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{"created":"2022-01-31T14:03:52.348114+00:00","id":"lit31421","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Edinger, L.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24: 445-448","fulltext":[{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Hirnanatomie und Psychologie.\nEntgegnung an Herrn E. Storch.\nVon\nL. Edinger,\nFrankfurt a. M.\nDem Verf. von \u201eHirnanatomie und Psychologie\u201c seien wenige Worte zur Aufkl\u00e4rung gestattet anl\u00e4fslich des in dem vorletzten Heft dieser Zeitschrift (S. 185) erschienenen Aufsatzes von Herrn Storch. Ich bin nicht so unh\u00f6flich anzunehmen, dafs Herr Storch meine Arbeit ungenau gelesen oder ihren Zweck nicht verstanden habe, ich nehme vielmehr an, dafs meine Darstellung eine nicht gen\u00fcgend klare gewesen sein mufs. Wie sollte ich sonst in den Geruch von Anschauungen kommen, die mich, als ich sie von Herrn Storch mir zugeschrieben sah, wahrhaft erschreckten !\nZun\u00e4chst m\u00f6chte ich f\u00fcr Diejenigen, welche meine kleine Schrift nicht kennen, festlegen, was aus Herrn Storch\u2019s Aufsatz gar nicht hervorgeht; dafs ihr ausgesprochener Zweck ist, zu untersuchen, wie weit die Hirnanatomie in Psychologies n\u00fctzen kann und dafs ich zu dem Schlufs komme : Da die Anatomie uns \u00fcber das Bewufstsein Nichts aussagt, bleiben alle psychologischen Untersuchungen sensu strenuo der Psychologie \u00fcberlassen. Die Anatomie kann nur untersuchen, wie weit der etwa gefundene Mechanismus ausreicht, beobachtete Handlungen des Menschen und der Thiere zu erkl\u00e4ren, ohne dafs die Annahme eines Bewufstseins n\u00f6thig ist. Man hatte im laufenden Jahrhundert so vielfach Kraft und Aufgabe der Anatomie \u00fcbersch\u00e4tzt, dafs es mir in dem \u201eS\u00e4cularartikel\u201c, den die Redaction eines geachteten Blattes von mir gew\u00fcnscht hatte, wohl an der Zeit schien, auszusprechen was sie leisten kann, wo ihre Grenzen und wo ihre weiteren Aufgaben liegen. In dem obigen Satze","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nL. Edinger.\nund in demjenigen, welcher darauf hinweist, dafs man oft genug an ein viel zu complicirtes Problem herangegangen sei, an den Versuch das menschliche Denken irgendwie aus dem Baue des menschlichen Gehirnes zu erkl\u00e4ren, liegt meines Erachtens der Kernpunkt meiner Ausf\u00fchrungen, die an Beispielen dann zeigen, wie man relativ weiter kommt, wenn man das einfachere Gehirn der niederen Vertebraten erforscht und auf seine Leistungsf\u00e4higkeit untersucht, indem man mehr als bisher die Lebensgewohnheiten dieser Thiere studirt. Herr von Uexk\u00fcll u. A. haben neuerdings behauptet, dafs es ganz aufser dem Bereiche wissenschaftlicher Arbeit liege, zu untersuchen, ob ein Thier bei Aus\u00fcbung irgend einer Handlung Bewufstsein habe. So weit m\u00f6chte ich nicht gehen, denn es scheint keineswegs aussichtslos, an die Frage heranzutreten ob, wenn einmal der Mechanismus gen\u00fcgend bekannt ist, sich nicht Leistungen zeigen, die \u00fcber das hinausgehen, was die bekannte Maschine fertig bringen k\u00f6nnte. Ich habe \u2014 ganz ohne zu pr\u00e4judiciren \u2014 geschlossen: Wir werden auch auf dem vorgeschlagenen Wege an einen Punkt kommen, wo