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{"created":"2022-01-31T14:50:56.039491+00:00","id":"lit31408","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Cornelius, H.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24: 117-141","fulltext":[{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\nVon\nH. Cornelius.\nEine Reihe theils m\u00fcndlicher, theils brieflicher Discussionen, die sich auf meinen Artikel \u201e\u00fcber Gestaltqualit\u00e4ten\u201c1 bezogen und denen sich zuletzt noch eine Polemik von Lipps2 in dieser Zeitschrift angeschlossen hat, veranlassen mich auf die Voraus* Setzungen meiner damaligen Er\u00f6rterungen nochmals zur\u00fcckzukommen.\nMeine Absicht in jenem Aufsatze war gewesen, den Begriff der Gestaltqualit\u00e4ten als nothwendige Consequenz derjenigen Abstractionstheorie aufzuzeigen, welche ich in meiner Psychologie entwickelt habe. Die oben erw\u00e4hnten Discussionen betrafen ins-gesammt zun\u00e4chst nicht jene Ableitung des Begriffs der Gestaltqualit\u00e4ten, sondern die zu Grunde liegende Abstractionstheorie. Mit dieser besch\u00e4ftigt sich daher die folgende Darlegung. Sie formulirt zun\u00e4chst als das Grundproblem der Abstractionstheorie die Frage nach dem Ursprung unserer Begriffe von Merkmalen eines Bewufstseinsinhaltes. Alsdann sucht sie die von verschiedenen Seiten gegen meine bisherige Darstellung der Abstractionstheorie erhobenen Einw\u00e4nde zur\u00fcckzuweisen, indem sie ausf\u00fchrlicher, als es bisher geschehen war, die Betrachtungen durchf\u00fchrt, welche zur Beantwortung jener Frage f\u00fchren.\nIch beschr\u00e4nke mich hier wie in jenem vorigen Auf satze auf die Betrachtung der Abstraction im Gebiete der sinnlichen Empfindungsinhalte. Wie sich die f\u00fcr dieses Gebiet gewonnenen Ergebnisse auf andere Gebiete \u00fcbertragen lassen, ist eine weitere\n1\tDiese Zeitschrift 22, 101 ff.\n2\tDaselbst 383 ff.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nH. Cornelius.\nFrage, die ich im vorliegenden Zusammenhang nicht er\u00f6rtere, f\u00fcr deren Beantwortung ich vielmehr auf die entsprechenden Ausf\u00fchrungen in meiner Psychologie verweisen mufs.\n1. Das Problem der distinctio rationis.\na) Wir unterscheiden an den einheitlichen Inhalten unserer sinnlichen Wahrnehmungen verschiedenerlei \u201eQualit\u00e4ten\u201c, \u201eModifikationen\u201c oder \u201eMerkmale\u201c, ohne dafs wir doch jemals diese unterschiedenen Merkmale thats\u00e4chlich von einander get rennt wahrnehmen. Wir unterscheiden etwa an einer gesehenen Figur Form und Farbe, an einem geh\u00f6rten Tone H\u00f6he, St\u00e4rke und Klangfarbe, ohne dafs wir doch jemals eine Figur ohne Farbe, einen Ton ohne H\u00f6he wahrgenommen h\u00e4tten. Wir k\u00f6nnen eines jener Merkmale \u201ebeachten\u201c und das andere oder die anderen \u201eunbeachtet lassen\u201c. Aber wir sind darum doch alle \u00fcberzeugt, dafs das nicht beachtete Merkmal nichts desto weniger jedesmal vorhanden gewesen sei.\nDieselbe \u00fceberzeugung gewinnen wir nicht blos hinsichtlich unserer Empfindungen, sondern auch hinsichtlich der entsprechenden Ged\u00e4chtnifs- (Phantasie-) Vorstellungen. Wir k\u00f6nnen uns einen Ton vorstellen und dabei etwa nur auf seine Klangfarbe achten, nur \u201ean seine Klangfarbe denken\u201c. Wir sprechen in solchen F\u00e4llen wohl davon, dafs wir uns nur das betreffende Merkmal vor stellen, die \u201eabstracte Vorstellung\u201c dieses Merkmals bilden. Aber auch hier l\u00e4fst uns nachtr\u00e4gliche Ueber-legung stets erkennen, dafs wir den Ton zugleich in einer gewissen H\u00f6he und Intensit\u00e4t vorgestellt haben, die wir nur im betreffenden Augenblick \u201enicht beachtet\u201c, von denen wir \u201eabstrahirt\u201c hatten.\nDie einzelnen Merkmale erscheinen uns also in unseren Empfindungs- und Ged\u00e4chtnifsinhalten nicht von vornherein von einander getrennt, sondern im Gegentheil \u00fcberall zu einer einheitlichen Gesammterscheinung verbunden: jeder jener Inhalte in den obigen Beispielen vereinigt jederzeit und nothwendiger-weise mehrere Merkmale in sich. Es fragt sich daher, wie wir trotzdem zu jener Trennung kommen, d. h. in welcher Weise wir die Begriffe der einzelnen Merkmale gewinnen.\nb) Diese Frage kann nicht mit der Behauptung abgewiesen werden, dafs die Abstraction ein urspr\u00fcnglicher Thatbe-stand und jene Begriffe ebenso urspr\u00fcngliche Bestandtheile","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n119\nunserer Erfahrung seien, wie die concreten Empfindungen. Denn die Begriffe der verschiedenen Merkmale etwa eines Tones sind nicht mit dem H\u00f6ren des ersten Tones sogleich als solche bekannt und unterschieden. An einem Tone ohne gleichzeitigen Hinweis auf andere T\u00f6ne kann ich einem Kinde, das jene Begriffe noch nicht besitzt, den Unterschied von H\u00f6he und Klangfarbe nicht klar machen. Die Begriffe dieser Merkmale erhalten erst durch die Erfahrungen ihren Inhalt, welche an einer Reihe von T\u00f6nen verschiedener H\u00f6he, an Kl\u00e4ngen verschiedener Klangquellen gemacht werden. Die Begriffe der Merkmale bilden sich also erst durch gewisse gr\u00f6fsere Erfahrungsreihen: die Frage nach dem Mechanismus ihrer Entstehung ist folglich eine durchaus berechtigte Frage.\nEben diese Frage ist es, welche die von mir gegebene Theorie der Abstraction zu l\u00f6sen sucht.\nc) Dieselbe Frage kann auch formulirt werden als die Frage nach dem psychischen Thatbestand, der vorliegt, wo wir ein einzelnes Merkmal beachten oder dasselbe in abstracto vorzustellen meinen. Auch auf diese Frage erhalten wir nicht die gen\u00fcgende Antwort mit jener Behauptung, dafs die fraglichen Thatbest\u00e4nde eben unmittelbar gegeben und nicht weiter analysirbar seien. Denn wenn sich in irgend einem Falle ein psychischer Thatbestand als abh\u00e4ngig von fr\u00fcheren Erlebnissen erweist \u2014 wie es die eben angestellte Ueberlegung f\u00fcr die \u201edistinctio rationis\u201c ergab \u2014 so sind \u00fcberall, wo ein solcher Thatbestand vorliegt, die Nachwirkungen jener vergangenen Erlebnisse als Bestandtheile des gegenw\u00e4rtigen Thatbestandes aufzuweisen. Mag man dieselben als \u201eunbewufste Vorstellungen\u201c (nach Ltpps), als \u201efringes\u201c (nach James), oder als \u201eunbemerkte Theilinhalte\u201c (nach dem Verfasser) bezeichnen: in jedem Falle m\u00fcssen sie als solche auf gezeigt und in ihrer Wirksamkeit f\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Bewufstseinszustand bestimmt werden, wenn die Analyse des letzteren vollst\u00e4ndig gegeben werden soll.\nEs versteht sich, dafs es zu solcher Analyse nicht gen\u00fcgt, das zu constatiren, was die augenblickliche Erfahrung unmittelbar erkennen l\u00e4fst, da die Nachwirkungen des Vergangenen sich im Allgemeinen eben nicht in jedem sp\u00e4teren Augenblick unmittelbar als solche f\u00fcr das Bewufstsein zu erkennen geben, so sehr auch der Gesammtbewufstseinszustand thats\u00e4chlich durch","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nJE. Cornelius.\nsie beeinflufst sein mag. Dafs die directe Erfahrung diesen oder jenen Factor unseres Bewufstseinszustandes nicht erkennen lasse, wird also niemals als Argument daf\u00fcr gebraucht werden d\u00fcrfen, dafs der fragliche Factor thats\u00e4chlich nicht existire. Ueber die Gesammtheit der Factoren der Thatbest\u00e4nde unseres entwickelten Lebens k\u00f6nnen wir vielmehr stets nur durch genetische Analyse Aufschlufs gewinnen.\n2. Die Entstehung der Merkmalsbegriffe.\na) Um die im Vorigen gestellte Frage zu beantworten, ei innere ich zun\u00e4chst an die Thatsache der \u2014 durch die Ungenauigkeit unseres Ged\u00e4chtnisses bedingten \u2014 Unbestimmtheit des Wiedererkennens unserer Empfindungen.