The Virtual Laboratory - Resources on Experimental Life Sciences
  • Upload
Log in Sign up

Open Access

Zur Theorie der Tonbeziehungen

beta


JSON Export

{"created":"2022-01-31T16:26:20.680540+00:00","id":"lit31439","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Hohenemser, Richard","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 26: 61-104","fulltext":[{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\nVon\nDr. Richabd Hohenemser.\nHinsichtlich der Theorie der Tonbeziehungen, d. h. der Art, in welcher man die Beziehungen, die erfahrungsgem\u00e4fs zwischen T\u00f6nen vorhanden sind, auffafst und zu erkl\u00e4ren sucht, stehen sich gegenw\u00e4rtig im Wesentlichen zwei Anschauungen gegen\u00fcber, die eine von Th. Lipps, die andere von C. Stumpf vertreten. 1 Allgemein einig ist man dar\u00fcber, dafs die T\u00f6ne, nach ihrer H\u00f6he angeordnet, eine eindimensionale Reihe bilden, innerhalb welcher sie einander in verschiedenen Graden \u00e4hnlich sind. Der Streit beginnt da, wo es sich um die Beziehungen handelt, in welchen T\u00f6ne, abgesehen von dem blofsen H\u00f6hen-verh\u00e4ltnifs, zu einander stehen k\u00f6nnen, also bei den sogenannten harmonischen Beziehungen. Die HELMHOLTz\u2019sche Ansicht, wonach diese Beziehungen bei gleichzeitigem Erklingen von T\u00f6nen auf dem Fehlen oder Vorhandensein von Schwebungen, bei successivem Erklingen auf einer Verwandtschaft beruhen, die durch gemeinsame Obert\u00f6ne gegeben sein soll, haben Lipps und Stumpf mit fast den gleichen Gr\u00fcnden widerlegt, und sie darf f\u00fcr die heutige Psychologie wohl als abgethan gelten, wenn auch die Physiker noch immer an ihr festhalten. Danach mufste man auch die Anschauung Wundt\u2019s verwerfen, da dieselbe mit der Gemeinsamkeit von Obert\u00f6nen nicht nur die bei successivem, sondern auch die bei gleichzeitigem Erklingen auftretenden Beziehungen erkl\u00e4ren will. Ausdr\u00fccklich wurde sie von Lipps\n1 Vergl. besonders: Lipps, Grnndthatsachen des Seelenlebens, 1883; Psychologische Stadien, 1885; Stumpf, Tonpsychologie, 2. Band, 1890; Con-sonanz und Dissonanz, 1898.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nRichard Hohenemser.\nbek\u00e4mpft1 * *; aber auch bei Stumpf kommt die Verwandtschaft durch gemeinsame Obert\u00f6ne nur secund\u00e4r und aush\u00fclfsweise in Betracht Eine andere Theorie, die RiEMANN\u2019sche Klang* vertretungslehre, hat Stumpf so schlagend zur\u00fcckgewiesen *, dato sie wohl jedem wirklichen Psychologen unannehmbar erscheinen wird. Ein solcher hat sich heute also nur noch mit Lipps und Stumpf abzufinden.\nIch m\u00f6chte im Folgenden an zwei Punkten eine kleine Weiterf\u00fchrung der Lipps\u2019schen Theorie versuchen; zuvor aber erw\u00e4chst mir die Verpflichtung, meine Stellung zu den Anschauungen Stumpf\u2019s und zu den Gr\u00fcnden, die er gegen Lipps vorbringt, zu kennzeichnen.\nZur Erkl\u00e4rung oder, besser gesagt, zur Begreiflichmachung der zwischen T\u00f6nen m\u00f6glichen harmonischen Beziehungen f\u00fchrt Stumpf den Begriff der Verschmelzung ein:\n\u201eEs scheint \u00fcberhaupt nicht, dafs wir im Stande sein werden, den Verschmelzungsbegriff tiefer oder verst\u00e4ndlicher zu fassen, als indem wir die Verschmelzung als das Verkn\u00fcpftsein zweier Empfindungsinhalte zu einem Ganzen oder als Einheitlichkeit, als Ann\u00e4herung des Zweiklangs an den Einklang beschreiben.\u201c 8 Mit diesen Worten giebt Stumpf eine Definition seines Verschmelzungsbegriffs und spricht zugleich die Ueberzeugung aus, dafs die Thatsache, welche diesem Begriff zu Grunde liegt, eine letzte, nicht weiter erkl\u00e4rbare sei Allerdings sucht er an anderen Stellen4, da man psychologische Ursachen nicht finden k\u00f6nne, nach einer Erkl\u00e4rung aus einem physiologischen Thatbestande. Da sich aber dieser Thatbestand allm\u00e4hlich entwickelt haben soll und daher nothwendigerweise ein psychologisches Correlat haben m\u00fcfste, das wir jedoch nach Stumpf\u2019s eigener Meinung nicht kennen, und da wTir \u00fcber die in Betracht kommenden Vorg\u00e4nge im Gehirn durchaus nichts wissen, so ist diesen Ausf\u00fchrungen nur geringe Bedeutung beizulegen.\nDie Thatsache der Verschmelzung selbst wird Niemand leugnen. Zwei T\u00f6ne, welche zu einander im Verh\u00e4ltnifs der\n1 Siehe: Psychologische Studien, S. 112ff.\na Consonant und Dissonanz, S. 84 ff.\n5 Consonanz und Dissonanz, S. 44.\n4 Vergl. z. B. Consonanz und Dissonanz, S. \u00f6Off.","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n63\nOctave stehen, fallen, wenn sie gleichzeitig erklingen, f\u00fcr unsere Wahrnehmung zu einer Einheit zusammen, welche dem Einkl\u00e4nge so nahe steht, dafs es uns unter Umst\u00e4nden unm\u00f6glich ist, die beiden Bestandteile noch zu unterscheiden. Beim Zusammenklang der Quinte ist die Einheit weniger eng und die Unterscheidungsm\u00f6glichkeit nimmt zu. So geht es fort, bis endlich bei den scharfen Dissonanzen die beiden Bestandteile f\u00fcr unsere Wahrnehmung deutlich auseinanderfallen, freilich nicht unter Verlust jedes Zusammenhanges; denn stets empfinden wir die Verwandtschaft, die sie als T\u00f6ne an sich besitzen, so dafs Stumpf berechtigt ist, auch auf die scharfen Dissonanzen den Verschmelzungsbegriff anzuwenden.\nEs liegt auf der Hand, dafs er diesen Begriff nicht so nachdr\u00fccklich herausgearbeitet h\u00e4tte, wie er es in der \u201eTonpsychologie\u201c tat1, wenn ihm derselbe nur zur Benennung einer letzten, nicht weiter zur\u00fcckf\u00fchrbaren Thatsache und nicht auch zur Erkl\u00e4rung anderer Thatsachen h\u00e4tte dienen sollen. Worum es sich ihm in erster Linie handelte und naturgem\u00e4fs handeln mufste, war die L\u00f6sung des Problems der Consonanz und Dissonanz, welche er in der in Anmerkung 8 S. 62 und fr\u00fcher erw\u00e4hnten Schrift anstrebt Er stellt f\u00fcnf Verschmelzungsstufen auf, welche nach der abnehmenden Schwierigkeit, die beiden Bestandteile des Zusammenklangs zu unterscheiden, angeordnet sind. Die Intervalle der vier ersten Stufen nennt er, mit dem allgemeinen Sprachgebrauch \u00fcbereinstimmend, consonirend, die der f\u00fcnften Stufe dissonirend. Was heifst aber consoniren und dissoniren? Nach Stumpf nichts weiter als mehr oder weniger eng verschmelzen; bei gewissen Graden der Verschmelzung sprechen wir noch von Consonanz, bei dem oder den darunter liegenden von Dissonanz.\nDer Verschmelzungsbegriff hat also f\u00fcr die L\u00f6sung des Problems nichts getan; denn wir erfahren nicht, warum die Oktave st\u00e4rker verschmilzt als die Quinte u. s. w. Da sich aber Consonanz und Dissonanz, wir wir sahen, nach Stumpf\u2019s Ansicht nicht als etwas durchaus verschiedenes gegen\u00fcberstehen, vielmehr ein allm\u00e4hlicher Uebergang stattfindet, so wissen wir \u00fcber das Wesen beider nichts, solange diese Frage nicht beantwortet ist.\n1 Vergl. IL Bd., S. 127 ff.","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nRichard Hohcnemser.\nDie Zahlenverh\u00e4ltnisse, welche den die Intervalle bildenden T\u00f6nen physikalisch zu Grunde liegen und welche bekanntlich um so complicirter sind, je mehr ein Zusammenklang dissonirt, \u2022und um so einfacher, je mehr einer consonirt, setzt Stumpf in keine directe Beziehung zum Wesen der Consonanz und Dissonanz, weil uns beim gleichzeitigen Erklingen zweier T\u00f6ne im Bewufstsein zwar die Empfindungsqualit\u00e4ten der bestimmten H\u00f6hen, St\u00e4rken und F\u00e4rbungen gegeben seien, welchen auf physikalischer Seite die Schwingungsgeschwindigkeiten, Schwingungsamplituden und Schwingungsformen entspr\u00e4chen, aber keine Empfindungsqualit\u00e4t, welche dem geometrischen Verh\u00e4ltnift der Schwingungszahlen entspreche ; die Empfindungen h\u00e4tten nur die M\u00f6glichkeit, sich mehr oder weniger einer einheitlichen Empfindung, dem Einklang, anzun\u00e4hem.\nW\u00e4hrend die Worte \u201econsoniren\u201c und \u201edissoniren\u201c, cL h. \u201ezusammenklingen\u201c und \u201eauseinanderklmgen\u201c immittelbar auf die Thatsache der Verschmelzung hin weisen, bekunden die deutschen Ausdr\u00fccke \u201ewohl\u201c- und \u201e\u00fcbelklingen\u201c eine andere Auffassung*, welche bei den modernen Musikern durchaus die herrschende ist, n\u00e4mlich die, dafs mit Consonanzen Lustgef\u00fchle, mit Disso\u00bb nanzen Unlustgef\u00fchle verbunden seien. Dafs dieser Auffassung etwas Richtiges zu Grunde liegt, weifs jeder aus Erfahrung; aber freilich ist sie, so allgemein ausgesprochen, f\u00fcr psychologische Zwecke unbrauchbar. Stumpf nun verkennt nicht, daft Zusammenkl\u00e4nge mit Lust- oder Unlustgef\u00fchlen verbunden sein k\u00f6nnen, aber er vermag auch hier keine directe Beziehung, keine Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit zu finden. Mit Recht bek\u00e4mpft er die Anschauung, welche Consonanz und Dissonanz aus den Lust-und Unlustgef\u00fchlen erkl\u00e4ren will. Irgend eine psychische Erscheinung durch ein Gef\u00fchl erkl\u00e4ren wollen, hiefse die Wirkung zur Ursache machen ; denn das Gef\u00fchl ist die uns zum Bewufstsein kommende Reaction des Beelenganzen, des Subjects, auf einen bestimmten psychischen Vorgang oder auf eine Combination solcher Vorg\u00e4nge. Daher kann z. B. das Gef\u00fchl niemals Ursache der Verschmelzung, sondern nur umgekehrt ein bestimmter Grad der Verschmelzung Ursache eines bestimmten Gef\u00fchls sein. Aber auch dies sucht Stumpf nicht nachzuweisen, weil ihm die Urtheile \u00fcber den Gef\u00fchlswerth der Consonanzen und Dissonanzen \u00e4u\u00dferst schwankend erscheinen. Genau genommen w\u00e4re ihm freilich der Versuch, einen Zusammenhang zwischen","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n65\nden verschiedenen Verschmelzungsgraden und ihrem Gef\u00fchlscharakter herzustellen, imm\u00f6glich gewesen; denn der Verschmelzungsbegriff, wie ihn Stumpf fafst, pafst einzig auf das Gebiet der T\u00f6ne und hat im gesammten \u00fcbrigen Seelenleben keine Analogien, ist also auch in einer allgemeinen Gef\u00fchlslehre, wie sie durch die Natur des Gef\u00fchls gefordert ist, nicht zu verwenden. Stumpf h\u00e4tte also diesem einzelnen Begriff zu Liebe eine eigene allgemeine Gef\u00fchlslehre aufstellen m\u00fcssen, was nicht anging, oder es blieb ihm nichts \u00fcbrig als die Verschmelzung und den Gef\u00fchlscharakter der Zusammenkl\u00e4nge fast unabh\u00e4ngig neben einander hergehen zu lassen. Also auch \u00fcber die zweifellos bestehenden innigen Beziehungen zwischen den Zusammenkl\u00e4ngen und den Gef\u00fchlen giebt der Verschmelzungsbegriff keinen Aufschlufs.\nEs stellen sich seiner Formulirung aber auch positive Schwierigkeiten entgegen, die Stumpf nicht \u00fcbersehen hat, die er aber beseitigen zu k\u00f6nnen glaubt. Die Thatsache, dafs die Einstimmigkeit der Mehrstimmigkeit zeitlich vorausging oder wenigstens lange Zeiten hindurch, im classischen Alterthum und im fr\u00fchen Mittelalter, fast alleinherrschend war, scheint der Verschmelzung zu widersprechen, da ja diese und somit auch die Unterscheidung der verschiedenen Intervalle nur beim gleichzeitigen Erklingen von T\u00f6nen zu Stande kommen kann. Stumpf meint zun\u00e4chst, die Auffindung der Octave sei durch die enge Obertonverwandtschaft der sie bildenden T\u00f6ne beg\u00fcnstigt worden. Er st\u00fctzt sich darauf, dafs die Octave, \u00fcbrigens auch jedes andere Intervall, wenn eie aus einfachen T\u00f6nen gebildet ist, schwerer unterschieden wird, als wenn sie aus den einzig in der Musik gebrauchten Kl\u00e4ngen besteht. Aber bei Aufeinanderfolge von Kl\u00e4ngen kann die Auffindung der Octave doch nur dann gef\u00f6rdert werden, wenn der zweite Klang schon zugleich mit dem ersten geh\u00f6rt wird (wenn auch nur als einfacher Ton), weil nur dann eine Veranlassung gegeben sein kann, auf den zweiten Klang \u00fcberzugehen und somit das Intervall der Octave zu bilden. Nun werden aber Obert\u00f6ne fast niemals geh\u00f6rt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht in besonderem Mafse auf sie richten oder sie uns durch besondere Vorkehrungen (z. B. Resonatoren) zug\u00e4nglich machen, also von ihrer Existenz bereits wissen. Daher ist ihre unterst\u00fctzende Mitwirkung bei der urspr\u00fcnglichen\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie a\u00df.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nRichard Hohencmser.\nBildung des Octavenintervalles im h\u00f6chsten Grade unwahr-scheinlich.\nAber sehen wir hiervon ab, da ja Stumpf die Verwandtschaft durch Obert\u00f6ne nur als H\u00fclfsmittel und nur f\u00fcr die Octave in Anspruch nimmt Jedenfalls, meint er, mufste man jedes Intervall, bevor man es in der Aufeinanderfolge verwenden konnte, durch Wahrnehmung des betreffenden Zusammenklanges an einem Instrumente kennen lernen. Wir m\u00fcssen fragen, was dazu veranlassen konnte, den Zusammenklang in ein Nacheinander zu verwandeln. Stumpf sagt hier\u00fcber nichts. Nehmen wir einmal an, die Wohlgef\u00e4lligkeit eines Zusammenklanges, zun\u00e4chst nat\u00fcrlich eines Zweiklanges, f\u00fchre dazu, seine Bestand-theile auch nacheinander erklingen zu lassen und so die Wirkungen dieser Tonfolge zu erproben. Dann ist zun\u00e4chst nicht einzusehen, wie man \u00fcberhaupt jemals zu einer stufenweisen F\u00fchrung der Melodie gelangen konnte; denn, f\u00fcr sich angegeben, sind die Zusammenkl\u00e4nge der grofsen und kleinen Secunde mifst\u00f6nend. Vielleicht sagt man, die Zusammenkl\u00e4nge der grofsen und kleinen Secunde seien nicht schlechthin h\u00e4fslich, sondern enthielten, da ihre Bestandteile doch T\u00f6ne seien und somit in gewisser Weise '\u00fcbereinstimmten, einen gewissen Grad der Wohlgef\u00e4lligkeit. Auf Grund dieses habe man, nachdem man alle consonirenden Zusammenkl\u00e4nge in Intervallschritte aufgel\u00f6st habe, das Gleiche mit der grofsen und kleinen Secunde gethan. Die Vorherrschaft der stufenweisen Fortschreitung im Gesang, der fast die einzige Art der einstimmigen Musik ist, erkl\u00e4re sich aus dem Umstand, dafs diese Fortschreitung f\u00fcr die menschlichen Stimmorgane die angemessenste sei. Danach m\u00fcfsten sich die urspr\u00fcnglichen Melodien ausschliefslich in Octaven-, Quinten-, Quarten-, Terzen- und Sextenspr\u00fcngen bewegt haben. Aber gerade f\u00fcr das Gegenteil haben wir Anhaltspunkte; denn sowohl in den \u00e4ltesten Melodien, die wir kennen, den altgriechischen, als auch in den Ges\u00e4ngen derjenigen heute lebenden V\u00f6lker, welche wir f\u00fcr die primitivsten halten, herrscht die stufenweise Fortschreitung durchaus vor. Demgegen\u00fcber bliebe nur die Annahme \u00fcbrig, dafs die Ueberlieferung nicht in die Zeit des urspr\u00fcnglichen Stadiums der Melodik zur\u00fcckreiche und dafs auch die heutigen primitiven V\u00f6lker diese Zeit bereits hinter sich h\u00e4tten. Aber es ist sehr die Frage, ob alle primitiven V\u00f6lker, welche stufenweise singen, auch Instrumente be-","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n67\nsitzen, auf welchen sich die Zusammenkl\u00e4nge der grofsen und kleinen Secunde hervorbringen lassen, ja ob es nicht V\u00f6lker giebt, welche zwar den Gesang, aber keine klangerzeugenden, sondern nur schallerzeugende Instrumente kennen.