verhalten gegen\u00fcber den sonst als \u201ekomisch\u201c zu betrachtenden Eindr\u00fccken. Es erscheint zun\u00e4chst begreiflich, dafs ihm Wortwitze \u00fcberhaupt nicht verst\u00e4ndlich sein konnten. Das Verst\u00e4ndnifs derselben w\u00fcrde ein feineres Sprachverst\u00e4ndnifs voraussetzen, als es ihm zu Gebote stand; er befand sich seiner eigenen Muttersprache gegen\u00fcber in derselben Lage, wTie Jemand, der sich in einer fremden Sprache einigermaafsen verst\u00e4ndlich zu machen gelernt hat, dem aber die Feinheiten dieser Sprache fremd geblieben sind. Es fehlte ihm aber das Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr das Komische vielfach auch da, wo die sprachliche Ungewandtheit als hinderndes Moment nicht in Betracht kommen konnte. Der Begriff des Komischen war ihm nicht fremd (zun\u00e4chst allerdings das Wort, das ihm erst erkl\u00e4rt werden mufs) ; aber er erscheint unf\u00e4hig, wenn ihm beispielsweise ein Witz erz\u00e4hlt wird, dessen einzelne Worte er durchaus verstanden hat, diejenigen Momente herauszufinden, die komisch wirken. Er bleibt an den rein \u00e4ufseren Verh\u00e4ltnissen, meist an den optischen Vorstellungen kleben, die bei ihm dann in grofser Deutlichkeit auftreten. Verst\u00e4ndnifs zeigt er im Wesentlichen nur f\u00fcr die reine Situationskomik, die noch dazu ziemlich plump sein mufs : so erscheint ihm z. B. die Vorstellung, dafs ich im Schlafrock durch die Strafsen der Stadt gehen w\u00fcrde, nicht komisch, er meint vielmehr : \u201eda ise einer doch angezieh\u201c ; erst als das Bild noch durch Tragen eines Cylinders zum Schlafrock vervollst\u00e4ndigt wird, mufs er lachen. Auch die Vorstellung, dafs Jemand Suppe mit der Gabel zu essen versuchte, erscheint ihm komisch, dagegen erweckt ihm","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nKarl Heilbronner.\ndie Vorstellung, dafs Jemand statt des Streusandes Tinte auf einen Brief sch\u00fctte, nur Mitleid mit dem Ungeschickten, der den Brief dann nochmal schreiben m\u00fcsse. Wie unf\u00e4hig er war, das eigentlich komische Moment herauszufinden, welcher Art andererseits die Gedankeng\u00e4nge waren, die ihn daran hinderten, erweist das folgende Beispiel: Ich fragte ihn, ob ihm der Anblick eines Offiziers, der in Uniform auf einer dicken Kuh durch die Stadt ritte, komisch erscheinen w\u00fcrde; er konnte das nicht finden, erging sich aber in eingehenden Betrachtungen dar\u00fcber, ob die Kuh sich \u00fcberhaupt werde aufz\u00e4umen lassen, und ob sie sich eventuell einem derartigen Versuche durch Stofsen oder durch Davonrennen entziehen w\u00fcrde ; die genaue Schilderung einer mit Sattel und Zaumzeug ausger\u00fcsteten Kuh machte ihn dann allerdings lachen, aber das Ende seiner Ueberlegung war doch die Constatirung : \u201eGehe doch, denn die Kuh ziehe auch\u201c. Dabei war es ganz interessant weiter festzustellen, dafs allzu groteske Vorstellungen auch auf ihn nicht mehr komisch wirkten, weil er ihre Realisirung f\u00fcr ausgeschlossen hielt ; so antwortete er auf die Frage, ob ihm der Gedanke, mich in gr\u00fcner Hose und rothem Bocke durch die Stadt gehen zu sehen, komisch erscheine, einfach: \u201eWerde wohl nicht so ausgehe\u201c, und lehnte mit dieser Motivirung das weitere Ausdenken der Situation ab.\nDas Ueberwiegen concreter Vorstellungen, das in diesen Untersuchungen zu Tage trat, liefs sich noch auf einem anderen Wege recht pr\u00e4gnant nachweisen, ohne dafs diese Untersuchungen, die, wie ich ausdr\u00fccklich hervorheben m\u00f6chte, ganz primitiv und kurz angestellt wurden, in dieser Form wesentlich Neues zu Tage gef\u00f6rdert h\u00e4tten.