Open Access
{"created":"2022-01-31T15:05:51.398836+00:00","id":"lit31442","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Groos, Karl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 26: 145-167","fulltext":[{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\nVon\nKarl Groos.\nI. Die Arten der Denkbeziehung beim Fragen.\nDas Erkennen erkennen zu wollen ist ein schwieriges Unternehmen. Wie deutlich zeigt sich das, wenn man die Beispiele von Urtheilsacten in den Lehrb\u00fcchern der Logik ansieht 1 \u201eDiese Rose ist roth\u201c, \u201ediese Stahlfeder ist spitz\u201c und \u00e4hnliche \u201elogische Artefacte\u201c \\ wobei im g\u00fcnstigsten Falle der Blick des Forschers -\u00fcber den Schreibtisch schweift, um da allerlei Beziehungen herauszugreifen, sind nur der hundertste Abgufs von urspr\u00fcnglichen Erkenntnifsvorg\u00e4ngen. Um sich das klar zu machen, mufs man erstens zwischen Neuurthei 1 en und Repetitions-urtheilen, zweitens zwischen nat\u00fcrlichen und k\u00fcnstlichen Urtheilen unterscheiden. Unter Neuurtheilen verstehe ich nicht etwa blos originelle Entdeckungen, sondern alle Denkprocesse, wobei der Ausgangspunkt ein Stutzen \u00fcber etwas, was sich nicht gleich logisch erledigen l\u00e4fst, der Endpunkt die gegenw\u00e4rtig erlebte siegreiche Bew\u00e4ltigung dieser Schwierigkeit ist Bei den viel h\u00e4ufigeren Repetitionsurtheilen handelt es sich darum, dafs wir fr\u00fcher (von uns oder von anderen) gewonnene Neuurtheile als etwas schon Feststehendes, was keinen weiteren Kampf kostet, einfach wiederholen. Nat\u00fcrliche Urtheile ferner sind solche Denkprocesse, die uns von unseren Erlebnissen abgen\u00f6thigt werden, w\u00e4hrend das k\u00fcnstliche Urtheil in dem Versuch eines Gelehrten besteht, einen Urtheilsact absichtlich hervorzurufen, um sich dabei zu beobachten. Ich will nicht behaupten, dafs die hierbei von mir verwendeten Termini v\u00f6llig\n* W* JjtBtrsALiM. \u201eDie Urtheilsfunction.\u201c Wien. 1895. S. 78.\n10\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 26.","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nKarl Oroos.\nzutreffend seien; jedenfalls sind die damit bezeichneten Unterschiede selbst vorhanden. Es ist nun leicht einzusehen, d&b die Neuurtheile psychologisch interessanter sind als die Bepeti-tionsurtheile ; ebenso verst\u00e4ndlich ist es aber, dafs die k\u00fcnstlichen Urthe\u00fce, solange nicht ein g\u00fcnstiger Zufall helfend eingreift, meistens der weniger interessanten Kategorie angeh\u00f6ren. Dafs man diesen Eindruck roth, jenen spitz nennt, hat man schon in der Kindheit gelernt, und so stellen sich die gew\u00fcnschten Aussagen ohne jede Denkarbeit auf associativer Grundlage fast mechanisch ein. Es ist von ungeheuerem Werth, dafs wir so \u201edenken\u201c k\u00f6nnen; aber als Psychologen m\u00f6chten wir doch aufser dieser Maschinenarbeit auch die lebensvolleren Processe kennen lernen, in denen ein gegenw\u00e4rtiges Problem gegenw\u00e4rtig gel\u00f6st wird.\nEs mag verschiedene Methoden geben, um hier zum Ziel zu gelangen. Am einfachsten ist es, sich auf die Lauer zu legen, bis man sich selbst einmal bei einem Neuurtheil ertappt Dabei hat man ja ab und zu einen Erfolg, so besonders, wenn man mit der Denkbeziehung auf einen Weg ger\u00e4th, aus dem man im n\u00e4chsten Augenblicke herausspringt, weil man merkt, dafs er in die Irre f\u00fchrt Fast noch seltener gelingt es, ein richtiges Neuurtheil in der Selbstbeobachtung einzufangen. Ich werde hierauf zur\u00fcckkommen. Jedenfalls w\u00e4re es gut, wenn alle solche Beobachtungen sofort aufgeschrieben und an eine Sammelstelle eingeliefert w\u00fcrden.\nAuf experimentellem Wege scheint man diesem Gebiet kaum beikommen zu k\u00f6nnen. Dennoch giebt es ein Mittel, um wenigstens in seine Nachbarschaft zu gelangen. Dieses Mittel besteht darin, dafs man in einer \u2014 wom\u00f6glich gr\u00f6fseren \u2014 Anzahl von Versuchspersonen durch Mittheilung bestimmter Vorstellungsinhalte das Niederschreiben von Fragen anregt. Denn in solchen sich unwillk\u00fcrlich aufdr\u00e4ngenden Fragen werden nicht nur durch die Form der Fragestellung die als Antwort gew\u00fcnschten Urtheilsarten angedeutet, sondern die Fragen enthalten auch selbst in grofser Zahl aufkeimende Er-kenntnifsacte, von denen wenigstens ein Theil den Charakter von Neuurtheilen besitzt Nat\u00fcrlich wird man in Hinsicht auf die Ergebnisse solcher Versuche keine grofsen Anspr\u00fcche erheben d\u00fcrfen; denn man betrachtet ja statt des inneren Vorgangs nur seine \u00e4ufserliche Fixirung. Immerhin wird bei der","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennern.\nVerarbeitung dieses Aeufserlichen der Blick f\u00fcr das Innere in mancher Hinsicht gesch\u00e4rft, gerade wie ein genaues Studium emotioneller Ausdrucksbewegungen vieles klarer machen kann, was in der blofsen Selbstbeobachtung leicht \u00fcbersehen wird.\nAns diesem Grunde habe ich in dem Wintersemester 1900/01 mein Psychologie-Colleg dazu ben\u00fctzt, um mehrere Wochen hindurch am Anfang der Stunde den Zuh\u00f6rern kurze Themata vorzulesen, auf die sie mit Fragen zu reagiren hatten, welche sie direct auf Zettel niederschrieben. Als Beispiel sei hier eins der k\u00fcrzesten mitgetheilt Nr. 17 lautet: \u201eIm Schaufenster des Juweliers befindet sich ein Stein von grofser Sch\u00f6nheit\u201c. Nach Vorlesung eines Themas f\u00fcgte ich jedesmal direct, hinzu: \u201eWas w\u00fcnschen Sie nun zun\u00e4chst zu wissen?\u201c Im Ganzen waren es 23 Themata, die insgesammt 479 Fragen zum Ergebnifs hatten. Die Zahl der Ablieferer von Zetteln schwankte zwischen 11 und 2L Vielfach wurde mit mehreren Fragen reagirt; ich dachte im Anfang daran, in diesem Fall die zuerst gestellte in der Berechnung besonders zu bewerthen, gab es aber auf, als ich mich davon \u00fcberzeugte, dafs die sp\u00e4ter niedergeschriebene Frage gar nicht selten die im Bewufstsein fr\u00fcher aufgetauchte war. Dagegen war es oft nothw\u00e7ndig, eine sprachlich in einem Satz ausgedr\u00fcckte Frage in zwei verschiedene Beziehungen auseinanderzulegen. So lautet z. B. eine Frage: \u201eWo hatte er das Messer liegen lassen?\u201c Hier geht eine Tendenz zeitlich zur\u00fcck, eine zweite auf r\u00e4umliche Localisirung. In Folge dessen mufste ich die Berechnung doppelt f\u00fchren, indem bei solchen F\u00e4llen jede Tendenz f\u00fcr die Anzahl der Fragen = a/s, f\u00fcr die Anzahl der \u201eBeziehungen\u201c aber = 1 angesetzt wurde.1 Die Gesammt-zahl der logischen Beziehungen betr\u00e4gt 538 in 479 Fragen. Im Folgenden bedeutet die in Klammern beigef\u00fcgte Zahl stets die logischen Beziehungen, w\u00e4hrend die nicht eingeklammerte auf die Menge der Fragen geht In manchen F\u00e4llen ergaben sich Schwierigkeiten der Berechnung, auf die ich zum Theil noch hinweisen werde.\nDie Themata sind, abgesehen von dem ersten, alle so gew\u00e4hlt, dafs sie auf besondere Kategorien von Fragen angelegt sind. Wenn also etwa eines von ihnen lautet: \u201eAls der junge\n1 Mehr als zwei Tendenzen ans einer Frage herauszulesen wurde ich ia diesen Versuchen nirgends gen\u00f6thigt.\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nKarl Qrooa.\nMann gerade an einem stattlichen Hause vorbeiging, fiel pl\u00f6tzlich eine Rose zu seinen F\u00fcTsen nieder\u201c \u2014 so ist hier die Haupttendenz \u201ecausal r\u00fcckw\u00e4rts\u201c, d. h. der Satz hatte den Zweck, vorwiegend Fragen nach der Ursache anzuregen. Die Versuchspersonen wurden aber mit dieser Absicht nicht bekannt gemacht Nat\u00fcrlich ist es in den meisten F\u00e4llen unm\u00f6glich, alle Nebentendenzen auszuschliefsen ; man mufs sich aber umsomehr damit begn\u00fcgen, die Haupttendenz m\u00f6glichst in den Vordergrund *u rucken, als gerade ihr Verh\u00e4ltnis zu den Nebenbeziehungen oft von Interesse ist. \u2014 F\u00fcr jede Kategorie gab ich mindestens zwei Themata, wovon allemal das Eine sich mehr als Bruchst\u00fcck einer Erz\u00e4hlung darstellt (Imperfect), w\u00e4hrend das Andere einfach auf eine Thatsache hinweist (Pr\u00e4sens oder Perfect).\nBetrachten wir nun die gestellten Fragen zuerst im Allgemeinen, so springt da sofort ein Unterschied ins Auge, der den Philologen wenn nicht vertraut, so doch bekannt ist, in den psychologisch-logischen Er\u00f6rterungen aber, soweit mein\u00a9 \u2014 wie ich freilich von Anfang an betonen mufs \u2014 beschr\u00e4nkte Literatur-kenntnifs reicht, in der Regel nicht viel beachtet wird, obwohl er einiges Interesse verdient. \u2014 Denken wir uns einen Menschen in dem Stadium eines zu vollziehenden Neuurtheils (in dem vorhin angedeuteten Sinn des Wortes), so k\u00f6nnen wir sagen: vor der erreichten erkennenden Bew\u00e4ltigung des gegebenen Thatbestandes befindet er sich psychologisch in dem Zustand der Frage. Dieser Zustand l\u00e4fst aber bei genauer Analyse drei Phasen unterscheiden: 1. ein blofses Stutzen, das sich in einer pl\u00f6tzlichen Hinwendung der Aufmerksamkeit verr\u00e4th, verbunden mit dem Wunsch oder der Erwartung einer logischen Beziehung, in deren Erkenntnifs das Bewufstsein Ruhe finden wird; 2. das Verlangen nach einer besonderen Art von logischer Relation, wobei das Bewufstsein auf diese oder jene Urtheilsform eingestellt ist, ohne dafs sich doch die concrete L\u00f6sung, die bestimmte Inhaltsbeziehung schon ank\u00fcndigte ; 3. das erste, noch unsichere Auf tauchen der L\u00f6sung selbst in Gestalt einer Vermuthung.