\nNoch gr\u00f6fser wird die Schwierigkeit, wenn man auch diejenigen Melodien in Betracht zieht, in welchen kleinere Intervalle als Halbtonschritte Vorkommen. Solche Melodien sind sowohl bei orientalischen Culturv\u00f6lkem, so bei den Chinesen, Indern und Arabern, als auch bei vielen Naturv\u00f6lkern etwas ganz Gew\u00f6hnliches.1 Zwar meint Stumpf eine Musik, die sich nicht in festen Tonstufen bewege, sei noch keine eigentliche Musik. Aber einmal ist nicht gesagt, dafs Intervalle, welche kleiner sind als die bei uns gebr\u00e4uchlichen, darum auch unbestimmt und schwankend sein m\u00fcssen * *, und ferner darf man die Anwendung der engen Tonstufen, m\u00f6gen dieselben mm feststehend sein oder nicht, wenn man ihr auch allen \u00e4sthetischen Werth absprechen wollte, doch als psychologisches Ph\u00e4nomen nicht auf8er Acht lassen. Nun ist bei so kleinen Intervallen die Wohlgef\u00e4lligkeit des Zusammenklanges noch problematischer als beim Ganz- oder Halbton, und aufserdem unterliegt es wohl keinem Zweifel, dafs in dem reich verzierten Gesang vieler Orientalen feinere Abstufungen gemacht werden, als es auf den Instrumenten geschieht. Soweit keine Nebenger\u00e4usche in Betracht kommen, sind auch diese feinsten Abstufungen nichts Anderes als Intervalle im Nacheinander und m\u00fcssen daher ebenso wie die \u00fcbrigen Intervalle entstanden sein. Man m\u00fcfste sich also denken, dafs sie zuerst beim unbeabsichtigten Zusammenklange etwa zweier Saiten oder zweier Fl\u00f6ten, die zuf\u00e4llig eine so geringe Differenz ergaben, geh\u00f6rt worden seien.\nIn \u00e4hnliche Schwierigkeiten verwickelt man sich, wenn man an Stelle unserer bisherigen Hypothese die Annahme setzt, es sei ein nat\u00fcrlicher Trieb des Menschen, jeden Zusammenklang auch in die Aufeinanderfolge seiner Bestandteile zu verwandeln. Freilich w\u00e4re damit nicht viel gesagt, aber die Annahme l\u00e4fst sich immerhin machen. Dann w\u00e4ren zwar auch urspr\u00fcngliche\n1 Vergl. L. Riemann, Ueber eigent\u00fcmliche, bei Natur- und orientalischen Culturv\u00f6lkem vorkommende Tonreihen und ihre Beziehungen zu den Gesetzen der Harmonie. Essen 1899.\n* So nimmt Riemann bei den Indern die Verwendung von feststehenden kleinen Intervallen an.","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nRichard Hohenemscr.\nMelodien in stufen weiser Fortschreitung denkbar, wenn man n\u00e4mlich das Vorhandensein der erforderlichen Instrumente voraussetzt , aber die \u00fcbrigen Schwierigkeiten w\u00e4ren nicht gehoben.\nWie man sich auch die Intervallschritte aus den Zusammenkl\u00e4ngen hervorgegangen denken m\u00f6ge, jedenfalls dringt Stumpf darauf, dafs auch bei der Aufeinanderfolge Tonverschmelzung stattfinde, da ja nach seiner Meinung ohne dieselbe kein Be-wufstsein von Intervallverh\u00e4ltnissen m\u00f6glich w\u00e4re. In diesem Punkte erblickt er mit Recht eine andere Schwierigkeit, die sich der Formulirung des Verschmelzungsbegriffs entgegenstellt Zu ihrer Beseitigung f\u00fchrt er aus, dafs die Tonvorstellung, welche die Tonempfindung in uns zur\u00fccklasse, mit der folgenden Tonempfindung verschmelzen k\u00f6nne, und dafs wir auf diese Weise auch bei der Succession von T\u00f6nen dazu gelangten, die verschiedenen Intervalle wahrzunehmen. Dagegen hat Lipps gezeigt1, dafs bei der Aufeinanderfolge von T\u00f6nen f\u00fcr unser Be-wufstsein durchaus kein Zusammenfliefsen, keine Ann\u00e4herung an den Einklang gegeben ist. Auch l\u00e4fst sich leicht nachweisen, dafs zwischen einem vorgestellten und einem empfundenen Tone zwar Verschmelzung stattfinden kann, dafs dieselbe aber zur Wahrnehmung der Intervalle durchaus nicht erforderlich ist Wir k\u00f6nnen einen Ton, nachdem wir ihn empfunden haben, absichtlich in der Vorstellung festhalten, d. h. innerlich weit\u00ebr-klingen lassen, und w\u00e4hrend dieser Zeit eine zweite Tonempfindung erzeugen ; dann haben wir das deutliche Bewufstsein eines Zusammenklanges, w\u00e4hrend uns dasselbe beim Auffassen einer Melodie, deren Intervalle wir doch deutlich erkennen, v\u00f6llig fehlt. \u2014 Wir m\u00fcssen also die Behauptung, dafs beim Wahrnehmen einer Melodie jeder Ton eine Zeit lang als Vorstellung im Bewufstsein fortbestehe, zur\u00fcckweisen, da uns sonst zwet oder mehrere T\u00f6ne als Zusammenklang und nicht als Aufeinanderfolge erscheinen w\u00fcrden. Aber etwas mufs die Tonempfindung doch in unserem Bewufstsein zur\u00fccklassen, da uns in der Melodie nicht ein zusammenhangloses Nebeneinander von T\u00f6nen, sondern ein Bezogensein der T\u00f6ne aufeinander gegeben ist Die schwierige Frage, worin dieses \u201eetwas\u201c besteht, und wie demnach die Einheit, die wir Melodie nennen, zu Stande kommt\n1 Diese Zeitschr. 10, 10 ff.","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n69\nhaben wir hier nicht zu er\u00f6rtern. Uns gen\u00fcgt die Erkenntnifs, dafs bei der Aufeinanderfolge von T\u00f6nen die Verschmelzung nicht m\u00f6glich ist, dafs also der Verschmelzungsbegriff im STUMPF\u2019schen Sinne auf die Melodie keine Anwendung finden kann.\nUeberblicken wir das bisher Gesagte, so ergiebt sich, dafs der Verschmelzungsbegriff uns trotz der Aufstellung der verschiedenen Verschmelzungsstufen \u00fcber das Wesen von Consonanz und Dissonanz nicht aufkl\u00e4rt, dafs er ferner in seiner Anwendung auf das Nacheinander von T\u00f6nen, auf die Melodie, versagt und endlich, dafs er zwar auf einer unleugbaren Thatsache beruht, dafs diese Thatsache aber eine letzte sein soll und weder mit der physikalischen Gesetzm\u00e4fsigkeit, die sich in den eigenth\u00fcmlichen Schwingungsverh\u00e4ltnissen der Intervalle ausspricht, noch mit dem gesammten Seelenleben in Zusammenhang gebracht ist Stumpf selbst weifs sehr wohl, dafs namentlich seine Beitr\u00e4ge zur Losung des Problems der Consonanz und Dissonanz l\u00fcckenhaft sind; aber er glaubt, bei dem Verschmelzungsbegriff stehen bleiben zu m\u00fcssen. In der That bliebe auch uns nichts Anderes \u00fcbrig, wenn sich uns nicht eine Anschauungsweise darb\u00f6te, welche nicht nur alle Schwierigkeiten zu heben, sondern auch die Thatsache der Verschmelzung selbst auf allgemein psychische Gesetze zur\u00fcckzuf\u00fchren scheint\nDiese Anschauung geht davon aus, dafs zwei gleichzeitig erklingende T\u00f6ne um so consonirender sind, in je einfacheren Zahlenverh\u00e4ltnissen die ihnen zu Grunde liegenden Schwingungen zu einander stehen, und um so dissonirender, je complicirter diese Verh\u00e4ltnisse sind.\nEin derartiger Parallelismus zweier Reihen von Erscheinungen macht einen inneren Zusammenhang zwischen diesen Reihen in hohem Grade wahrscheinlich, ohne ihn freilich zwingend zu beweisen. In unserem Falle w\u00e4chst die Wahrscheinlichkeit, wenn man bedenkt, dafs die Tonh\u00f6he von der Geschwindigkeit der Schwingungen oder, was dasselbe ist, von der Zahl der Schwingungen in der Zeiteinheit abh\u00e4ngt Sollte da nicht auch, zum mindesten bei gleichzeitig erklingenden T\u00f6nen, das Verh\u00e4ltnifs der verschiedenen Schwingungsgeschwindigkeiten oder kurz : das Verh\u00e4ltnifs der Schwingungszahlen einen Einflufs aus\u00fcben? Der nahe liegende Einwand, dafs bei den Farben, welchen doch auch Schwingungen zu Grunde l\u00e4gen, von einem solchen Ein-","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nRichard Rohmemser.\nflufs nichts zu bemerken sei, ist, wie Lipps gezeigt hat1, nicht stichhaltig; denn die Farben ergeben, nach ihren Schwingungsgeschwindigkeiten angeordnet, nicht eine Reihe von Empfindungen, welche sich von ihrem Ausgangspunkt immer weiter entfernt, sondern eine solche, welche schliefslich wieder zu ihm zur\u00fcck-kehrt. Es fehlt also die Analogie zu den Tonh\u00f6hen, die als eindimensionale Reihe im geraden Verhftltnifs zu den Schwingungsgeschwindigkeiten stehen; folglich darf man auf diesem Gebiete auch keine weiteren Analogien erwarten.\nSieht man n\u00e4her zu, wie das Verh\u00e4ltnifs der Schwingungszahlen zweier T\u00f6ne auf uns wirken kann, so wird man natur-gem\u00e4fs auf den Rhythmus gef\u00fchrt; denn in dem Schwingungs-verh\u00e4ltnifs eines Zusammenklanges ist ausgesprochen, dafe in einer Zeiteinheit zwei Reihen regelm\u00e4fsiger Anst\u00f6fse gleichzeitig ablaufen, dafs aber die Zahl der Anst\u00f6fse in jeder Reihe eine andere ist, und dafs somit nur beim Beginn einer neuen Zeiteinheit ein Anstofs der einen Reihe mit einem solchen der anderen Reihe zusammentrifft. Die Anst\u00f6fse entstehen zwar zun\u00e4chst in dem schallerzeugenden K\u00f6rper, pflanzen sich aber durch die Luft auf unser Trommelfell fort Nun w\u00e4re es doch seltsam, wenn sie nicht auch in unserer Empfindung auf irgend welche Weise zur Geltung k\u00e4men. Die Theorie, welche dies be-* hauptet, ist bekanntlich schon alt2, erhielt aber erst durch Lipps eine psychologische Begr\u00fcndung und theilweise Anwendung auf Einzelprobleme der Musik, vor Allem auf das der Consonant und Dissonanz.\nDie Hauptschwierigkeit f\u00fcr diese Theorie liegt darin, dafe uns, aufser vielleicht bei den tiefsten T\u00f6nen, keine Qualit\u00e4t der Tonempfindung bewufst wird, welche dem durch die einzelnen Anst\u00f6fse gegebenen Rhythmus entspr\u00e4che. Da auch die Tonh\u00f6he von den Schwingungszahlen abh\u00e4ngt, k\u00f6nnte man meinen, dieselbe Schwierigkeit bestehe auch hier. Aber dies ist nicht der Fall; denn die Zu- oder Abnahme der Schwingungszahl ergiebt einfach eine qualitativ andersartige Empfindung, zu deren Erkl\u00e4rung man an sich nicht auf die Wirkung der einzelnen Er-regungsanst\u00f6fse zur\u00fcckzugehen braucht. Vielmehr wird dies erst n\u00f6thig, wenn das Verh\u00e4ltnifs zweier Schwingungszahlen f\u00fcr\u2018\n1 Vergl. Philosophische Monatshefte 28, 580.\n* Vergl. Stumpf, Consonanz und Dissonanz, S. 10 ff.","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n71\ndas Verh\u00e4ltnis der entsprechenden Tonempfindungen maa\u00df-gebend sein soll; denn \u201eVerh\u00e4ltnis zweier Behwingungszahlen\u201c' besagt eben, dafs zwei Schwingungsreihen in Verschiedenen Rhythmen verlaufen. Entspricht also diesen Rhythmen in unserem Bewufstsein nichts, so mufs ihre Wirkung, wenn sie dennoch vorhanden sein soll, eine uns unbewufste sein. Dies nimmt Lipps in der That an.\nDie rhythmischen Anst\u00f6\u00dfe sind die Grundlage, aus welcher die qualitativ durchaus eigenartige, nur durch H\u00f6he und St\u00e4rke charakterisirte Tonempfindung resultirt Nur diese kommt uns zum Bewufstsein, nicht aber die Art ihres Zustandekommens. So ist \u00fcberhaupt jeder Bewufstseinsinhalt f\u00fcr uns nur ein Resultat, ein gegebenes, das wir hinnehmen m\u00fcssen, ohne seine Entstehung bewufst miterlebt zu haben. Selbst wenn eine Vorstellung ungezwungen und gleichsam von selbst zur anderen, ein Gedanke zum anderen f\u00fchrt, erleben wir doch nur, dafs es geschieht, aber niemals, wie es geschieht. Was den Bewu\u00dftseinsinhalten, uns unbewu\u00dft, zu Grunde liegt, k\u00f6nnen wir nur zu erschlie\u00dfen versuchen.\nNun ist anzunehmen, da\u00df die rhythmischen Anst\u00f6\u00dfe, obgleich weder sie noch ihre Wirkungen uns zum Bewufstsein kommen, doch ebenso wirken wie bewu\u00dft wahrgenommene rhythmische Schl\u00e4ge. Jeder Rhythmus zwingt, je nachdem er langsamer oder schneller, einfacher oder complicirter \u00dft, die Seele gleichsam in eine bestimmte Richtung. Dies erkennen wir an der Art, wie er uns anmuthet, ob er das Gef\u00fchl leichter, spielender, ungehemmter oder schwieriger, gehemmter Th\u00e4tigkeit in uns erweckt.1 H\u00f6ren wir einen tiefen Ton, so haben wir das Gef\u00fchl des Schweren, Lastenden, Langsamen ; ein hoher Ton dagegen erweckt in uns das Gef\u00fchl der Leichtigkeit, der raschen Beweglichkeit, der Ungehemmtheit. Jedenfalls ist dieser Unterschied in der Verschiedenheit der Schwingungsrhythmen begr\u00fcndet, obgleich uns weder rhythmische Schl\u00e4ge noch Wirkungen, wie sie dieselben, bewu\u00dft wahrgenommen, haben w\u00fcrden, zum Bewufstsein kommen. H\u00f6ren wir gleichzeitig zwei T\u00f6ne, so wird die Seele von beiden Schwingungsrhythmen gleichsam\n1 Es bedarf kaum der Erw\u00e4hnung, dafs die Sprache nicht ausreicht, um die Arten, in welchen uns die unendlich vielen m\u00f6glichen .Rhythmen anmuthen k\u00f6nnen, zu beschreiben. Sie kann immer nur andeuten.","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nRichard Hohcnemser.\nnach zwei verschiedenen Richtungen gezogen. Da sie eine Einheit ist, mufs sich hieraus sozusagen ein bestimmtes Spannungs-verh\u00e4ltnifs ergeben, und dieses kommt uns in dem Verh\u00e4ltni\u00fcs der beiden Tonempfindungen zu einander zum Bewufstsein.\nWenn wir oben sagten, die Wirkung der einzelnen Anst\u00f6fse werde uns nicht bewufst, so m\u00fcssen wir jetzt diesen Ausdruck richtig stellen. Ihre unmittelbare Wirkung wird uns allerdings nicht bewufst, wohl aber die Art, in welcher die Rhythmen, in welchen sie verlaufen, uns anmuthen, und somit beim gleichzeitigen Auftreten mehrerer Tonempfindungen auch das Verh&ltnifa dieser Arten zu einander. Je weniger die Schwingungsrhythmen zweier gleichzeitiger T\u00f6ne die Seele in verschiedene Richtungen zu zwingen, ihr verschiedene Beth\u00e4tigungsweisen abzun\u00f6thigen suchen, um so verwandter, um so \u00e4hnlicher erscheinen uns natur-gem\u00e4fs die beiden T\u00f6ne, und umgekehrt.\nDie verschiedenen Verwandtschaftsgrade dr\u00e4ngen sich uns bei gleichzeitigem Erklingen der T\u00f6ne unmittelbar auf und entsprechen genau den Verschmelzungsstufen Stumpf\u2019s. Die gr\u00f6fsere oder geringere Schwierigkeit, die Bestandteile des Zusammenklanges zu unterscheiden, r\u00fchrt also von der gr\u00f6fseren oder geringeren Aehnlichkeit dieser Bestandtheile her. Damit w\u00e4re die Verschmelzung auf die allgemeinere Thatsache zur\u00fcckgef\u00fchrt, dafs gleichzeitig gegebene Bewufstseinsinhalte um so schwerer von einander unterschieden werden k\u00f6nnen, je \u00e4hnlicher sie einander sind, und umgekehrt Nur besteht in unserem Falle die Aehnlichkeit nicht in einer beiden Tonempfindungen gemeinsamen Qualit\u00e4t, sondern darin, dafs uns beide in \u00e4hnlicher Weise anmuthen, dafs sie die Seele in \u00e4hnliche Th\u00e4tigkeiten versetzen, und zwar thun sie dies auf Grund der beiden unbewufsten, einander \u00e4hnlichen Schwingungsrhythmen.