\nWir k\u00f6nnen uns bekanntlich von dieser Thatsache noch in den sp\u00e4teren Entwickelungsphasen unseres Lebens t\u00e4glich \u00fcberzeugen, wenn wir etwa eine Farbe einer anderen, nur erinnerten Farbe als gleich beurtheilen und bei nachtr\u00e4glichem directen Vergleich beider Farben noch erhebliche Unterschiede der Nuance oder der Helligkeit constatiren. Uebung kann diese Ungenauigkeit erheblich verringern; aber nicht auf diese allm\u00e4hlich zu gewinnende Verfeinerung des Viedererkennens, sondern auf seine urspr\u00fcngliche Unbestimmtheit kommt es f\u00fcr den vorliegenden Zweck an.\nIch will die Consequenzen dieser Unbestimmtheit des Wieder-erkennens zun\u00e4chst an einer Reihe m\u00f6glichst einfacher Beispiele zu verdeutlichen suchen, deren Verallgemeinerung die Antwort auf die gestellte Frage unmittelbar ergiebt.\nb) Man denke sich etwa ein Kind, welches, bisher in durchaus unmusikalischer Umgebung aufgewachsen, noch nicht die uns gel\u00e4ufigen Begriffe der Merkmale von T\u00f6nen besitzt. Einem solchen Kinde werden, wenn ihm zum ersten Mal etwa Klaviert\u00f6ne mittlerer Lage zu Geh\u00f6r kommen, diese T\u00f6ne zun\u00e4chst als etwas Neues auffallen. H\u00f6rt es den folgenden Tag abermals solche T\u00f6ne, so werden sie ihm nunmehr bereits als etwas Bekanntes erscheinen. Es wird sie vielleicht schon bei der ersten, sicher bei einer der n\u00e4chsten Wiederholungen als Erlebnisse von derselben Art wiedererkennen, wie sie ihm zu den zuvor bezeichneten Zeitpunkten begegnet sind.\nMit solchem Wiedererkennen hat das Kind einen bestimmten Begriff musikalischer T\u00f6ne gewonnen \u2014 gleichviel ob es ihn","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n121\nbereits mit irgend einem Worte zu bezeichnen lernt. Nothwendig f\u00fcr das Zustandekommen dieses Begriffes war erstlich jene Unterscheidung der ersten T\u00f6ne von anderweitigen Inhalten, da dem Kinde ohne diese Unterscheidung \u00fcberhaupt nichts Neues f\u00fcr sein Bewnfstsein gegeben gewesen w\u00e4re. Nicht minder nothwendig aber war daf\u00fcr das Wiedererkennen der T\u00f6ne, da ohne solches Wiedererkennen der neue Begriff nicht seine bestimmte, von jedem anderen Begriff unterschiedene Bedeutung erhalten k\u00f6nnte : w\u00fcrde solches Wiedererkennen fehlen, so w\u00e4ren die Klaviert\u00f6ne jedes Mal als etwas v\u00f6llig Neues, noch Unbekanntes charakterisirt.\nc) Jenes erste Wiedererkennen der T\u00f6ne ist stets insofern noch unbestimmt, als eine genauere Kenntnifs, wT eich er der heute geh\u00f6rten T\u00f6ne gestern geh\u00f6rt wurde, in der betrachteten Entwickelungsphase regelm\u00e4fsig fehlt. Es sei etwa in jenem ersten Falle nur der Ton a wiederholt zu Geh\u00f6r gebracht worden, ohne dafs besondere Anhaltspunkte zu Vergleichungen (etwa mit den T\u00f6nen bekannter menschlicher Stimmen) gegeben waren. Werden nun am zweiten Tage etwa die T\u00f6ne g as a b h c in beliebiger Folge wiederholt angegeben, so wird ein Wiedererkennen ah dieser T\u00f6ne als T\u00f6ne \u201ederselben Art wie gestern\u201c eintreten; eine Unterscheidung aber, welcher dieser T\u00f6ne mit dem gestern geh\u00f6rten Zusammenfalle und welche davon verschieden sind, kommt nicht zu Stande.1\nDie hier beschriebene Erfahrung zeigt unmittelbar die Ungenauigkeit des Wiedererkennens. Auf Grund eben dieser Ungenauigkeit habe ich das Wiedererkennen nicht als Gleichheitssondern als Aehnlichkeitserkenntnifs bezeichnet.2 Das Beispiel zeigt zugleich, welche Bolle diese Ungenauigkeit bei der Entstehung der ersten Begriffe unserer Wahrnehmungen spielt: nur verm\u00f6ge der Ungenauigkeit des Wiedererkennens erscheinen die thats\u00e4chlich verschiedenen T\u00f6ne von vornherein unmittelbar als gleichartig und aus demselben Grunde erweist sich der\n1\tIch bediene mich hier der durch Anf\u00fchrungszeichen hervorgehobenen Benennung, wie sie zum Ausdruck des betreffenden Urtheiles erfordert wird, mit der ausdr\u00fccklichen Bemerkung, dafs der betrachtete Vorgang durchaus unabh\u00e4ngig davon ist, ob das Kind bereits eine solche Benennung vollzieht.\n2\tPsychologie S. 41 f.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nH. Cornelius.\nUmfang des gewonnenen Begriffes von vornherein nicht bestimmt begrenzt.\nd) Nachdem das Kind auf die angegebene Weise den Begriff von T\u00f6nen kennen gelernt hat, werde diese Kenntnifs durch das H\u00f6ren von T\u00f6nen eines anderen Instrumentes, etwa einer Oboe, erweitert. Diese neuen Erlebnisse werden sogleich als Erlebnisse \u00e4hnlicher Art wie jene fr\u00fcheren wiedererkannt, event, sofort als \u201eT\u00f6ne\u201c bezeichnet werden. Ebenso aber wird sich ein Unterschied derselben von all jenen fr\u00fcher geh\u00f6rten T\u00f6nen unmittelbar bemerklich machen. Damit aber der diesen Unterschied bezeichnende neue Begriff der \u201eOboent\u00f6ne\u201c im Gegensatz zu den von fr\u00fcher bekannten Claviert\u00f6nen sich bilde, gen\u00fcgt es nicht, dafs jeder einzelne der neuen T\u00f6ne als verschieden von jenen fr\u00fcheren erkannt werde. Vielmehr ist zu dieser neuen Begriffsbildung ebenso und aus demselben Grunde wie bei jener ersteren unumg\u00e4nglich erforderlich, dafs die neuen T\u00f6ne unter einander als \u00e4hnlich erkannt bezw. jeder folgende dieser T\u00f6ne als den vorhergegangenen dieser neuen Reihe gleichartig wiedererkannt werde. Wo dieses Wiedererkennen fehlen w\u00fcrde, k\u00f6nnte der Oboenton nur eben als etwTas Neues, nicht aber als etwas unter diesen bestimmten und jetzt bereits bekannten Begriff Geh\u00f6riges erscheinen. Erst durch das Bewufstsein der gegenseitigen Aehnlichkeit dieser neuen T\u00f6ne, zusammen mit ihrer Unterscheidung von der bereits bekannten Gruppe der Claviert\u00f6ne, kann der Begriff der Oboent\u00f6ne seine Bestimmtheit gewinnen.\ne) Die bisherige Beschreibung hat gezeigt, wie nicht nur der allgemeine Begriff von T\u00f6nen, sondern auch die Begriffe von Unterarten des ersteren durch Unterscheidung und Wiedererkennen (und niemals ohne diese beiden Factoren) zu Stande kommen.\nSchon auf Grund der beschriebenen Thatsachen ist eine erste Unterscheidung von Merkmalen im Tongebiete gegeben: ob einem Tone die Klangfarbe der Oboe oder des Cl a vier es zukomme, wird auf diesem Punkte der Entwickelung zwar vielleicht noch nicht in dieser Ausdrucksform, sicher aber dem Sinne nach vollkommen verst\u00e4ndlich und unmittelbar zu erkennen sein. Der Nachweis, dafs der Begriff eines jeden dieser Merkmale nicht ohne die betreffende Aehnlichkeitser-","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n123\nkenntnifs seine Bedeutung gewinnen kann, bedarf wohl nicht nochmaliger Wiederholung.\nDie eben genannten Merkmale sind solche, die nicht demselben Tone gleichzeitig zukommen. In derselben Weise aber entwickeln sich neben (und event, vor) der Bildung von Begriffen der eben bezeichneten Art weitere Begriffe von Unterarten der T\u00f6ne, welche im Verein mit jenen zu einer Unterscheidung gleichzeitiger Merkmale desselben Tones f\u00fchren : in erster Linie die Begriffe hoher und tiefer T\u00f6ne.\nFast mufs ich f\u00fcrchten den Leser zu erm\u00fcden, wenn ich hier nochmals darauf hinweise, wie auch f\u00fcr die Entstehung dieser Begriffe nicht blos Unterscheidung, sondern auch Wiedererkennen unumg\u00e4ngliche Bedingung ist. Die R\u00fccksicht auf die Einw\u00e4nde, die gegen diese Behauptung erhoben worden sind, l\u00e4fst einen solchen Nachweis jedoch nicht entbehrlich erscheinen.\nDafs f\u00fcr die Entstehung der Begriffe hoher und tiefer T\u00f6ne zun\u00e4chst die Unterscheidung derjenigen T\u00f6ne erforderlich ist, die sp\u00e4ter als hoch und tief bezeichnet werden, bedarf nicht der Erw\u00e4hnung. Dafs aber auch das Wiedererkennen derselben nicht fehlen darf, zeigt wiederum die Ueberlegung, dafs ohne solches Wiedererkennen die Begriffe keinerlei Bestimmtheit gewinnen k\u00f6nnen \u2014 dafs wir den hohen Ton ohne das Wiedererkennen eben nicht als zugeh\u00f6rig zu einer schon bekannten Art (Gruppe der hohen T\u00f6ne) erkennen w\u00fcrden, sondern ihn als etwas ebenso Neues vorfinden w\u00fcrden, wie am ersten Tag.