\nDie erste Phase pflegt sprachlich keinen Ausdruck zu finden (schriftlich liefse sie sich etwa durch ein blofses Fragezeichen symbolisiren) ; dagegen tritt der Unterschied der zweiten und dritten Phase deutlich in zwei Arten von Fragen hervor. Die eine Art (zweite Phase) l\u00e4fst sich nicht mit ja oder nein","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennen\u00bb.\n149\nerledigen ; denn obwohl eie nach einer bestimmten Urtheilsform hindr&ngt, enth\u00e4lt sie doch noch nichts von einer aufkeimenden LOsmog (z. B. was ist es? woher kommt es? wann, warum, z\u00fc welchem Zweck geschah es ?). Die zweite Art (dritte Phase) kann mit ja oder nein beantwortet werden, weil hier eine Vermuthung, also ein versuchtes Urtheil vorliegt, \u00fcber dessen Berechtigung die Antwort entscheidet. Wie mir ein philologischer College raittheilt, ist dieser Unterschied schon von den antiken Grammatikern terminologisch durch die Gegen\u00fcberstellung von ero-tematiHchen und peistischen Fragen fixirt worden, wobei die peistischen wohl (\u00fcberredend \u2014 \u201enahe legend\u201c : ist S etwa P?) der zweiten Art entsprechen, w\u00e4hrend in der modernen Philologie (durch Delbr\u00fcck) die Bezeichnung \u201eErg\u00e4nzungs\u201c-imd \u201eBest\u00e4tigungsfragen\u201c eingef\u00fchrt ist. Diese deutschen Ausdr\u00fccke sind philologisch jedenfalls sehr gut gew\u00e4hlt. Psychologisch haben sie den Nachtheil, dafs sie die Erscheinungen heteronom, vom Charakter der Antwort aus bestimmen. Ich nenne die zweite Art \u201eFragen mit Urtheilskeim\u201c oder \u201eVer* muthungsfragen\u201c, die erste \u201eleere Fragen\u201c.\nBei den Versuchen fallen auf 479 Fragen 218 leere und 261 Vermuthungsfragen. Doch hat sich das Verh\u00e4ltnis wahrscheinlich dadurch etwas zu Gunsten der zweiten Classe verschoben, dafs ich gleich nach dem ersten Versuch auf den Unterschied beider Arten aufmerksam wurde und den Zuh\u00f6rern sagte, Vermuthungsfragen seien mir besonders willkommen. Wieviel diese nur im Anfang gegebene, sp\u00e4ter nicht wiederholte Anregung ausgemacht hat, l\u00e4fst sich nicht sagen. Gegen einen allzugrofsen Einflufs spricht die Thatsache, dafs bei dem ersten Versuch sogar 18 Vermuthungs- und nur 12 leere Fragen gestellt wurden, obwohl hier von dem Unterschied der beiden Classen noch nichts bekannt war. \u2014 Im Allgemeinen ist noch als ein nicht uninteressantes Ergebnifs hervorzuheben, dafs, abgesehen von dem ersten Versuch, auf die 11 erz\u00e4hlenden Themata 108 leere und 153 Vermuthungsfragen auf die 11 nicht erz\u00e4hlenden 98 leere und 90 Vermuthungsfragen gefallen sind. Wenn die gr\u00f6fsere Anzahl von Fragen \u00fcberhaupt bei den erz\u00e4hlenden Themata auftritt, so mag dies zum Theil an \u00e4ufseren Gr\u00fcnden liegen, auf die ich hier nicht eingehe. Wenn aber bei den erz\u00e4hlenden Versuchen die Vermuthungsfragen fast um die H\u00e4lfte zahlreicher sind als die leeren, w\u00e4hrend bei den nicht","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nKarl Groo8.\nerz\u00e4hlenden sogar etwas mehr leere Fragen Vorkommen, so ist das wohl mit Sicherheit darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs die erz\u00e4hlende Form die Phantasie mehr anregt und dadurch leichter \u00fcber die Phase der leeren Fragen zur selbst\u00e4ndigen Vermuthung hin\u00fcberleitet.\nIch gelange nun zu dem eigentlichen Thema meines ersten \u201eBeitrages\u201c \u2014 den Arten der Denkbeziehung beim Fragen. \"Wir stehen hier vor der \u201eKategorien\u201cfrage, dem Problem einer Lehre von den besonderen Formen des beziehenden Denkens. Man kann diese Formen aus den verschiedenen \u201eAussagen\u201c abstrahiren, die man in der Sprache antrifft Man kann, weniger direct aus den Quellen sch\u00f6pfend, die Urtheils-lehre der Schullogik zur Grundlage seiner Eintheilung machen. Man kann endlich aus einer obersten Kategorie alle anderen \u2014 etwa nach dialektischer Methode \u2014 zu entwickeln suchen. Meine viel beschr\u00e4nktere Aufgabe geht dahin, zur Lehre von den Denkbeziehungen ein paar bescheidene und vielleicht allzusehr am Aeufserlichen haftende Anmerkungen zu machen, die sich aus meinem Material an Fragen ergeben haben. Hierbei kann ich \u00fcberdies weder Vollst\u00e4ndigkeit, noch endg\u00fcltig gesicherte Ergebnisse versprechen: der Zweck dieser ersten Mittheilung ist haupts\u00e4chlich der, zu gr\u00fcndlicherer Bearbeitung eines dem Experiment noch kaum erschlossenen Gebietes anzuregen, w\u00e4hrend die zweite den Versuch machen wird, etwas tiefer in das Problem des Neuurtheils einzudringen.