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{"created":"2022-01-31T14:07:41.091803+00:00","id":"lit31412","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Storch, E.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24: 185-193","fulltext":[{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Haben die niederen Thiere ein Bewufstsein?\nVon\nDr. E. Storch,\nAssist, der Kgl. psychiatrischen Klinik zu Breslau.\nEines der Lieblingsprobleme, welche der r\u00fchmlichst bekannte Gehirnanatom L. Edinger in neuerer Zeit in Angriff genommen hat, besch\u00e4ftigt sich mit dem ersten Auftreten des Bewufstseins in der Thierreihe. Emnger ist bekanntlich auf Grund vergleichend anatomischer sowie biologischer Untersuchungen geneigt, die Frage dahin zu beantworten, dafs Bewufstsein an das A orhandensein einer Grofshirnrinde gekn\u00fcpft w\u00e4re, und demzufolge \u00fcberall da fehle, wo eine Grofshirnrinde gar nicht oder nur unvollkommen entwickelt sei. Des Oefteren macht er darauf aufmerksam, dafs Anatomie und Physiologie allerdings ihren eigenen Weg gehen k\u00f6nnten, unabh\u00e4ngig von der vergleichenden Psychologie. \u201eAber,\" sagt er, \u201ees wird dem Naturforscher nicht eilaubt sein, wenn er einen weiteren Gesichtspunkt gewinnen will, die Ergebnisse der Erkenntnifstheorie zu vernachl\u00e4ssigen , und wir brauchen in der That nur einiger physio-psychologischer Scheinprobleme zu gedenken, um die Dringlichkeit diesei Forderung voll zu w\u00fcrdigen. Ich erinnere an die wunderbaren Deutungen, welche sich an die Erfahrungsthat-sache kn\u00fcpften, dafs wir, obgleich das Netzhautbildchen auf dem Kopfe steht, die Aufsenwelt aufrecht erblicken, eine Fragestellung, die sich doch nur aus dem primitiven Standpunkte heraus verstehen l\u00e4fst, das Bewufstseinsorgan vergliche die \u201eDinge an sich da draufsen\u201c mit dem Netzhautbildchen, etwa vie der Augenarzt bei der Ophthalmoskopie, w\u00e4hrend doch in Wahrheit die auf den Reiz erfolgende Ver\u00e4nderung unserer Sinnesorgane (hier das Netzhautbildchen), das einzige materielle Substrat unserer Bewufstseinsvorg\u00e4nge bildet, und nat\u00fcrlich im\n1 Hirnanatomie und Psychologie. Bert. Klin. Wochemehr. (26 n. 27). 1900.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 24.\t13","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nE. Storch.\nEinkl\u00e4nge mit unserer gesammten Sinnlichkeit die Begriffe oben und unten, rechts und links aufbauen hilft.\nEs ist hier nicht der Ort, Mehreres anzuf\u00fchren. Jedenfalls hat Edinger Recht, zu betonen, dafs uns viele Fragestellungen als \u201em\u00fcfsig\u201c erscheinen w\u00fcrden, wenn wir etwas mehr philosophische Schulung bes\u00e4fsen. \u2014 Ein Narr fr\u00e4gt viel, worauf kein Weiser antwortet. \u2014\nUnbedingt aber sollten wir eine derartige Schulung bei einem Forscher voraussetzen, der uns von dem ersten Auftreten des Bewufstseins in der Thierreihe erz\u00e4hlt. Und es ist gewifs nicht ohne Interesse darauf einzugehen, welchen Standpunkt Edixger dem erkenntnifstheoretischen Grundproblem, dem Ver-h\u00e4ltnifs des Bewufstseins zur Materie, gegen\u00fcber einnimmt.