\nf) Indem nun aber weiter \u2014 um beim obigen Beispiele zu bleiben \u2014 sowohl gewisse Oboent\u00f6ne als auch gewisse Clavier t\u00f6ne in gleicher Weise als \u201ehohe\u201c T\u00f6ne wiedererkannt und von \u201etiefen\u201c unterschieden werden, ist eine neue Unterscheidung von Merkmalen gewonnen: je nachdem der fragliche Ton als \u201eOboenton\u201c oder als \u201ehoher Ton\u201c wiedererkannt wird, d. h. je nachdem sich die Erkenntnifs seiner Aehnlichkeit mit den als \u201eOboent\u00f6ne\u201c, oder den als \u201ehohe T\u00f6ne\u201c bekannten Empfindungen einstellt, wird ihm das eine oder das andere Merkmal \u201ebeigelegt\u201c, das eine oder das andere Merkmal \u201ean ihm erkannt\u201c werden.\nSind es die im Vorigen beschriebenen Thatsachen, die zur Bildung der Begriffe der einzelnen Merkmale f\u00fchren, so sind sie es auch, die wir bezeichnen, wo wir davon sprechen, dafs Aehnlichkeit in einer bestimmten Hinsicht oder in einer be-","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nH. Cornelius.\nstimmten Richtung erkannt wird: mit der Angabe dieser Hinsicht oder Richtung wird jedesmal eben auf diejenige bekannte Gruppe von Inhalten hingewiesen, zu welcher der vorliegende Inhalt im gegebenen Momente als zugeh\u00f6rig erkannt wird. Da solche Gruppen uns nach dem Vorigen stets in concreto bekannt werden, so setzt dieser Hinweis auch keinerlei Abstraction voraus.1\nMan sieht, dafs der Gegensatz der Merkmale \u201eH\u00f6he\u201c und \u201eKlangfarbe\u201c darauf beruht, dafs der gegebene Ton einerseits nicht blos den T\u00f6nen seines Instrumentes, sondern auch denjenigen anderer Instrumente, andererseits nicht blos den hohen T\u00f6nen, sondern auch den tiefen T\u00f6nen seines Instrumentes als \u00e4hnlich unmittelbar wiedererkannt wird. Wo es sich nicht um die Betonung dieses Gegensatzes handelt, wird eine solche Unterscheidung nicht ausdr\u00fccklich vollzogen werden. Der hohe Oboenton wird etwra als hoch wieder erkannt und von den tiefen T\u00f6nen unterschieden, ohne dafs wir dazu an hohe Clavier t\u00f6ne denken m\u00fcfsten ; er wird im Allgemeinen nebenher auch als Oboenton wiedererkannt werden. Wo es sich speciell um seine H\u00f6he handelt, darf jedenfalls das erstere Wiedererkennen nebst der entsprechenden Unterscheidung nicht fehlen. Ist aber von seiner H\u00f6he ausdr\u00fccklich als einer von seiner Klangfarbe unabh\u00e4ngigen Qualit\u00e4t, also von der H\u00f6he im Gegensatz zur Klangfarbe die Rede, wird m. a. W. von uns verlangt, dafs wTir von der Klangfarbe abstrahiren und auf die H\u00f6he ausschliefslich achten, so werden wir uns, um den Sinn dieser Forderung zu verstehen, eben vergegenw\u00e4rtigen m\u00fcssen, dafs der Begriff der H\u00f6he nicht nur f\u00fcr Oboent\u00f6ne einen Sinn hat, dafs es auch andere hohe T\u00f6ne giebt und dafs wir, wT\u00e4hrend wir den Oboenton h\u00f6ren, eben nur an das denken sollen, was er mit diesen anderen hohen T\u00f6nen gemein hat : dafs wir also uns seiner Aehnlichkeit mit diesen anderen und nicht blos seiner Aehnlichkeit mit anderen Oboent\u00f6nen erinnern sollen.\nDas \u201eBeachten eines Merkmales\u201c wird also verschieden aus-fallen, je nachdem es sich um eine ausdr\u00fcckliche Gegen\u00fcberstellung verschiedener Merkmale handelt, oder eine solche Gegen\u00fcberstellung unterbleibt.\n1 Vgl. meine vorige Abhandlung, diese Zeitschrift 22, 110.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n125\ng)\tMit der eben durchgef\u00fchrten Betrachtung erledigt sich zun\u00e4chst der dritte der Einw\u00e4nde, weiche Lipps j\u00fcngst gegen meine Abstractionstheorie erhoben hat. Lipps sucht meine Theorie durch die Bemerkung zu widerlegen, dafs die Gruppe der hohen T\u00f6ne doch auch T\u00f6ne von der Klangfarbe des vorgelegten Tones enthalte. Er meint, durch die Erkenntnifs der Aehnlichkeit des vorgelegten Tones mit diesen T\u00f6nen der Gruppe werde der Voraussetzung widersprochen, dafs ich \u201eauf die H\u00f6he achte\"' ; denn nach meiner Definition sei hiermit ja eben auch die Klangfarbe \u201ebeachtet\u201c. Das Beachten eines Merkmales an einem Inhalte k\u00f6nne folglich nicht in der Erkenntnifs der Zugeh\u00f6rigkeit des Inhaltes zu einer bestimmten Aehnlich-keitsgruppe bestehen.\nWenn ich aber bei einem hohen Oboentone auf die H\u00f6he aus-schliefslich, d. h. im Gegensatz zu seiner Klangfarbe achten soll, so ist es dazu nach dem Vorigen eben nicht genug, dafs ich seine Aehnlichkeit mit den hohen T\u00f6nen gleicher Klangfarbe erkenne, sondern ich mufs zu dem angegebenen Zwecke gerade seine Aehnlichkeit mit den T\u00f6nen anderer Klangfarbe erkennen, durch welche sich die Aehnlichkeitsgruppe \u201ehohe T\u00f6ne\u201c im Allgemeinen unterscheidet von der engeren Aehnlichkeitsgruppe \u201ehohe Oboent\u00f6ne\u201c. Dafs ich auch die Aehnlichkeit mit letzteren \u2014 im Allgemeinen wohl in erster Linie \u2014 erkenne, hindert doch nicht, dafs ich weitergehe und die gestellte Forderung des ausschliefslichen Achtens auf die H\u00f6he im Gegens\u00e4tze zur Klangfarbe in der angegebenen Weise erf\u00fclle. Solange ich mich nur der ersteren Aehnlichkeit erinnere, habe ich die genannte Forderung eben noch nicht erf\u00fcllt; erst wenn mir die Aehnlichkeit des gegebenen Tones mit T\u00f6nen anderer Klangfarbe bewufst wird, habe ich auf das von der Klangfarbe verschiedene Merkmal unter ausdr\u00fccklicher Abstraction von der Klangfarbe geachtet.\nDer Cirkel, den Lipps in meiner Theorie zu finden meint, kommt also nur dadurch zu Stande, dafs er in seinem Ein-wande die Consequenzen meiner Theorie nicht hinreichend beachtet.\nh)\tDie Frage, mit welcher Lipps in seinem ersten Ein-wande die vorgetragene Theorie zu widerlegen sucht, ist ebenfalls im Vorigen beantwortet: die Aehnlichkeitsgruppen entstehen f\u00fcr uns, weil zwischen den Inhalten unserer Wahr-","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nH. Cornelius.\nnehmungen die Unterschiede und Aehnlichkeiten bestehen, welche die verschiedenen Arten der Zusammenfassung dieser Inhalte zu \u201eGruppen \u00e4hnlicher Inhalte\u201c nicht blofs erm\u00f6glichen, sondern nothwendig bedingen. Derselbe Inhalt geh\u00f6rt verm\u00f6ge dieser Unterschiede und Aehnlichkeiten nicht blos einer, sondern mehreren dieser Gruppen an: je nachdem ich seine Zugeh\u00f6rigkeit zu der einen oder der anderen dieser Gruppen, d. h. seine Aehnlichkeit mit den \u00fcbrigen Gliedern der einen oder der anderen dieser Gruppen erkenne, werde ich ihn mit dem Worte bezeichnen, welches dem einen oder dem anderen Merkmale entspricht.\nNat\u00fcrlich darf aber die obige Frage nicht in die Form ge-fafst werden, die ihr Lipps giebt: \u201ewie komme ich dazu, die T\u00f6ne lediglich mit R\u00fccksicht auf die Tiefe zu einer Gruppe zusammenzuordnen?\u201c Denn in dieser Fassung der Frage ist gerade der Begriff bereits gebraucht und somit als bekannt vorausgesetzt, nach dessen Entstehung erst gefragt werden soll. Die Frage enth\u00e4lt also, wenn sie das Problem der Entstehung der Aehnlichkeitsgruppen treffen soll, einen Cirkel in ihrer Formulirung und es ist daher nicht zu verwundern, wenn die Antwort, die Lipps auf die so gestellte Frage ertheilt, einen Cirkel zu Tage f\u00f6rdert. Nur f\u00e4llt dieser Cirkel eben nicht meiner Theorie zur Last, sondern dem Fragesteller. Nat\u00fcrlich k\u00f6nnen wir nachtr\u00e4glich, nachdem wir den Begriff des Tiefenmerkmals einmal besitzen, die betreffende Aehnlichkeits-gruppe als die Gruppe der tiefen T\u00f6ne bezeichnen und sagen, diese T\u00f6ne seien \u201enach der Tiefe\u201c zusammengeordnet. Allein die Thatsache, dafs wir diesen Begriff jetzt besitzen und anwenden k\u00f6nnen, darf uns doch nicht hindern nach den That-, best\u00e4nden zu fragen, durch welche eben dieser Begriff der \u201eTiefe\u201c \u2014 oder eines sonstigen Merkmals \u2014 in der Entwickelung unseres psychischen Lebens seine Bedeutung und seine Bestimmtheit gewonnen hat.