\nA. Die r\u00e4umlichen Beziehungen.\nDie Raumvorstellung, sagt Stumpf einmal, \u201eberuhe ihren Elementen nach auf directer Empfindung, ihrer Ausbildung nach auf Associationen\u201c.* 1 Ich w\u00fcrde (wohl auch im Sinne von Stumpf) der zweiten H\u00e4lfte des Satzes noch hinzuf\u00fcgen: und auf der \u201ebeziehenden Th\u00e4tigkeit des Verstandes\u201c.2 * Denn von der blofsen Verkettung der Vorstellungen ist ihre \u201ebewufste Beziehung\u201c 8 zu unterscheiden. In dem urspr\u00fcnglich gegebenen Ausgedehntsein entstehen die bewufsten r\u00e4umlichen Beziehungen haupts\u00e4chlich im\n1 \u201eUeber den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung.\u201c 8. 296.\n1 Ebd. 312.\n* Vgl. E. Schr\u00e4der, \u201eDie bewufste Beziehung zwischen Vorstellungen\nals constitutives Bewufstseinselement\u201c. 1893.","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennern.\t151\nAnschlu\u00df an das Verhalten des leiblichen Ich zu seiner Umgebung. Der menschliche Organismus ist in eine r\u00e4umliche Umgebung hineingestellt, auf die er in Folge von theils angeborenen, theils ohne Reflection erworbenen Anpassungen zweckm\u00e4\u00dfig reagirt Das in diese Reactionen verflochtene Bewufstsein hat beim Menschen (und wohl nur bei diesem) die F\u00e4higkeit, die so thats\u00e4chlich gegebenen Verh\u00e4ltnisse in bewufsten Beziehungen wiederzuspiegeln und so erst unsere Raumvorstellung au dem zu machen, was sie ist. Aus dieser Ursprungsart erkl\u00e4rt es sich, dafs wir nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die popul\u00e4re Unterscheidung der drei Dimensionen besitzen. Die einfachsten r\u00e4umlichen Begriffe sind, wie mir scheint, Ort, Richtung und Entfernung. Von diesen wird wieder der Ort gew\u00f6hnlich als das Elementarste bezeichnet1 Das ist logisch gewi\u00df zutreffend. Fragt man sich dagegen, was psychologisch zuerst als bewufste Beziehung herausgehoben wird, so m\u00f6chte ich im Zusammenhang mit dem eben Gesagten der Richtung den Primat zuerkennen.\nBei den Versuchen, die man viel mehr auf Detail ausdehnen k\u00f6nnte, als es mir dieses Mal m\u00f6glich war, stellte sich Folgendes heraus. Von 479 Fragen (538 Beziehungen) gehen im Ganzen 42 (45) auf r\u00e4umliche Bestimmungen, also 8,77 (8,36) %. Dabei waren zwei Themata mit r\u00e4umlicher Haupttendenz gegeben worden, die beide auf die Frage nach dem Ort eingestellt waren. Fr. 9 lautete: \u201eVergeblich suchte er in allen Taschen nach seinem Messer.\u201c Nr. 22 : \u201eSeit zwei Jahren sucht man vergeblich nach dem aus der Gem\u00e4ldesammlung gestohlenen Rembrandt.\u201c Diese beiden Themata waren nun entweder \u00fcberhaupt schlecht gew\u00e4hlt, oder zu stark mit Nebentendenzen versehen. Denn bei den anderen Versuchss\u00e4tzen kamen zum Theil mehr Fragen nach r\u00e4umlicher Beziehung vor als gerade hier. Wegen dieses Versagens wird man vermuthlich das Interesse f\u00fcr die r\u00e4umliche Relation etwas h\u00f6her einsch\u00e4tzen m\u00fcssen ; freilich, wenn es sehr vorwiegend w\u00e4re, so h\u00e4tten die Hauptthemata eben doch besser gewirkt. \u2014 Im Allgemeinen ist noch hinzuzuf\u00fcgen, da\u00df hier 30 (31) leere, 12 (14) Vermuthungsfragen gestellt wurden, ein dem Gesammtergebnifs entgegengesetztes Verh\u00e4ltnifs, das nur noch von dem bei den Benennungsfragen \u00fcbertroffen wird. Es\n1 Vgl. Stumpf, Ebd. 280.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nKarl Groo8.\nscheint also hier schwieriger als in anderen F\u00e4llen, die Versuchsperson bis in jene dritte Phase hin\u00fcberzuf\u00fchren, die ein aufkeimendes Urtheil enth\u00e4lt.\nVon den Unterarten der Raumbeziehung treten Ort, Richtung und Entfernung hervor: Ort 15,5 (17), Richtung 19,5 (21), Entfernung 7 (7). Unter den zuletzt genannten gehen nur 2 (2) Fragen auf die Distanz zwischen verschiedenen Objecten, w\u00e4hrend 5 (5) die Entfernung der Grenzen eines und desselben Objectes von einander, also die Gr\u00f6fse angegeben haben m\u00f6chten. Von allen diesen \u00e4ufserlichen Ergebnissen kann h\u00f6chstens die starke Betheiligung der auf Richtung gehenden Fragen im Zusammenhang mit dem fr\u00fcher Angedeuteten einigermaafsen beachtenswerth sein. Viel interessanter ist der Umstand; dafs nun innerhalb der Richtungsfragen ein \u00fcberraschendes Mifsver-h\u00e4ltnifs zwischen dem Woher und dem Wohin zu constatiren ist: es wurde 18,5 (20) Mal \u201ewoher\u201c und nur ein einziges Mal \u201ewohin\u201c gefragt. Hier stofsen wir auf ein Resultat, das des weiteren Nachpr\u00fcfens und \u2014 wenn es durch andere Versuche im Wesentlichen best\u00e4tigt wird \u2014 des Nachdenkens werth ist Es ist mir nicht zweifelhaft, dafs die Erscheinung zum Theil durch die hereinspielende Causalbeziehung erkl\u00e4rt werden mufs; denn wir werden sehen, dafs fast \u00fcberall, wo zugleich causale Relationen anklingen, der Regrefs den Progrefs \u00fcberwiegt. Dafs aber hier beim R\u00e4umlichen der Unterschied so ungew\u00f6hnlich grofs ist, wird, falls es sich wirklich um eine allgemeine Erscheinung handelt, noch auf besondere Ursachen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden m\u00fcssen.