\nEdixger l\u00e4fst die Erwartung durchblicken, dafs dereinst, in Folge ganz neuer Entdeckungen, \u201e\u00fcber deren Wesen wir uns heute nicht einmal eine Idee machen k\u00f6nnen*4 (1. c.), es der Naturforschung gelingen m\u00f6chte, das R\u00fcthsei des Bewufstseins\nzu l\u00f6sen.\nNun, diese neuen Entdeckungen m\u00f6gen noch so abseits von allem Erwarteten hegen, Eines m\u00fcssen sie mit aller menschlichen Erfahrung gemein haben : Ihr Inhalt wird aus Bewegungs-gr\u00f6fsen bestehen, beziehentlich eine Gesetzm\u00e4fsigkeit zwischen ihnen ausdr\u00fccken. Von Bewegungsgr\u00f6fsen ausgehend wird der menschliche Geist aber immer nur auf Bewegungsgr\u00f6fsen schliefsen. Alle Erregung unserer Sinnesorgane, ihre Fortleitung zur Hirnrinde, der chemische oder physikalische Vorgang, den sie dort ausl\u00f6sen, erscheinen uns als Object immer nur als Bewegung der Aufsenwelt, ganz wie das Flammenbildchen auf der Netzhaut des Patienten dem spiegelnden Augen\u00e4rzte. Eine Br\u00fccke, die aus dem Bereich des Bewegten in das des Bewufsten hin\u00fcberf\u00fchrt, wird keine Entdeckung schlagen. \u2014 Ignora-bimus. \u2014\nGesetzt, es gel\u00e4nge einer immens entwickelten Technik auf k\u00fcnstlichem Wege lebendes Protoplasma herzustellen, der Homunculus in der Retorte w\u00e4re Thatsache geworden. Was h\u00e4tten wir damit erreicht? M\u00f6glich, dafs wir dann die Mechanik des Lebens begreifen w\u00fcrden, m\u00f6glich, dafs wir dann die Bewegungen dieses Wesens im Voraus berechnen k\u00f6nnten, dafs wir aus den vorauszusagenden Stellungen und Schwingungen der Sprach-organe auch die Laute zu construiren verm\u00f6chten, die seinem","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Haben die niederen Thiere ein Bewufstsein?\n187\nMunde entstr\u00f6men werden, f\u00fcr die Erkenntnifs des Bewufstseins w\u00e4re ^as 0*me jeden Belang, denn der Bewufstseinsvorgang, der diese Laute begleitet, bliebe uns nach wie vor nur aus eigener unmittelbarer Anschauung bekannt.\nWir thun Edinger also durchaus nicht unrecht, wenn wir ihn f\u00fcr einen Anh\u00e4nger des naiven Materialismus halten, dem der Geist eine Function der Materie ist, \u00e4hnlich wie die Absonderung der Galle eine solche der Leberzellen. Zum Ueberflufs noch folgendes Cit\u00e2t: \u201eEs ist durchaus verfr\u00fcht, heute das ganze Seelenleben des Menschen rein mechanisch erkl\u00e4ren zu wollen. Treibt auch unsere ganze Naturanschauung zu solchem Gesichtspunkte, so mufs doch mit gr\u00f6fster Pr\u00e4cision hervorgehoben werden, dafs wir keine Anhaltspunkte noch besitzen, welche zu seiner Annahme berechtigen\u201c (1. e.).\nGnade Gott unserer Naturanschauung, wenn sie wirklich dahin treibt ; hat denn Kant wirklich ganz umsonst gelebt, dafs einer unserer ersten Gehirnanatomen, der sich nebenher mit der Absicht tr\u00e4gt, eine vergleichende Psychologie zu schaffen, so sich \u00e4ufsern kann? Wie sagt doch Schopenhauer ? ..W\u00e4ren wir dem Materialismus mit anschaulichen Vorstellungen bis hierher\u201c (n\u00e4mlich bis zur Ableitung der Bewegungen in der Hirnrinde aus den sie veranlassenden Bewegungen der Aufsenwelt) \u201egefolgt, so wurden wir eine pl\u00f6tzliche Anwandlung des unausl\u00f6schlichen Lachens der Olympier sp\u00fcren, indem wir, wie aus einem Traume erwachend, mit einem Male inne w\u00fcrden, dafs sein letztes, so m\u00fchsam herbeigef\u00fchrtes Resultat, das Erkennen, schon beim allerersten Ausgangspunkt, der blofsen Materie als unumg\u00e4ngliche Bedingung vorausgesetzt war.