\nNunmehr haben wir auch den Schl\u00fcssel zur L\u00f6sung des Problems der Consonanz und Dissonanz gefunden; denn je verwandter zwei T\u00f6ne sind, um so consonirender, angenehmer ist der aus ihnen gebildete Zusammenklang, je weniger verwandt, um so dissonirender, unangenehmer.1 Dies beruht auf einem\n1 Mit Recht weist Lipps darauf hin (diese Zeitschr. 10, 22), dafs sich die Schwankungen in den Urtheilen \u00fcber den Gef\u00fchlswerth der Zusammen -kl\u00e4nge daraus erkl\u00e4ren, dafs nicht der Grad, sondern die Art der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit beurtheilt wird und dafs die Bear-","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n73\nallgemeinen Gesetz, das man mit Lipps das psychische Be-hamings- oder Tr\u00e4gheitsgesetz nennen kann und welches besagt, dafs sich das psychische Geschehen am leichtesten und ungehemmtesten zwischen gleichen oder \u00e4hnlichen Elementen vollzieht und dafs in Folge dieses leichten Vollzuges Lustgef\u00fchl entsteht, dafs dagegen, wenn die Elemente, zwischen welchen es sich vollziehen soll, einander un\u00e4hnlich sind, Schwierigkeiten, Hemmungen \u00fcberwunden werden m\u00fcssen und daher Unlustgef\u00fchl erzeugt wird. Man kann dieses Gesetz auf den verschiedensten Gebieten des Seelenlebens nachweisen ; doch d\u00fcrfen wir hier diesen Nachweis als gef\u00fchrt betrachten. \u2014 Welche Zusammenkl\u00e4nge consoniren, welche dissoniren, kann uns nur die Erfahrung lehren. Es ist aber klar, dafs wir es mit einer nur in einer Richtung laufenden Reihe zu thun haben und dais diejenigen Zusammenkl\u00e4nge, welche man gew\u00f6hnlich als Con-sonanzen und Dissonanzen bezeichnet, nur nach den Bed\u00fcrfnissen der Musikpraxis aus einer grofsen Menge m\u00f6glicher F\u00e4lle herausgegriffen sind.,\nDafs der Zusammenklang z. B. der grofsen Secunde : 8 : 9, f\u00fcr sich allein geh\u00f6rt, Unlustgef\u00fchl erweckt, dagegen der der grofsen Terz : 4 : 5 Lustgef\u00fchl, dar\u00fcber ist man allgemein einig. Aber man hat mit Recht gefragt, ob nicht die Octave weniger Lustgef\u00fchl erwecke, uns gleichgiltiger lasse als z. B. die grofse Terz. Lipps hat diese Schwierigkeit, welche sich seiner Theorie entgegenstellt, gesehen. Zu ihrer L\u00f6sung weist er darauf hin, dafs auch sonst die Seele nicht das absolut oder ann\u00e4hernd absolut gleiche will, sondern Mannigfaltigkeit in der Einheit.* 1 Sie will die M\u00f6glichkeit des leichten Uebergangs von einem Element zum andern, aber doch so, dafs jedes dem andern gegen\u00fcber etwas neues enth\u00e4lt. Daher mufs in einer Reihe, in welcher je zwei Elemente allm\u00e4hlich einander un\u00e4hnlicher werden, das Lustgef\u00fchl bis zu einem gewissen Punkte zunehmen k\u00f6nnen ; bis zu welchem, entscheidet auf allen Gebieten nur die Erfahrung. So ist auf dem Gebi\u00e9te der T\u00f6ne der Zusammenklang der Octave\ntheiler je nach ihrer Individualit\u00e4t theils eine einfachere theils eine com-plicirtere Befriedigung bevorzugen. Beurtheilt man die Zusammenh\u00e4nge nur nach dem Annehmlichkeits- oder Unannehmlichkeitsgrade und aufser allem musikalischen Zusammenh\u00e4nge, so wird es stets dabei bleiben, dafs Consonanzen Lustgef\u00fchl, Dissonanzen Unlustgef\u00fchl erwecken.\n1 Vergl. z. B. diese Zeitszhr. 10, 19.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nRichard Hohencmser.\nzwar der einheitlichste, denn wir kennen ; aber er erscheint uns z. B. der Terz gegen\u00fcber gerade wegen seiner Einheitlichkeit leer, nichtssagend. Die Terz versetzt die Seele sozusagen in eine gegliedertere Th\u00e4tigkeit und erzeugt daher h\u00f6here Befriedigung.\u2014 Der Unterschied beider Zusammenkl\u00e4nge l\u00e4fst sich am Schlufe-accord eines Musikst\u00fcckes deutlich erkennen. Hier ist die Octave als vollkommenste Einheit, die am Schlufs ihren naturgem\u00e4\u00dfen Platz hat, kaum zu entbehren, die Terz dagegen sehr wohl; ja, sie hebt, in die oberste Stimme verlegt, den Schlufscharakter sogar bis zu einem gewissen Grade auf, so sehr mangelt ihr schon die Einheitlichkeit Und doch ist sie an sich, d. h. aufser allem Zusammenhang angegeben, befriedigender als die Octave.\nWir wissen jetzt, warum die Verschmelzungsstufen und die Consonanzgrade der Zusammenkl\u00e4nge im Allgemeinen parallel laufen. Beide beruhen eben auf einer gleichen Aehnlichkeit auf der Aehnlichkeit der gleichzeitig gegebenen Schwingungsrhythmen; nur f\u00e4llt die vollkommenste Verschmelzung nicht mit der Erzeugung des h\u00f6chsten Lustgef\u00fchls zusammen. Da wir im Bisherigen stets die Abh\u00e4ngigkeit des Consonanzgrades vom Gef\u00fchlscharakter des Zusammenklanges betonten, m\u00fcfsten wir consequenter Weise die grofse Terz, die wohl das lebhafteste Lustgef\u00fchl erweckt, als den consonirendsten Zusammenklang bezeichnen. Dies zu thun hindert uns der Sprachgebrauch, dem entgegenzutreten wir nicht beabsichtigen. Wir m\u00fcssen uns daher, um keinem Mifsverst\u00e4ndnisse Raum zu geben, \u00fcber seine hier zu Tage tretende Eigent\u00fcmlichkeit klar zu werden suchen. Bei der am weitesten verbreiteten Einteilung der sogen. Consonanzen, nach welcher Octave, Quinte und Quarte die vollkommenen Consonanzen bilden, w\u00e4hrend die unvollkommenen mit der grofsen Terz beginnen,1 * * 4 ist offenbar nur der Einheitlichkeits-\n1 Dafs die meisten Theoretiker des Mittelalters die gi ofse Terz zu den\nDissonanzen rechneten, lasse ich hier aufser Acht; denn dies beruht jeden-\nfalls darauf, dafs sie das Verh\u00e4ltnifs der grofsen Terz nicht, wie wir, mit\n4 : 5, sondern, nach pythagor\u00e4ischer Berechnung, mit 64 : 81 ansetzten. Sie meinten also ein anderes Intervall wie wir, dessen Dissonanzcharakter schon aus dem complicirten Zahlen verh\u00e4ltnifs zu vermuthen war und von dessen widriger Wirkung sie sich z. B. am zweisaitigen Monochord \u00fcberzeugen konnten. Dafs in der Volksmusik Terzen in unserm Sinne zur Anwendung kamen, aber bei den Theoretikern keine Ber\u00fccksichtigung fanden, ist sehr wahrscheinlich.","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n75\ngrad, die Verschmelzungsstufe des Zusammenklanges ber\u00fccksichtigt Andererseits versteht aber jeder unter Dissonanz einen Zusammenklang, der an sich Unlustgef\u00fchl erweckt, und im Gegensatz dazu unter Consonanz einen Zusammenklang, der Lustgef\u00fchl erweckt. Der Sprachgebrauch vermischt also die Verschmelzungsgrade und den Gef\u00fchlscharakter der Zusammenkl\u00e4nge. Dies ist bei dem oben betonten Parallelismus beider Erscheinungen durchaus nicht zu verwundern. Auch wird man, um nicht von den Gepflogenheiten der praktischen Musik abzuweichen, gut thun, den Sprachgebrauch beizubehalten. Nur mufs man sich dar\u00fcber klar sein, dafs Verschmelzungsgrad und Gef\u00fchlscharakter der Zusammenkl\u00e4nge trotz des Parallelismus verschiedene Dinge sind.\nBeruht das im Zusammenklang gegebene Verh\u00e4ltnifs wirklich auf einer Aehnlichkeit der T\u00f6ne, so bedarf es keiner weiteren Erkl\u00e4rung mehr, dafs wir das Verh\u00e4ltnifs auch bei der Succession wahmehmen1 ; denn dafs wir die Aehnlichkeitsgrade einander folgender Bewusstseinsinhalte zu erkennen verm\u00f6gen, steht fest. Wie dies die Seele leistet, haben wir hier nicht zu untersuchen. Auch Stumpf erkennt an, dafs, wenn die Verschmelzung wirklich auf der Aehnlichkeit der T\u00f6ne beruhe, die Schwierigkeit der Melodiebildung und der fr\u00fcheren Vorherrschaft der Einstimmigkeit gehoben sei. Ebenso wird er wohl auch anerkennen, dafs sich die ganze Theorie ungezwungen mit allgemeineren That-sachen in Verbindung bringen und in Anschauungen \u00fcber den allgemeinen Verlauf des psychischen Geschehens einordnen l\u00e4fst. Aber gerade die Grundlage, dafs es eine Aehnlichkeit der T\u00f6ne geben soll, die nicht eine Aehnlichkeit der Empfindungsqualit\u00e4ten ist, sondern auf der zun\u00e4chst unbewufsten Wirkung einander \u00e4hnlicher Schwingungsrhythmen beruht, erscheint ihm unannehmbar. Lipps dagegen meint, zwei Bewufstseinsinhalte seien nicht nur einander \u00e4hnlich, wenn beide eine gleiche oder \u00e4hnliche Qualit\u00e4t bes\u00e4fsen, wie z. B. zwei T\u00f6ne von \u00e4hnlicher St\u00e4rke oder H\u00f6he, sondern auch dann, wenn beide die Seele in \u00e4hnlicher Weise anmutheten, sie in \u00e4hnliche Th\u00e4tigkeiten versetzten. Mit\n* Freilich tritt in diesem Falle der Consonanz- und Dissonanzcharakter nicht so scharf hervor, und aufserdem scheint die durch die Tonh\u00f6hen gegebene Aehnlichkeit oder Un\u00e4hnlichkeit st\u00e4rker mitzuwirken als beim Zusammenklang.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nRichard Hoheiten wer.\nRecht zieht er den Schlufs : Da zwei oder mehrere Bewufstseins-inhalte, welche hinsichtlich ihrer Qualit\u00e4ten unvergleichbar sind, dennoch sowohl die gleichen Gef\u00fchle in uns erwecken, als auch einander reproduciren k\u00f6nnen, so m\u00fcssen die ihnen zu Grunde liegenden unbewufsten Vorg\u00e4nge einander \u00e4hnlich sein. Verschiedene Beispiele solcher Aehnlichkeiten hat Deffneb in einem Aufsatz \u00fcber \u201e Aehnlichkeitsassociationen\u201c beigebracht1 ; aber er hat nicht festzustellen gesucht, wie wir dazu kommen, Tonempfindungen zu Raumempfindungen in Analogie zu setzen, indem wir von tiefen und hohen T\u00f6nen sprechen.\nErfahrungsassociationen, an welche man in solchen F\u00e4llen gew\u00f6hnlich zun\u00e4chst denkt, sind hier wohl ausgeschlossen ; denn ein aus der Tiefe heraufgerufener Ton kann hoch, ein aus der H\u00f6he herabgerufener tief sein. \u2014 Eine andere Erkl\u00e4rung suchte man darin, dafs H\u00fccbald, jener Theoretiker des 9. Jahrhunderts, der zuerst die verschiedenen Tonh\u00f6hen durch verschiedene Stellung von Zeichen (Textsilben) im Raum wiedergab, den untersten Zwischenraum seines Liniensystems dem Ton mit der kleinsten Schwingungszahl anwies und von da aus aufw\u00e4rts ging. Aber diese Erkl\u00e4rung ist aus mehreren Gr\u00fcnden unhaltbar: Einmal k\u00f6nnte es eine tiefer liegende allgemein-psychologische Ursache haben, dafs H\u00fccbald die Anordnung gerade so und nicht umgekehrt w\u00e4hlte. Ferner lag auf der italienischen Laute des Mittelalters die Saite, welche den tiefsten Ton gab, oben, die welche den h\u00f6chsten gab, unten, und demgem\u00e4fs waren auch in der Lauten-Notation, in welcher die Linien als Symbole der Saiten dienten, die T\u00f6ne angeordnet Aber man hat niemals geh\u00f6rt, dafs die italienischen Lautenspieler deshalb die hohen T\u00f6ne als tief und die tiefen als hoch bezeichnet h\u00e4tten. Endlich, und das ist das Wichtigste, war die Anwendung der Worte \u201ehoch\u201c und \u201etief\u201c auf die T\u00f6ne schon lange vor H\u00fccbald in den verschiedensten Sprachen verbreitet, und schon in der ersten christlichen Zeit machte der Dirigent des Kirchenchores, wenn dieser mit der Stimme steigen sollte, eine Handbewegung nach aufw\u00e4rts, wenn er fallen sollte, eine solche nach abw\u00e4rts. Sp\u00e4ter wurden diese Bewegungen in der sogen. Neumenschrift fixirt Ganz \u00e4hnlich verhielt es sich bei den Indem, Armeniern und Griechen.2\n1 Vergl. diese Zeitschr. 18, 235 ff.\n* Vergl. O. Fleischer, Neumenstudien, 1. Theil, 1895.","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n77\nMan k\u00f6nnte noch meinen, die Bezeichnungen \u201etief\u201c und \u201ehoch\u201c r\u00fchrten von den Empfindungen her, welche man beim Singen der betreffenden T\u00f6ne hat Zur Erzeugung der tiefen T\u00f6ne scheinen die tiefer im Brustkasten liegenden Theile der Stimmwerkzeuge in hervorragendem Maafse erforderlich zu sein, zur Erzeugung der hohen T\u00f6ne dagegen die der Mundh\u00f6hle n\u00e4her liegenden. Mir fehlen die physiologischen Kenntnisse, um entscheiden zu k\u00f6nnen, ob es sich wirklich so verh\u00e4lt. Es kommt hier aber nur auf die Empfindungen an, und diese haben wir in der That, wie ja die Ausdr\u00fccke \u201eBrust-\u201c und \u201eKopfstimme\u201c beweisen. Freilich m\u00fcfste danach z. B. die Sopranistin den gleichen Ton tief nennen, welchen der Tenorist hoch nennt Dies geschieht in der That, solange jeder nur die in seiner Stimmlage vorhandenen T\u00f6ne beurtheilt. Da aber \u201etief\u201c und \u201ehoch\u201c stets relative Begriffe sind und da man sich auch beim H\u00f6ren solcher T\u00f6ne, welche die eigene Stimme nicht hervorzubringen vermag, mindestens eine ungef\u00e4hre Vorstellung von den Empfindungsunterschieden machen kann, welche zwischen den \u00e4ufsersten der Stimme erreichbaren T\u00f6nen und dem geh\u00f6rten Ton, wenn er gesungen w\u00fcrde, best\u00e4nden, so k\u00f6nnte man diese Begriffe auf die T\u00f6ne jedes beliebigen Zusammenklanges und jeder beliebigen Aufeinanderfolge, sowie auch auf jeden beliebigen Ton eines in Gedanken vorausgesetzten Tonsystems \u00fcbertragen. Trotzdem d\u00fcrfte auch diese Ableitung aus einer Erfahrungsassociation unhaltbar sein ; denn beim Singen kleiner Intervalle, also namentlich bei Ganz- und Halbtonfortschreitungen, sind die Empfindungsunterschiede noch unmerklich oder kaum merklich, jedenfalls so gering, dafs nicht anzunehmen ist, dafs sie zu einer so festen Association h\u00e4tten Anlafs geben k\u00f6nnen, wie sie schon im Alterthum und in den ersten christlichen Zeiten bestanden haben m\u00fcfste, da sich damals der Gesang fast ausschliefslich stufenweise bewegte und trotzdem, wie wir sahen, die Analogie zu den Raumempfindungen schon ausgebildet war.\nEs wird uns also nichts \u00fcbrig bleiben als f\u00fcr diese Analogie einen rein psychologischen Grund zu suchen, d. h. es mufs zwischen der Empfindung eines tiefen Tones und der r\u00e4umlichen Empfindung der Tiefe und ebenso zwischen der Empfindung eines hohen Tones und der r\u00e4umlichen Empfindung der H\u00f6he eine Aehnlichkeit bestehen. Dafs eine Tonempfindung und eine Raumempfindung keine Qualit\u00e4t gemein haben, ist","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nRichard fJohcnemser.