\ni) Es bleibt noch \u00fcbrig, den zweiten der Lipps\u2019schen Einw\u00e4nde abzuwehren. Lipps meint, wenn ich den tiefen Ton a \u201emit der Gruppe der tiefen T\u00f6ne Zusammenhalte\u201c, so entstehe mir ein Aehnlichkeitsbewufstsein nur, wenn ich eben auf die Tiefe meine Aufmerksamkeit richte, w\u00e4hrend mir ein \u201eUn-\u00e4hnlichkeitsbewufstsein\u201c entstehe, wenn ich von vornherein auf die Klangfarbe achte.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n127\nDieser Einwand trifft nun zun\u00e4chst, soweit er thats\u00e4chlich Richtiges behauptet, die vorgetragene Theorie \u00fcberhaupt nicht. Richtig ist, dafs in dem zuerst genannten Falle ein Aehnlich-keitsbewufstsein entsteht, im zweiten Falle eine gewisse Ver-schiedenheitserkenntnifs sich in erster Linie einstellen kann. Ersteres folgt selbstverst\u00e4ndlich aus der Theorie, gegen die sich das Argument richtet; aber auch der zweite Fall steht mit ihr im Einklang. Denn der Theorie gem\u00e4fs heilst das vorg\u00e4ngige \u201eAchten auf die Tiefe\u201c bez. \u201eauf die Klangfarbe\u201c nichts Anderes als das schon von vornherein vorhandene Wiedererk ennen nach der einen oder der anderen Richtung, d. h. die schon vorhandene Erkenntnifs der Aehn-lichkeit mit der betreffenden erinnerten Gruppe. Ein \u201eUn\u00e4hn-lichkeitsbewufstsein\u201c kann daher im zweiten Falle allerdings entstehen, weil hier nicht blos der gegebene Ton selbst, sondern auch seine (der Voraussetzung nach noch im Bewufstsein gegenw\u00e4rtige) Aehnlichkeit mit der \u201eGruppe von T\u00f6nen gleicher Klangfarbe\u201c zum Vergleich mit der Gruppe der T\u00f6ne gleicher H\u00f6he und verschiedener Klangfarbe gelangt.\nAllein der Einwand will offenbar mehr behaupten: er besagt, dafs der Ton a \u00fcberhaupt nur dann als den tiefen T\u00f6nen \u00e4hnlich erkannt werde, wenn schon vorg\u00e4ngig die Aufmerksamkeit auf die \u201eTiefe\u201c gelenkt ist, und dafs seine Aehnlichkeit mit diesen T\u00f6nen ne girt1 werde, falls die Aufmerksamkeit von vornherein auf die Klangfarbe gerichtet sei. Diese Behauptung nun ist thats\u00e4chlich irrig. Was im letzteren Fall ne girt wird, ist nur die Uebereinstimmung der Klangfarbe \u2014 eine Negation, die sich nebenbei bemerkt nach der von Lipps bek\u00e4mpften Theorie von selbst versteht; dagegen macht sich die thats\u00e4chlich vorhandene Aehnlichkeit der Tiefe gerade gegen\u00fcber jener Verschiedenheit der\n1 Der von Lipps gebrauchte Ausdruck \u201eUn\u00e4hnlicbkeitsbewufstsein\u201c enth\u00e4lt eine solche Negation, die mehr sagt als blofses \u201eVerschiedenheits-bewufstseinA Letzteres st\u00fcnde in jedem Falle nicht nur nicht im Widerspruch mit dem Aehnlichkeitsbewufstsein, sondern ist \u00fcberall Voraussetzung des letzteren: denn damit irgend eine Vergleichungsrelation zwischen zwei Inhalten f\u00fcr unser Bewufstsein bestehen kann, m\u00fcssen diese zun\u00e4chst f\u00fcr unser Bewufstsein verschieden sein. Ohne solche Verschiedenheit w\u00e4ren eben nicht zwei Inhalte gegeben. Vgl. unten Nr. 3, c.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nH. Cornelius.\nKlangfarbe jedesmal um so auff\u00e4lliger bemerklich. Sie \u201ezieht die Aufmerksamkeit unwillk\u00fcrlich auf sich\", d. h. der Vergleich mit jenen T\u00f6nen ist die Bedingung daf\u00fcr, dafs derjenige Thatbestand eintritt, den wir als \u201eAufmerksamkeit auf die Tiefe\u201c bezeichnen.1 Selbst wenn ich mir die gr\u00f6fste M\u00fche gebe, ausschliefslich auf die Klangfarbe meines Tones a zu achten, werde ich zum Beachten seiner H\u00f6he direct gezwungen, wenn mir neben ihm solche Gruppen successiver T\u00f6ne zu Geh\u00f6r gebracht werden, deren Glieder, bei verschiedenster Klangfarbe, jeweils gleiche H\u00f6he unter einander auf weisen.\nk) Der Ausdruck \u201eZusammenhalten\u201c, den Lipps in dem eben besprochenen Einwande gebraucht, scheint darauf hinzuweisen, dafs er noch eine besondere Th \u00e4tigke it des Ver g leie hens (in seiner Sprache also noch eine besondere \u201eBeth\u00e4tigung seelischer Kraft\u201c oder \u201epsychischer Energie\u201c) f\u00fcr nothwendig h\u00e4lt, damit die betreffende Aehnlichkeitserkenntnifs zu Stande komme, und dafs er also wohl diese Th\u00e4tigkeit als eine verschiedene voraussetzt, je nachdem sie sich auf das eine oder das andere Merkmal bezieht.\nOhne hier allgemein die Frage zu discutiren, in wie weit wir das Wirken solcher \u201eKr\u00e4fte\u201c voraussetzen d\u00fcrfen, sei nur constat\u00e2t, dafs sich erstens die Erkenntnifs der Aehnlichkeit gleichzeitig im Bewufstsein gegebener, unterschiedener Inhalte im Allgemeinen ohne jede willk\u00fcrliche Leistung unsererseits rein passiv auf dr\u00e4ngt. So wenig \u201eich\u201c den Inhalt Ton \u201eerzeuge\u201c, wenn ich einen Ton h\u00f6re, so wenig wird das eigenth\u00fcmliche \u201eGef\u00fchl\u201c, welches einen Complex \u00e4hnlicher im Gegensatz zu einem Complex un\u00e4hnlicher (= m i n d e r \u00e4hnlicher) Inhalte charakteri-sirt, erst durch eine Leistung unsererseits zu Stande gebracht ; es wird vielmehr rein passiv und unmittelbar erlebt. Ebensowenig ist zweitens f\u00fcr das Auftreten der betreffenden Ged\u00e4chtnifs-bilder, mit welchen Aehnlichkeit erkannt wird, im Allgemeinen irgend eine Leistung unsererseits erforderlich. Tritt die Erinne-\n1 Lipps stellt in anderem Zusammenhang gelegentlich die Frage (diese Zeitschrift, 1, 263) : \u201ewas ist denn am Ende der Sinn eines Begriffes anderes, als der Inbegriff der Bedingungen, unter denen wir ihn an wenden?\u201c Ich bin durchaus derselben Meinung, die Lipps in dieser Frage zu erkennen giebt ; die Anwendung auf den im Texte bezeichneten Fall ergiebt sich ohne Weiteres.","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n129\nrung der Gruppe auf1, so wird das entsprechende Merkmal erkannt ; tritt sie nicht auf, so unterbleibt auch diese Erkenntnifs. Unter Umst\u00e4nden mag f\u00fcr die \u201eHinwendung der Aufmerksamkeit auf das betreffende Merkmal\u201c d. h. eben f\u00fcr das Auftreten der betreffenden Ged\u00e4chtnifsbilder eine Leistung unsererseits mitwirken; allgemein kann solche Mitwirkung so wenig behauptet werden, als \u00fcberhaupt das Auftreten von Ged\u00e4chtnifs-bildern allgemein von einer Leistung unsererseits abb\u00e4ngt.\n1) Noch eine weitere Thatsacbe, die man ebenfalls als Abstraction zu bezeichnen pflegt, hat in jener urspr\u00fcnglichen Ungenauigkeit des Wiedererkennens ihren Grund. Oben wurde darauf hingewiesen, in welcher Weise sich die Begriffe von \u201eH\u00f6he\" und \u201eTiefe\u201c eines Tones bilden. Verm\u00f6ge der Ungenauigkeit des Wiedererkennens f\u00fchrt jener Procefs zun\u00e4chst nicht zu den Begriffen bestimmter Lage in der Tonreihe, sondern zu den allgemeinen Begriffen hoher, tiefer, mittlerer Lage, welche gr\u00f6fsere Reihen von T\u00f6nen umfassen und einer genauen Begrenzung von vornherein ermangeln. Ich habe anderw\u00e4rts ausf\u00fchrlich dargelegt2, wie die Unterscheidung der feineren\n1\tEs bedarf nicht der Erw\u00e4hnung, dafs f\u00fcr die in Eede stehenden Vorg\u00e4nge das Gleiche gilt, wras ich in meiner vorigen Abhandlung (diese Zeitschrift 22, 106, Fufsnote 3) \u00fcber die f\u00fcr die Bedeutung der Worte maafsgebenden Associationen gesagt habe: ausdr\u00fcckliche Unterscheidung der Factoren, die einen Vorgang constituiren, ist im gegebenen Momente nirgends erforderlich.