\u201c\nAber wir haben bisher nur die eine Seite des EuiNGER\u2019schen Standpunktes kennen gelernt, die, so absurd sie dem Erkenntnifs-theoretiker erscheinen mag, doch von ihrem Grundirrthume abgesehen in sich logisch und gefestigt dasteht. Aber Edinger ist zugleich auch Spiritualist, der aus dem Bewufstsein Bewegungen construiren m\u00f6chte. An anderer Stelle lesen wir n\u00e4mlich: \u201eDer Beweis, dafs die Handlungen der Thiere und des Menschen durch ein Bewufstsein geleitet werden, ist f\u00fcr jede \u201eeinzelne derselben zu erbringen\u201c. Man glaube nicht etwa, dafs der Satz, so aus dem Zusammenh\u00e4nge herausgerissen, seinen Sinn ver\u00e4ndert. E. meint wirklich, dafs im Allgemeinen \u2014 ausnahmslos in der unbelebten Natur und vielleicht bei den niederen\n13*","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nE. Storch.\nThieren \u2014 der Wechsel der Erscheinungen in einer reinen Transformation von Bewegungsgr\u00f6fsen besteht, welche nach dem Gesetz von der Constanz der Energie abl\u00e4uft. Aber beim Menschen kommen Bewegungen vor, die ihre Ursache nicht, oder nicht ausschliefslich in Bewegungen haben, sondern geleitet werden von etwas Immateriellem, dem Bewufstsein. Um jeden Zweifel an einem Mifsverst\u00e4ndnis auszuschliefsen, f\u00fchrt er n\u00e4mlich im Anschlufs daran ein Beispiel an. In Bellagio sah er einen Mann mit Blecheidechsen, die in Folge eines einfachen Mechanismus sich auf dem Boden bewegen konnten. Kurz darauf sah er lebende Eidechsen, die bei seinem Herannahen davon huschten. Die Analogie zwischen dem Anspannen der Gummischnur bei den Automaten und ihrem Umherfahren einer-, dem Reiz seiner den Boden ersch\u00fctternden Schritte und der Flucht der Thiere andererseits bringt ihm den Eindruck hervor, dafs in beiden F\u00e4llen ein \u201efertiger Mechanismus von einer einfachen Ausl\u00f6sung\u201c in Th\u00e4tigkeit gesetzt wurde. \u201eUnsere Aufgabe ist es nun,\u201c f\u00e4hrt er fort, \u201ezu ermitteln, wie derartige Bewegungen zu Stande kommen. Ob neben dem erkennbaren Reize hier etwa noch ein anderes mitspielt, sagen wir die Furcht, der Wille zu entrinnen u. s. w.\u201c\nDeutlicher kann man seinen Standpunkt wohl nicht klar legen. Also die Welt, die der Naturforscher als ewig wechselnden Complex einer unver\u00e4nderlichen Totalsumme von Bewegungsgr\u00f6fsen betrachtet und betrachten mufs, ist nicht ein Ganzes, in sich Geschlossenes. Ueber ihr steht das Bewufstsein und greift beim Menschen als Ursache in den Ablauf der Bewegungen ein. Das Thier ist ein, wenn auch noch so complicirter Mechanismus, der in die Kette der materiellen Ver\u00e4nderungen eingeschaltet ist, der Mensch aber ist nur zu einem Theil Glied dieser Kette, zu einem anderen geh\u00f6rt er einem anderen Gliederringe an, der ihn bewegt, unabh\u00e4ngig vom Naturgesetz.