die Annahme eines Bewufstseins nothwendig wird; aber, wenn einmal alles mechanisch Erkl\u00e4rbare abgeschieden ist, wird die Aufgabe, den psychologischen Problemen n\u00e4her zu treten, wesentlich einfacher sein. \u2014 Alle hypothetischen Erkl\u00e4rungen bei Seite lassend, wollte ich im Wesentlichen die Methode zeigen, welche Andere und ich zun\u00e4chst zu benutzen gesonnen sind. Wie weit die so erreichbaren Resultate der Psychologie zuzurechnen sind, dar\u00fcber kann man ja verschiedener Meinung sein; dafs sie ihr n\u00fctzlich sein k\u00f6nnen, wird Niemand bestreiten. Auch nachdem ich Herrn Storchs Kritik gelesen habe, vermag ich nicht zuzugeben, dafs kein Nutzen in einer Methode liegen sollte, die einmal ganz voraussetzungslos zu deuten sucht, was sie zu erkennen vermag. Die Psychologie hat, indem sie den bisherigen Resultaten der Physiologie ja bereits eifrige Aufmerksamkeit schenkte, gezeigt, dafs ein Abscheiden des mechanisch Erkl\u00e4rbaren von den Processen, deren Studium ihre Aufgabe ist, allzeit ihr willkommen war.\nEine solche Methode birgt nur f\u00fcr den oberfl\u00e4chlich Zuschauenden den Keim des Dualismus in sich, sie mufs durchaus nicht zu der Annahme eines solchen f\u00fchren; sie ist ja nichts weiter als ein Weg, der f\u00fcr kurze oder l\u00e4ngere Zeit begangen werden soll, bis die Probleme klarer liegen.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Hirnanatomie und Psychologie.\n447\nWer meinen kleinen Aufsatz wirklich liest, wird erkennen, dafs mir der Vorwurf des Herrn Storch sehr befremdlich erscheinen mufste, welcher besagt, ich sei ein naiver Materialist! F\u00fcr Jedermann, welcher den von Herrn St. als Beweis f\u00fcr diese Behauptung citirten Satz mit dem Zusammenh\u00e4nge des Ganzen vergleicht, wird dieser Vorwurf hinf\u00e4llig werden. Es ist richtig, ich habe die L\u00f6sbarkeit des Bewufstseinsproblemes nicht geleugnet ; aber, wenn ich meinte, dazu k\u00f6nnten nur Entdeckungen \u2014 auch logische k\u00f6nnen es sein \u2014 helfen, von deren Natur wir bisher keine Ahnung haben, so glaubte ich damit, so billige Hypothesen, wie die mir unterlegten, gen\u00fcgend bei Seite geschoben zu haben. So wenig wie Herr St. glaube ich, dafs die Bewufstseinsfrage dann gel\u00f6st sei, wenn einmal der allerfeinste Mechanismus der Nervenvorg\u00e4nge erkannt ist. Ein Mensch ist doch nicht deshalb ein naiver Materialist, weil er annimmt, dafs auf irgend einem Gebiete der Naturwissenschaft oder der Philosophie Entdeckungen gemacht werden k\u00f6nnten, die etwa Aufschl\u00fcsse \u00fcber noch ungeahnte Zusammenh\u00e4nge zwischen Bewufstsein und Bewegung ergeben.\nMeinem Kritiker kann ich einen Vorwurf aber nicht ersparen. Er mufs meine kleine Abhandlung doch manchmal oberfl\u00e4chlich gelesen haben. Wie anders k\u00f6nnte er dann zu der Idee kommen, ich sei zun\u00e4chst Materialist, dann auch Idealist. Und dafs deshalb, weil ich annehmen soll, dafs ganz pl\u00f6tzlich in der Beihe beim Menschen Bewegungen auf-treten, die geleitet w\u00e4ren von dem Bewufstsein. Ihm ist entgangen, dafs ich zu der Bewufstseinsfrage, in dem Sinne, wie er sie auffafst, \u00fcberhaupt keine Stellung zu nehmen vermag, weil die vorliegenden Hypothesen mir unbefriedigend scheinen. Mein Aufsatz