\n2\tPsych. 230 f. \u2014 Es ist vielleicht nicht \u00fcberfl\u00fcssig, darauf aufmerksam zu machen, dafs mit jenen allgemeinen Begriffen hoher und tiefer Lage noch keineswegs die Unterscheidung von Tons ehr itten nach oben und unten innerhalb engerer Grenzen ihre Bestimmung findet. Ich f\u00fchre eine Versuchsreihe hier an, die ich vor 2Jahren an meinen beiden \u00e4ltesten Kindern (damals im Alter von 9 bez. 8 Jahren) angestellt habe. Beide kannten den Begriff hoher und tiefer T\u00f6ne und hatten t\u00e4glich Gelegenheit Clavierspiel zu h\u00f6ren.\nEs wmrden ihnen successive verschiedene Tonfolgen in verschiedenen H\u00f6henlagen, theils gesungen, theils gepfiffen, theils am Clavier (legato) vorgespielt und die Frage gestellt, ob jedesmal der zwreite Ton ebenso hoch oder h\u00f6her oder tiefer sei als der erste. Die Tonfolgen waren reine Primen, kleine und grofse Secunden, kleine und grofse Terzen nach aufw\u00e4rts und nach abw\u00e4rts gerichtet in regellosem Wechsel und von stets wechselnden Ausgangspunkten. Bei den Terzen (und gelegentlich zwischengeschobenen gr\u00f6fseren Intervallschritten) wurden durchg\u00e4ngig richtige Urtheile abgegeben, w\u00e4hrend bei grofsen Secunden bereits etwa ein Drittel der Ant-Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 24.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"H. Cornelius.\n130\nH\u00f6henunterschiede nicht blos in der Wahrnehmung bei unmittelbarer- Succession, sondern auch im Ged\u00e4chtnisse zu Stande kommt und so die Begriffe bestimmter Tonh\u00f6hen begr\u00fcndet. Innerhalb der Grenzen jener Ungenauigkeit aber sind wir im Stande, nicht blos an einem Inhalte ein Merkmal im Gegensatz zu den \u00fcbrigen zu beachten, sondern auch ein Merkmal zu beachten, ohne eine genaue Bestimmung dieses Merkmals zu gewinnen. Wir k\u00f6nnen etwa auf die rothe Farbe einer Figur achten, ohne ihre Form zu beachten; wir k\u00f6nnen aber weiter eben diese rothe Farbe beachten, ohne uns dar\u00fcber klar zu werden, ob dieses Roth von einer mehr br\u00e4unlichen oder gelblichen, bl\u00e4ulichen oder weifslichen N\u00fcance ist, oder ob die augenblickliche Helligkeit des Eindrucks eine in gewissen Grenzen gr\u00f6fsere oder geringere ist. F\u00fcr Ged\u00e4chtnifsbilder gilt das Gleiche.\nW\u00e4hrend wir aber von der Ungenauigkeit unserer jeweiligen Erkenntnifs dieser feineren Abstufungen uns im Allgemeinen leicht \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, meinen wir nichtsdestoweniger zu wissen, dafs die betreffenden Inhalte in allen ihren Eigenschaften v\u00f6llig bestimmt gewesen sind. Jene Ungenauigkeit erscheint daher abermals als ein \u2014 zun\u00e4chst unwillk\u00fcrliches \u2014 Absehen von gewissen Bestimmungen, als eine Art von Abstraction, die wir im Gegensatz zu dem zuerst besprochenen Falle der Abstraction von Merkmalen als Abstraction von Unterschiedsgraden bezeichnen m\u00f6gen.\nDie Frage, wie wir trotz der Bestimmtheit unserer einzelnen Bewufstseinsinhalte zu dieser Art von Abstraction gelangen, mit anderen Worten, wie es m\u00f6glich ist, dafs wir einen Inhalt oder ein Merkmal desselben nur im Allgemeinen beachten, ohne dafs uns die n\u00e4here Bestimmung desselben zum Bewufst-sein kommt, bez. welcher psychische Thatbestand jener unbestimmteren Erkenntnifs im Gegensatz zu der n\u00e4heren Bestimmung der betreffenden Inhalte zu Grunde hegt, erscheint somit als ein zweites Problem der Abstractionstheorie.\nWorten falsch ansfielen und bei den kleinen Secunden und den Primen die richtigen und falschen Antworten sich ungef\u00e4hr die Waage hielten. Wurden die steigenden Tonschritte im diminuendo, die absteigenden im crescendo vorgetragen, so vermehrten sich die falschen Antworten.\nIch will nicht unterlassen, hinzuzuf\u00fcgen, dafs die beiden Kinder heute \u2014 nach l1^- bez. 2% j\u00e4hrigem Clavierunterricht \u2014 vollkommen sichere Antworten auf obige Fragen geben.","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n131\nDie L\u00f6sung dieses Problems aber ist in den vorigen Betrachtungen bereits enthalten. Indem wir das Wiedererkennen und die darauf beruhende n\u00e4here Bestimmung eines Inhaltes f\u00fcr unser Bewufstsein von dem blofsen Dasein dieses Inhaltes in unserem Bewufstsein als einen besonderen Factor unseres Be-wufstseinszustandes unterscheiden, l\u00f6st sich der Widerspruch, der in dem Dasein eines bestimmten Bewufstseinsinhaltes und der gleichzeitigen unbestimmten Erkenntnifs dieses Inhaltes vorzuliegen scheint.\nm) Die genauere Unterscheidung kann nat\u00fcrlich und wird im Allgemeinen zun\u00e4chst in einem bestimmten Gebiete, in Hinsicht auf das eine oder das andere Merkmal eintreten. Es sei dies etwa zun\u00e4chst in Hinsicht auf H\u00f6he und St\u00e4rke im Gebiete der Claviert\u00f6ne geschehen. Alsdann kann, wenn nunmehr ein Ton anderer Klangfarbe \u2014 etwa ein Glockenton \u2014 zu Geh\u00f6r kommt, das Wiedererkennen desselben als Ton dieser oder jener bestimmten H\u00f6he (als c, a u. s. w.) entweder mit H\u00fclfe des Ged\u00e4chtnisses jener feineren Unterschiede \u2014 des \u201eabsoluten Geh\u00f6rs\u201c \u2014 oder aber auf Grund directer Vergleichung der E mp fin dungs inhalte zu Stande kommen, und eben damit das Merkmal der bestimmten H\u00f6he des betreffenden Tones erkannt werden.\nIch f\u00fchre diese Thatsache nur an, weil sie abermals aufs Deutlichste zeigt, dafs die Erkenntnifs der Merkmale jederzeit auf einer A ehnlichke its erkenntnifs beruht.\nDafs die Aehnlichkeit hier als Gleichheit bezeichnet wird, bedingt nur einen scheinbaren Unterschied gegen\u00fcber den fr\u00fcher betrachteten F\u00e4llen. Auch in den primitiven F\u00e4llen des Wieder-erkennens w\u00fcrde der ad\u00e4quate Ausdruck des Urtheils auf \u201eUnunterscheidbarkeit\u201c lauten m\u00fcssen. Gleichheits- wie Aehnlichkeits-erkenntnisse sind jeweils nur hinsichtlich eines oder des anderen bestimmten Merkmales m\u00f6glich; ein Unterschied zwischen beiden besteht nur insofern, als die Abstraction von den Unterschiedsgraden im einen Falle weitere Grenzen des Merkmals bedingt als im anderen.\nn) Es bleibt noch \u00fcbrig zu zeigen, wie die Nachwirkungen jener Processe, die zur Entstehung der Merkmalsbegriffe f\u00fchren, im entwickelten Leben \u00fcberall ins Spiel treten, wo ein Merkmal beachtet wird. Schon oben1 wurde darauf hingewiesen, dafs es\n1 Nr. 1, c).\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nH. Cornelius.\nein Mifsverst\u00e4ndnifs w\u00e4re, der unmittelbaren Erfahrung des betrachteten Momentes ein Argument gegen das Vorhandensein jener Factoren zu entnehmen. Wenn Lipps a. a. 0. gegen meine Theorie einwendet: \u201edas Achten ist kein Aehnlichkeitsbewufst-sein und bedarf erfahrungsgem\u00e4fs keines solchen,\u201c so liegt diesem Einwande ein solches Mifsverst\u00e4ndnifs zu Grunde. Es bedarf in der That nur einer Analyse der psychischen Bedingungen, ohne welche das \u201eAchten auf ein Merkmal\u201c nicht zu Stande kommen kann, um das Irrth\u00fcmliche jener Behauptung einzusehen.\nErstlich n\u00e4mlich ist schon f\u00fcr das blofse Festhalten eines gegebenen Inhaltes als solchen, also f\u00fcr das \u201eBeachten\u201c eines Inhaltes abgesehen von der Unterscheidung seiner Merkmale, ein Wiedererkennen nothwendige Voraussetzung. K\u00f6nnten wir doch ohne solches Wiedererkennen niemals in einem sp\u00e4teren Augenblick der Besch\u00e4ftigung mit dem betreffenden Inhalte wissen, dafs wir es noch mit eben \u201ediesem bestimmten\u201c d. h. mit \u201edemselben\u201c Inhalte zu thun haben, wie im vergangenen Augenblick. Schon hier also ist mit dem Beachten ein bestimmtes \u201eAehnlichkeitsbewufstsein\u201c thats\u00e4chlich gegeben. Freilich ist dasselbe uns etwas so \u00fcberaus Selbstverst\u00e4ndliches, dafs es f\u00fcr gew\u00f6hnlich selbst nicht \u201ebeachtet\u201c wird. (Ueber dieses \u201eBeachten des Aehnlichkeitsbewufstseins\u201c und dessen Resultate siehe unten Nr. 3, d.)