\nklar. Also kann die Aehnlichkeit nur darin bestehen\u00bb dais uns beide in gleicher Weise anmuthen, in gleicher Weise auf das Beelenganze wirken, und dies kann seine Ursache nur in der Aehnlichkeit der zu Grunde liegenden unbewufsten Vorg\u00e4nge haben.1\nSind wir also gezwungen, Aehnlichkeiten anzunehmen\u00bb welche nicht auf der Gemeinsamkeit einer Empfindungsqualit\u00e4t, sondern darauf beruhen, dafs den betreffenden unbewufsten Vorg\u00e4ngen etwas Gemeinsames anhaftet, so d\u00fcrfen wir solche Aehnlichkeiten auch den Tonempfindungen. zuschreiben.\nAbgesehen davon, dafs Stumpf die allgemeinen Grundlagen der Theorie bek\u00e4mpft, f\u00fchrt er auch noch speciellere Gegengr\u00fcnde an2:\nWeder die physikalische noch die physiologische Discon-tinuit\u00e4t der die Tonempfindung erzeugenden Vorg\u00e4nge, so meint Stumpf, sei von vornherein einleuchtend. Nun sind uns in den tiefsten T\u00f6nen zun\u00e4chst discontinuirliche Empfindungen gegeben; demnach w\u00e4re es das Nat\u00fcrlichste, wenigstens soweit es diese T\u00f6ne betrifft, im physikalischen oder physiologischen Reiz irgendwo eine Discontinuit\u00e4t anzunehmen. Stumpf aber sieht in der empfindungsm\u00e4fsigen Discontinuit\u00e4t der tiefsten T\u00f6ne. nur eine Begleiterscheinung. N\u00e4here man eine sehr langsam schwingende Stimmgabel dem Ohre, so habe man intermittirende Tastempfindungen, und aufserdem entst\u00e4nden intermittirende Nebenger\u00e4usche. Auch k\u00f6nnten die Schwebungen der Obert\u00f6ne zum Eindruck der Discontinuit\u00e4t beitragen. Sobald es aber gelinge, die Aufmerksamkeit ausschliefslich auf den Ton selbst zu eoncentriren, laufe dieser ebenso glatt und fliefsend ab wie irgend ein hoher Ton.\n1 Anders verh\u00e4lt es sich m\u00f6glicherweise mit der Aehnlichkeit, welche sich in den Ausdr\u00fccken: \u201ehohle\u201c und \u201escharfe T\u00f6ne\u201c zu erkennen giebt. Im ersten Fall kann eine Erfahrungsassociation vorliegen, da der durch in einem Hohlraume schwingende Luft erzeugte Ton eine bestimmte Art der Klangfarbe hat, an welche uns auch durch frei schwingende Luft erzeugte T\u00f6ne erinnern k\u00f6nnen. Im zweiten Falle handelt es sich vielleicht wirklich um eine gemeinsame Empfindungsqualit\u00e4t; denn es scheint fast, als habe die Tastempfindung des Scharfen eine gleiche Wirkung auf unsere Nerven wie ein scharfer Ton oder ein scharfes Gew\u00fcrz.\n* \u201eConsonanz und Dissonanz\u201c, S. 23 ff.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n79\nN\u00e4her wurde diese Ansicht von Max Meter ausgef\u00fchrt1 Er l\u00e4fst die intermittirenden Tastempfindungen aufser Acht und legt auch den Schwebungen keine grofse Bedeutung bei, da nach seiner Ansicht auch noch solche T\u00f6ne discontinuirlich sind, deren Obert\u00f6ne keine h\u00f6rbaren Schwebungen mehr ergeben. Zur Erkl\u00e4rung der Discontinuit\u00e4t als Begleiterscheinung l\u00e4fst er zwei Wege offen: Zun\u00e4chst f\u00fchrt er aus, bei sehr langsamen Schwingungen einer Stimmgabel h\u00f6re man nur ein intermittiren-des Ger\u00e4usch, das demjenigen \u00e4hnlich sei, welches entsteht, wenn man mit einem Stocke rasch durch die Luft f\u00e4hrt Bei schneller werdenden Schwingungen trete der Ton auf, aber noeh fast v\u00f6llig von dem Ger\u00e4usch gedeckt Je schneller die Schwingungen w\u00fcrden, um so deutlicher werde der Ton und um so schw\u00e4cher das Ger\u00e4usch. Diese Erkl\u00e4rung erscheint mir unhaltbar; denn ich vermag nicht einzusehen, wie eine bestimmte Luftmasse, welche auf bestimmte Organe einwirkt, gleichzeitig ein Ger\u00e4usch, das aus unregelm\u00e4fsigen Schwingungen besteht und einen Ton, der aus regelm\u00e4fsigen Schwingungen besteht, veranlassen soll. Noch dazu soll das Ger\u00e4usch inter-mittirend, der Ton continuirlich sein, und die Deutlichkeit des Ger\u00e4usches soll in demselben Verh\u00e4ltnifs abnehmen, in welchem die des Tones zunimmt Dafs f\u00fcr Ger\u00e4usch und Ton wirklich die gleiche Luftmasse und die gleichen Organe in Anspruch genommen werden, beweist der zweite Erkl\u00e4rungsversuch, welcher sagt, m\u00f6glicherweise entst\u00e4nden bei sehr langsamen Schwingungen im Ohre irgend welche intermittirende Nebenger\u00e4usche.\nGegen diese Erkl\u00e4rung ist bei unserer geringen Kenntnifs des inneren Ohres an sich nichts einzuwenden, ebenso wenig gegen die durch Schwebungen der Obert\u00f6ne, wo solche h\u00f6rbar sind. Auch dafs wir Tastempfindungen unter Umst\u00e4nden f\u00fcr Geh\u00f6rseindr\u00fccke halten, ist wohl nicht unm\u00f6glich. Aber es ist die Frage, ob der tiefe Ton f\u00fcr unsere Empfindung wirklich glatt abl\u00e4uft, oder ob er nicht auch bei sch\u00e4rfster Concentration unserer Aufmerksamkeit discontinuirlich bleibt. Die tiefen T\u00f6ne sind so schwierig wahrzunehmen -, dafs sich hier\u00fcber auf Grund einfacher Beobachtungen derselben vielleicht niemals eine Eini-\n1 Diese Zeitschr. IS, 75 fl.\n* Man denke nur an die verschiedenen Bestimmungen der Wahrnehmbarkeitsgrenze !","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nRichard Hohenemser.\ngung erzielen lassen wird. Vorl\u00e4ufig jedenfalls stehen die Ansichten einander diametral gegen\u00fcber. Man wird daher gut thun, zu pr\u00fcfen, ob sich nicht auf Grund theoretischer Erw\u00e4gungen die Continuit\u00e4t oder Discontinuit\u00e4t der tiefsten T\u00f6ne wahrscheinlich machen l\u00e4fst. Einen Anhaltspunkt liefern uns die intermittirenden Ger\u00e4usche. Dieselben bestehen aus St\u00f6fsen, welche wir, wenn sie einander langsam genug folgen, deutlich als einzelne St\u00f6fse wahmehmen, ohne sie freilich z\u00e4hlen zu k\u00f6nnen.1 Wird die Aufeinanderfolge schneller, so verwischt sich die Unterscheidung der einzelnen St\u00f6fse immer mehr und schliefe-lich empfinden wir das Ger\u00e4usch nur noch als rauh. Es w\u00e4re sogar denkbar, dafs wir bei sehr schneller Aufeinanderfolge eine durchaus continuirliche Empfindung h\u00e4tten. Nun ist anzunehmen, dafs es sich mit den durch regelm\u00e4fsige Schwingungen gegebenen Anst\u00f6fsen ebenso verh\u00e4lt wie mit denjenigen, welche die Ger\u00e4usche hervorrufen. Daher ist es das N\u00e4chstliegende, die bei den tiefsten T\u00f6nen doch unbestreitbar vorhandene Discontinuit\u00e4t, solange sie nicht durch Beobachtung unzweifelhaft als Begleiterscheinung nachgewiesen ist, nicht auf Nebenger\u00e4usche zur\u00fcckzuf\u00fchren, sondern darauf, dafs die Aufeinanderfolge der Anst\u00f6lse noch nicht schnell genug ist, um eine durchaus continuirliche Empfindung zu erzeugen.\nWenn wir demnach an der Discontinuit\u00e4t der tiefsten T\u00f6ne festhalten, so m\u00fcssen wir auch discontinuirliche Reize annehmen. Lassen sich solche nicht in der Bewegung der schwingenden K\u00f6rper nachweisen, weil beispielsweise die schwingende Saite, wenn sie sich am weitesten aus der Gleichgewichtslage entfernt hat, nicht erst einen Moment ruht, bevor sie den R\u00fcckweg antritt, weil also die Bewegung selbst, von der Richtungs\u00e4nderung abgesehen, eine continuirliche ist, so m\u00fcssen sie auf physiologischem Gebiete gesucht werden. Nun sind wir \u00fcber den physiologischen Theil des H\u00f6rprocesses durchaus nicht im Klaren ; denn angenommen selbst, die Helmholtz'scIic Hypo-\n1 Z\u00e4hlen k\u00f6nnen wir etwa noch acht St\u00f6fse in der Secunde; doch werden wir eine solche Gruppe noch kaum als intermittirendes Ger\u00e4usch, sondern eben als acht einzelne Ger\u00e4usche bezeichnen. Das intermittirende Ger\u00e4usch unterscheidet sich von ihr objectiv nur durch die schnellere Aufeinanderfolge der einzelnen Glieder und subjectiv, d. h. f\u00fcr unser Empfinden, dadurch, dafs wir diese Aufeinanderfolge schon als Einheit, wenn auch als eine aus Theilen bestehende Einheit, empfinden.","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n81\nthese \u00fcber die Beschaffenheit und Wirksamkeit des inneren Ohres sei vollkommen richtig, was heute vielfach angezweifelt wird1, so wissen wir doch nichts \u00fcber die Vorg\u00e4nge im H\u00f6rnerven und im Centralorgan. Soviel aber l\u00e4fst sich, wie mir scheint, aus der Beschaffenheit der physikalischen Anst\u00f6fse und des \u00e4ufseren Ohres schliefsen, dafs eine physiologische Discon-tinuit\u00e4t des Reizes sehr wohl m\u00f6glich, ja sogar f\u00fcr alle Tonempfindungen in hohem Grade wahrscheinlich ist. Denn beim Schwingen verdichtet und verd\u00fcnnt sich die Luft in regel-m\u00e4fsigem Wechsel; jede Verdichtung dr\u00fcckt das Trommelfell etwas nach innen, worauf es bei der Verd\u00fcnnung in seine urspr\u00fcngliche Lage zur\u00fcckkehrt. Warum sollte sich nun dieses Hinundher nicht in irgend einer Weise bis in den H\u00f6rnerven und ins Centralorgan fortsetzen? Die Fortsetzung braucht nicht nothwendig* in Bewegungen zu bestehen. Aber auch dies w\u00e4re denkbar; denn bei der Bewegung im Organismus kommt es nicht mehr auf ihre mathematische Continuit\u00e4t an, sondern darauf, ob sie eine continuirliche oder eine discontinuirliche Wirkung aus\u00fcbt. Nun ist bei einer bewufst wahrgenommenen Bewegung im Organismus mit jeder Richtungs\u00e4nderung auch eine Empfindungs\u00e4nderung, also offenbar eine Aenderung der Wirkung auf den Organismus, verbunden. Daher m\u00fcssen wir annehmen, dafs auch eine nicht wahrgenommene Bewegung mit der Richtung auch die Wirkung \u00e4ndert und daher eine Discon-tinuit\u00e4t der Empfindung zur Folge haben kann. Uebrigens betont Lipps ausdr\u00fccklich2, dafs es nicht darauf ankomme, ob sich der Reiz in Form von rhythmischen Schl\u00e4gen, also etwa als regelm\u00e4fsige Bewegung fortpflanze, sondern nur darauf, dafs in ihm nach Maafsgabe der Schwingungszahl in irgend welcher W\u2019eise ein regelm\u00e4fsiger Wechsel vorhanden sei.\nWie sich die Annahme diseontinuirlicher Reize f\u00fcr alle Tonempfindungen mit der Thatsache vereinigen l\u00e4fst, dafs wir doch die weitaus meisten T\u00f6ne als continuirlich empfinden, ergiebt sich aus dem, was oben \u00fcber die interraittirenden Ger\u00e4usche und die tiefsten T\u00f6ne gesagt wurde. Auch findet der Satz, dafs eine\n1 Vergl. z. B. Max Meyer, Zur Theorie der Differenzt\u00f6ne etc. in \u201eBeitr\u00e4ge zur Akustik und MusikwissenschaftM, hrsg. von C. Stumpf, Heft II, S. 25 ff.\n9 Vergl. z. B. Philosophische Monatshefte 28, 579ff.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie \u00abi.\nf>","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nRichard Hoheneniser.\nReihe gleicher Empfindungen, welcher also eine Reihe discon-tinuirlicher Reize zu Grunde liegt, zu einer continuirlichen Einheit verschmelzen k\u00f6nne, auf anderen Sinnesgebieten eine Best\u00e4tigung. H\u00e4lt man z. B. den Finger an eine Fl\u00e4che, die sich mit gr\u00f6fster Geschwindigkeit bewegt, so glaubt man, fortw\u00e4hrend nur einen Punkt zu ber\u00fchren, d. h. die diseontinuirlichen Tastreize sind zu einer einheitlichen Empfindung verschmolzen.\nFerner meint Stumpf, auch die Voraussetzung, dafs der uns unbewufste Rhythmus angenehm wirke, weil es der bewufst wahrgenommene thue, habe nichts Ueberzeugendes. Wer den oben angedeuteten Standpunkt einnimmt, dafs alles Bewufstsein unbewufste Vorg\u00e4nge zur unerl\u00e4fslichen Grundlage hat, dafe jedes bewufste Erlebnifs nur einen Theil eines unbewufsten Vorganges oder, wie es meist der Fall sein wird, einer Combination unbewufster Vorg\u00e4nge, gleichsam nur die oberste Spitze des psychischen Geschehens darstellt, der wird anderer Ansicht sein. Er wird sich sagen, dafs wenn das Bewufstwerden und das Im-Bewufstsein-Beharren eines Inhaltes mit unbewufsten Vorg\u00e4ngen eine untrennbare Einheit bildet, ein bewufster Vorgang und ein ihm gleicher unbewufster im Wesentlichen auch eine gleiche Wirkung aus\u00fcben werden. Es giebt eben keinen Wesensunterschied zwischen bewufsten und unbewufsten Vorg\u00e4ngen, sondern psychische Vorg\u00e4nge unterscheiden sich ihrem Wesen nach nur durch ihre qualitative Beschaffenheit. Ohne die Annahme, dafs es unbewufste Vorg\u00e4nge giebt, welche bewufsten Vorg\u00e4ngen gleich sind und daher ebenso wie diese wirken, w\u00e4re z. B. die ganze Associationspsychologie unm\u00f6glich; jal wir w\u00fcrden uns von der einheitlichen Beth\u00e4tigung der Seele \u00fcberhaupt keine Vorstellung machen k\u00f6nnen; denn mit den bewufsten Erlebnissen w\u00e4ren uns nur Bruchst\u00fccke gegeben, deren Zusammenhang uns unerkl\u00e4rlich bliebe. Aber wir haben es nicht etwa mit einer willk\u00fcrlichen Annahme zu thun, welche nur gemacht wurde, um psychologische Theorien aufstellen zu k\u00f6nnen, sondern die That-sachen dr\u00e4ngen zu ihr hin : Man denke z. B. nur an die durch Uebung herbeigef\u00fchrten sogenannten secund\u00e4ren Reflexbewegungen und an andere gewohnheitsm\u00e4fsig gewordene Th\u00e4tig-keiten, die man h\u00e4ufig, ohne etwas davon zu wissen, genau so ausf\u00fchrt, als gesch\u00e4he es mit bewufstem Willen. Hier wirken also die unbewufsten Vorg\u00e4nge so, als w\u00e4ren sie bewufst. Es ist also kein Grund vorhanden, weshalb unbewufste Rhythmen,","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n83\nwenn es solche \u00fcberhaupt giebt, nicht ebenso wirken sollten wie bewufste.\nFreilich m\u00f6chte Stumpf, wenn er \u00fcberhaupt einen Schlufs auf unbewufste Rhythmen f\u00fcr zul\u00e4ssig hielte, aus dem Umstande, dafs ein bewufst wahrgenommener Rhythmus, welcher sich aber aus irgend einem Grunde der Unwahrnehmbarkeit n\u00e4here, nicht mehr angenehm wirke, die Folgerung ziehen, dafs auch der unbewufste Rhythmus nicht angenehm wirken k\u00f6nne. Wir d\u00fcrfen nicht bei dem \u201eaus irgend einem Grunde\u201c stehen bleiben, sondern m\u00fcssen die Gr\u00fcnde, aus welchen sich ein Rhythmus der Un Wahrnehmbarkeit n\u00e4hern kann, genauer ins Auge fassen:\nEin rhythmisches Gebilde, wozu auch das gleichzeitige Auftreten zweier oder mehrerer Rhythmen zu rechnen ist, kann so complicirt sein, dafs wir es nur mit M\u00fche zu verstehen verm\u00f6gen. Hier kann die unangenehme Wirkung, die sich jedenfalls einstellen wird, entweder eine Folge der grofsen Anstrengung sein, die wir aufwenden m\u00fcssen; oder sehr complicirte Rhythmen sind der Natur der Seele \u00fcberhaupt nicht angemessen. Doch ist selbstverst\u00e4ndlich dieser ganze Fall auszuscheiden, da es ja auch im Unbewufsten einerseits einfachere und angenehm wirkende, andererseits complicirtere und an sich unangenehm wirkende Rhythmen geben soll.