\nIch habe den Kranken wiederholt Reihen von Substantiven und Verbis zum Theil auf schreiben, zum Theil dictiren lassen, ich habe ihn aufserdem an mehreren Abenden \u2014 absichtlich am Schl\u00fcsse mehrst\u00fcndiger Untersuchungen \u2014 Associationsversuche derart ausf\u00fchren lassen, dafs er auf ein gegebenes Reizwort zu associiren hatte.\nDer Kranke zeigte volles Verst\u00e4ndnifs und bereitwilliges Interesse f\u00fcr derlei Aufgaben; doch bot ihm die L\u00f6sung ver-h\u00e4ltnifsm\u00e4fsig grofse Schwierigkeiten, wie sich ohne feinere Messungen aus der unverh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig langen Zeit ergab, die die L\u00f6sung der Aufgaben erforderte : so hatte er in 30 Minuten,","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs cl. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. 107\nsich selbst \u00fcberlassen, nur 125 Substantiva zn Papier gebracht1 * 3, trotzdem der Schreibact selbst keine Verz\u00f6gerung verursachte: man sah ihn h\u00e4ufig nachdenklich pausiren. Besondere Schwierigkeiten bereitete ihm die Aufgabe auf Worte abstracten Inhaltes zu associiren; er fand die L\u00f6sung zumeist erst nach l\u00e4ngerem, angestrengtem Nachdenken, bis er auf einen recht merkw\u00fcrdigen Ausweg gerieth : er associirte auf alle genannten Abstracta das Wort Mensch. Im Uebrigen konnte es nicht \u00fcberraschen, dafs seine Art der Ideenverbindung wesentlich durch concrete, meist optische Beziehungen bestimmt war. Besonders deutlich war das bei den fortlaufenden Associationen von Substantiven, wobei er insbesondere mit Vorliebe einfache Gesichtseindr\u00fccke, wie sie nach \u00f6rtlicher Zusammengeh\u00f6rigkeit im Ged\u00e4chtnifs deponirt waren, (die Pl\u00e4tze und H\u00e4user, die er bei einem Gang durch die Stadt zu passiren hat u. \u00e4.) aufz\u00e4hlte ; auch dafs die Bezeichnung resp. die Th\u00e4tigkeit der verschiedenen Handwerker in zwTei Reihen (einer Substantiv-, einer Verbalreihe) erschien, ist wohl nicht Zufall.\nDagegen fehlten Synonyma so gut wie vollst\u00e4ndig, ebenso auch Klangassociationen; weiter fehlten fast ganz diejenigen Associationen, die nach Aschaffenburg als \u201esprachliche Re-miniscenzen\u201c zu bezeichnen w\u00e4ren; es fanden sich nur ganz vereinzelte, wie Blei-Stift, Land-Mann ; es war geradezu auffallend , wie der Kranke derartige Associationen, die sich geradezu aufdr\u00e4ngen zu m\u00fcssen schienen, nicht fand, daf\u00fcr \u2014 oft nach angestrengtem Nachdenken \u2014 auf ganz fernliegende kam; dabei ist nat\u00fcrlich bei ihm ganz ausgeschlossen, dafs er diese rein sprachlichen Associationen etwa \u201eunterdr\u00fcckt\u201c h\u00e4tte, um \u201ewerthvollere\u201c an ihre Stelle zu setzen.\nEs bleibt endlich noch ein Defect zu erw\u00e4hnen, dessen Besprechung ich bis zum Schl\u00fcsse verschoben habe, weil im Vorgehenden sich allm\u00e4hlich ein gewisses Material zur Kennzeichnung des jetzt zu besprechenden Zustandes angesammelt\n1 In Aschaffenburg\u2019s Associationsversuchen, bei denen allerdings nur\ngebildete Personen untersucht wurden, betrug die l\u00e4ngste Zeitdauer f\u00fcr\n100 Associationen etwas \u00fcber 9 Minuten (Aschaffenburg, Experimentelle Untersuchungen \u00fcber Associationen, S. 56; 1895). Ich f\u00fchre diese Zahl zur Erm\u00f6glichung eines Vergleiches an, bemerke aber ausdr\u00fccklich, dafs die sp\u00e4rlichen Versuche, die ich gemacht, f\u00fcr weitergehende Schl\u00fcsse nicht gen\u00fcgendes Material ergeben haben.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"103\nKarl Reilbronner.