\nB. Die zeitlichen Beziehungen.\nAuch bei der Zeit haben wir ein urspr\u00fcngliches Ausgedehntsein von besonderem Charakter, sei es nun, dafs wir es concrete Gegenwart oder psychische Pr\u00e4senzzeit oder wie sonst nennen, als unmittelbar Gegebenes vorauszusetzen. Man denkt dabei, wenn man auf das Elementare zur\u00fcckzugehen sucht, vor Allem an das Nachklingen des eben Vergangenen im \u201eprim\u00e4ren Ge-d\u00e4chtnifs\u201c. Man kann sich aber fragen, ob nicht vielleicht ein vor aller Reflection vorhandenes Eingestelltsein auf das Zuk\u00fcnftige, ein Gespanntsein auf das Kommende ann\u00e4hernd die gleiche Wichtigkeit besitzt. Wenn man bedenkt, wie bedeutungsvoll das Triebleben f\u00fcr die Organismen ist, das doch lauter Ein-","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\n153\nStellungen auf das Zuk\u00fcnftige mit sich bringt, wenn man ferner beachtet, dafs sogar im rein Theoretischen das aufmerksame Bewufstsein dieselbe triebartige Einstellung zeigt, so wird man diesen Gedanken nicht ohne Weiteres abweisen d\u00fcrfen. \u2014 Die bewufsten zeitlichen Beziehungen sind nicht sehr leicht in Unterarten zu sondern, da die sich eindr\u00e4ngenden Analogien mit dem R\u00e4umlichen vielleicht eher sch\u00e4dlich als n\u00fctzlich wirken und dennoch schwer eliminirt werden k\u00f6nnen. F\u00fcr unsere Zwecke gen\u00fcgt es, dafs wir die Beziehung auf die Gegenwart von der auf Fr\u00fcheres oder Sp\u00e4teres unterscheiden und die Beziehung auf die Dauer hinzuf\u00fcgen.\nUnter den Fragen sind 34 (40) = 7,43 (7,l)\u00b0/\u201e zeitlich, n\u00e4mlich 11,5 (14) leere und 22,5 (26) Vermuthungsfragen, so dafs hier das Verh\u00e4ltnifs aufkeimender Urtheilsacte viel g\u00fcnstiger ist als beim Raum. Hauptthemata waren Nr. 10: \u201eAls er von seiner Reise ins elterliche Haus zur\u00fcckkehrte, fand er, dafs man inzwischen den Garten im englischen Geschmack angelegt hatte\u201c \u2014 und Nr. 12 : \u201eIn einem bestimmten Abschnitt der Entwickelung der Schwerter tritt die lanzettf\u00f6rmige Gestalt der Klinge auf.\u201c Auch diese Themata haben sich nicht besonders wirksam gezeigt, immerhin \u00fcbertraf der Erfolg den der auf r\u00e4umliche Beziehungen angelegten \u2014 von den 34 (40) Zeitbeziehungen fallen 10 (13) auf Nr. 10 und 12 \u2014, w\u00e4hrend ich a priori eher das Gegentheil erwartet h\u00e4tte. Jedenfalls stellt sich im Ganzen das Interesse f\u00fcr zeitliche Relationen noch etwas geringer dar als das nach r\u00e4umlichen. \u2014 Was die Unterarten der zeitlichen Beziehung anlangt, so kam 10 (10) Mal das Verlangen nach zeitlicher Bestimmung im Allgemeinen vor, w\u00e4hrend 7 (11) Fragen auf das Vorausgehende, 12 (13) auf das Folgende, 1,5 (2) auf die Gegenwart, 3,5 (4) auf die Dauer abzielten. Da sich die Seltenheit der Beziehungen auf die Gegenwart wohl aus der Natur der Versuche erkl\u00e4ren wird, so ist hier nur ein einziges Ergebnifs be-merkenswerth, n\u00e4mlich der starke Antheil der Relationen auf das zeitlich Folgende. W\u00e4hrend im Allgemeinen der Progrefs hinter dem Regrefs zur\u00fccksteht und bei dem R\u00e4umlichen sogar fast verschwindet, ist bei der Zeit das Interesse f\u00fcr den Progrefs \u00fcberwiegend. Hier macht sich also m\u00f6glicherweise jenes triebartige Eingestelltsein auf das Kommende geltend, von dem ich oben gesprochen habe; aufserdem ist es allerdings denkbar, dafs","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nKarl Groos.\nder Regreis sprachlich leichter eine causale Form annimmt als der Progrefs, was die Erscheinung auch erkl\u00e4ren w\u00fcrde.\nC. Die Zahlbeziehung.\nDa die Versuche hinsichtlich der Zahlbeziehung nur ihrem Gesammtresultat nach in Betracht kommen, so brauche ich hier nichts weiter vorauszusetzen als die Bemerkung, dafs die Grundlage der bewufsten Beziehung wohl auch hier etwas Gegebenes ist, n\u00e4mlich der gr\u00f6fsere oder geringere \u201einnere Reichthum\u201c beim simultanen oder successiven Erleben einer Mehrheit \u2014 Fragen nach der Anzahl kamen aufserhalb der eigens darauf angelegten Themata nur zweimal vor. Von den Specialversuchen lautet das Thema Nr. 14 : \u201eDieser junge Mann ist schon ifcehr als einmal verlobt gewesen\u201c; und das Thema Nr. 20: \u201eCharlottenburg hat im letzten Jahrzehnt an Einwohnerzahl aufserordentlich stark zugenommen\u201c. Nr. 20 ergab 4,5 (7) Beziehungen auf Anzahl, Nr, 14 blos 2 (2). Die Gesammtsumme betr\u00e4gt also 8,5 (11) = 1,77 (2,05)%. Darunter ist 1 (1) Vermuthungsfrage.