\nWozu aber dann Physiologie und Psychologie, wozu Naturwissenschaft \u00fcberhaupt, wenn die Gesetze der Bewegung durchbrochen werden k\u00f6nnen vom freien Willen der Menschen, der ja eben, weil er frei ist, keinen Gesetzen folgt. Die Naturwissenschaft aber steht und f\u00e4llt mit dem Bewegungsgesetz. Man wende nicht ein, dafs durch diese Ausnahmestellung des Menschen die \u00fcbrige Natur nicht ber\u00fchrt w\u00fcrde. Jede durch freien Willen","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Haben die niederen Thiere ein Bewufstsein?\n189\nerzeugte Bewegung w\u00fcrde zugleich das Naturgesetz auch im Reiche des Unbelebten vernichten.\nVersenken wir uns in uns selbst, so nehmen wir Ver\u00e4nderungen unseres Bewufstseins wahr, richten wir unsere Sinne nach aufs en, so sehen wir Ver\u00e4nderungen von Bewegungsgr\u00f6fsen. Beide Reihen von Ver\u00e4nderungen sind gesetzm\u00e4fsig in ihrer Weise. In jeder ist das Zweite, weil das Erste war, und das Dritte wird sein, weil das Zweite ist. An keiner Stelle aber stehen die Glieder beider Ketten im Verh\u00e4ltnis von Ursache und Wirkung zu einander, und deshalb erscheint uns die eine, die des Bewufstseins, die identisch ist mit dem erkennenden Ich, \u00fcber das wir nicht hinausk\u00f6nnen, als frei, die zweite, die der Bewegung aber, als unfrei, abh\u00e4ngig und dem Naturgesetz unterworfen, insofern unser K\u00f6rper ein Glied dieser Kette ist, aus der er nicht heraus kann.\nZu dieser Erkenntnifs zum Mindesten nrufs der Forscher, der sich mit dem Bewufstseinsproblem besch\u00e4ftigt, vorgedrungen sein. Ein so widerspruchsvoller, den Todeskeim in sich tragender Dualismus wie der Emx\u00fcEu\u2019sche mufs hier jedem Fortschritte entgegenstehen.\nNach dieser vielleicht etwas weitschweifigen Kritik k\u00f6nnen wir versuchen, der Frage nach dem thierischen Bewufstsein unsererseits n\u00e4her zu treten.\nWenn wir gesehen haben, dafs alle Bewegungsvorg\u00e4nge, also auch die des menschlichen Lebens, den Bewegungsgesetzen der Materie gehorchen, d. h. nichts sind als einfachere und ver-wickeltere Umformungen von Bewegungsgr\u00f6fsen, Umsetzungen potentieller in kinetische Energien und umgekehrt, so weifs doch jeder denkende Mensch unmittelbar, dafs zugleich mit der Bewegung, welche er in der Aufsenwelt mit Einschlufs seines K\u00f6rpers wahrnimmt, in ihm ein Vorgang stattfindet, der nicht Bewegung ist: eine Bewufstseinsver\u00e4nderung. Da diese beiden Ver\u00e4nderungen aber, die der Materie und die des Bewufstseins, nicht im Verh\u00e4ltnis von Ursache und Wirkung stehen, so gehen sie ewig neben einander her, indem der Causalnexus jede beider Reihen nach zwei Richtungen ins Unendliche fortsetzt, ohne jemals zwischen beiden eine Br\u00fccke zu schlagen. Da wir aber an der Existenz des Bewufstseins ebensowenig Zweifel erheben k\u00f6nnen, wie an der Existenz der Materie, so bleibt nur der Schlufs : Die Materie erscheint uns als Bewegung, soweit sie","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nE. Storch.\naufser uns liegt, Object unseres Ich ist, sie erscheint uns als Bewufstsein, sofern sie Subject ist. Diese subjective Seite ist uns nur von unserem eigenen Ich bekannt, und bleibt uns ewig unnahbar bei der gesammten Aufsenwelt. Dafs aber die ge-sammte Materie diese subjective Seite besitzt, ist ein viel zwingenderer Schlufs als der von der Handlungsweise unserer Mitmenschen auf ein bei ihnen vorhandenes Bewufstsein.