\nhat: Der Kranke spricht, trotzdem ihm ja, wie oben gezeigt, die n\u00f6thigen Vocabeln in ausreichendem Maafse zur Verf\u00fcgung stehen, noch in h\u00f6chstem Maafse ungewandt ; er handhabt die deutsche Sprache, seine Muttersprache, noch ganz nach Art eines Ausl\u00e4nders, der zwar eine ausreichende Zahl von Worten kennt, auch eine gewisse Zahl feststehender Phrasen beherrscht, der aber weder die Regeln der Grammatik noch die der Syntax innehat. So versieht er zahlreiche Worte mit falschem Artikel; er conjugirt oft falsch, wenn er auch nicht mehr wie fr\u00fcher alle Verbe \u201eschwach\u201c conjugirt; er weifs \u00fcber die Endsilben nicht Bescheid, l\u00e4fst sie oft weg, um dann an falschen Stellen welche anzuh\u00e4ngen; er hat endlich auch jetzt noch nicht gelernt, die Worte in der gel\u00e4ufigen Folge im Satze zu ordnen. Beispiele hier nochmal anzuf\u00fchren er\u00fcbrigt sich mit R\u00fccksicht auf die oben bereits eingestreuten. Diese Erscheinung verdient jedenfalls ganz besonderes Interesse : zweifellos h\u00e4tte der Kranke auch ohne besondere Anstrengung Gelegenheit gehabt, richtig sprechen zu lernen, mindestens in gleichem Maafse, wie er Gelegenheit zur Erwerbung einer Reihe von viel weniger verbreiteten Kenntnissen hatte; er hat sich aber aufserdem in dieser Richtung besondere M\u00fche gegeben: er hat sich insbesondere, wie bereits erw\u00e4hnt, an den Schularbeiten seiner Tochter betheiligt, in der Absicht, die ihm wohl bekannten Defecte auszugleichen. Wenn trotzdem seine sprachlichen F\u00e4higkeiten hinter anderen in so erheblichem Maafse zur\u00fcckgeblieben sind, so mufs daraus nothwendig auf das Bestehen eines besonderen Defectes geschlossen werden.\nIn welcher Weise sich ein derartiger umschriebener Defect im Rahmen des \u00fcbrigen Bildes etwa erkl\u00e4ren liefse, habe ich bereits in der mehrfach citirten fr\u00fcheren Abhandlung im An-schlufs an die von Werkicke gerade an der Hand dieses Falles aufgestellten und seitdem weiter entwickelten Anschauungen auseinandergesetzt. Ich kann diesen Darlegungen jetzt Neues nicht hinzuf\u00fcgen.\nDagegen hat das Zustandsbild eine Reihe Ver\u00e4nderungen erfahren, die zwar, wie mir scheint, nichts principiell Neues darstellen, aber doch Manches, was fr\u00fcher gerade wegen der gr\u00f6fseren Beschr\u00e4nktheit des sprachlichen DarstellungsVerm\u00f6gens nur andeutungsweise zu erkennen war, pr\u00e4gnanter zu Tage treten lassen.","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs cl. Beziehungen ziv. Aphasie u. Geisteskranke 109\nZun\u00e4chst kann die Frage, ob der Kranke als Paralytiker aufzufassen ist, mit noch gr\u00f6fserer Bestimmtheit als fr\u00fcher verneint und jetzt wohl als definitiv erledigt betrachtet werden.\nWeiterhin aber hat die Nachuntersuchung wohl eine Auffassung best\u00e4tigt, die bereits fr\u00fcher ge\u00e4ufsert wurde, dafs man n\u00e4mlich den Kranken als dement, jedenfalls als dement im gew\u00f6hnlichen Sinne des Wortes nicht zu bezeichnen berechtigt ist.\nIn diesem Sinne kann zun\u00e4chst eine auch fr\u00fcher gemachte Beobachtung verwerthet werden, dafs der Kranke \u00fcber eine Merkf\u00e4higkeit verf\u00fcgt, die ganz besonders mit R\u00fccksicht auf sein Alter als eine ungew\u00f6hnlich gute zu bezeichnen sein d\u00fcrfte. Immerhin w\u00e4re hier aber auf ein Symptom hinzuweisen, das auf den engen Zusammenhang der Merkf\u00e4higkeit1 mit den \u00fcbrigen Erscheinungen des geistigen Geschehens Licht zu werfen geeignet ist; auch die Merkf\u00e4higkeit ist nicht f\u00fcr alle Gebiete gleich gut: ich habe bei der Schilderung des Zustandes darauf hinweisen m\u00fcssen, dafs der Kranke sich die Erkl\u00e4rung der Spr\u00fcchw\u00f6rter, die ihm