\nWas aber nun zweitens das Beachten eines Merkmales angeht, so ist f\u00fcr das Verst\u00e4ndnifs der Forderung, dafs ich etwa am Tone a die H\u00f6he beachten solle, nothwendige Voraussetzung, dafs mir nicht nur in meinem fr\u00fcheren Leben die Begriffe von h\u00f6her und tiefer bekannt geworden sind, sondern dafs eben diese fr\u00fcher erworbene Kenntnifs im gegebenen Augenblick f\u00fcr mein Bewufstsein wirksam v7ird, dafs ich also gegenw\u00e4rtig weifs, was die Worte hoch und tief bisher thats\u00e4chlich f\u00fcr mich bedeutet haben. Damit ich ferner alsdann an meinem gegebenen Inhalte das fragliche Merkmal beachten k\u00f6nne, ist weitere Voraussetzung, dafs ich dieses Merkmal an ihm als vorhanden erkenne, dafs ich ihn also in eben der Hinsicht wiedererkenne, welche durch die mir bekannte Bedeutung jenes Wortes bezeichnet wird. Wo dieses Wiedererkennen fehlen w\u00fcrde, verl\u00f6re die Forderung, das betreffende Merkmal zu beachten, ihren bestimmten Sinn: ich k\u00f6nnte ohne jenes Wiedererkennen","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n133\nnicht wissen, dafs das beachtete Merkmal nun wirklich die H\u00f6he, und nicht etwa die St\u00e4rke oder die Klangfarbe ist Selbstredend braucht wiederum nicht zugleich eben dieses Wiedererkennen oder Aehnlichkeitsbewufstsein seinerseits beachtet zu werden (vgl. oben die Fufsnote zu lit. k). Eben weil dasselbe regelm\u00e4fsig nicht beachtet wird, liegt die T\u00e4uschung nahe, als ob das \u201eAchten\u201c erfahrungsgem\u00e4fs eines Aehnlichkeitsbewufstseins nicht bed\u00fcrfe.\nSind aber die Forderungen erf\u00fcllt, die sich soeben als noth-wendige Bedingungen f\u00fcr das Beachten ergaben, so ist damit auch thats\u00e4chlich bereits das betreffende Merkmal beachtet, die \u201eAufmerksamkeit auf dasselbe gelenkt\u201c. Die genannten Bedingungen sind also zugleich die hinreichenden f\u00fcr das Beachten. An dieses primitive Beachten k\u00f6nnen sich alsdann weitere Vorg\u00e4nge anschliefsen, die meist gleichfalls unter den Begriff des Beachtens gerechnet werden, die aber consequenter als Folgeerscheinungen des Beachtens bezeichnet werden sollten. Mit diesen Vorg\u00e4ngen haben wir es hier nicht zu thun.\nFr\u00e4ulein Calkins, die meinem Aufsatz \u00fcber Gestaltqualit\u00e4ten eine Besprechung in der Psychol. Review 7 (3), 299f. gewidmet hat, \u00e4ufsert gegen\u00fcber meiner Abstraetionstheorie das Bedenken, dafs das Eigenartige unserer verschiedenen Sinnesinhalte doch nicht blos auf ihren Aehnlichkeiten mit anderen Inhalten beruhen k\u00f6nne. Diesem Bedenken liegt, wie man sieht, das Mifsverst\u00e4ndnifs zu Grunde, als ob ich eine der von Stumpf (Tonps. I, S. 7 ff.) endg\u00fcltig aus der Welt geschafften \u201eRelativit\u00e4tslehren der Empfindung\u201c vertr\u00e4te. Ich habe dieses Mifsverst\u00e4ndnifs bereits in meiner Psychologie S. 69 ausdr\u00fccklich zur\u00fcckgewiesen: \u201eDie Inhalte wrerden zu dem, was sie sind, nicht erst durch ihre Relationen oder durch unsere Erkenntnifs ihrer Relationen zu anderen Inhalten. Wohl aber ist die Erkenntnifs dieser Relationen das Einzige, was zu dem einfachen V orfinden eines Inhaltes noch als Erweiterung unserer Kenntnifs \u00fcber diesen Inhalt hinzutreten kann.\u201c Mit anderen Worten: deswegen, w\u2019eil wir nur durch bestimmte Aehnlichkeitserkenntnisse zu den Begriffen der Merkmale einer Empfindung gelangen, besteht doch die Empfindung nicht aus diesen Aehnlichkeitserkenntnissen.\nEs ist daher auch der Schlufs von Frl. Calkins nicht gerechtfertigt, dafs meine Theorie die Einfachheit der Empfindung mit der Vielheit der Attribute nicht in Einklang gebracht habe, da die Empfindung \u201enichts Einfaches mehr sei, wenn sie so viele Aehnlichkeitserkenntnisse in sich schliefse\u201c.\no) Ist es mir im Vorigen gelungen, den Sinn meiner Abstrac-tionstheorie deutlich zu machen und die hervorgetretenen Mifs-verst\u00e4ndnisse abzuwehren, so darf ich wohl hoffen, dafs nunmehr","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nH. Cornelius.\nauch die in meinem vorigen Aufsatz gegebene Ableitung des Begriffs der Gestaltqualit\u00e4ten nicht mehr als eine \u201eVerh\u00fcllung der Thatsachen und Probleme\u201c, sondern als eine Beschreibung von Thatsachen verstanden werde, zu deren Bezeichnung eben das Wort Gestaltqualit\u00e4ten dienen soll.\nLipps scheint die Absicht meiner damaligen Ausf\u00fchrungen \u2014 trotz meiner wiederholten ausdr\u00fccklichen Betonung1 der gegentheiligen Absicht \u2014 dahin mifszuverstehen, dafs ich durch die Gestaltqualit\u00e4ten die zwischen den betr. Complexen bestehenden Aehnlichkeiten erkl\u00e4ren wolle. Anders wenigstens kann ich seine Aeufserung: \u201edafs das Aehnlichkeitsbewufstsein beruhen m\u00fcsse auf Uebereinstimmung in den Bewufstseins-inhalten, dies ist lediglich ein Vorurtheil\u201c 2 im Zusammenh\u00e4nge seiner Polemik nicht deuten, zumal er dieser Aeufserung eine weitere Auseinandersetzung \u00fcber die \u201eGrundlagen\u201c jenes Aehnlichkeitsbewufstseins folgen l\u00e4fst.\nIch kann dem gegen\u00fcber nur wiederholen, dafs ich das Wort Gestaltqualit\u00e4ten einzig gebraucht habe zur Bezeichnung der jedesmal im Bewufstsein gegebenen und jedem Unbefangenen bekannten Merkmale von Complexen, die wir von den Complexen \u201eder betreffenden Art\u201c bei weitgehendster Verschiedenheit ihrer einzelnen Bestandtheile in gleicher Weise aussagen (durch die sich also die Complexe von der blofsen Summe ihrer Bestandtheile unterscheiden, anderen jedem sich die fraglichen Merkmale nicht finden). Eine Quint wird als Quint, eine Terz als Terz, ein crescendo als crescendo unmittelbar wiedererkannt und beurtheilt, gleichviel welches die H\u00f6henlage der einzelnen in Betracht kommenden T\u00f6ne ist, die ihrerseits, jeder f\u00fcr sich betrachtet, nichts von Quint, Terz oder crescendo erkennen lassen. Das Wiedererkennen der genannten Merkmale pflegt in der That in einer weit fr\u00fcheren Periode der Entwickelung einzutreten, als dasjenige der Tonh\u00f6hen. Wieso der Name Gestaltqualit\u00e4ten, den ich f\u00fcr Merkmale dieser Art adoptire, eine Verh\u00fcllung der dadurch bezeichneten Thatsachen enthalten soll, vermag ich nicht einzusehen. Durch den Ausdruck \u201eWeisen der psychischen Beziehung zwischen psychischen\n1\tA. a. ,0. S. 115\u2014116..\n2\tLipps a. a. 0. S. 384.","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n135\nVorg\u00e4ngen, die als solche nicht im Bewufstsein gegeben sind\u201c1 werden diese Thatsachen, soviel ich sehe, nicht deutlicher her zeichnet.\nDie weitere Polemik von Lipps erkl\u00e4rt sich aus jenem Mifs-verstehen meiner Absicht. Doch bedarf ein Punkt derselben noch einer kurzen Bemerkung: die Behauptung n\u00e4mlich, dafs die Gestaltqualit\u00e4ten, \u2014 mit Ausnahme der zeitlichen und r\u00e4umlichen \u2014 soweit sie f\u00fcr das Bewufstsein vorhanden sind, als Gef\u00fchle bezeichnet werden m\u00fcfsten. Man kann allerdings den Ausdruck \u201eGef\u00fchle\u201c so weit gebrauchen als man will.2 Aber ein musikalisches Intervall oder eine bestimmte Melodie \u2014 etwa die des \u201eGaudeamus\u201c oder des Liedes \u201ein einem k\u00fchlen Grunde\u201c \u2014 als ein Gef\u00fchl zu bezeichnen und beim Wiederkennen derselben vom Wiedererkennen eines Gef\u00fchles zu sprechen, scheint mir dem herk\u00f6mmlichen Sprachgebrauch doch allzusehr zu widerstreben. Weshalb \u00fcbrigens gerade die r\u00e4umlichen und zeitlichen Gestaltqualit\u00e4ten von jener Bezeichnung ausgenommen sein sollen, bed\u00fcrfte noch n\u00e4herer Begr\u00fcndung \u2014 zum Mindesten f\u00fcr solche Psychologen, die sich nicht zu Kant\u2019s transscendentaler Aesthetik bekennen.3\n3. Bewufstsein und Beachten. Prim\u00e4re Erkenntnifs\nund Beurtheilung.