\nDenn hier schliefsen wir nur aus Analogie : An unseren Mitmenschen als Object nehmen wir ganz gleiche Bewegungen wahr wie an unserem eigenen K\u00f6rper, der Aufsenwelt, im engeren Sinne. Wir vernehmen von ihnen die gleiche Sprache, sehen sie unter den gleichen Umst\u00e4nden sich bewegen, handeln, wie wir selbst in gleicher Lage thun w\u00fcrden, und folgern, weil wir als Subject wissen, dafs diese Bewegungsreihen mit Bewufstsein einhergehen, dafs sie bei allen Menschen mit Bewufstsein verkn\u00fcpft sein m\u00f6gen. So lange wie diese Uebereinstimmung in Motiv und Bewegung eine sehr grofse ist, hat dieser Analogie-schlufs etwas Zwingendes, das er verliert, sobald die Uebereinstimmung geringer wird, wie z. B. bei den niederen Thieren. Hieraus aber auf die Abwesenheit von Bewufstsein zu schliefsen, ist nat\u00fcrlich absolut ungerechtfertigt ; geht doch allein schon aus der Verschiedenheit der Organisation eine Verschiedenheit der Reaction hervor. Das Bestreben Edikgeb\u2019s, objective Kennzeichen f\u00fcr das Vorhandensein von Bewufstsein, mit anderen Worten, das Bewufstsein als Object wahrzunehmen, ist nichts als das genaue Gegenst\u00fcck zur Telepathie der Spiritisten, die uns gestatten soll mit unseren durch nichts ge\u00e4ufserten Willensmeinungen auf weite Entfernungen die Gliedmaafsen unserer Mitmenschen in Bewegung zu setzen.\nDagegen ist der Schlufs auf das Bewufstsein der gesammten Materie aus der Doppelnatur unseres Ich, aus seiner subjectiven Seite dem Bewufstsein, aus seiner objectiven, der Bewegung, kein blofser Analogieschlufs, sondern ist zwingend wie ein mathematischer Beweis. Freilich ist es n\u00f6thig, dafs man von der Bewegung sowohl, wie von dem Bewufstsein scharfe Begriffe hat, und das Wahrgenommene von dem Acte der Wahrnehmung scharf unterscheidet. Definitionen der Begriffe \u201eBewufstsein und Bewegung\u201c lassen sich leider nicht geben, da sie die umfassendsten Abstractionen unseres Begriffsschatzes darstellen, die nur noch von dem Begriffskreise der Ver\u00e4nderung umfafst werden.","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Haben die niederen Thiere ein Bewufstsein?\n191\nBewufstsein ist die subjective, Bewegung die objective Ver \u00e4nderung.\nDanach m\u00fcssen w\u00fcr nat\u00fcrlich auch die Annahme zur\u00fcckweisen, dafs jemals eine Bewegungsgr\u00f6fse einen Bewufstseins-vorgang hervorruft, wenn es einer oberfl\u00e4chlichen Betrachtung auch so erscheinen mag. Diese materialistische Anschauung ist genau so unhaltbar, wie die umgekehrte spiritualistische, wonach das Bewufstsein Bewegungen erzeugt.