\nDas Interesse f\u00fcr die Zahlbeziehung ist den Versuchen nach am geringsten unter allen Urtheilsarten, die erprobt wurden; h\u00f6chstens die Existentialbeziehung kann mit ihr in dieser Hinsicht verglichen werden, wie sich sp\u00e4ter zeigen wird. Das ist sehr auffallend gegen\u00fcber der ungeheuren Wichtigkeit der Zahl, die, wie v. d. Steinen einmal sagt, \u201edas Ger\u00fcst all unseres Wissens\u201c darstellt. Wir werden dadurch ein wenig an das Verhalten primitiver St\u00e4mme erinnert, die sich um bestimmte Zahlenangaben unglaublich wenig k\u00fcmmern und in Folge dessen aus Mangel an Uebung (nicht aus Mangel an Begabung) kaum \u00fcber 5 oder 6 hinauskommen. Auch beim Culturmenschen scheint die Bedeutung der Zahl in den Hintergrund zu treten, sobald man nur an seine nat\u00fcrliche Wifsbegier appellirt\nD. Vergleichen und Unterscheiden.\nZwei Erlebnisse a und b k\u00f6nnen hinsichtlich ihrer Unterscheidbarkeit in f\u00fcnffacher Weise zum Gegenstand bewufeter Beziehungen gemacht werden: 1. die zugleich auf die Kategorie der Substantialit\u00e4t verweisende Identit\u00e4tsbeziehung, 2. Gleichheit, 3. Aehnlichkeit, 4. Verschiedenheit, 5. Contrast.\nMeine Versuche sind in diesem Gebiet nicht vollst\u00e4ndig, dar sie, was die Specialthemata anlangt, nur auf Fragen nach Gleich-","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennen\u00bb.\n155\nheit, Aehnlichkeit oder Verschiedenheit angelegt waren, aufser-dem aber blos den Contrast in noch n\u00e4her zu besprechender Weise hervortreten liefsen. Im Ganzen haben wir hier 31 (40) = 6,47 (7,43) \u2022/\u00ab Fragen resp. Beziehungen zu verzeichnen, wovon 21,5 (26) den Vermuthungsfragen angeh\u00f6ren. Es ergab sich aber dabei eine gewisse Schwierigkeit f\u00fcr die Berechnung, die ich nur verdeutlichen kann, wenn ich zuerst die Specialthemata anf\u00fchre. Nr. 4 lautete : \u201eIn der mineralogischen Sammlung sind in einem besonderen Glaskasten Goldfunde aus Australien aufgestellt. Links vor\u00fcen sieht man einen stattlichen Klumpen von fast kugelf\u00f6rmiger Gestalt, dessen Werth 6000 Frs. betragen soll. Wenden wir den Blick weiter nach rechts, so f\u00e4llt uns ein zweites Fund8t\u00fcck auf.\u201c Nr. 15: \u201eAls der Tourist auf seiner Gratwanderung eine Spitze von betr\u00e4chtlicher H\u00f6he erklettert hatte, sah er vor sich einen weiteren Felsgipfel emporragen.\u201c Wenn nun hier etwa eine Frage lautete: \u201eWie hoch wurde das zweite Fundst\u00fcck gesch\u00e4tzt?\u201c so hielt ich es f\u00fcr richtig, Vs auf die Vergleichung und V* auf attributive Beziehung zu verrechnen. War dagegen in der Frage ein \u201eauch\u201c oder \u201egleichfalls\u201c (z. B. \u201eIst dasselbe auch so viel werth wie der erste Klumpen?\u201c) so schien mir die Vergleichungstendenz vorherrschend genug, um als 1 allein in Rechnung gezogen zu werden.\nDie Fragen sind nicht alle so gestellt, dafs man abgesehen von einer allgemeinen Vergleichungstendenz auch angeben kann, ob sie mehr auf Gleichheit, Aehnlichkeit oder Unterschied gehen. Pr\u00fcft man diejenigen, bei denen eine genauere Bestimmung m\u00f6glich ist, so st\u00f6fst man auf einen jener Punkte, die vom blos \u00e4u\u00dferlichen Ergebnifs nach innen weisen und so allein im Stande sind, diesen Versuchen eine gewisse, wenn auch bescheidene Bedeutung zu verleihen. Wenn man n\u00e4mlich so obenhin von Vergleichen und Unterscheiden wie von zwei coordinirten Begriffen redet, so \u00fcbersieht man, dafs das \u201eVergleichen\u201c in den meisten F\u00e4llen gar nichts Anderes als ein Unterscheiden ist. Ein Hervorheben der Gleichheit oder gar der Aehnlichkeit, wird in \u201enat\u00fcrlichen\u201c Urtheilen wohl \u00fcberwiegend nur da eintreten, wo die Gleichheit oder Aehnlichkeit aus irgend einem Grunde etwas Ueberraschendes oder Erfreuliches hat, wie x. B. beim \u00e4sthetischen Urtheil gegen\u00fcber Werken der nach-thmenden Kunst; ein solcher Fall tritt aber nicht besonders h\u00e4ufig ein. Im Grofsen und Ganzen ist daher unser \u201eVergleichen\u201c","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nKarl Groo8.