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{"created":"2022-01-31T16:27:02.594130+00:00","id":"lit31418","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Raif, Oskar","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24: 352-355","fulltext":[{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"t\nI\nj\n('\n\nlieber Fingerfertigkeit beim Clavierspiel.\nVon\nOskae Raif. 1\nDie Annahme, dafs der Claviervirtuose einer \u00fcber das vorhandene normale Maafs gesteigerten Beweglichkeit der einzelnen Finger bedarf, erweist sich bei eingehender Beobachtung als irrth\u00fcmlich.\nZahlreiche Versuche mit Personen aus allen St\u00e4nden und Berufsclassen haben mir ergeben, dafs wir in einer Secunde durchschnittlich 5 bis 6 Anschlagsbewegungen mit dem zweiten und dritten Finger, und nur 4 bis 5 mit den \u00fcbrigen Fingern hervorbringen k\u00f6nnen.\nIm Allgemeinen haben Gebildete wohl eine gr\u00f6fsere Fingerbeweglichkeit als Personen niederer St\u00e4nde, keineswegs aber Clavierspieler eine gr\u00f6fsere Beweglichkeit wie Nichtclavierspieler.\nUnter den Letzteren konnten einige mit Leichtigkeit 7 Anschlagsbewegungen in einer Secunde hervorbringen, w\u00e4hrend eine ganze Reihe guter Clavierspieler es im gleichen Zeitr\u00e4ume nur auf 5 Bewegungen brachte.\nUeberraschend ist diese Erscheinung nur, weil wir die Th\u00e4tigkeit der einzelnen Finger beim Clavierspielen weitaus \u00fcbersch\u00e4tzen. Bei allen Passagen (Tonleitern, Arpeggien etc.) bleiben die Anforderungen an den einzelnen Finger weit hinter\n1 Diesen Aufsatz liinterliefs der im vorigen Jahre verstorbene Verfasser, Professor an der Berliner K. Hochschule f\u00fcr Musik, nebst einem zweiten \u201eUeber den Anschlag\u201c. Leider fehlen bei dem letzteren, worin er die Schattirungen des Anschlags (in dem er selbst als einer der vorz\u00fcglichsten Meister galt) an Curven aufzeigt, die durch einen Hebelapparat aufgeschrieben wurden, die zur Erl\u00e4uterung und Beweisf\u00fchrung n\u00f6thigen Figuren. Der Aufsatz kann daher vorl\u00e4ufig nicht ver\u00f6ffentlicht werden; aber vielleicht gelingt es auf Grund seiner Methode noch, das Fehlende zu erg\u00e4nzen. Die Studie w\u00fcrde auch psychologisch nicht ohne Interesse sein und die von Binet und Courtier angestellten \u201eGraphischen Untersuchungen \u00fcber die Musik\u201c, die dem Verf. \u00fcbrigens erst nachtr\u00e4glich bekannt wurden, in einem wesentlichen Punkt erg\u00e4nzen. C. Stumpf.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Fingerfertigkeit beim Clavier spiel.\n353\nseiner normalen Leistungsf\u00e4higkeit zur\u00fcck. Nur beim Triller wird die vorhandene Beweglichkeit der einzelnen Finger ausgen\u00fctzt. Ein Triller von 8 bis 12 T\u00f6nen in einer Secunde entspricht den 4 bis 6 Anschlagsbewegungen der einzelnen Finger.\nEin Triller von mehr als 12 T\u00f6nen in einer Secunde h\u00f6rt auf, unserem Ohr als musikalischer Triller zu erklingen, woraus sich ergiebt, dafs die Grenze unserer Fingerfertigkeit mit der unserer H\u00f6rf\u00e4higkeit zusammenf\u00e4llt. Auch bei Passagen k\u00f6nnen kaum mehr als 12 T\u00f6ne in einer Secunde deutlich wahrgenommen werden.1 Eine Hand, deren einzelne Finger in einer Secunde nur 4 Anschlagsbewegungen machen k\u00f6nnen, verf\u00fcgt \u00fcber mehr Bewegungen (5 X 4 \u2014 20), als wir im gleichen Zeitr\u00e4ume T\u00f6ne unterscheiden k\u00f6nnen. Eine \u00fcber das normale Maafs gesteigerte Beweglichkeit der einzelnen Finger w\u00e4re also gar nicht zu ver-werthen.