gelegentlich gegeben war, auffallend schlecht gemerkt hat; es mufste ferner Wunder nehmen, dafs er beispielsweise sich das Gewicht eines Pfundes nicht gemerkt hatte, trotzdem er dazu reichlich Gelegenheit gehabt h\u00e4tte, und die mangelnde sprachliche Gewandtheit, die Unf\u00e4higkeit, sich correct, wie er es von seiner Umgebung h\u00f6rt, auszudr\u00fccken, d\u00fcrfte in letzter Linie ja gleichfalls auf eine analoge Erscheinung zur\u00fcckzuf\u00fchren sein : er ist unf\u00e4hig, die complicirteren Klangbilder sich zu merken, auf Grund deren er fliefsend zu sprechen verm\u00f6chte. Ich habe \u00e4hnliche Beobachtungen an Aphasischen auch sonst gemacht und erinnere mich z. B. speciell einer Kranken, die bei im Uebrigen leidlich guter Merkf\u00e4higkeit zwar tadellos nachsprach, wenn sie unmittelbar, nachdem das\n1 Ich weifs wohl, dafs in der hier besprochenen Function sich nicht die \u201ereine Merkf\u00e4higkeit\u201c documentirt ; es erscheint mir aber nicht ganz sicher, ob sich \u00fcberhaupt eine Methode finden lassen wird, diese reine Merkf\u00e4higkeit, die von jeder associativen Mitarbeit unabh\u00e4ngige F\u00e4higkeit zum Festhalten dargebotener Eindr\u00fccke zu bestimmen; ob nicht z. B. schon bei der Einpr\u00e4gung sinnloser Silben irgendwelche associative Mitarbeit wenigstens geleistet werden kann; auf alle F\u00e4lle spielen \u00fcberall da, wo die Merkf\u00e4higkeit als klinischer Begriff gepr\u00fcft und festgestellt wird, derartige Associationen eine ganz erhebliche Rolle (cf. auch Rieger, Beschreibung der Intelligenzst\u00f6rung etc., Verhandlungen d. phys. med. Ges. zu W\u00fcrzburg 22, 15).","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"no\nKarl Heilbronner.\nVorsprechen erfolgt war, dazu veranlafst wurde, die aber versagte, wenn man auch nur eine ganz kurze Pause zwischen Vor- und Nachsprechen hatte verstreichen lassen. Offenbar besteht also zwischen der Merkf\u00e4higkeit und den \u00fcbrigen psychischen Functionen ein inniger Connex, derart, dafs circumscripte L\u00e4sionen, gleichviel welcher Art, auch eine Reduction der Merkf\u00e4higkeit auf bestimmten Gebieten bedingen, und es ist jedenfalls von Interesse, dafs Differenzen in der Merkf\u00e4higkeit auf verschiedenen Gebieten nicht nur als individuelle Variationen Vorkommen, sondern auch durch pathologische Processe, und dann in viel pr\u00e4gnanterer Form, geschaffen werden k\u00f6nnen. Ich werde weiterhin darauf zur\u00fcckzukommen haben, dafs wohl auch die Reduction der Merkf\u00e4higkeit f\u00fcr Abstracte mit der besonderen Art der sonst vorhandenen Defecte in engeren Zusammenhang zu bringen ist.\nWas bei den Kranken weiterhin gegen die Demenz spricht, ist die gute Aufmerksamkeit, die er sowohl den Eindr\u00fccken der Aufsenwelt im Allgemeinen, als auch ganz besonders den Fragen u. s. w. bei der Untersuchung entgegenbringt. Ich habe darauf bereits fr\u00fcher hingewiesen.\nIch m\u00f6chte hier aber noch auf eine weitere Erscheinung hinweisen, die mir zur Charakterisirung des geistigen Zustandes des Kranken namentlich gegen\u00fcber dem Verhalten von Dementen wichtig erscheint: auf die Sicherheit, mit der er \u00fcber den vorhandenen geistigen Besitzstand verf\u00fcgt. Was der Kranke \u00fcberhaupt weifs, ist ihm auch in jedem xVigenblick gegenw\u00e4rtig; daher die Uebereinstimmung in den Resultaten der verschiedenen Untersuchungen. W\u00fcrden nicht \u00e4ufsere Schwierigkeiten das unm\u00f6glich machen, der Zustand des Kranken w\u00fcrde es ohne Weiteres erlauben, ein \u201eInventar seines Wissens\u201c aufzustellen.