\na) Im Vorigen war die Thatsache des Wiedererkennens und die darin gegebene Erkenntnifs der Aehnlichkeit eines Inhaltes mit fr\u00fcheren Inhalten \u00fcberall vorausgesetzt. Die gegebene Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Entstehung der Merkmalsbegriffe und f\u00fcr die darin implicirte Abstraction gr\u00fcndet sich auf diese Voraussetzung, Gegen diese Voraussetzung nun ist eingewendet worden, dafs\n1\tLipps a. a. O. S. 384.\n2\tDafs jeder engere Gebrauch des Ausdrucks, z. B. die Beschr\u00e4nkung desselben auf Lust und Unlust auf einem Vorurtheil beruhe (Lipps a. a. 0.), m\u00f6chte ich deshalb doch noch nicht zugeben.\n8 W\u00e4hrend ich diese Zeilen schreibe, kommt mir Schumann\u2019s Abhand-lung \u201eBeitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen, I.\u201c zu, aus welcher ich (S. 31) mit Vergn\u00fcgen ersehe, dafs auch Schumann die Existenz der Gestaltqualit\u00e4ten als Merkmale yon Complexen als gesichert betrachtet. Daft sie als concrete Vorstellungsinhalte nicht existiren, ist durchaus auch meine: Meinung.\t. \u2022 . .... , . ' . .\t; .7 v","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nH. Cornelius.\nsie bereits eine Abstraction enthalte: auch die Erkenntnifs der Aehnlichkeit zwischen concreten Inhalten sei nicht m\u00f6glich, ohne dafs der abstracte Begriff der Aehnlichkeit vorausgesetzt werde.\nVon der Richtigkeit dieses Einwandes kann ich mich nicht \u00fcberzeugen. Es ist allerdings richtig, dafs ich f\u00fcr die Beur-theilung der zwischen zwei Inhalten bestehenden Relation den abstracten Begriff dieser Relation schon besitzen mufs. Allein nicht um eine solche Beurtheilung der Relation als solcher, sondern vielmehr um eine Beurtheilung eines Gliedes der betreffenden Relation handelt es sich in den in Rede stehenden F\u00e4llen. Es ist durchaus nicht meine Meinung, dafs das U r t h e i 1 : \u201edies ist der Ton a\u201c zur\u00fcckgef\u00fchrt werden m\u00fcsse auf das Urtheil: \u201edieser Ton ist jenen fr\u00fcheren \u00e4hnlich\u201c. Ich meine vielmehr, dafs jenes erste Urtheil \u2014 die \u201eBeurtheilung des Tones a\u201c \u2014 der ad\u00e4quate Ausdruck f\u00fcr eben denjenigen complexen Thatbestand sei, der in dem letzteren Urtheil seinerseits \u201ebeurtheilt\u201c d. h. genau in derselben Weise mit den entsprechenden schon bekannten Thatbest\u00e4nden complex er Art als \u00e4hnlich erkannt wird, wie in jenem Falle der einzelne Ton mit fr\u00fcheren T\u00f6nen als \u00e4hnlich erkannt wird. Aehnlichkeits b e w u f s t s e i n ist noch nicht Aehnlichkeits-urtheil; damit eine Relation zwischen Bewufstseinsinhalten in meinem Bewufstsein und f\u00fcr mein Bewufstsein gegeben sei, ist durchaus nicht nothwendig, dafs sie selbst als solche beurtheilt werde. Dieses Urtheil tritt vielmehr event, als ein neuer Thatbestand hinzu.\nUm diesen Unterschied n\u00e4her zu erl\u00e4utern, dessen klare Bezeichnung mittels der zu Gebote stehenden sprachlichen Ausdr\u00fccke \u00fcberaus schwierig ist, weise ich zun\u00e4chst auf zwei einfachere Beispiele hin.\nb) Es sei ein concreter Bewufstseinsinhalt \u2014 etwa der piano angeblasene Clarinetton a \u2014 gegeben. Alsdann ist keineswegs zugleich mit diesem Bewufstseinsinhalte bereits das \u2014 wenn auch nur in Gedanken vollzogene \u2014 Urtheil gegeben, dafs wir es hier mit einem Ton von der H\u00f6he a, der Klangfarbe cy der Intensit\u00e4t p, oder \u00fcberhaupt mit einem Ton zu thun haben. Ueber das Zustandekommen dieser Urtheile haben zwar die fr\u00fcheren Betrachtungen Aufschlufs gegeben; doch soll darauf hier nicht weiter Bezug genommen werden. Sicher ist jedenfalls von vornherein, dafs ein jedes dieser Urtheile von unserer vor^","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n137\ng\u00e4ngigen psychischen Entwickelung insoweit abh\u00e4ngig ist, als es zu Urtheilen der genannten Art erst kommen kann, wenn die entsprechenden Pr\u00e4dicate bereits eine bestimmte Bedeutung f\u00fcr uns gewonnen haben; dafs also zum Mindesten in derjenigen Phase unseres Lebens, in welcher diese Bedingung noch nicht erf\u00fcllt ist, die fraglichen Urtheile nicht mit dem Auftreten jenes Inhaltes zugleich gegeben sein k\u00f6nnen.\nAndererseits mufs aber jedenfalls, damit nachtr\u00e4glich eines oder das andere jener Urtheile \u00fcber den fraglichen Inhalt zu Stande kommen k\u00f6nne, dieser selbst bereits in meinem Bewufst-sein und f\u00fcr mein Bewufstsein vorhanden, von anderen geschieden und als dieser bestimmte Inhalt festgehalten sein. Ist diese Bedingung nicht erf\u00fcllt, so kann entweder \u00fcberhaupt kein Urtheil \u00fcber den betreffenden Inhalt zu Stande kommen, oder das Urtheil k\u00f6nnte zum Mindesten nicht als Urtheil \u00fcber diesen Inhalt f\u00fcr mein Bewufstsein charakterisirt sein.\nWir m\u00fcssen also unterscheiden zwischen dem blofsen \u201eAuftreten eines bestimmten Inhaltes in meinem Bewufstsein\u201c auf der einen und irgend welcher \u201eBeurtheilung dieses Inhaltes\u201c auf der anderen Seite. Jeder solchen Beurtheilung w\u00e4re jenes erste Dasein des Inhaltes als unbeurtheiltes Dasein entgegenzusetzen und zwar w\u00e4re dieses f\u00fcr jene die nothwendige Vorbedingung.\nIch pflege dieses unbeurtheilte Dasein eines Inhaltes in meinem Bewufstsein und f\u00fcr mein Bewufstsein als \u201eVorgefunden-wTerden\u201c des betreffenden Inhaltes zu bezeichnen. Da damit bereits ein (wenn auch noch sehr unbestimmtes) Wissen von diesem Inhalte gegeben ist, halte ich mich f\u00fcr berechtigt, in diesem Falle bereits von einer Erkenntnifs des Inhaltes zu sprechen. In einer fr\u00fcheren Publication1 habe ich den Namen des subjectivenExistentialurtheiles gebraucht, um jene Erkenntnifs von jedem Wiedererkennen, jeder Pr\u00e4dication und jedem etwa an den Inhalt zu kn\u00fcpfenden Urtheil \u00fcber Physisches u. dergl. zu unterscheiden. Im Folgenden will ich mich daf\u00fcr des Ausdruckes \u201eprim\u00e4re Erkenntnifs\u201c des fraglichen Inhaltes bedienen. Ich unterscheide also zwischen der prim\u00e4ren Er-\n1 Ueber Verschmelzung und Analyse. Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 16, 413 f.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nH. Cornelius.\nkenntnifs eines Inhaltes und jeder mehr oder minder bestimmten Beurtheilung desselben in einer oder der anderen Richtung.1\nDie prim\u00e4re Erkenntnifs unserer Bewufstseinsinhalte setzt keinerlei andere psychische Thatsachen, vor Allem also auch keinerlei Abstraction voraus. Sie ist vielmehr das urspr\u00fcnglichste Factum des psychischen Lebens, ohne welches von keinem Be-wufstsein die Rede sein k\u00f6nnte.\nc) Derselbe Unterschied, der sich soeben zwischen der prim\u00e4ren Erkenntnifs und der Beurtheilung eines einfachen Inhaltes zeigte, besteht auch hinsichtlich jedes Complexes von Inhalten.\nEs seien zwei Inhalte f\u00fcr mein Bewufstsein gegeben. Dann kann wiederum nicht blos jeder der Inhalte f\u00fcr sich, sondern auch die Thatsache, dafs zwei Inhalte vorliegen, dafs ein Unterschied zwischen beiden besteht (und zwar ein Unterschied \u201edieser oder jener Art\u201c), Gegenstand unserer Beurtheilung werden. Aber wiederum ist jedes dieser Urtheile nicht mit dem Dasein jener beiden Inhalte und ihrer thats\u00e4chlich f\u00fcr unser Bewufstsein bestehenden Verschiedenheit eo ipso gegeben. Speciell kann das Urtheil, dafs die beiden Inhalte \u201everschieden\u201c sind, erst dann zu Stande kommen, wenn die Bedeutung dieses Rela-tionspr\u00e4dicates uns bereits bekannt ist. Jedenfalls kann aber auch dieses Urtheil erst im Anschlufs an das Vorhandensein der beiden verschiedenen Inhalte und ihrer Verschiedenheit in meinem Bewufstsein und f\u00fcr mein Bewufstsein zu Stande kommen.