\nFerner kann sich ein Rhythmus der Grenze der Wahrnehmbarkeit n\u00e4hern, wenn die Intensit\u00e4t der ihn markirenden Schl\u00e4ge zu grofs oder zu gering ist. Nehmen wir in beiden F\u00e4llen die \u00e4ufsersten Extreme an, so werden uns im ersten die einzelnen Schl\u00e4ge so einnehmen, so bet\u00e4uben, dafs wir sie kaum noch von einander unterscheiden und daher ihre rhythmische Anordnung kaum noch erkennen werden. Im zweiten Falle m\u00fcssen wir mit gespanntester Aufmerksamkeit hinhorchen, um die einzelnen Schl\u00e4ge noch -wahrzunehmen ; und selbst wenn uns dieses gelingt, wird es, eben weil die Aufmerksamkeit von den einzelnen Schl\u00e4gen so sehr absorbirt wird, schwierig sein, den Rhythmus zu verfolgen. Dafs in beiden F\u00e4llen die Wirkung eine unangenehme sein wird, ist nicht zu bestreiten. Aber dies hat seinen Grund darin, dafs die Seele, wenn auch jedes Mal in anderer Weise, durch die Schl\u00e4ge selbst bis an die Grenze ihrer Leistungsf\u00e4higkeit in Anspruch genommen wird. Dazu kommt vielleicht\nnoch die Unbefriedigung, welche entsteht, wenn wir etwas er-\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\tRichard' flokenemser.\nfassen wollen, es aber k\u00e4met nur unvollst\u00e4ndig zn erfassen vew m\u00f6gen. Nur wenn ein Rhythmus als solcher, der vorher Lustgef\u00fchl erzeugte, an der Grenze der Wahrnehmbarkeit Unlustgef\u00fchl erzeugen w\u00fcrde, w\u00e4re vielleicht ein Wahrscheinlichkeits-schlufs auf die unangenehme Wirkung des unbewufsten Rhythmus m\u00f6glich.,\nEndlich h\u00e4ngt \u25a0: die Wahrn\u00e9hmbarkeitsgrenze des Rhythmus noch von der L\u00e4nge der Zeit ab, welche zwischen den einzelnen Schl\u00e4gen verl\u00e4uft\u00bb Folgen dieselben einander zu langsam oder zu schnell, so nehmen wir keinen Rhythmus mehr wahr. .Folgen sie einander so langsam oder\u201c so schnell, dafs wir sie eben noch mit M\u00fche zu rhythmischen Gebilden zusammenzufassen' verm\u00f6gen, so entsteht; vielleicht Unlustgef\u00fchl ; aber dieses entspringt wieder nicht aus dem Rhythmus selbst, den wir ja gerade, haben m\u00f6chten, sondern aus der grofsen Anstrengung1, welche wir auf-wenden m\u00fcssen, um ihn zu haben.\n- \u2022 Wir bleiben also bei unserer Annahme, dafs die verschiedenen Rhythmen'je nach ihrer Beschaffenheit auf die Seele wirken, gleichviel ob sie bewufst oder unbewufst sind.\nHinsichtlich zweier weiterer von Stumpf erhobener Ein-w\u00e4nde gen\u00fcgt ein Hinweis auf Lipps\u2019 Ausf\u00fchrungen in dem schon mehrfach erw\u00e4hnten Aufsatz \u201eTonVerwandtschaft Und Tonverschmelzung\u201c1, in welchem er (S. 31 ff) z\u00e8igt,' dafs die Thatsachen, -welche Stumpf gegen die Theorie beibringt, gerade zu ihrer Best\u00e4tigung dienen. Sobald man sich dar\u00fcber klar ist; dafs der Theorie zufolge in einem Zusammenklang Gon sonanz besteht, sofern Anst\u00f6fse der einen Reihe mit solchen der anderen in regelin\u00e4fsigen .Zeitabst\u00e4nden zus ammen.tr e ff en, Dissonanz: daU gegen, sofern die innerhalb dieser ! Zeitabst\u00e4nde erfolgenden Ah-st\u00f6fse beider Reihen nicht Zusammentreffen, und dafs die Seele die Tendenz' hat, ; die < einmal' begonnene Th\u00e4tigkeit - fortzusetzen, und daher jede N\u00f6thigung, eine neue Th\u00e4tigkeit a\u00fcszu\u00fcbeii, als Hemmung empfindet; \u2014- sobald man sich hier\u00fcber, Mar ist,, l\u00e4fst Sich die; von -, Stumpf : aufgeworfene Frage, warum beim Zusammenklang sehr tiefer T\u00f6ne, bei -welchen' doch noch ,der. Schwingungsrhythmus , wahrgenommen werde 2, ! Consonanzen\ny, c y.\t/ , \u25a0' \u2022\n\u25a0 1 Diese ZeitscHr. 19, Iff.\n2 .'fer f\u00fcgt hinzu : r #enn auch nur \u00e4ls: Begleiterscheinung\u201c; doch Widerspricht vdieseij *. Zusatz der-. Von \u00ab ihm ; probeweise angenommenen Voraus-:","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n85\nnicht angenehmer klingen als Dissonanzen, leicht beantworten. Ber\u00fccksichtigt man ferner, dafs die Anst\u00f6fse (gemeint sind selbstverst\u00e4ndlich unbewufste psychische Vorg\u00e4nge als Correlate der physikalischen Schwingungen und der physiologischen Reize) nur Theilvorg\u00e4nge der gesammten Tonempfindung sind und daher, sowohl was das Bed\u00fcrfnlfs der Seele, bei der einmal begonnenen Th\u00e4tigkeit zu beharren, als auch was die Hemmungen betrifft, von geringerer Wirkung sein m\u00fcssen als die Tonempfindungen selbst, so versteht man, dafs beispielsweise die kleine Terz, mit dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 5 : 6, noch entschieden consonirend, wohlklingend wirkt, w\u00e4hrend zwei bewufst wahrgenommene, gleichzeitig ablaufende Reihen von dem gleichen Ver-h\u00e4ltnifs wohl nicht mehr in ihrer rhythmischen Anordnung er-fafst werden k\u00f6nnten und zweifellos eine unangehme Wirkung aus\u00fcben w\u00fcrden. In dieser Verschiedenheit hat Stumpf einen Widerspruch gegen die Theorie zu finden geglaubt.\nAuf Stumpf\u2019s letzten Einwand hat Lipps mit H\u00fclfe der \u201emikropsychischen Betrachtungsweise\u201c, wenigstens zum Theil, widerlegt Stumpf meint, die Thatsache, dafs wir geringe Verstimmungen eines Intervalles nicht bemerken, sei mit einer Theorie, welche die Consonanz- und Dissonanzgrade von den Verh\u00e4ltnissen der Schwingungsrhythmen abh\u00e4ngig macht, nicht vereinbar. Dem gegen\u00fcber stellt Lipps fest, dafs z. B. bei dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 100:201 zwar nicht, wie bei dem Ver-h\u00e4ltnifs 100 : 200 jeder 3. Anstofs der einen Reihe mit jedem 2. der anderen' zusammentrifft, dafs aber dies jedes Mal ann\u00e4hernd der Fall ist und dafs sich auch die \u00fcbrigen Anst\u00f6fse ann\u00e4hernd so verhalten wie beim Zusammenklang der reinen Octave. Da nun auf allen Gebieten des Seelenlebens bis zu einer gewissen Grenze ann\u00e4hernde Gleichheit wie v\u00f6llige Gleichheit wirkt, so ist in der von Stumpf angef\u00fchrten Thatsache kein Widerspruch gegen die Theorie zu erblicken. Aber er geht noch weiter, indem er meint, auch die bei reinen Intervallen m\u00f6glichen Phasenunterschiede m\u00fcfsten gem\u00e4fs der Schwingungsrhythmentheorie in irgend welcher Weise von uns wahrgenommen wTerden, w\u00e4hrend sie bekanntlich f\u00fcr unsere Tonempfindung nicht vorhanden sind. Zwei gleichzeitige rhythmische Reihen stehen bei-\nsetzung, dafs die Reize discontinuirlich seien, kann also in diesem Zusammenh\u00e4nge \u00fcbergangen werden.","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nRichard Hohenemser.\nspielsweise im Verh\u00e4ltnisse von 2 : 4, wenn auf je 1 Schlag der einen Reihe 2 Schl\u00e4ge der anderen fallen; das Verh\u00e4ltnifs bleibt aber das gleiche, wenn der 1. Schlag der 2. Reihe erst eintritt, nachdem 1/4 der Zeit, die zwischen dem 1. und 2. Schlag der 1. Reihe liegt, verflossen ist. Dann geschieht nicht mehr, wie vorher, der 1. und 3. Schlag der 2. Reihe gleichzeitig mit dem 1. und 2. Schlag der 1. Reihe, sondern um x/4 des bezeichneten Zeitabstandes sp\u00e4ter; die 2. Reihe besteht dann, nach musik-technischer Terminologie gesprochen, aus Synkopen. F\u00fchrte nun Lrpps, wie Stumpf glaubt, die Uebereinstimmung der beim Zusammenklange entstehenden unbewufsten rhythmischen Reihen auf eine in regelm\u00e4fsigen Zeitabst\u00e4nden erfolgende Co\u00efncidenz der Schwingungsmaxima zur\u00fcck, so m\u00fcfste allerdings, sobald ein Phasenunterschied (dessen Natur wir uns soeben an bewufst wahrgenommenen Rhythmen klar gemacht haben) eintritt, die Wirkung eine andere und zwar eine complieirtere werden. Aber soviel ich sehe, braucht weder die Theorie auf die Co\u00efncidenz der Schwingungsmaxima Werth zu legen, noch thut es Lippb. Zwar spricht er davon, dafs es leichter sei, zu einem 8/4-Tact der Musik 2 Tanzschritte auszuf\u00fchren als zu einem 2 * * * */4-Taet 3, und dabei ist als selbstverst\u00e4ndlich vorausgesetzt, dafs jedes Mal der Anfang eines neuen Tactes mit dem Anfang einer neuen Schrittgruppe zusammenf\u00e4llt. Aber auf dieses Zusammenfallen, das der Co\u00efncidenz der Schwingungsmaxima entsprechen w\u00fcrde, kommt es hier durchaus nicht an, sondern das Ganze soll nur als Beispiel daf\u00fcr dienen, dafs uns Rhythmen wie 2 : 3 auch im Bewufstsein gegeben sein k\u00f6nnen und dafs die Zweitheilung der Seele naturgem\u00e4fser ist als die Dreitheilung.1 Wenn also f\u00fcr das Zustandekommen beispielsweise der Empfindung der Octave nur erforderlich ist, dafs gleichzeitig in der einen Reihe ein Anstofs erfolgt und in der anderen zwei Anst\u00f6fse stattfinden (und zwar sowohl auf physikalischem als auch auf physiologischem Gebiet), so ist es kein Widerspruch, dafs sich die Phasenunterschiede unserer Tonwahrnehmung nicht zu erkennen geben.\n1 Die Beantwortung der von Stumpf aufgeworfenen Frage, ob der Tanz\nauch dann noch m\u00f6glich sei, wenn die Anf\u00e4nge der Schrittgruppen und\nder Tacte nicht Zusammentreffen, hat also, wie sie auch ausfallen mag, f\u00fcr\nuns keine Bedeutung, einmal weil es nicht auf die Phasenunterschiede\nankommt, sodann weil es sich auf dem Gebiete des unbewufsten Rhythmus\nanders verhalten k\u00f6nnte als auf dem des bewufsten.","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n87\nWarum sie es nicht thun, ist damit freilich nicht erkl\u00e4rt; aber es kam uns hier nicht auf eine Erkl\u00e4rung an, die vorl\u00e4ufig wohl \u00fcberhaupt unm\u00f6glich ist, sondern nur darauf, zu zeigen, dafs die Thatsache unserer Theorie nicht widerspricht.\nWir haben im Vorstehenden zu zeigen versucht, weshalb die Schwingungsrhythmentheorie vor der Verschmelzungstheorie den Vorzug verdient, und wie sie allen gegen sie erhobenen Angriffen standgehalten hat. Nunmehr k\u00f6nnen wir dazu \u00fcbergehen, auf der durch sie gewonnenen Grundlage die Erkl\u00e4rung zweier specieilerer, mit einander eng zusammenh\u00e4ngender Thatsachen anzustreben.\nUeberall da, wo man die Consonanz- und Dissonanzgrade zu den Verh\u00e4ltnissen der Schwingungszahlen in Parallele setzt, nimmt man als selbstverst\u00e4ndlich an, dafs die Reihe dieser Verh\u00e4ltnisse vom Einfachsten schrittweise, d. h. ohne die M\u00f6glichkeit weiterer Zwischenglieder, zu immer Complicirterem aufsteige. Nun ist allerdings das denkbar einfachste Zahlenverh\u00e4ltnifs, abgesehen von 1:1, das naturgem\u00e4fs kein Intervall ergiebt, das Ver-h\u00e4ltnifs von 1 : 2, welches der Octave, dem einheitlichsten Intervall, zu Grunde liegt. Es fragt sich aber, ob die allgemein angenommene Reihe : 1 : 2, 2 : 3, 3 : 4, 4 : 5, 5 : 6, der die Octave, Quinte, Quarte, grofse und kleine Terz, also eine nach dem Con-sonanzgrade abnehmende Reihe von Intervallen entspricht, wirklich stufenweise fortschreitet. Setzen wir die Reihe der Zahlenverh\u00e4ltnisse in derselben Weise fort, so tritt gleich nach 5 : 6 eine Unterbrechung ein; denn 6 : 7 und 7 : 8 ergeben keine in der Musik vorkommenden Intervalle. Ein solches ist erst wieder 8:9, nun eine ausgesprochene Dissonanz, n\u00e4mlich die grofse Secunde; dann folgt 9 : 10, der kleine Ganzton, der in dem sogenannten nat\u00fcrlichen Tonartsystem seine Stelle hat; hierauf treffen wir erst wieder bei 15 : 16 auf ein gebr\u00e4uchliches Intervall, auf die kleine Secunde. Wenn es richtig ist, dafs das Halbtonintervall sch\u00e4rfer dissonirt als das des kleinen Ganztones, und dieses sch\u00e4rfer als das des grofsen Ganztones, wie schon Hauptmann glaubt1, so nimmt allerdings in der ganzen Reihe der Dissonanzgrad zu oder, was dasselbe ist, der Consonanzgrad\n1 Natur der Harmonik und Metrik, 1853, S. 137.","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nRichard Hohenemser.\nnimmt ab. Aber es finden sich auch Glieder, welchen kein Intervall entspricht Auf den Grund hierf\u00fcr sowohl in Bezug auf die soeben angef\u00fchrten als auch auf andere Zahlenverh\u00e4lt-nisse werden wir sp\u00e4ter zur\u00fcckkommen; jetzt wollen wir uns nochmals dem Anfang der Reihe zuwenden.\nIn diesem ist zwar \u00e4ufserlich keine L\u00fccke zu entdecken. Aber mufs auf 1 : 2 wirklich 2 :3 folgen ? K\u00f6nnte nicht auch 1 : 3, 1 : 4, 1:5 etc. folgen, und sind diese Verh\u00e4ltnisse nicht vielleicht einfacher als die anderen ? Diese Fragen w\u00e4ren nicht von so grofser Bedeutung, wenn den genannten Verh\u00e4ltnissen nicht thats\u00e4chlich Intervalle entspr\u00e4chen. 1 : 3 liegt der Duo-decime, 1:4 der Doppeloctave, 1: 5 einer grofsen Terz zu Grunde, deren einer Ton um zwei Octaven versetzt ist, etc. Wie lassen sich diese Intervalle mit der allgemein angenommenen Verh\u00e4lt-nifsreihe in Verbindung bringen? Hierauf mufs jede Theorie der harmonischen Tonbeziehungen, die ersch\u00f6pfend sein will, eine Antwort finden ; und, wie mir scheint, wird dies der Theorie der Schwingungsrhythmen nicht schwer.\nJedes der in Rede stehenden Intervalle kann man sich als Erweiterung eines Intervalles der gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnifsreihe denken, indem der tiefere Ton um eine oder mehrere Octaven abw\u00e4rts oder der h\u00f6here um ebenso viel aufw\u00e4rts versetzt wird. So entsteht aus der Octave die Doppeloctave, aus der Quinte die Duodecime, aus der grofsen Terz die um 2 Octaven erweiterte grofse Terz. Ueberall liegt der Unterschied, den wir zwischen dem urspr\u00fcnglichen und dem erweiterten Intervall empfinden, nur in der verschiedenen Distanz der beiden Bestandteile des Intervalles; sein Charakter aber, seine specifische Eigenart, wird sowohl in der Gleichzeitigkeit als auch in der Succession durch die Erweiterung nicht ver\u00e4ndert. 