\nmeistens ein Suchen nach Unterschieden* wie das den Bed\u00fcrfnissen einer fortschreitenden und darum \u201edifferenzirendca1* Er* kenntnifs ja auch am besten entspricht Damit stimmen ttiXA die Fragen gut \u00fcberein. Auf Gleichheit gehen in ziemlich unbestimmter Weise h\u00f6chstens 6,5 (8); in unbestimmter Weise, weil die Beziehung auf Gleichheit meist nur durch \u201eauch\u201c odefr \u201egleichfalls\u201c ausgedr\u00fcckt wird. Auf Aehnlichkeit zielt vielleicht 1 (1) Fall. Auf den Unterschied dagegen haben es 16 Fragen; resp. 21 Beziehungen deutlich abgesehen.\nF\u00fcr eine Fortsetzung der Versuche w\u00fcrde Folgendes zu beachten sein. Bei dem Specialthema Nr, 15 sind nur 3 (5) hierbei geh\u00f6rige Beziehungen hervorgetreten, w\u00e4hrend bei Nr. 4 22 (26) mal der Special tendenz entsprechend reagirt wurde. Woraus erkl\u00e4rt sich dieser auffallende Unterschied? Sollte die erz\u00e4hlende Form in Nr. 15 die Phantasie mehr von dem n\u00fcchternen Vergleichen ablenken? Ich glaube dies nicht, sondern sehe die Differenz darin begr\u00fcndet, dafs in Nr. 4 eine gewisse H\u00e4ufung attributiver Bestimmungen nach vielen Richtungen hin zum Vergleichen und Unterscheiden anregt, w\u00e4hrend Nr. 15 nur die eine attributive Bestimmung der H\u00f6he darbietet.\nEndlich sei noch hervorgehoben, dafs auch das Contr\u00e4st-verh\u00e4ltnifs in den Versuchen mehrfach sichtbar wird, nur in besonderer Form, n\u00e4mlich in einem Theil der ziemlich h\u00e4ufigen disjunctiven Fragen, auf die ich daher bei dieser Gelegenheit verweisen will. Sie geh\u00f6ren begreiflicher Weise alle den Vermuthungsfragen an und machen einen betr\u00e4chtlichen Bruch-theil derselben aus: 47 von 261 Vermuthungsfragen haben disjunctive Form, was ja bei der Unsicherheit der Vermuthung, die das \u201eOder\u201c einer anderen Vermuthung nahelegt, nicht zu verwundern ist. Man darf dabei allerdings nicht einseitig an die strengste Auffassung der Disjunction denken, wonach die Urtheile sich nicht nur ausschliefsen, sondern wo auch eines richtig sein mufs, wenn das andere oder die anderen falsch sind; vielmehr wird man sich mit der Forderung wechselseitiger Au$-schliefsung begn\u00fcgen m\u00fcssen.1 Es ist hier wohl nothwendig, zwischen der im Disput gebrauchten Disjunction, bei der die strengere Auffassung gefordert ist, und der Disjunction von Vermuthungen bei der Bildung eines Neuurtheils zu unterscheiden.\n1 Vgl. Lipps, \u201eGrundztige der Logik\u201c, 1893, S. 68.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\n157\nwomit wir es zu thun haben. In dem letzteren Fall kommt die strengere Form nat\u00fcrlich auch h\u00e4ufig vor; recht oft handelt es sich aber, soviel ich sehe, nur darum, dafs einige sich aus-schliefsende Vermuthungen1 * neben einander zur Erw\u00e4gung kommen, ohne dafs dabei schon die Sicherheit vorhanden w\u00e4re : eine weitere L\u00f6sung giebt es nicht. \u2014Die contradic to rische Disjunction (S ist entweder P oder nicht P) kommt nur ein einziges Mal vor. B. Erdmann ist also v\u00f6llig im Recht, wenn er sagt, sie sei nicht h\u00e4ufig ) wenn er weiter bemerkt, sie finde ihren Ort mehr im vorl\u00e4ufig orientirenden als in dem abschliefsenden Denken, so wird das zweifellos ebenfalls richtig sein. Dagegen w\u00e4re noch hinzuzuf\u00fcgen, dafs sie sehr beliebt im Disput ist.3 \u2014 Die \u201especif isc he\u201c Disjunction, in der das \u201eNicht-Pu bejahend bestimmt ist, bildet also bei den Fragen die Regel; und darunter sind nun 13 F\u00e4lle von contr\u00e4rer Disjunction, wobei die Pr\u00e4-dicate in dem Contrastverh\u00e4ltnifs des contr\u00e4ren Gegensatzes stehen (lang oder kurz, grofs oder klein, jung oder alt etc.). Eine bewufste Beziehung auf den Contrast haben wir hier eigentlich gar nicht vor uns; h\u00f6chstens k\u00f6nnte in dem einen oder anderen Fall einmal das Interesse der Phantasie f\u00fcr die Abweichung vom Mittelwerth eine Rolle gespielt haben. Mein haupts\u00e4chlicher Zweck bestand deshalb mehr darin, bei diesem Anlafs die disjunctiven Fragen zu erw\u00e4hnen, auf die ich sonst nicht mehr zu sprechen komme. Nur darauf sei noch hingewiesen , dafs die contr\u00e4re Disjunction der contradictorischen psychologisch oft n\u00e4her steht, als man glaubt, indem der contr\u00e4re Gegensatz das Dazwischenliegende, was er nur \u00e4ufserlich umschliefst, auch innerlich zu enthalten scheint (vgl. \u201eArm und Reich\u201c, \u201eHoch und Niedrig\u201c) und so wie der contradictorische f\u00fcr das Bewufstsein die ganze Reihe, nicht nur ihre Enden be-\n1 Bei einer Frage war die sprachlich disjunctive Form logisch unberechtigt: \u201eWar der zweite Gipfel f\u00fcr den Wanderer auch erreichbar oder versperrte er ihm die Aussicht?