\nGerade dieses sichere Verf\u00fcgen \u00fcber den geistigen Besitz bewirkt es zum grofsen Theil, dafs der Kranke bei seinem \u2014 trotz reichlichen Wiedererwerbes \u2014 noch immer recht engbegrenzten Horizont nicht ann\u00e4hernd so schwer gesch\u00e4digt erscheint, wie viele Kranke deren geistiges \u201eInventar\u201c jedenfalls erheblich gr\u00f6fser, aber nicht in gleichem Maafse jederzeit disponibel erscheint. Ich erinnere hier nur an gewisse Formen des erworbenen Bl\u00f6dsinns (Hebephrenie), bei denen die Kranken gelegentlich und zuf\u00e4llig aufserordentlich mannigfache Kenntnisse \u201eauskramen\u201c, bei denen aber jeder Versuch geordneter","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskranke m\nPr\u00fcfung den Eindruck einer totalen geistigen Leere hervorruft, weil die Kranken unf\u00e4hig sind, das latent Deponirte auch jederzeit zu reproduciren.\nEs ist schwer, f\u00fcr die hier in Betracht kommenden Facta einen bezeichnenden und ersch\u00f6pfenden Ausdruck zu finden, noch viel schwerer, sich auch nur ann\u00e4hernd eine Erkl\u00e4rung der Verh\u00e4ltnisse auf Grund unserer hirnphysiologischen Kenntnisse und Vorstellungen zu bilden; ich m\u00f6chte nur kurz auf das Eine hinweisen, dafs mir die nahe liegende Deutung, es handle sich in den verschiedenen F\u00e4llen um eine verschieden intensive Sch\u00e4digung einer gleichviel wie bezeichneten, \u00fcbergeordneten cerebralen Function die Thatsachen nur zu umschreiben, nicht zu erkl\u00e4ren geeignet scheint. Viel befriedigender erscheint mir die Annahme, dafs die Differenzen durch eine in den verschiedenen F\u00e4llen verschiedene Anspruchsf\u00e4higkeit der die Vorstellungen tragenden und ihre Verbindung vermittelnden nerv\u00f6sen Elementartheile bedingt seien, Differenzen, f\u00fcr die wir bei weiteren Fortschritten der pathologischen Anatomie noch einmal einen anatomischen Ausdruck zu finden hoffen k\u00f6nnen, und zu deren genauerer Pr\u00e4cisirung uns vielleicht der Ausbau der psycho-physischen Methodik die Mittel an die Hand geben wird.\nMit der erw\u00e4hnten Erscheinung h\u00e4ngen einige weitere, den Gesammtzustand charakterisirende offenbar enge \u2014 auch genetisch \u2014 zusammen : zun\u00e4chst die Sicherheit, mit der der Kranke selbst \u00fcbersieht, wie weit sein Wissen reicht, und die ihn, wo er thats\u00e4chlich richtig zu antworten nicht vermag, die Antwort ablehnen, resp. sein Nichtwissen documentiren l\u00e4fst. Auch in dieser Beziehung steht der Kranke im directen Gegensatz zu den oben erw\u00e4hnten Kranken, die wahllos auf beliebige Fragen mit beliebigen, unpassenden Antworten zu reagiren pflegen.\nAls eine weitere Folgeerscheinung des ersterw\u00e4hnten Sympt\u00f4mes kann auch die Freude am Neuerwerb aufgefafst werden, die im. Uebrigen durchaus verschieden ist von der planlosen Neugierde und Fragesucht mancher Schwachsinniger und \u2014 ganz analog \u2014 der Kinder: im Gegensatz zu diesen unterscheidet der Kranke recht wrnhl, wo f\u00fcr ihn Brauchbares zu erfragen ist, und er unterl\u00e4fst es \u2014 wie er ja spontan angiebt \u2014 zu fragen, wo er diese Hoffnung nicht hegen kann.","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nKarl He\u00fcbronner.\nEr ist weiter, wieder im Gegens\u00e4tze zum Schwachsinnigen ebenso wie znm Kinde, sehr geschickt in der Einrubricirung seines Neuerwerbes in den vorhandenen Besitzstand, und es mufste bei den fr\u00fcheren Untersuchungen ebenso wie bei den letzten oft \u00fcberraschen, wie gewandt er Ankn\u00fcpfungen zwischen neu Geh\u00f6rtem und Gesehenem einer- altem Besitz andererseits zu bilden wufste.