\nJede n\u00e4here Bestimmung des Unterschiedes der beiden Inhalte, jede Vergleichung derselben kann sich nur auf eine solche vorg\u00e4ngige \u201eprim\u00e4re\u201c, zun\u00e4chst unbeurtheilte Verschiedenheits-erkenntnifs gr\u00fcnden. Ohne diese letztere w\u00e4ren ja keine Gegenst\u00e4nde des Vergleichs vorhanden: solange die beiden Inhalte nicht f\u00fcr mein Bewufstsein als verschieden gegeben sind, d. h. solange jene prim\u00e4re Verschiedenheitserkenntnifs nicht stattgefunden hat, solange sind sie eben nicht zwei Inhalte und solange kann folglich von irgend einer vergleichenden Th\u00e4tigkeit, die sich auf sie bez\u00f6ge, nicht die Rede sein.\n1 Der im Texte bezeichnete Unterschied ist der primitivste Fall des Gegensatzes, welchen James zwischen der blofsen \u201eacquaintance with an object\u201c und jeder \u201eknowledge about the object\u201c statuirt (James, Principles of Psych. I, S. 222).","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n139\nIn dem Vorfinden zweier Inhalte ist diese prim\u00e4re Ver-schiedenheitserkenntnifs eingeschlossen : es giebt eben keine Mehrheit ohne Verschiedenheit und somit auch kein Vorfinden einer Mehrheit ohne jenes prim\u00e4re Vorfinden des Verschiedenseins. Da uns aber jeder Inhalt nur als Theil eines gr\u00f6fseren Bewufst-seinsganzen und insofern niemals isolirt gegeben ist, so ist mit jedem Vorfinden eines einzelnen Inhaltes als solchen eo ipso bereits eine Mehrheit und somit auch eine prim\u00e4re Verschieden-heitserkenntnifs, eine prim\u00e4re Unterscheidung des betreffenden Inhaltes von anderen gegeben. Mit anderen Worten : jedes Vorfinden oder Gewahrwerden eines Inhaltes ist mit solcher prim\u00e4rer Unterscheidung desselben von anderen identisch. In der letzteren liegt zugleich die erste Bestimmung des wahrgenommenem Inhaltes.\nMan kann die in Bede stehende prim\u00e4re Verschiedenheits-crkenntnifs nat\u00fcrlich auch mit anderen Ausdr\u00fccken bezeichnen, etwa als ein \u201eVerschiedenheitsbewufstsein\u201c, ein \u201eGef\u00fchl\u201c der Verschiedenheit u. dgl., vorausgesetzt, dafs die Benennung nicht zu irgendwelchen Schl\u00fcssen Anlafs giebt, die aus den Thatsachen nicht zu ziehen sind. Entschiedener Einspruch m\u00fcfste aus dem letzteren Grunde gegen die Bezeichnung der Verschiedenheit^-erkenntnifs als eines \u201eU n\u00e4hnlichkeitsbewufsts eins erhoben wyerden. Negative Bestimmungen haben nur Sinn gegen\u00fcber einer ausdr\u00fccklich oder implicite vorgelegten Frage nach dem negirten Thatbestande; eine prim\u00e4re Thatsache aber schliefst jede solche Beziehung auf eine vorg\u00e4ngige Frage aus.\nSo wenig das Vorfinden eines Tones den abstracten Begriff des Tones, so wenig setzt die hier besprochene prim\u00e4re Ver-schiedenheitserkenntnifs den abstracten Begriff der Verschiedenheit voraus. Sie bildet vielmehr, wie f\u00fcr jede Beurtheilung der Verschiedenheit, so auch f\u00fcr die Bildung des genannten Begriffes die unumg\u00e4ngliche Vorbedingung, genau so, wie das Vou-finden von T\u00f6nen die unentbehrliche Vorbedingung f\u00fcr die Bildung des abstracten Begriffes von T\u00f6nen ist.\nIn welcher Weise wir zur Bildung jenes Begriffes gelangen, darf \u2014 mit Bezugnahme auf die unter Nr. 2 angestellten Betrachtungen \u2014 aus meinem vorigen Aufsatze als bekannt vorausgesetzt werden.\nd) In derselben Weise, wie die prim\u00e4re Erkenntnifs des Tones jedem Urtheil \u00fcber den Ton, die prim\u00e4re Verschiedenheit!*-","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nH. Cornelius.\nerkenntnifs jeder Beurtheilung der Verschiedenheitsrelation, so mufs endlich auch jedem Urtheil \u00fcber die Aehnlichkeit (Gleichheit, Gleichartigkeit) zweier Inhalte ein entsprechender prim\u00e4rer Thatbestand vorausgehen, den wir in analoger Weise als prim\u00e4re Aehnlichkeitserkenntnifs zu bezeichnen haben. Genau so wie die prim\u00e4re Erkenntnifs der T\u00f6ne f\u00fcr die Bildung des abstracten Begriffes \u201eTon\u201c, so mufs diese prim\u00e4re Aehnlichkeitserkenntnifs f\u00fcr die Bildung des abstracten Begriffes der Aehnlichkeit die Grundlage bilden. Es kann daher keinesfalls behauptet werden, dafs diese Aehnlichkeitserkenntnifs den genannten Begriff bereits voraussetze.\nNichts Anderes aber als diese prim\u00e4re Aehnlichkeitserkenntnifs ist es, was oben f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Entstehung der Merkmalsbegriffe gefordert und vorausgesetzt wurde. Sie giebt sich in dem Wiedererkennen der Inhalte und der darauf gegr\u00fcndeten Beurtheilung der letzteren \u00fcberall zu erkennen, ohne dafs sie selbst darum als solche beurtheilt werden m\u00fcfste. Es kann allerdings dieser prim\u00e4ren Aehnlichkeitserkenntnifs sich ein Urtheil \u00fcber die Aehnlichkeit anschliefsen, d. h. die zun\u00e4chst f\u00fcr das Bewufstsein einfach vorhandene Aehnlichkeit kann nachtr\u00e4glich wiedererkannt und beurtheilt werden ; aber es ist durchaus nicht nothwendig, dafs solche Beurtheilung vollzogen werde, damit die oben ausgef\u00fchrten Consequenzen der prim\u00e4ren Aehnlichkeitserkenntnifs sich einstellen.\nWie aber eventuell die Beurtheilung der Aehnlichkeit zu Stande komme, lehrt abermals der Vergleich mit dem Beispiel der Beurtheilung des Tones. Wie wir den Ton nicht beurtheilen k\u00f6nnen ohne den betreffenden Pr\u00e4dieatsbegriff zu besitzen, so mufs auch der Beurtheilung der Aehnlichkeit diejenige Begriffsbildung vorausgehen, verm\u00f6ge deren die Beurtheilung stattfinden soll. Wie jener, so kann auch dieser Begriff sich nur auf Grund eines Wiedererkennens bilden: nur dafs dieses Wiedererkennen sich hier nicht auf einen einfachen Inhalt, sondern auf den Complex richtet, mit welchem sich uns beim Uebergang vom einen seiner Glieder zum anderen das eigent\u00fcmliche Erlebnifs (\u201eGef\u00fchl\u201c) verbindet, welches wir nachtr\u00e4glich als die Aehnlichkeit seiner Glieder zu bezeichnen lernen.\nWie wir sagen, dafs wir einen einfachen Inhalt oder ein Merkmal desselben beachten, wo sich an ihn ein Wiedererkennen in der einen oder in der anderen Richtung anschliefst,","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Abstraction.\n141\nso k\u00f6nnen wir hiernach auch davon reden, dafs wir die zwischen zwei Inhalten f\u00fcr unser Bewufstsein gegebene Aehnlichkeit (prim\u00e4re Aehnlichkeitserkenntnifs) beachten, wo wir die mit diesem Worte gemeinte Gestaltqualit\u00e4t des Complexes wiedererkennen. Dieses Beachten ist im einen wie im anderen Falle nicht mit dem Dasein \u2014 des Inhalts und seiner Merkmale, bez. der Aehnlichkeit der betreffenden Inhalte \u2014 im Bewufstsein und f\u00fcr das Bewufstsein identisch. Wo es aber stattfindet, ist damit zugleich nach den unter Nr. 2 durchgef\u00fchrten Betrachtungen die Entstehung des entsprechenden abstracten Begriffes gegeben: hier also die des Begriffes der Aehnlichkeit, ev. bereits einer \u201eAehnlichkeit in bestimmter Hinsicht\u201c.\nDie Bildung dieses Begriffes kann hiernach bereits in einer sehr fr\u00fchen Phase eintreten. Sie ist aber nicht Voraussetzung f\u00fcr den beschriebenen Process der Abstraction ; weder im Gebiete der einfachen noch im Gebiete der complexen Inhalte.\n(.Eingegangen am 11. Juni 1900.)","page":141}],"identifier":"lit31408","issued":"1900","language":"de","pages":"117-141","startpages":"117","title":"Zur Theorie der Abstraction","type":"Journal Article","volume":"24"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:50:56.039496+00:00"}