\nDas Verh\u00e4ltnifs ist vielmehr folgendes: Die Reize oder Motive, Bewegungsgr\u00f6fsen der weiteren oder engeren Aufsenwelt beeinflussen die Bewegungsverh\u00e4ltnisse der nerv\u00f6sen Substanz, indem ein Theil der reizenden Energie in sie \u00dcbertritt und schliefslich eine gewisse Bewegung in der Hirnrinde erzeugt. Diese Bewegung kann ganz anders geartet sein als die des Reizes, wie ja die elektrische Wellenbewegung im Telephondraht ganz anders beschaffen ist, wie die Schallwellen, welche dem Empfangsapparat entstr\u00f6men. Aber die beiden Bewegungsvorg\u00e4nge, der Reiz und die Hirnrindenver\u00e4nderung m\u00fcssen bei aller Verschiedenheit ihrer Natur in einer gesetzm\u00e4fsigen Beziehung stehen, wie die Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse der Schall- und der elektrischen Schwingungen beim Telephoniren. Wie aber die Bewegungsgr\u00f6fse des Reizes in gesetzm\u00e4fsiger Weise in der Hirnrindenmaterie sich wiederspiegelt, so tritt auch von der Bewufstseinsgr\u00f6fse der Reizbewregung etwas in das Bewufstsein der Hirnrinde \u00fcber, so dafs hier auch eine subjective Wiederspiegelung der subjectiven Seite der Materie stattfindet.\nDas Bewufstsein entsteht nicht aus der Bewegung, sondern begleitet sie.\nIch weifs sehr wohl, dafs die Lehre von dem Bewufstsein auch der unbelebten Materie vielseitigen Widerspruch hervorruft, und von Forschern wie Loeb z. B. f\u00fcr ein Phantasma erkl\u00e4rt wird. Diesen Widerspruch halte ich aber nur f\u00fcr den Beweis eines mangelhaften Verst\u00e4ndnisses. Denn, w\u00e4re das aus materiellen Vorg\u00e4ngen nicht ableitbare Bewufstsein erst bei einer gewissen H\u00f6he der Entwickelung in der Thierreihe aufgetreten, so k\u00e4me man logischerwreise um das Eingreifen eines pers\u00f6nlichen Sch\u00f6pfers in das Weltgetriebe nicht herum. Und dieser m\u00fcfste Macht gehabt haben, so aus Nichts die Materie zu schaffen, wie das Bewufstsein.","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nE. Storch.\nMan kann ohne unlogisch zu werden, einer von beiden Anschauungen anh\u00e4ngen, nicht aber beiden zugleich. Entweder, oder.\nAus diesem consequent durchgef\u00fchrten psychophysischem Parallelismus ergiebt sich aber sofort eine weitere Folgerung: Die Materie besitzt ein Ged\u00e4chtnifs.\nDas Bewufstsein ist n\u00e4mlich kein Zustand, sondern eine Ver\u00e4nderung. Es besteht nur, insofern es sich ver\u00e4ndert. Denn das Einzige, was wir von der Materie wahrnehmen, ist ihre Ver\u00e4nderung, die Bewegung, und ihr gehen die Ver\u00e4nderungen des Bewufstseins parallel. Wie aber die Bewegung eines Punktes (die einfachste Form der Bewegung, gewissermaafsen das Element, aus dem sich alle verwickelter en Bewegungen ableiten) nur besteht, insofern in jedem Momente die Summe der verflossenen Bewegung in dem augenblicklichen Orte des Punktes in potentia vorhanden ist, so ist auch der einfachste Bewufstseins Vorgang dadurch charakterisirt, dafs bei jeder Bewu\u00dftseinsver\u00e4nderung der eben verflossene Bewufstseinszustand, die Summe aller vorhergehenden Ver\u00e4nderungen, mit anklingt, d. h. in potentia fortbesteht.\nMan kann sich von dieser Grundbedingung des Bewufstseins leicht an folgendem Beispiele \u00fcberzeugen. Betrachtet man den sich drehenden Secundenzeiger der Uhr, so wissen wir nur darum, dafs er sich bewegt, weil wir in jedem Momente die Reihe der fr\u00fcheren Stellungen im Bewufstsein haben. Eine Bewegung w\u00fcrden wir nicht wahrnehmen k\u00f6nnen ohne Ged\u00e4chtnifs.\nWir d\u00fcrfen also von der Materie behaupten, ihre Elementar-theilchen bewegen sich, insofern sie Object sind, sie ver\u00e4ndern ihr Bewufstsein, sofern sie Subject sind. Folglich besitzt die Materie ein Ged\u00e4chtnifs.