\nAuffallend mufste dabei allerdings eines erscheinen: diese Gewandtheit in der Verwerthung und Einreihung des Neuerwerbes beschr\u00e4nkte sich auf einfache, vorwiegend grob sinnliche Vorstellungen; auch w7o er mit Abstracten zu arbeiten schien, hielt er sich mit Vorliebe an sinnlich wahrnehmbare Exempel, wie namentlich seine Definitionen beweisen. Wo ein derartiger Anhaltspunkt nicht zu gewinnen war, versagte er; es ist sicher kein Zufall, dafs er zu einfachen logischen Folgerungen nicht f\u00e4hig war, dafs er nicht im Stande war, auf dem Wege des Analogieschlusses sich die Bedeutung der ihm gesagten Sprichw\u00f6rter klar zu machen, und es scheint mir in die gleiche Kategorie von Erscheinungen zu geh\u00f6ren, dafs er zum Verst\u00e4ndnis der meisten Witze nicht gelangen konnte, weil sich sein Interesse stets sofort der Ausmalung der sinnlicher Wahrnehmung zug\u00e4nglichen Situation zuwandte.\nIch glaube, dafs man derartige Erscheinungen nicht vollst\u00e4ndig gerecht w\u00fcrdigt, wenn man sie einfach \u2014 was ja nahe genug liegt \u2014 als Folgeerscheinungen einer Demenz auffafst, die solche ,,complicirtereu Leistungen nicht mehr zu Stande kommen l\u00e4fst: thats\u00e4chlich leistet der Kranke auf anderen Gebieten \u2014 ich erinnere an seine Auseinandersetzungen \u00fcber die Vortheile der Lohnarbeit gegen\u00fcber der selbst\u00e4ndigen \u2014 noch so viel, dafs man eine allgemeine Intelligenzsclrw\u00e4che, die den Kranken zu verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig so einfachen Schl\u00fcssen unf\u00e4hig machen sollte, kaum annehmen kann.\nEs ist hier nicht der Ort, und ich w\u00fcrde mich dazu auch nicht f\u00fcr competent erachten, zu untersuchen, wie sich so complicirt erscheinende Acte wie das logische Schliefsen vom Standpunkte der hier vertretenen Associationspsychologie aus erkl\u00e4ren lassen : nur auf eines m\u00f6chte ich hinweisen, dafs n\u00e4mlich \u2014 beim Ungebildeten vielleicht noch viel mehr als beim Gebildeten \u2014 der sprachlichen Componente, gel\u00e4ufigen Sprach-gewohnheiten, in denen sich lange ge\u00fcbte Denkgewohnheiten","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. H\u00df\nausdr\u00fccken und von einem Individuum zum anderen \u00fcbertragen werden, in solchen Schl\u00fcssen eine erhebliche Bedeutung zukommt. Man kann sich wieder bei verbl\u00f6deten Personen, die zu viel einfacheren Ueberlegungen, als sie der Kranke noch machte, schon unf\u00e4hig sind, \u00fcberzeugen, dafs manche nach gel\u00e4ufigem \u201eSchema\u201c abzuleitende Schl\u00fcsse noch relativ gut gelingen. Wenn der Kranke dazu unf\u00e4hig war, so scheint mir die Erkl\u00e4rung nicht allzu gezwungen, dafs daran die immer noch im Vordergr\u00fcnde stehende Sch\u00e4digung seiner sprachlichen F\u00e4higkeiten recht wesentlich mit Schuld trug: es fehlte ihm das gel\u00e4ufige sprachliche Schema, in das er die gegebenen Materialien f\u00fcr die zu ziehenden Schl\u00fcsse h\u00e4tte eintragen k\u00f6nnen.\nHand in Hand damit geht nun meines Erachtens die oben bereits erw\u00e4hnte Reduction der Merkf\u00e4higkeit f\u00fcr Definitionen und Vorstellungen abstracten Inhaltes: dafs derartige Vorstellungen nur als Worte \u2014 oft sogar als unverstandene Worte -\u2014 aufgefafst und festgehalten wurden, ist nicht nur aus den Erfahrungen des Psychologen und Psychiaters bekannt, und es kann nicht Wunder nehmen, dafs der Kranke bei seiner reducir-ten sprachlichen Leistungsf\u00e4higkeit und seiner verminderten Merkf\u00e4higkeit auf sprachlichem Gebiete zu derartigem Auffassen und Festhalten weniger f\u00e4hig war, und nur dasjenige behalten konnte, wof\u00fcr es ihm gelang, concrete, sinnlich vorstellbare Beispiele zu finden.