handelt nur von der Art, wie man sich bei zuk\u00fcnftigen Studien die Aufgabe, Handlungen der Thiere und des Menschen zu verstehen, dadurch wird vereinfachen k\u00f6nnen, dafs man viel weitergehende Ausschaltungen versucht, als sie bisher ge\u00fcbt wurden. Was offenbar den Zorn des Herrn St. so erregt hat, ist der Ausspruch, dafs, weil keine der bekannten Theorien mich v\u00f6llig befriedigte, ein non liquet f\u00fcr mich pers\u00f6nlich bestehe und dafs ich den Naturforschern deshalb rathen m\u00f6chte, an die Aufgaben heranzutreten, welche heute l\u00f6sbar scheinen. Wer zum Beispiel die Lehre vom psychophysischen Parallelismus nicht acceptirt ich befinde mich hier, nebenbei gesagt, in der","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nL. Edinger.\nGesellschaft der besten M\u00e4nner \u2014 braucht deshalb noch nicht Indeterminant zu sein oder gar die Herrschaft des Naturgesetzes in geistigen Dingen zu l\u00e4ugnen. Ich m\u00f6chte \u00fcbrigens die Berechtigung der Frage: Wo beginnt das Bewufstsein? nicht ganz in Abrede stellen, wenn man unter Bewufstsein zun\u00e4chst einmal nur das versteht, was man beim erwachsenen normalen Menschen so nennt und alle Speculationen \u00fcber zun\u00e4chst v\u00f6llig unl\u00f6sbare Dinge wie das Bewufstsein der Am\u00f6ben, Pflanzen etc. bei Seite l\u00e4fst.\nIch will es noch einmal ganz klar aussprechen, dafs ich in dem besprochenen Aufsatze auf jeden Versuch verzichtet habe, mit den Mitteln der Anatomie dem Bewufstsein selbst n\u00e4her zu treten, ich habe nur gezeigt, wie die anatomische und physiologische Vorarbeit vielleicht dereinst auch in Psychologies n\u00fctzlich werden kann. Mufs ich mich durchaus zu einer der von Anderen ge\u00e4ufserten Meinungen bekennen, wenn ich, soweit mein Wissen bisher reicht, keine gefunden habe, die mich v\u00f6llig befriedigt und mufs ich mir gewaltsam die eine oder andere unterschieben lassen, die man etwa aus meinen Worten herauslesen k\u00f6nnte ? Ich will meinem Herrn Kritiker auch gerne sagen, warum ich keinerlei feste Stellung einnehmen mag \u2014 mich pers\u00f6nlich befriedigt am meisten noch die von Mach und Avenarius vertretene Auffassung \u2014 f\u00fcr die Untersuchungen, auf die es mir zun\u00e4chst ankommt, ist es ganz gleichg\u00fcltig, wie man das Zustandekommen der psychischen Processe auffafst. Ja ich bef\u00fcrchte, dafs f\u00fcr den Einen oder den Anderen aus einer ihm befriedigenden L\u00f6sung der uralten Frage ein Hemmnifs f\u00fcr exactes Forschen erwachsen k\u00f6nnte. Die Gefahr, dafs wir in Psychologicis wieder einmal deductiv arbeiten, ist noch lange nicht \u00fcberwunden. Der Aufsatz des Herrn Storch zeigt z. B. wieder sehr deutlich, wie sch\u00f6n fertig Alles erscheint, wenn man eine solche Hypothese \u2014 hier kommt die nur anscheinend so einfache vom psychophysischen Parallelismus in Betracht \u2014 acceptirt und mit einer gewissen Befriedigung auf ihr fortbaut.\n(.Eingegangen am 7. November 1900.)","page":448}],"identifier":"lit31421","issued":"1900","language":"de","pages":"445-448","startpages":"445","title":"Hirnanatomie und Psychologie. Entgegnungen an Herrn E. Storch","type":"Journal Article","volume":"24"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:03:52.348119+00:00"}