\nEinige Beispiele werden zeigen, wie gering oft selbst bei\nden schnellsten Passagen die Betheiligung der einzelnen Finger ist.\nDie C-Dur-Tonleiter von c bis c 2 w\u00e4hrend eines Viertels im Tempo \\on \u00f6 60 gespielt, wird auf jeden Zuh\u00f6rer den Eindruck einer bis an die Grenze der M\u00f6glichkeit gesteigerten Fingerfertigkeit hervorbringen. Bei n\u00e4herer Betrachtung stellt sich die Anzahl der Anschlagsbewegungen f\u00fcr den einzelnen Finger heraus wie folgt:\nDaumen\t4 Anschlagsbewegungen\n2. Finger\t4\nin einer Secunde 3.\n4.\n5.\n\u00bb\n\n\n4\n2\nV\nr\nv\nv\nSumma :\t15 Anschlagsbewegungen\nDie Sechzehntelstelle aus dem letzten Satz von Mendels-sohns G-moll Concert pflegen unsere ber\u00fchmten Schnellspieler\n4521\t3421\n4 5 2 1\n\u00a5\n\u00b0 h\t~----\u00ab\t\"-----O \u2014 -\ny f\tWi\u2014.-----tri\u2014\u00ae--\u00a9----\n4521\t4521\t4521\n1\nim Tempo j . \u2014 60 (12 T\u00f6ne in einer Secunde) herunter zu rasen. In diesem Tempo erhalten wir bei dem unteren Finger-\n1 Vgl. 0. Abraham und K. L. Schaefer, Ueber die maximale Geschwindigkeit von Tonfolgen, Zeitschr. f. Psychol. 20, 408 f.\tSt.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 24.\n24","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nOscar Baif.\nsatz nur 3 Bewegungen in einer Secunde f\u00fcr jeden dabei betheiligten Finger, bei dem oberen Fingersatz wird der 5. Finger einmal durch den 3. Finger abgel\u00f6st.\nWer je Tausig den Schlufssatz aus Weber\u2019s Concertst\u00fcck, oder Rubinstein den letzten Satz aus Chopin\u2019s R-moll - Sonate, oder B\u00fclow die Tonleiter stelle aus Chopin\u2019s Fis-dur-Impromptu spielen geh\u00f6rt hat, wird diese Virtuosenleistungen als an der Grenze des M\u00f6glichen, sowohl f\u00fcr H\u00f6rer wie Spieler, angekommen erkl\u00e4ren. Die Contr\u00f4le mit dem Metronom ergiebt f\u00fcr diese drei Beispiele, dafs auch hier nicht mehr als 12 T\u00f6ne in einer Secunde gespielt wurden, und dafs die Betheiligung der einzelnen Finger dabei eine verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig geringe war.\nEs geht somit zur Gen\u00fcge hervor, dafs wir die Ueber-windung der Schwierigkeiten im Clavierspiel nicht in der Ausbildung der einzelnen Finger zu suchen haben.\nNicht in der Bewegung an sich, sondern in der Rechtzeitigkeit der Bewegung, d. h. in dem Zeitverh\u00e4ltnifs von einer Bewegung zur anderen liegt die Schwierigkeit.\nDiese Rechtzeitigkeit kann zweifellos nur ein Product unseres Willens sein, wir haben also den Ausgangspunkt f\u00fcr die Fingerfertigkeit in den Centrait heilen unseres Nervensystems zu suchen, denn hier m\u00fcssen die oben erw\u00e4hnten 15 Bewegungen alle als Theile einer innerhalb 1 Secunde auszuf\u00fchrenden Handlung gewollt sein.\nWenn auch im Augenblick der Ausf\u00fchrung diese auf Reflexbewegung beruht, so ist hierbei zu bedenken, dafs solche Reflexbewegungen secund\u00e4re Erscheinungen sind, denen in diesem Fall eine vielmalige, mit Bewufstsein gewollte prim\u00e4re Bewegung vorangegangen sein mufs.