\nIn welcher Weise er dies zu erreichen versuchte, ist aus der Zustandsschilderung zu ersehen; typisch ist ganz besonders die Art und Weise, wie er unter Umst\u00e4nden ganz complicirte Wege einschlug, um sich f\u00fcr die ihm an sich wenig gel\u00e4ufigen Zahlen vorstellbare Correlate zu schaffen.\nIch m\u00f6chte an dieser Stelle auf Eines noch speciell hin-weisen : auf das Vorwiegen der optischen Componente unter den sinnlichen Vorstellungen ; es mag sein, dafs der Kranke a priori zu den speciell \u201eoptisch veranlagten\u201c Menschen geh\u00f6rt hat; es w\u00e4re m\u00f6glich, dafs diese Pr\u00e4ponderanz der optischen Vorstellungen auf einer durch den Beruf als Tischler bedingten Gew\u00f6hnung beruht; es erscheint mir aber auch die Annahme nicht von der Hand zu weisen, dafs die Eigenth\u00fcmlichkeit erworben ist.\nDas Zustandekommen dieser Eigenth\u00fcmlichkeit gerade bei unserem Kranken liefse sich unschwer erkl\u00e4ren; man kann es\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 24.\t8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nKarl Heilbronner.\nwohl anatomisch und physiologisch direct mit dem Zur\u00fccktreten der sprachlichen Componente in Beziehung bringen.\nF\u00fcr diese letztere haben ja selbst die d\u00fcrftigen Associationsversuche noch einen weiteren Beleg erbracht: trotz einer Versuchsanordnung, die das Zustandekommen rein sprachlicher Associationen zu f\u00f6rdern geeignet erscheinen mufste 1 \u2014 Untersuchungen am sp\u00e4ten Abend, nach vorausgegangener mehrst\u00fcndiger Untersuchung \u2014 fehlten die \u201esprachlichen Beziehungen\u201c fast vollst\u00e4ndig. Ich will hier nicht darauf eingehen, welche Schl\u00fcsse aus derartigen Beobachtungen auf die \u201eWerthigkeit\u201c der Associationen gezogen werden k\u00f6nnten, sondern nur die Thatsache registrirt haben, dafs in Folge eines \u2014 auch auf anderem Wege nachweisbaren \u2014 Ausfalles der gel\u00e4ufige Associationsmodus sich \u00e4ndert, sodafs unter Umgehung der \u2014 nicht nur im \u00fcbertragenen Sinne \u2014 n\u00e4chstliegenden Glieder gewisser-maafsen auf Umwegen die Reaction erfolgt.\nAuf eine Reihe weiterer Eigenth\u00fcmlichkeiten des Krankheitsverlaufes und des Zustandsbildes mufs ich mir versagen, hier einzugehen. Ich m\u00f6chte hier nur recapituliren, was sich mir als Wichtigstes ergeben zu haben scheint : Die genaue Beobachtung und Untersuchung eines Kranken, den oberfl\u00e4chliche Betrachtung einfach als verbl\u00f6det h\u00e4tte erscheinen lassen m\u00fcssen, hat ergeben, dafs sein Zustand wesentlich charakterisirt wird durch eine Reihe ganz circumskripter und constanter Defecte; es hat sich weiter ergeben, dafs der Kranke mit dem ihm verbliebenen Reste sehr wohl noch zu operiren und denselben zu benutzen im Stande ist, dafs auch diejenigen Erscheinungen, die auf eine Sch\u00e4digung der h\u00f6heren intellectuelle!! Functionen zu deuten scheinen, sich zu den nachgewiesenen circumscripten Defecten in Beziehung bringen lassen.\nDie Verfolgung des Gesammtverlaufs hat aber weiter ergeben, dafs \u2014 abgesehen von den schweren Erscheinungen im Beginne resp. w\u00e4hrend der Exacerbationen der Erkrankung \u2014 stets Ausfallserscheinungen auf sprachlichem Gebiete im Vordergr\u00fcnde des Bildes gestanden haben. Man wird die Vorstellung nicht zur\u00fcckweisen k\u00f6nnen, dafs die pathologischen Processe, die die Psychose hervorgerufen, am intensivsten die Hirngebiete, weiche als Spracheentra im engeren Sinne dienen, betroffen haben, und\n1 Cf. Aschaffenburg, Exp. Studien \u00fcber Associationen, II. Theil, S. 49.