1 : 4 hat so gut Octavcharakter wie 1 : 2 ; 1 : 3 so gut Quintcharakter wie 4 : 5. Auch bei fortgesetzter Erweiterung tritt keine Aenderung des Intervallcharakters ein, so dafs 1:8, 1 : 16 etc. gleichfalls Octavcharakter, 1 : 6, 1 : 12 etc. Quintcharakter, 1 : 10, 1 : 20 etc. Terzcharakter besitzen. Hinsichtlich des Terzintervalles ist noch zu bemerken, dafs auch 2 : 5 als Erweiterung von 4 : 5 betrachtet werden kann und seinem Charakter nach gleichfalls mit diesem \u00fcbereinstimmt\nF\u00fcr die Charaktergleichheit der urspr\u00fcnglichen und der er-weiterten Intervalle, die jedem Musiker als selbstverst\u00e4ndlich erscheint und mit welcher der Componist mehrstimmiger Musik","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n89\nfortw\u00e4hrend rechnet, fehlt es der Verschmelzungstheorie, welche die Aehnlichkeit der die Octave bildenden T\u00f6ne leugnet, an jeder Erkl\u00e4rung. Vielleicht ist man versucht zu sagen, der Zusammenklang C\u2014c stehe auf derselben Verschmelzungsstufe wie c \u2014 c1 ; daher nehme auch C\u2014cl diese Stufe ein. Von der Falschheit dieses Schlusses kann man sich leicht \u00fcberzeugen, indem man die Anwendung auf die Quinte macht: C\u2014G und G\u2014d bilden Quinten, stehen also auf gleicher und zwar auf der zweiten Verschmelzungsstufe ; und doch ist C\u2014d nicht gleichfalls eine Quinte sondern eine None, also eine scharfe Dissonanz, die in die unterste Verschmelzungsstufe geh\u00f6rt. Aber auch wenn der Schlufs theo-l retisch richtig w\u00e4re, h\u00e4tte man doch nur die Charaktergleichheit der Octave und ihrer Erweiterungen erkl\u00e4rt; denn es w\u00e4re nicht einzusehen, warum C\u2014G und C\u2014g der gleichen Verschmelzungs-Stofe angeh\u00f6ren, da doch C\u2014G und G\u2014g auf verschiedenen Verschmelzungsstufen stehen. Uebrigens hat Stumpf keine eigentliche Erkl\u00e4rung versucht, sondern nur ein Gesetz der Erweiterung formulirt.1 Aber auch wenn man den T\u00f6nen des Octaven-intervalles die gr\u00f6fste Aehnlichkeit zuschreibt, gen\u00fcgt es nicht, zu sagen, in Folge dieser Aehnlichkeit, die ja auch in der Gleichheit der Benennung ihren Ausdruck finde, sei es nur nat\u00fcrlich, dafs der Charakter eines Intervalles durch die Versetzung eines seiner T\u00f6ne in eine andere Octave nicht alterirt werde. F\u00fcr das musikalische Gef\u00fchl ist dies allerdings nat\u00fcrlich; aber theoretisch folgt auch hier daraus, dafs C und c einander ebenso \u00e4hnlich sind wie c und c\\ nicht die gleiche Aehnlichkeit von C und r1, und ebenso wenig folgt aus der grofsen Aehnlichkeit von G und </, dafs C und G einander ebenso \u00e4hnlich sind wie C und g. Vielmehr mufs, wenn die Verh\u00e4ltnisse der Schwingungsrhythmen den Charakter der Intervalle bedingen sollen, auch die Charaktergleichheit der urspr\u00fcnglichen und der erweiterten Intervalle in diesen Verh\u00e4ltnissen begr\u00fcndet sein.\nUnter denjenigen Verh\u00e4ltnissen, welche den Intervallen mit Octavcharakter zu Grunde liegen, ist offenbar das einfachste das von 1:2. Es ist also anzunehmen, dafs sich dieses in allen Octavintervallen in irgend welcher Weise geltend machen und dadurch ihren gemeinsamen Charakter bestimmen wird. Das Wesentliche des Verh\u00e4ltnisses 1 : 2 ist offenbar das, dafs zwei\n1 Verg], : Consonanz und Dissonanz, S. 78.","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nRichard Hohenemser.\nEinheiten der einen Reihe unter einer Einheit der anderen zu-sammengefafst werden. Nun ergiebt die erste Erweiterung allerdings das Schwingungsverh\u00e4ltnifs 1:4, d. h. auf 1 Schwingung des tieferen fallen 4 Schwingungen des h\u00f6heren Tones. Aber es ist bekannt, dafs wir, wenn wir eine Reihe gleich starker, einander in gleichen Zeitabst\u00e4nden folgender Schl\u00e4ge h\u00f6ren, dieselben in der Regel zu Gruppen von zwei zusammenfassen, indem wir jedes Mal dem dritten Schlage in Gedanken eine st\u00e4rkere Betonung zukommen lassen, obgleich ihm objectiv eine solche fehlt Eine Gruppirung zu je B oder 5 Schl\u00e4gen wird nur dann eintreten, wenn man die bestimmte Absicht hat, nur so und nicht anders zu gruppiren, und dabei wird man ein deutliches Gef\u00fchl der Anstrengung haben. Ergiebt sie sich aber einmal von selbst, so werden besondere, die augenblickliche Disposition der Versuchsperson bedingende Umst\u00e4nde mitwirken. Die Gruppirung zu je 2 Schl\u00e4gen dagegen vollziehen wir mit dem Gef\u00fchl der Leichtigkeit, der Selbstverst\u00e4ndlichkeit. Sie wird stets eintreten, wenn ihr nichts hindernd im Wege steht. Vielleicht glaubt man zuweilen, eine Gruppirung zu je 4 Schl\u00e4gen vorzunehmen, aber bei genauerer Beobachtung wird man stets finden, dafs man auch auf den 3. Schlag eine Betonung, wenn auch nur eine schw\u00e4chere, legt und somit 2 Gruppen von je 2 Schl\u00e4gen zu einer neuen Gruppe zusammenfafst. Nach alledem ist die Annahme nicht zu umgehen, dafs auch auf dem Gebiete des unbewufsten Rhythmus die Seele, wo es immer m\u00f6glich ist, Gruppen von je 2 Schl\u00e4gen bildet, dafs sie also in unserem Falle die 4 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones in 2 X 2 und bei fortgesetzter Erweiterung des Octavintervalles 8 Schl\u00e4ge in 4x2, 16 in 8x2 zerlegt etc. Wie uns nun ein in gleich-m\u00e4fsiger St\u00e4rke andauernder Schall, gleichviel ob er Ger\u00e4usch oder Ton ist, wenn wir zu gleicher Zeit eine Reihe regelm\u00e4fsiger Schl\u00e4ge vernehmen, aus ebenso vielen Einheiten zu bestehen scheint, als wir Gruppen von Schl\u00e4gen bilden, obschon uns die Continuit\u00e4t des Schalles deutlich bewufst bleibt, so werden auch beim Zusammenklang eines erweiterten Octavintervalles je 2 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones einen entsprechenden Theil des tieferen Tones, der, solange er eine Schwingung ausf\u00fchrt, als gleichm\u00e4fsig abfliefsend zu denken ist, als Einheit absondern, so dafs immer 2 Einheiten des h\u00f6heren auf 1 Einheit des tieferen Tones fallen. Es verschl\u00e4gt nichts, dafs bei dem Schwingungs-","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbezvehitngen.\n91\nverh\u00e4ltnifs 1 : 4 je 2 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones auf die H\u00e4lfte der Schwingung des tieferen, bei dem Verh\u00e4ltnifs 1 : 8 dagegen auf 1/4 dieser Schwingung fallen etc., sondern es kommt nur darauf an, dafs diese Theile als Einheiten markirt werden, und dies geschieht jedes Mal durch den Beginn einer neuen Gruppe in den Schl\u00e4gen des h\u00f6heren Tones. Das Gemeinsame und Charakteristische aller Octavinteryalle ist also nicht das Schwin-gungsverh\u00e4ltnifs 1:2, wohl aber das rhythmische Verh\u00e4ltnifs 1:2, d.L es sind uns, nat\u00fcrlich unbewufst, stets Einheiten in diesem Verh\u00e4ltnis gegeben, im Zusammenklang gleichzeitig, in der Aufeinanderfolge successive, aber, wie wir wissen, darum doch vergleichbar.\nWenden wir uns nun zu den Intervallen mit Quintcharakter, so begegnen wir den Schwingungsverh\u00e4ltnissen 1:3, 1:6, 1 : 12 etc. und dem Verh\u00e4ltnifs 2 : 3, das der eigentlichen Quinte zu Grunde liegt Aber offenbar ist nicht dieses, sondern 1 : 3 das einfachste; auf dessen Wesen, also darauf, dafs je 3 Einheiten des h\u00f6heren auf 1 Einheit des tieferen Tones fallen, werden alle \u00fcbrigen Verh\u00e4ltnisse zur\u00fcckgef\u00fchrt werden m\u00fcssen und damit werden wir das gemeinsame Charakteristicum der Q.uint-intervalle erhalten. Das Verh\u00e4ltnifs 1 : 3 ist, ebenso wie 1 : 2, ein Grundverh\u00e4ltnifs, d. h. es kann nicht, wie z. B. 1 : 4, durch einen psychischen Vorgang auf ein anderes Verh\u00e4ltnifs zur\u00fcckgef\u00fchrt werden ; denn wenn die Seele beispielsweise beim Wahrnehmen des Zusammenklanges der Duodecime, in welchem die Schwingungen beider T\u00f6ne den zur Wirkung gelangenden Einheiten entsprechen, versuchen sollte, je zwei Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones zu einer Gruppe zusammenzufassen, so m\u00fcfste sie, sobald der zweite Schlag des tieferen Tones eintritt und damit unzweifelhaft eine neue Gruppe des gesammten rhythmischen Gebildes er\u00f6ffnet, gewahr werden, dafs ihr dieser Versuch unm\u00f6glich gelingen kann, dafs sie vielmehr bei der gegebenen Gruppi-ning, d. h. bei der Zusammenfassung von 3 Einheiten des h\u00f6heren unter 1 Einheit des tieferen Tones, stehen bleiben mufs. Da der Seele, wie wir wissen, solange sie sich selbst \u00fcberlassen ist, die Gruppirung zu je 2 Schl\u00e4gen am n\u00e4chsten liegt, so werden wir zu der Annahme gedr\u00e4ngt, dafs der Charakter der Duodecime erst nach Vollendung des 2. Schlages des tieferen oder, was dasselbe ist, des 6. Schlages des h\u00f6heren Tones erkannt ist. Diese Annahme hat nichts Verwunderliches,","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nRichard Hohenemser.\nwenn wir die grofse Geschwindigkeit der Schwingungen in Betracht ziehen. Machen wir die ganz unwahrscheinliche Voran\u00bb-Setzung, dafs schon 2 T\u00f6ne von 24 und 72 Schwingungen in. der Secunde im Zusammenklange eine deutlich charakterisirte Duodecimo ergeben, so haben wir dieselbe bereits nach */,, S* cunde erkannt. Da uns aber beim Wahrnehmen der Intervalle Obert\u00f6ne unterst\u00fctzen k\u00f6nnen und da der Intervallcharakter \\ jedenfalls erst in h\u00f6herer Tonlage, also bei gr\u00f6fserer Schwingung\u00bb- \u00ee geschwindigkeit, deutlich hervortritt, so wird in Wahrheit die \u00bb Zeit, die wir zum Erkennen der Duodecimo brauchen, eine noch : k\u00fcrzere sein.\nIn \u00e4hnlicher Weise wie bei der Duodecimo wird auch bei ihrer ersten Erweiterung, also bei dem Zusammenklange mit den Schwingungsverh\u00e4ltnisse 1:6, die Seele an der Gruppenbildung zu je 2 Schl\u00e4gen gehindert werden; denn jede Gruppe bildet selbstverst\u00e4ndlich eine neue Einheit (darin besteht ja gerade das Wesen der Zusammenfassung einzelner Schl\u00e4ge), und solcher Einheiten w\u00fcrden 3 auf jeden Schlag des tieferen Tones fallen. Da aber die Seele die Zusammenfassung dreier Einheiten nicht ohne bestimmte Veranlassung vollzieht und eine solche hier nicht vorliegt, so \"wird sie zur Zweitheilung \u00fcbergehen, indem sie die 6 Schl\u00e4ge zu 2 X 3 Schl\u00e4gen gruppirt und hierdurch ganz in der Weise, wie wir es z. B. bei dem Schwingungs-verh\u00e4ltnifs 1 :4 kennen gelernt haben, 1/2 Schlag des tieferen Tones als Einheit absondert. Nunmehr fallen 3 Einheiten des h\u00f6heren auf 1 Einheit des tieferen Tones, und daraus ergiebt sich der Quintcharakter oder, wie wir vorl\u00e4ufig besser sagen w\u00fcrden, der Duodecimcharakter des Intervalles. Freilich sind nun doch 3 Einheiten, n\u00e4mlich 3 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones, zu einer Gruppe zusammengefafst. Aber das, was zun\u00e4chst theilungsbed\u00fcrftig war, wraren die Haupteinheiten, d. h. die gr\u00f6fsten Einheiten des ganzen rhythmischen Gebildes, also die, welche von je 2 Schl\u00e4gen des tieferen Tones begrenzt und aufserdem noch dadurch markirt werden, dafs mit jedem Schlag des tieferen ein Schlag des h\u00f6heren Tones zusammentrifft. Sie waren theilungsbed\u00fcrftig, weil die Seele eine Aufeinanderfolge von 6 gleichm\u00e4fsigen Schl\u00e4gen nicht ungruppirt lassen kann, und weil sich die Gruppirung, d. h. die Bildung von Untereinheiten , auch auf den tieferen Ton \u00fcbertr\u00e4gt. Da kein Hinderungsgrund vorlag, wurde die Zweitheilung in 2 X 3 Schl\u00e4ge","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theoi'ic der Tonbeziehungen.\n93\nvollzogen, und damit war f\u00fcr die auf diese Weise entstandenen Untereinheiten, da sich 3 Schl\u00e4ge nicht weiter eintheilen lassen, die Zusammenfassung von je 3 Schl\u00e4gen zwingend gegeben. Wie hier 3 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren auf Va Schlag des tieferen Tones fallen, so fallen sie bei dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 1:12 auf V* Schlag etc.; denn die Zweitheilung setzt sich so weit wie m\u00f6glich fort, also bei allen Verh\u00e4ltnissen von 1 zu einem Product aus 3 und einer Potenz von 2 bis zu dem Punkt, wo 3 Einheiten auf 1 Einheit fallen, ebenso wie bei den Verh\u00e4ltnissen von 1 zu einem Product aus 2 und einer Potenz von 2 oder, wie man hier kurz sagen kann, zu einer Potenz von 2 bis zu dem Punkt, wo 2 Einheiten auf 1 fallen.\nEs fragt sich nun, ob und wie wir in der eigentlichen Quinte, also in dem Schwingungsverh\u00e4ltnisse 2 : 3, das Einheiten-verh\u00e4ltnifs 1 : 3 aufzufinden verm\u00f6gen. Wenn auf 2 Schl\u00e4ge des tieferen Tones 3 des h\u00f6heren fallen, so fallen auf 1 Schlag 3 halbe. Gelingt es uns zu beweisen, dafs diese 3 halben Schl\u00e4ge als 3 Einheiten aufgefafst werden, so ist damit das gesuchte Verh\u00e4ltnifs aufgezeigt Der 2. Schlag des tieferen Tones f\u00e4llt genau in die Mitte des 2. Schlages des h\u00f6heren Tones, theilt ihn also in zwei H\u00e4lften. Wie bisher, so m\u00fcssen wir auch hier annehmen, dafs durch je 2 Schl\u00e4ge des tieferen Tones eine Einheit abgegrenzt wird, d. h. dafs Alles, was von Schl\u00e4gen des h\u00f6heren Tones auf einen Schlag des tieferen f\u00e4llt, zu einer Gruppe zusammengefafst wird ; folglich bilden die 3 halben Schl\u00e4ge, die durch den 1. Schlag des tieferen Tones von dem, was ihnen folgt, gleichsam abgeschnitten sind, eine Gruppe. Dieselbe besteht weder aus 2 noch aus 3 Schl\u00e4gen, wie wir es bisher gesehen hatten, sondern aus einem und einem halben Schlag. Sobald der 2. Schlag des tieferen Tones eintritt, wissen wir, dafs der 2. Schlag des h\u00f6heren halbirt ist; denn gem\u00e4fs der Thatsache, die man als psychisches Tr\u00e4gheitsgesetz formulirt hat, erwarteten wir f\u00fcr den 2. Schlag des h\u00f6heren Tones, da zu einer anderen Erwartung kein Grund vorlag, genau die Dauer des 1. Schlages und k\u00f6nnen daher, wenn er getheilt wird, erkennen, welche Theilung mit ihm vorgenommen wurde. Indem wir aber wahrnehmen, dafs er halbirt ist, wissen wir zugleich, dafs der halbe Schlag ein Drittel des ganzen, im h\u00f6heren Tone bisher abgelaufenen rhythmischen Gebildes ist, dafs dieses in 3 gleiche Theile von der Dauer eines halben Schlages zerf\u00e4llt.","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nBidiard Hohencmser.