\nDas objective Correlat dieses Ged\u00e4chtnisses besteht nat\u00fcrlich wieder in Bewegungszust\u00e4nden, die, wenn sie auf unsere Hirnrinde einwirken, mit parallelen Bewufstseinsvorg\u00e4ngen verbunden sind.\nKant und La Place studirten den Bau unseres Planetensystems, dessen Bewufstsein und Ged\u00e4chtnifs sich in ihrem Bewufstsein spiegelte. Sie schenkten uns die Entwickelungsgeschichte der Himmelsk\u00f6rper.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Haben die niederen Thiere ein Bewufstsein?\n193\nLyell widmete seine Beobachtung der Erdoberfl\u00e4che, deren Bewufstsein und Ged\u00e4chtnifs in ihm gleichsam als Reflex die Entwickelungsgeschichte der Erde erzeugte.\nDarwin und Hackel \u00fcbersetzten uns das Ged\u00e4chtnifs der lebenden Materie ins Menschliche, und Hackel speciell verdanken wir das biologische Grundgesetz. Aber so unbegreiflich uns die Thatsache bisher erschienen sein mag, dafs der Embryo auf seinem Werdegange die Stammesgeschichte wiederholt, so klar erscheint sie uns, wenn wir erkennen, dafs der Keim im elterlichen Organismus in der Lage ist, das Ged\u00e4chtnifs desselben in sich aufzunehmen. Der Keim ist die Summe, allerdings nicht die einfach arithmetische, \u201e s\u00e4mmtlicher Bewegungsgr\u00f6fsen, sofern sie alle seine Vorfahren beeinflufst haben. In ihm ist enthalten das Ged\u00e4chtnifs der Eltern sowohl wie des Stammes, und seine Ver\u00e4nderungen bis zur Reife sind das getreue Abbild der Phylogenie.\nEs w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, wollte ich die ungemeine Fruchtbarkeit der Theorie des psychophysischen Parallelismus hier weiter darthun. Wie aus ihm die Relativit\u00e4t aller Sinneswahrnehmung, das sog. psychophysische Grundgesetz, unmittelbar hervorgeht, welche Bedeutung er f\u00fcr das Verst\u00e4ndnifs von Raum und Zeit, den Kant\u2019sehen Formen der reinen Sinnlichkeit, beansprucht, das darzulegen ist hier nicht der Ort. Und wenn Edinoer ihm trotzdem den Vorwurf der Unfruchtbarkeit macht, so k\u00f6nnte dieser Vorwurf auch in Eding-er selbst seinen Grund finden.\nZwei Seiten zeigt uns die ewige, unerschaffene Materie : die unmittelbare, subjective, das Bewufstsein und die mittelbare, objective, die Bewegungsgr\u00f6fse ; beide ewig und unerschaffen wie Zeit und Raum, die durch sie bestehen.\nIch glaube gezeigt zu haben, dafs der psychophysische Parallelismus eine sehr klare Vorstellung von den Beziehungen von Materie und Bewufstsein gew\u00e4hrt. Auch vermag ich ihn keineswegs f\u00fcr eine unfruchtbare Hypothese zu halten, wie Edin\u0153er. Sicher hat er den Vorzug, ..dafs er mancherlei, scheinbar unl\u00f6sliche Fragestellungen als m\u00fcfsig erscheinen l\u00e4fst\"\u2018 (1* CA zn welchen denn auch die nach dem ersten Auftreten des Bewufstseins in der Thierreihe geh\u00f6ren d\u00fcrfte.\n(.Eingegangen am 11. Juli 1900.\")","page":193}],"identifier":"lit31412","issued":"1900","language":"de","pages":"185-193","startpages":"185","title":"Haben die niederen Thiere ein Bewu\u00dftsein?","type":"Journal Article","volume":"24"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:07:41.091812+00:00"}