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Weiterer Beitrag z. Kenntnifs d. Beziehungen zw. Aphasie u. Geisteskrankh. H5\ndafs sie hier zuletzt zu irreparablen Ver\u00e4nderungen gef\u00fchrt haben, die die noch jetzt bestehenden schwereren Erscheinungen auf diesem Gebiete zu erkl\u00e4ren geeignet sind. Dafs solch schwere Ver\u00e4nderungen durch Erkrankungen wie die hier vorliegende gesetzt werden k\u00f6nnen, beweist die von Alzheimer 1 gemachte Beobachtung von pathologischer Gliawucherung in der Inselrinde eines Katatonikers, der an jahrelangem Mutacis-mus gelitten hatte.\nIch bin weit davon entfernt, etwa anzunehmen, dafs irgend eines auch der einfachsten bekannten klinischen Bilder von Geistesst\u00f6rung durch eine circumscripte anatomische L\u00e4sion bedingt und erkl\u00e4rt werden k\u00f6nne, wohl aber halte ich es nicht nur f\u00fcr denkbar, sondern auch f\u00fcr wahrscheinlich, dafs die gesetzte L\u00e4sion sich in verschiedenen Partien in ungleichm\u00e4fsiger Weise zur\u00fcckbildet und dafs beim Zur\u00fcckbleiben einer diffusen irreparablen Sch\u00e4digung das Bild einer Demenz, bei der Beschr\u00e4nkung der restirenden anatomischen Sch\u00e4digung dagegen das Bild eines mehr weniger umgrenzten Anfalls analog dem hier constatirten entstehen w\u00fcrde. Was derartige F\u00e4lle, von denen eigentlicher Demenz schiede, w\u00e4re dann, wie es auch hier nachgewiesen werden konnte, neben der Umschriebenheit des Ausfalls die Thatsache, dafs der intact gebliebene Best als solcher normal functionirt.2 Vielleicht geben Beobachtungen, wie die hier vorliegende, Anlafs auch in anderen F\u00e4llen, wo die Erscheinungen nicht so offenkundig zu Tage liegen, auf analoge Verh\u00e4ltnisse zu achten; es erg\u00e4be sich daraus einmal wenigstens ein Gesichtspunkt f\u00fcr die Scheidung der verschiedenen residu-\u00e4ren psychischen Defectzust\u00e4nde, auf der anderen Seite aber auch vielleicht ein Anhaltspunkt daf\u00fcr, wo einmal die anatomische LTntersuchung im Einzelfalle mit der gr\u00f6fsten Aussicht auf Erfolg einzusetzen h\u00e4tte.\n1\tMonatsschrift f. Psychiatrie und Neurologie 2, 90.\n2\tUm nahe liegenden Mifsdeutungen von vornherein zu begegnen, m\u00f6chte ich hier ausdr\u00fccklich betonen, dafs sich diese Ueberlegungen nur auf die \u201eabgelaufenen F\u00e4lle\u201c und die nach dem Ablauf der eigentlichen Psychosen zur\u00fcckbleibenden station\u00e4ren Zust\u00e4nde beziehen, und dafs praktisch \u2014 insbesondere in forensen Fragen \u2014 der circumscripte Defect gleich schwer, unter Umst\u00e4nden auch schwerer ins Gewicht fallen kann, wTie ein allgemeiner geistiger Schw\u00e4chezustand.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nKarl Heilbronner.\nLiteratur \u00fcber den Fall Op.\nWernicke. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie 48. Bericht \u00fcber die 51. Vers. des Vereins Ostd. Irren\u00e4rzte.\n\u2014\tVerhandlungen des IX. Congresses f\u00fcr innere Medicin 273 und\n\u2014\tDeutsche medicinische Wochenschrift 445. 1890.\n\u25a0\u2014 Deutsche medicinische Wochenschrift (11). 1895.\nHeilbronner. Aphasie und Geisteskrankheit. Psychiatr. Abhandlungen, hrsg. von Wernicke, (1).\n\u2014\tAllgem. Zeitschr. f. Psychiatrie 55. Bericht \u00fcber die 74. Versammlung\ndes Vereins Ostd. Irren\u00e4rzte.\n(.Eingegangen am 7. Juni 1900.)","page":116}],"identifier":"lit31407","issued":"1900","language":"de","pages":"83-116","startpages":"83","title":"Weiterer Beitrag zur Kenntni\u00df der Beziehungen zwischen Aphasie und Geisteskrankheit","type":"Journal Article","volume":"24"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:28:50.810945+00:00"}