\nDiese zu bilden und als solche zu empfinden, hat uns der 2. Schlag des tieferen Tones veranlafst. Er seinerseits fafst die 2. H\u00e4lfte des 2. Schlages und die beiden H\u00e4lften des 3. gleichfalls zu 3 halben zusammen, sodafs auf jeden Schlag des tieferen Tones 3 Einheiten des h\u00f6heren fallen. Es bedarf wohl kaum der Erw\u00e4hnung, dafs, da sich dies Alles im Unbewufsten vollzieht, die Ausdr\u00fccke: wissen, erwarten, erkennen, wahrnehmen, empfinden nicht w\u00f6rtlich zu nehmen sind, sondern nur dazu dienen, die Wirkung der unbewufsten Vorg\u00e4nge auf die Seele klarzulegen. \u2014 Man k\u00f6nnte noch meinen, bei dem Schwingungs-verh\u00e4ltnifs 2 : 3 werde die Haupteinheit nicht von dem 1. und 2., sondern von dem 1. und 3. Schlag des tieferen Tones abgegrenzt, da ja, wie das Verh\u00e4ltnifs angiebt, nur hier Schl\u00e4ge des tieferen und des h\u00f6heren Tones Zusammentreffen, und daher m\u00fcsse diese Einheit f\u00fcr den Quintcharakter maafsgebend sein. Aber wir haben gesehen, dafs auch sonst der Quintcharakter (und ebenso der Octavcharakter) nicht von der jeweiligen gr\u00f6fsten Einheit abh\u00e4ngt, sondern stets von dem Umstand, dafs 3 Einheiten des h\u00f6heren Tones unter einer Einheit des tieferen zusammengefafet werden, dafs es also z. B. bei dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 1: 6 nicht darauf ankommt, dafs jedes Mai der 7. Schlag des h\u00f6heren mit dem 2. des tieferen Tones zusammentrifft, sondern darauf, dafs 3 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones auf einen halben des tieferen fallen. Wie also die f\u00fcr den Quintcharakter maafsgebende Einheit aus 1/.2, J/4> 1/8 \u00a9tc. Schlage bestehen kann, wrenn nur auf diesen Theil 3 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones fallen, so wird sie auch im eigentlichen Quintintervall trotz des Schwingungsverh\u00e4ltnisses 2 : 3 aus einem Schlag des tieferen Tones, auf welchen % Schl\u00e4ge des h\u00f6heren fallen, bestehen k\u00f6nnen und m\u00fcssen. Dadurch, dafs % Schl\u00e4ge des h\u00f6heren auf 1 Schlag des tieferen Tones oder dafs 3 Schl\u00e4ge auf 1,\t*/\u2666 \u00a9tc. Schlag fallen, be-\nstimmt sich nur der Erweiterungsgrad des QuintintervaUes, d. h. ob seine beiden Bestandtheile innerhalb der gleichen Octave liegen, oder um wieviele Octaven einer derselben versetzt ist Wie unter den Verh\u00e4ltnissen der Quintintervalle nicht das von 2 : 3, sondern das von 1 : 3 das einfachste und daher das charakterisirende war, auf das sich alle anderen zur\u00fcckf\u00fchren liefsen, so ist unter den Verh\u00e4ltnissen der Terzintervalle nicht das von 4 : 5, sondern das von 1 : 5 das einfachste. Auch dieses ist ein Grundverh\u00e4ltnifs ; denn sowohl der Gruppirung zu je 2,","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n95\nals auch derjenigen zu je 3 Schl\u00e4gen des h\u00f6heren Tones w\u00fcrde der 2. Schlag des tieferen ein Ende setzen. Die Seele mufs also dabei stehen bleiben, 5 Einheiten des h\u00f6heren unter einer Einheit des tieferen Tones zusammenzufassen. Die Erweiterungen erfolgen genau so wie diejenigen der Octave und Duodecime, sodafs also bei dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 1 : 10 5 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones auf 3/t, bei dem Verh\u00e4ltnifs 1 : 20 auf 1/4 Schlag des tieferen Tones fallen etc. Analog der eigentlichen Quinte fallen in dem Verh\u00e4ltnifs 2 : 5 \u00d6/\u00c4, in dem Verh\u00e4ltnifs 4:5 6/4 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren auf 1 Schlag des tieferen Tones. Die halben und Viertelschl\u00e4ge werden ganz in derselben Weise wie bei der Quinte als Einheiten kenntlich gemacht.\nSuchen wir in der begonnenen Reihe weitere Grundverh\u00e4ltnisse auf, so stofsen wir zun\u00e4chst auf 1 : 7. Dieses Verh\u00e4ltnifs, als Einheitenverh\u00e4ltnifs gefafst, liegt naturgem\u00e4fs sowohl den Intervallen mit den Schwingungsverh\u00e4ltnissen 1:7, 1 : 14 etc. als auch denjenigen mit den Verh\u00e4ltnissen 2 : 7 und 4:7 zu Grande. Letzteres Intervall ist unter dem Namen der nat\u00fcrlichen Septime bekannt, aber ebenso wenig wie seine Erweiterungen in das Intervallsystem der Musik aufgenommen, obgleich es vielleicht doch in gewissen F\u00e4llen zur Verwendung kommt1 Dagegen treffen wir in dem n\u00e4chstfolgenden Grund-verh\u00e4ltuifs, 1 : 9, wie der ein solches an, das f\u00fcr eine in der Musik gebr\u00e4uchliche Intervallgruppe charakteristisch ist, n\u00e4mlich f\u00fcr die grofse Secunde mit dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 8 : 9 und f\u00fcr ihre Erweiterungen. Rein mathematisch betrachtet, iiefsen sich in dem Verh\u00e4ltnifs 1 : 9 die Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones zu je 3 gruppiren; aber hierzu w\u00e4re eine Dreitheilung erforderlich, und eine solche vollzieht die Seele nur, wenn sie dazu gezwungen wird. Hier bleibt ihr jedoch der Ausweg, die 9 Schl\u00e4ge \u00fcberhaupt nicht in Gruppen zu theilen, sondern sie nur unter jedem Schlag des tieferen Tones zu einer Gruppe zusammeuzufassen.\nDie Grundverh\u00e4ltnisse 1 : 11 und 1 : 13 entsprechen keinen in der Musik vorkommenden Intervallen. Dagegen liegt das\n1 \u201eNat\u00fcrliche Septime\u201c heifst das Intervall, weil sein Grundintervall, mit dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 1:7, in der harmonischen Obertonreihe, n\u00e4mlich als Verh\u00e4ltnifs des Grundtons zu dem 7. Theilton vorkommt. Es wird dnrch diese Bezeichnung von der kleinen Septime unterschieden, die in das Intervallsystem der Musik aufgenommen, aber in der harmonischen Obertonreihe nicht unmittelbar gegeben ist.","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nRichard Hohenemser.\nVerh\u00e4ltnis 1 : 15 der grofsen Septime zu Grunde, da dieselbe das Schwingungsverh\u00e4ltnifs 8 : 15 aufweist. Ebenso wenig wie vorher die 9 Schl\u00e4ge werden hier die 15 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones zu je 3 gruppirt, da die F\u00fcnftheilung ebenso wenig ohne Zwang vollzogen wird wie die Dreitheilung.\nHier wollen wir die Reihe abbrechen, da die bisher gefundenen Einheitenverh\u00e4ltnisse auch noch anderen Intervallen zu Grunde liegen. Ein der Erweiterung \u00e4hnliches Verfahren ist n\u00e4mlich das der Umkehrung des Intervalles, welches darin besteht, den tieferen Ton eines urspr\u00fcnglichen Intervalles um eine Octave aufw\u00e4rts oder den h\u00f6heren um eine Octave abw\u00e4rts zu versetzen. Das Intervall der Octave l\u00e4fst sich naturgem\u00e4\u00df nicht umkehren, da der Versuch, es zu thun, zum Einklang f\u00fchren w\u00fcrde. Aus der Quinte wird durch Umkehrung bekanntlich die Quarte, aus der grofsen Terz die kleine Sexte, aus der grofsen Secunde die kleine Septime, aus der grofsen Septime die kleine Secunde. Lassen wrir gleichzeitig zwei T\u00f6ne, die eines der genannten urspr\u00fcnglichen Intervalle bilden, z. B. C\u2014\u00f6, und die Octave des Grundtones: c erklingen, so ist naturgem\u00e4fs in dem Zusammenklang auch die Umkehrung G\u2014 c gegeben. Doch wird uns das Verh\u00e4ltnis klarer, wenn wir die Zusammenkl\u00e4nge C\u2014G und G \u2014 c einander folgen lassen. Noch deutlicher k\u00f6nnen wir es uns machen, wenn wir auch diese Zusammenkl\u00e4nge in Succession aufl\u00f6sen, also nach einander die T\u00f6ne CGGc angeben; dann haben wir das deutliche Gef\u00fchl, dafs die Tonfolge von G aus in gewisser Weise in ihren Ausgangspunkt zur\u00fcckgekehrt ist, aber doch nicht in den urspr\u00fcnglichen (wir werden sie niemals mit der Folge CG GC verwechseln), sondern in einen, wie jeder Unbefangene zugeben wird, ihm \u00e4hnlichen.\nEs ist klar, dafs auch hier die Verschmelzungstheorie v\u00f6llig versagt, und Stumpf hat sich auch hier mit der Formulirung eines Gesetzes begn\u00fcgt.1 Aber auch der Hinweis auf die Aehn-lichkeit der Octavt\u00f6ne gen\u00fcgt nicht; dem Tone C sind auch andere T\u00f6ne \u00e4hnlich, z. B. e, und doch empfinden wir die Folge CGGe durchaus nicht als Umkehrung der Quinte CG. Freilich k\u00f6nnte man sagen, die Aehnlichkeit der Octavt\u00f6ne sei so beschaffen, dafs uns dieselben bis zu einem gewissen Grade als identisch erschienen, und soweit dies der Fall sei, empf\u00e4nden wir die Umkehrung eines Intervalles als R\u00fcckkehr in den Aus-\n1 Vergl. : Consonanz und Dissonanz 8.81.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n97\ngangspunkt. Aber damit w\u00e4re wenig gesagt, und der specifische Unterschied zwischen einem Intervall und seiner Umkehrung, der zwischen Intervallen, welche nicht in diesem Verh\u00e4ltnis zu einander stehen, niemals auftritt, w\u00e4re nicht erkl\u00e4rt. Auch hier wird eine Erkl\u00e4rung nur in den rhythmischen Verh\u00e4ltnissen zu finden sein.\nIn den Schwingungsverh\u00e4ltnissen der Quinte und Quarte, 2 : 3 und 3 : 4, ist zun\u00e4chst nichts von Umkehrung zu bemerken. Aber wir wissen bereits, dafs der Charakter und somit auch der Charakterunterschied der Intervalle nicht unmittelbar durch die Verh\u00e4ltnisse der Schwingungszahlen, sondern durch die Verh\u00e4ltnisse der zur Wirkung gelangenden Einheiten bestimmt wird. Bei dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 3 : 4 fallen auf 1 Schlag des tieferen 4js Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones. W\u00fcrden diese 4/8 als Einheiten gefafst und k\u00e4me diese ganze Theilung zur Wirkung, so h\u00e4tten wir das Einheitenverh\u00e4ltnifs 1 :4. Damit w\u00e4re unsere ganze Theorie von den in Einheitenverh\u00e4ltnissen bestimmbaren charakteristischen Merkmalen der Intervalle hinf\u00e4llig; denn da hier noch eine Zweitheilung m\u00f6glich ist, m\u00fcfste die Zusammenfassung von 2 Schl\u00e4gen des h\u00f6heren Tones unter V* Schlag des tieferen das charakterisirende Merkmal bilden. Aber das Ver-h\u00e4ltnifs 1 : 2 sollte ja der Octave zu Grunde liegen und aufser-dem ist nicht einzusehen, wie es dem Verh\u00e4ltnifs 1 : 3 gegen\u00fcber eine Umkehrung bewirken sollte. Nun nahmen wir aber bisher, weim wir Einheitenverh\u00e4ltnisse aufsuchten, als den bestimmenden Theil des Verh\u00e4ltnisses, d. h. als den, unter welchem so viele Schl\u00e4ge, wie die andere Verh\u00e4ltnifszahl angiebt, zusammengefafst werden, stets denjenigen an, welcher sich aus Zweitheilung ergab. Wir sagten nicht: bei der Quinte, 2 : 3, fallen auf 1 Schlag des h\u00f6heren */g Schl\u00e4ge des tieferen Tones, sondern auf 1 Schlag des tieferen fallen '% Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones. Wir setzten also stillschweigend voraus, dafs die erstgenannte Theilung, die mathematisch allerdings m\u00f6glich ist, thats\u00e4chlich nicht vollzogen wird. Die Berechtigung zu dieser Voraussetzung lag darin, dafs die Seele, wenn sie nicht unter Zwang steht, wohl die Zweitheilung, niemals aber die Drei- oder F\u00fcnftheilung vornimmt. Man k\u00f6nnte meinen, die Zweitheilung erreiche mit der Gruppirung zu je 2 Schl\u00e4gen ihr Ende ; eine Gruppe von 2 Schl\u00e4gen zerfalle ebenso nur noch in einzelne Schl\u00e4ge wie eine Gruppe von 3 oder 5; daher sei es f\u00fcr den einzelnen Schlag gleichg\u00fcltig, in welcher Gruppirung er stehe. Aber wenn man auch nicht sagen\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 36.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nRichard Hohenemser.\nkann, dafs eine Gruppe von 2 Schl\u00e4gen in derselben Weise weiter zerlegt wird wie 8 Schl\u00e4ge in 2 X 4 und je 4 in 2 X 2 zerlegt werden, n\u00e4mlich so, dafs jede der durch Zweitheilung entstandenen Unterabtheilungen zu einer Einheit zusamtnenge-fafst wird, so mufs doch der einzelne Schlag, der einer Gruppe von 2 Schl\u00e4gen angeh\u00f6rt, eine st\u00e4rkere Wirkung aus\u00fcben, mehr Gewicht besitzen als jeder andere; denn jede rhythmische Anordnung hat zur Folge, dafs jedes der rhythmisch geordneten Elemente st\u00e4rker, eindringlicher wirkt, als wenn es uns in einer unrhythmischen Reihe gegeben w\u00e4re, und selbstverst\u00e4ndlich ist die Wirkung in derjenigen Anordnung am st\u00e4rksten, welche der Seele am naturgem\u00e4fsesten ist, also in der Gruppirung zu je 2 Elementen, zu je 2 Schl\u00e4gen. Demnach wird sich bei der Quarte, 3 : 4, die Theilung nicht so vollziehen, dafs auf einen Schlag des tieferen 4/\u00c4 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones fallen, sondern so, dafs auf einen Schlag des h\u00f6heren % Schl\u00e4ge des tieferen fallen. Mit dem Eintritt des 2. Schlages des h\u00f6heren Tones ist von dem\n1.\tSchlage des tieferen Tones ein Theil abgeschnitten. Dafe dieser Theil ein Viertel ist, wissen wir, sobald der 2. Schlag des tieferen Tones einsetzt. Von ihm wird durch den 3. Schlag des h\u00f6heren Tones die H\u00e4lfte abgeschnitten, welche sich naturgem\u00e4fe mit dem vorangegangenen Viertel unter dem 2. Schlage des h\u00f6heren Tones zu einer Gruppe von 3 Einheiten vereinigt Die\n2.\tH\u00e4lfte wird mit dein 1. Viertel des folgenden Schlages unter dem 3. Schlag des h\u00f6heren Tones wieder zu einer Gruppe von 3 Einheiten zusammengefafst u. s. f., so dafs stets auf 1 Einheit des h\u00f6heren 3 Einheiten des tieferen Tones fallen. Hierdurch ist die Quarte deutlich als Umkehrung der Quinte charakterisirt; denn beide Intervalle beruhen darauf, dafs 3 Einheiten des einen unter 1 Einheit des anderen Tones zusammengefafst werden. Aber die zusammenfassende Einheit ist bei der Quint und ihren Erweiterungen in dem tieferen, also dem langsamer verlaufenden Tone gegeben, bei der Quarte und ihren Erweiterungen dagegen in dem h\u00f6heren, also dem schneller verlaufenden. Daher mufs dasjenige, was zusammengefafst wird, bei den Quintintervallen stets aus mehr als einem Schlage bestehen, bei den Quartintervallen dagegen aus mehreren Theilon eines Schlages.\nDie Quarte l\u00e4fst sich nat\u00fcrlich in derselben Weise erweitern wie die Quinte. In der ersten Erweiterung, mit dem Schwingungs-verh\u00e4ltnifs 3 : 8, fallen auf 1 Schlag des h\u00f6heren 8/8 Schl\u00e4ge des","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n99\ntieferen Tones, in der zweiten, mit dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 3:16, */l6 u. s. w. W\u00e4hrend aber in den Erweiterungen der Quinte (1:3, 1:6 etc.) mit 1 jedes Mal dieselbe Einheit, d. h. jedes Mal eine Einheit von gleicher Dauer bezeichnet wird, ist bei den Erweiterungen der Quarte die mit 1 bezeichnete Einheit jedes Mal eine andere, da der Ton, in welchem sie gegeben ist, jedes Mal in einer anderen Octave liegt. W\u00e4hrend daher bei den Erweiterungen der Quinte der Quintcharakter festgestellt ist sobald die Seele die einzige unter der mit 1 bezeichneten, jedes Mal gleichen Einheit des tieferen Tones m\u00f6gliche Gruppirung der Einheiten des h\u00f6heren Tones vorgenommen hat, also, wie wir fr\u00fcher sahen, nach dem 2. Schlag des tieferen Tones, h\u00e4ngt bei den Erweiterungen der Quarte der Zeitpunkt, in welchem der Quartcharakter bestimmt ist, von der jedes Mal verschiedenen Dauer der mit 1 bezeichneten Einheit des h\u00f6heren Tones ab, da diese als die bestimmende, um im tieferen Tone eine Gruppenbildung zu erm\u00f6glichen, erst von einem Schlage desselben einen Theil abschneiden mufs. Zugleich kommt es auf die Gr\u00f6fse dieses Theiles an, da sich hierdurch bestimmt, wie grofs der Theil des folgenden Schlages sein mufs, der noch ben\u00f6thigt wird, damit eine Gruppe zu Stande kommt. So schneidet in dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 3 : 8 der 3. Schlag des h\u00f6heren Tones von dem 1. Schlag des tieferen % ab. Damit eine Gruppe entstehen kann, mufs zu diesen noch 3/s des folgenden Schlages hinzukommen, welches der 4. Schlag des h\u00f6heren Tones abschneidet Sobald dieser eintritt oder, mit anderen Worten, nachdem von dem 2. Schlag des tieferen Tones Vs verflossen ist, ist also der Charakter des Intervalles festgestellt, w\u00e4hrend er sich bei der eigentlichen Quarte erst nach Ablauf der H\u00e4lfte des 2. Schlages des tieferen Tones offenbart. Bei dem Verh\u00e4ltnis 3 : 16 wird er sich nicht fr\u00fcher zu erkennen geben, als bei dem Verh\u00e4ltnifs 3:8; denn der 6. Schlag des h\u00f6heren Tones schneidet von dem 1. Schlag des tieferen nur 1/,\u00f6 ab, so dafs zur Gruppenbildung noch */,\u00ab oder Vs des folgenden Schlages erforderlich ist. Dagegen wird bei den Schwingungsverh\u00e4ltnissen 3:32 und 3 : 64 der Intervallcharakter schon festgestellt sein, wenn von dem 2. Schlag des tieferen Tones V02 verflossen ist, etc. Wie wir aber schon fr\u00fcher sahen, ist es in Folge der grofeen Geschwindigkeit der Schwingungen sehr begreiflich, dafs tlle diese Unterschiede f\u00fcr unsere Empfindung nicht existiren.