\nVon den vielen Versuchen, die ich anstellte, um mir Klarheit \u00fcber diese Vorg\u00e4nge zu verschaffen, m\u00f6gen hier die folgenden besonders erw\u00e4hnt werden.\nIm Winter 1888 liefs ich 18 meiner Sch\u00fcler zwei Monate lang nur mit der rechten Hand studiren. Vorher wmrde mit dem Metronom das Tempo f\u00fcr F\u00fcnf finger \u00dcbungen, Tonleitern, Arpeggien etc. festgestellt. Ich erhielt f\u00fcr Sechzehntelfiguren\nein Durchschnittstempo von j = 120 f\u00fcr die rechte Hand und J = 116 f\u00fcr die linke Hand.\nEs wurden nun mit der rechten Hand jene Finger\u00fcbungen, Tonleitern und Accordstudien ge\u00fcbt, \u00fcber welche ich an anderer","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Fingerfertigkeit beim Clavierspiel.\n355\nStelle berichten werde. Nach 8 Tagen war die rechte Hand auf 126 gestiegen (im Durchschnitt), nach weiteren 8 Tagen auf 132 und so weiter, bis nach 2 Monaten das Durchschnittstempo auf 186 gekommen war. Als ich nun dieselben Uebungen mit der linken Hand spielen liefs, setzte diese. Hand, welche vor 2 Monaten bei 116 aufgeh\u00f6rt hatte zu spielen, unvermittelt mit einem Durchschnittstempo von 152 ein.\nBei einigen Sch\u00fclern machten sich anf\u00e4nglich gewisse St\u00f6rungen bemerkbar, die aber sofort gehoben wurden, als ich die Tonleitern von oben nach unten spielen liefs, weil dadurch die Beihenfolge der Finger die gleiche wie bei der rechten Hand wurde und die rhythmischen Accente auf die gleichen Finger fielen.\nF\u00fcr den einzelnen Finger war bei diesen 18 Sch\u00fclern eine gesteigerte Bewegungsf\u00e4higkeit nicht bemerkbar. Durch diese Wahrnehmung aufmerksam gemacht, begann ich die einzelnen Finger aller meiner Sch\u00fcler auf ihre Beweglichkeit eingehend zu pr\u00fcfen. Die hierauf bez\u00fcglichen Untersuchungen, welche sich in einzelnen F\u00e4llen \u00fcber mehrere Jahre erstreckten, ergaben, dafs trotz eines je nach der Beanlagung mehr oder weniger erheblich gesteigerten Tempos, f\u00fcr Tonleitern und andere Passagen die Beweglichkeit der einzelnen Finger unver\u00e4ndert geblieben war.\nDie durch anhaltendes Ueben hervorgebrachte organische Ver\u00e4nderung der Musculatur kann sich nur in gesteigerter Kraft und Ausdauer, nicht aber in gesteigerter Beweglichkeit \u00e4ufsern.\nJeder Clavierspieler kann die Erfahrung machen, dafs er ein Musikst\u00fcck, welches er vorher oft geh\u00f6rt hat, schneller \u201ein die Finger\u201c bekommt als ein ihm v\u00f6llig neues.\nBei aufmerksamer Beobachtung dr\u00e4ngen sich \u00e4hnliche Wahrnehmungen \u00fcberall auf, sie erkl\u00e4ren sich unschwer aus dem vorher Gesagten.\nWir verlegen das Hauptgewicht der musikalischen Erziehung unserer Claviersch\u00fcler zu einseitig auf die Fingerfertigkeit und tragen dem Zusammenwirken von Finger, Ohr und Auge zu wenig Rechnung. Nicht Fingerfertigkeit, sondern Denkfertigkeit haben wir bei unseren Claviersch\u00fclern zu erziehen.\n(.Eingegangen am 19. October 1900.)\n24*","page":355}],"identifier":"lit31418","issued":"1900","language":"de","pages":"352-355","startpages":"352","title":"Ueber Fingerfertigkeit beim Clavierspiel","type":"Journal Article","volume":"24"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:27:02.594135+00:00"}