\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nRichard Hohcntmser.\nDa wir bei der Quarte und dementsprechend auch bei ihren Erweiterungen die Bildung einer Gruppe innerhalb des 1. Schlages des tieferen Tones f\u00fcr unm\u00f6glich hielten, k\u00f6nnte man fragen, ob demnach nicht jedes Mal da, wo ein Schlag des tieferen mit einem Schlag des h\u00f6heren Tones zusammen trifft, also da, wo sich das gesammte rhythmische Gebilde zu wiederholen beginnt, z. B. bei der Quarte mit dem 5. Schlag des h\u00f6heren und dem 4. des tieferen Tones, eine Unterbrechung eintreten m\u00fcsse, von der doch in unserer Empfindung nichts zu bemerken sei. Wir m\u00fcssen aber annehmen, dafs die Seele, da sie, sobald sie eine bestimmte Theilung und Gruppirung \u00f6fter hinter einander (ja auch nur ein Mal) vollzogen hat, die Wiederholung dieser Theilung und Gruppirung erwartet, den Schlag des tieferen Tones auch dann in 3 Theile zerlegt und diese unter einem Schlage des h\u00f6heren Tones zu einer Gruppe zusammenfafst, wenn hierzu in dem unmittelbaren Verhalten der Schl\u00e4ge zu einander keine Veranlassung gegeben ist. M\u00f6glich ist der Seele diese Fortsetzung des vorher dagewesenen, weil sich ja die mit den T\u00f6nen gegebenen Vorg\u00e4nge thats\u00e4chlich nicht \u00e4ndern. Sobald sie es thun, sobald also ein neues Intervall eintritt, ist die Seele nat\u00fcrlich gezwungen, eine neue Theilung und Gruppirung vorzunehmen.\nGenau wie die Quarte zur Quinte verhalten sich die Umkehrungen der \u00fcbrigen bisher betrachteten urspr\u00fcnglichen Intervalle zu diesen. Aus der grofsen Terz, mit dem Schwingungs-verh\u00e4ltnifs 4 : 5 und dem Einheitenverh\u00e4ltnifs 1 : 5, ergiebt sich durch Umkehrung die kleine Sexte, mit dem Schwingungsver-h\u00e4ltnifs 5:8, in welcher also auf 1 Schlag des h\u00f6heren B/8 Schl\u00e4ge des tieferen, auf 1 Einheit des h\u00f6heren 5 Einheiten des tieferen Tones fallen. Ebenso ergiebt sich aus der grofsen Secunde, mit dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 8 : 9 und dem Einheiten verh\u00e4ltnifs 1 : 9, die kleine Septime, mit dem Schwingung\u00df-verh\u00e4ltnifs 9 : 16 und also mit dem Einheitenverh\u00e4ltnifs 1 : 9 in umgekehrter Verwendung, wie genau in derselben Weise der kleinen Secunde als der Umkehrung der grofsen Septime das Einheitenverh\u00e4ltnifs 1:15 in umgekehrter Verwendung zu Grunde liegt. Auch die Erweiterungen dieser Umkehrungen vollziehen sich genau so wie diejenigen der Quarte.\nUebersehen wir die Intervalle, die wir bis jetzt auf Einheitenverh\u00e4ltnisse zur\u00fcckgef\u00fchrt haben, so f\u00e4llt sofort auf, da&","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n101\ndie kleine Terz und die grofse Sexte noch fehlen. Die kleine Terz giebt sich durch ihr Sehwingungsverh\u00e4ltnifs 5 : 6 als eine Umkehrung zu erkennen; denn da eine Zweitheilung nur im h\u00f6heren, nicht im tieferen Tone m\u00f6glich ist, kann die bestimmende Einheit nur in jenem gegeben sein. Das urspr\u00fcngliche Intervall hat demnach das Schwingungsverh\u00e4ltnifs 3 : 5 und ist bekanntlich die grofse Sexte. Wollten wir annehmen, dafs hier auf 1 Schlag des tieferen R/g Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones fallen, so erhielten wir das Einheitenverh\u00e4ltnifs 1 : 5, welches wir jedoch bereits der grofsen Terz zugeschrieben haben. Es liegt aber zu dieser Annahme durchaus kein Grund vor, denn es ist uns hinl\u00e4nglich bekannt, dafs die Seele ohne Zwang weder eine Drei-noch eine F\u00fcnftheilung vollzieht. Dadurch, dafs jeder 4. Schlag des tieferen mit jedem 6. des h\u00f6heren Tones zus\u00e4mmentrifft, ist sie zwar gezwungen, je 3 Schl\u00e4ge des tieferen und je 5 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones zu einer Gruppe zusammenzufassen. Aber innerhalb dieser Gruppen wird sie keine weitere Theilung mehr vornehmen, d. h. in keinem der beiden T\u00f6ne werden die einzelnen Schl\u00e4ge ein Uebergewicht an Wirkung gewinnen. Sie werden also nicht zu bestimmenden und bestimmten Einheiten, sondern 3 : 5 ist selbst ein Einheitenverh\u00e4ltnifs, in welchem sich selbstverst\u00e4ndlich, wie bei 1:3, 1:5 etc., der complicirtere Theil dem einfacheren unterordnet; die Seele bleibt also dabei stehen, 5 Einheiten des h\u00f6heren unter 3 Einheiten des tieferen Tones zusammenzufassen. Demnach sind auch die Erweiterungen, 3 : 10, 3:20 etc., auf dieses Verh\u00e4ltnifs zur\u00fcckzuf\u00fchren, indem 5 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren auf %, :}/4 etc. Schl\u00e4ge des tieferen Tones fallen.\nBei der Umkehrung, der kleinen Terz mit dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 5 : 6, werden die 6 Schl\u00e4ge des h\u00f6heren Tones selbstverst\u00e4ndlich in 2 Gruppen von je 3 Schl\u00e4gen zerlegt, und wie bei der Quarte auf 1 Schlag des h\u00f6heren \u00f6/4 Schl\u00e4ge des tieferen Tones fallen, so fallen hier auf jede der aus 3 Schl\u00e4gen bestehenden Einheiten des h\u00f6heren \u00f6/2 Schl\u00e4ge des tieferen Tones, so dafs also das Einheitenverh\u00e4ltnifs 3 : 5 in umgekehrter Verwendung erscheint. Dafs wir soeben das Wort \u201eEinheit\u201c in doppelter Bedeutung gebrauchten, ist kein Widerspruch; denn in der grofsen Sexte und kleinen Terz ist nicht der einzelne Schlag, sondern die Gruppe von 3 Schl\u00e4gen die zusammenfassende, bestimmende Einheit. Darum aber gehen die \u00e9inzelnen Schl\u00e4ge als solche doch nicht verloren, so dafs wir das charak-","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nRichard Hohenems er.\nteristische Merkmal der genannten Intervalle doch darin erblicken m\u00fcssen, dafs 5 Einheiten des einen unter 3 Einheiten (hier gleichbedeutend mit Schl\u00e4gen) des anderen Tones zusammen-gefafst werden. Wie sich das Verh\u00e4ltnifs in den Erweiterungen der kleinen Terz zu erkennen giebt, wird man sich ohne Weiteres klarmachen k\u00f6nnen.\nDa wir neben dem Einheitenverh\u00e4ltnifs von 1 : 5 auch dasjenige von 3: 5 gefunden haben, wird neben 1 :9 auch 5:9 ein musikalisches Intervall ergeben. Der Umkehrung desselben sind wir bereits begegnet und zwar in dem Schwingungsverh\u00e4lt-nifs 9 : 10, das dem kleinen Ganzton zu Grunde liegt. Wie bei der grofsen Sexte und kleinen Terz eine Gruppe von 3 Schl\u00e4gen, so bildet bei dem kleinen Ganzton und der zugeh\u00f6rigen Septime, die als urspr\u00fcngliches Intervall zu betrachten ist, eine Gruppe von 5 Schl\u00e4gen die bestimmende Einheit, unter welcher also 9 Einheiten des anderen Tones zusammengefafst werden. In welcher Weise dies in der ganzen Intervallgruppe geschieht, brauchen wir nicht mehr n\u00e4her aus einander zu setzen.\nWenn wir die doppelte Anwendungsm\u00f6glichkeit der Einheitenverh\u00e4ltnisse vor Augen haben, und wenn wir mit jeder Intervallbenennung auch die Erweiterungen des betr. Intervalles einbegreifen wollen, so k\u00f6nnen wir nunmehr folgende Reihe aufstellen : 1 : 2 entspricht der Octave, 1 : 3 der Quinte und Quarte, 1 : 5 der grofseu Terz und kleinen Sexte, 3 : 5 der grofsen Sexte und kleinen Terz, 1 : 9 der grofsen Secunde (dem grofsen Ganzton) und kleinen Septime, 5 : 9 der Intervallgruppe des kleinen Ganztones, 1 : 15 der grofsen Septime und kleinen Secunde. In dieser ganzen Reihe nimmt also der Consonanzgrad ab. Auch lernen wir aus ihr, dafs nicht etwa alle die Verh\u00e4ltnisse, in welchen eine Anzahl von Einheiten unter einer Einheit zusammengefafst wird, einfacher sind als die \u00fcbrigen, dafs vielmehr, was die Einfachheit betrifft ,3:5 vor 1 : 9 und ebenso 5 : 9 vor 1 : 15 zu stehen kommt. Alle Intervalle, welche aufser den bisher besprochenen noch Vorkommen, liegen in der Fortsetzung der Reihe, aber an den verschiedensten Stellen. So entspricht 1 : 25 der \u00fcberm\u00e4fsigen Quinte und verminderten Quarte (Schwingungsverh\u00e4ltnifs 16 : 25 und 25 : 32), 1 : 27 einer \u00fcberm\u00e4fsigen Sexte und verminderten Terz (Schwingungsverh\u00e4ltnifs 16 : 27 und 27 : 32), 5 : 27 einer unreinen Quarte und der zugeh\u00f6rigen Quinte (Schwingungsverh\u00e4ltnifs 20 : 27 und 27 : 40),","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Tonbeziehungen.\n103\n1 :45 der \u00fcberm\u00e4fsigen Quarte und verminderten Quinte (Schwingungsverh\u00e4ltnifs 32 : 45 und 45 : 64), 1 : 75 der \u00fcberm\u00e4fsigen Secunde und verminderten Septime (Schwingungsverh\u00e4ltnifs 64 : 75 und 75 : 128).\nDie Thatsache, der wfir ja auch schon fr\u00fcher begegnet sind, dafs sich die in der Musik gebrauchten Intervalle nicht auf eine ununterbrochen fortlaufende Reihe von Einheitenverh\u00e4ltnissen vertheilen, dafs vielmehr gewisse an sich m\u00f6gliche Verh\u00e4ltnisse \u00fcbersprungen werden, hat ihren Grund jedenfalls nicht in der Natur dieser Verh\u00e4ltnisse, also nicht in der Natur der ihnen entsprechenden Intervalle, welche man bekanntlich auf k\u00fcnstlichem Wege bilden kann. Zu dieser Annahme f\u00fchren uns zwei Erw\u00e4gungen : Einmal ergiebt das Einheitenverh\u00e4ltnifs 1 : 7, das erste, welches \u00fcbersprungen wird, eine Intervallgruppe, aus deren Natur sich ihre Unverwendbarkeit schwerlich ableiten lassen d\u00fcrfte. Eher k\u00f6nnte man versucht sein, auf ihre besondere Brauchbarkeit zu schliefen; denn das Intervall mit dem Schwingungsverh\u00e4ltnifs 4 : 7, die nat\u00fcrliche Septime, ist eine Dissonanz, welche der kleinen Septime nahesteht, aber, wie wir uns leicht an der harmonischen Obertonreihe \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, weicher klingt als diese, \u00fcberhaupt weicher als alle gebr\u00e4uchlichen sogenannten Dissonanzen, welche aber doch entschiedenen Dissonanzcharakter besitzt. Sie w\u00e4re also in die Musik eingef\u00fchrt, die mildeste Dissonanz Auch ist ihr Vorkommen in primitiver Hornmusik kaum zu bezweifeln ; denn auf den Naturh\u00f6rnern, auf welchen sich nur die harmonische Obortonreihe hervorbringen l\u00e4fst, ist gerade die Gruppe etwa vom 4. bis zum 10.Oberton besonders leicht zu erzeugen.1 Wenn die nat\u00fcrliche Septime trotzdem in der modernen Musik keine Stelle hat, so wird der Grund hierf\u00fcr wohl nicht in dieser Septime selbst zu suchen sein. \u2014 Ferner ist es auffallend, dafs sich unter den gebr\u00e4uchlichen Intervallen auch solche finden, welche anderen gebr\u00e4uchlichen Intervallen so nahe stehen, dafs sie sehr leicht mit ihnen verwechselt werden, z. B. die unreine Quinte (Schwingungsverh\u00e4ltnifs 27 : 40) mit der reinen (27 : 40,5), die verminderte Terz (27 : 32) mit der kleinen (27 : 32,05). Solche Intervalle wTerden doch schwerlich um ihrer selbst willen Verwendung finden. Wir m\u00fcssen vielmehr annehmen, dafs sich das jeweilig herrschende Tonsystem aus bestimmten Grundintervallen aufbaut und dafs aus der unendlich grofsen Zahl der \u00fcbrigen\n1 Vergl. \u201eSammelb\u00e4nde der Internationalen Musik Gesellschafta 1, 18.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nRichard Hohencmser.\nm\u00f6glichen Intervalle nur diejenigen zur Verwendung kommen, welche die Beschaffenheit des Syst\u00e8mes zul\u00e4fst So sind in den von Hauptmann angenommenen Systemen der Dur- und Moll-Tonart, welche ausschliefslich auf der reinen Quinte und der grofsen Terz aufgebaut sind, d. h. in welchen alle T\u00f6ne nach dem Quint- oder Terzverh\u00e4ltnisse berechnet werden, nur die bisher als gebr\u00e4uchlich angef\u00fchrten Intervalle m\u00f6glich. Erst bei der Combination der Systeme, also bei Einf\u00fchrung der Chromatik, entstehen wieder neue Intervalle. Berechnet man die T\u00f6ne nur nach dem Quintverh\u00e4ltnifs, wie es die griechischen Theoretiker thaten, so ergiebt sich u. A. ein Intervall mit dem Schwingungs-verh\u00e4ltnifs 64 : 81, die sogenannte pythagor\u00e4ische Terz,\u201d w-elche in den Systemen Hauptmann\u2019s unm\u00f6glich ist Das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Intervalle mufs also in der Natur der Tonsysteme seinen Grund haben. Aber die Tonsysteme selbst entbehren noch fast v\u00f6llig der psychologischen Begr\u00fcndung; ja es ist sogar nicht unm\u00f6glich, dafs das HAUPTMANN\u2019sche System, welches jetzt allgemein als die Grundlage der modernen Musik anerkannt wird, ebenso w'ie das der Griechen, wenigstens zum Theil nur eine theoretische Speculation ist, welche mit der Wirklichkeit, d. h. mit der Intervallauswahl, die unser nat\u00fcrliches Tonbewufstsein vornimmt, nicht \u00fcbereinstimmt.\nDie verschiedenen Tonsysteme zu constatiren und zu erkl\u00e4ren, ist eine der wichtigsten Aufgaben desjenigen Theiles der Psychologie, welcher sich mit der Tonkunst besch\u00e4ftigt. Wenn ihre L\u00f6sung, die selbstverst\u00e4ndlich in engem Anschlufs an die geschichtlich gegebenen Thatsachen angestrebt werden mufs, mit H\u00fclfe der Rhythmentheorie gelingen sollte, was bestimmt zu erwarten ist, so h\u00e4tte man in diesem Erfolge eine wichtige St\u00fctze dieser Theorie zu erblicken. Unsere Aufgabe aber bestand nur darin, die Thatsache, dafs die Intervalle sich erweitern und umkehren lassen, aus der Theorie der Schwingungsrhythmen heraus zu erkl\u00e4ren und damit verst\u00e4ndlich zu machen. Soweit uns dies gelungen ist, ist damit gleichzeitig eine Best\u00e4tigung der Theorie geliefert, einer Theorie, welche nicht nur an sich von h\u00f6chstem psychologischem Interesse ist, sondern wrelche auch berufen zu sein scheint, f\u00fcr alle weiteren musikpsychologischen Forschungen die Grundlage abzugeben.\n'Eingeyangen am 6. M\u00e4rz 1901.)","page":104}],"identifier":"lit31439","issued":"1901","language":"de","pages":"61-104","startpages":"61","title":"Zur Theorie der Tonbeziehungen","type":"Journal Article","volume":"26"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:26:20.680546+00:00"}

VL Library

Journal Article
Permalink (old)
http://vlp.uni-regensburg.de/library/journals.html?id=lit31439
Licence (for files):
Creative Commons Attribution-NonCommercial
cc-by-nc

Export

  • BibTeX
  • Dublin Core
  • JSON

Language:

© Universitätsbibliothek Regensburg | Imprint | Privacy policy | Contact | Icons by Font Awesome and Icons8 | Powered by Invenio & Zenodo