\u201c\n* B. Erdmann, Logik I (1892), S. 400 f. \u2014 Eine historische Untersuchung\n\u00fcber das Verh\u00e4ltnifs der Disputirlogik und Erkenntnifslogik, die gleich bei Aristoteles, ja schon bei den Sophisten beginnen m\u00fcfste, w\u00fcrde; wohl in mancher Hinsicht kl\u00e4rend wirken. \u2014 Nebenbei sei bemerkt, dafs eine Disjunction im Subject (\u201eEr oder Sie\u201c) und eine mehr als zweigliedrige Disjunction vorkam; in allen anderen F\u00e4llen handelte es sich um zweigliedrige Disjunction im Pr\u00e4dicat.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nKarl Groos,\ndeutet.1 Das scheint mir gerade bei den betreffenden Fragen der Fall zu sein.\nE. Die Substantialbeziehung.\nDiese Relation ist die Beziehung von Gegebenem auf ein nicht gegebenes X, das \u201eDing\u201c, die Substanz, wodurch das Gegebene zum \u201eTrd%h\u00e7u jener nicht wahrnehmbaren \u201eo\u00f6aiau wird. Die Kriterien f\u00fcr die Anwendung der Substanzbeziehung sind im popul\u00e4ren Bewufstsein r\u00e4umliche Zusammengeh\u00f6rigkeit und ein zeitliches Beharren oder doch eine nur stetige Ver\u00e4nderung des Zusammenhangs. Dabei ist die Substanz, sofern wir etwas darunter zu denken suchen, kaum ein blofses \u201eB\u00fcndel\u201c von Eigenschaften (dieses Bild deutet auf einen \u00e4ufseren, peripherischen Zusammenschlufs), sondern eher ein Kraft centrum, das als innere Einheit die wahrgenommenen Eigenschaften \u201ehat\u201c (vergl. Jek\u00fcsalem\u2019s \u201eUrtheilsfunction\u201c). Dafs die erlebte Con-tinuit\u00e4t unseres Bewufstseins im Wechsel seiner Zust\u00e4nde beim Zustandekommen des Dingbegriffes eine Rolle spielt, halten Viele f\u00fcr wahrscheinlich, wie denn Kant die Kategorien \u00fcberhaupt als Functions weisen der Einheit des Selbstbewufstseins betrachtet\nF\u00fcr die Er\u00f6rterung der Substantialbeziehungen werden wir unterscheiden m\u00fcssen zwischen solchen Beziehungen, die auf das Ding selbst und als Ganzes gehen, und solchen, die auf die ihm zu \u201eattribuirenden\u201c Eigenschaften gerichtet sind.\nAuf das Ding selbst geht die schon erw\u00e4hnte Identit\u00e4tsbeziehung, die in den Versuchen keine Rolle gespielt hat Sie tritt in dem Act des \u201eWiedererkennens\u201c auf und ist ein Neu-urtheil, wie ich glaube, nur da, wo uns Ver\u00e4nderungen des Dinges stutzig machen und die Frage der \u201eDieselbigkeit\u201c aufdr\u00e4ngen.\nFerner geht unser Interesse auf das Ding als Ganzes, wo wir uns fragen: Was ist das f\u00fcr ein Ding? Die Antwort darauf giebt die Bestimmung durch den Individual- oder Gattungsbegrif f, resp. durch den Namen des Individuums oder der Gattung.\nBei den Versuchen unterschied ich zwischen solchen Fragen,\n1 Vgl. auch die Bemerkungen bei R. Lehmann, \u201eSchopenhauer\u201c. 1894, S. 150 f., 156, 184.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennern,\t159\ni\ndie allgemein auf die Bestimmung durch den Gattungsbegriff und solchen die ausdr\u00fccklich auf die Benennung gerichtet sind.\nAuf Bestimmung durch den Gattungsbegriff waren 46,5 (52) =9,71 (9,67) \u00b0/0 der Fragen (Beziehungen) abgestellt, darunter 29 (30) leere. Die beiden Specialthemata lauteten : \u201eIm Schaufenster des Juweliers befindet sich ein Stein von grofser Sch\u00f6nheit\u201c (Nr. 17) und: \u201eAls der Botaniker durch das Geb\u00fcsch gedr\u00e4ngen war, stiefs er einen Freudenruf aus ; denn vor ihm stand die langgesuchte Blume\u201c (Nr. 23). Das erste Thema ergab 5 (5) hierher geh\u00f6rende Fragen unter 16 (17) \u00fcberhaupt, das zweite 10 (11) Ton 17 (21). Die \u00fcbrigen 31,5 (36) \u00ebind in neun anderen Versuchen zerstreut, woraus man schon auf die Wichtigkeit einer Beziehungsart, die sich auch ungesucht so h\u00e4ufig einstellt, schliefeen kann.\nDer Benennung dienten ebenfalls zwei Specialthemata, die zugleich beide auf Individuen eingestellt waren, Nr. 7 und 18: \u201eIm Anfang des 18. Jahrhunderts lebte in M\u00fcnchen ein Schriftsteller, der eine aufserordentliche Gewalt \u00fcber die Jugend aus\u00fcbte\u201c. \u201eIn Sachsen liegt ein Dorf von 22000 Einwohnern\u201c.1 Hier wurden 13 (13) unter 24 und 10 (10) unter 14 Fragen der Haupttendenz entsprechend gestellt. Im Uebrigen kamen nur noch 3 Benennungsfragen vor, von denen zwei den Namen einer Gattung (Stein, Blume) verlangten. Im Ganzen sind es also 26 (26) = 5,43 (4,83) % Benennungsfragen. \u2014 Fassen wir zusammen, so erhalten wir 72,5 (78) Fragen, die auf begriffliche Bestimmung eines \u201eDinges\u201c gehen.\nDie attributiven Beziehungen, wobei wir mehr auf die dem Ding zuzuschreibenden Eigenschaften concentrirt sind, bieten eine aufserordentliche Mannigfaltigkeit dar \u2014 mit der gew\u00f6hnlichen Unterscheidung von Eigenschaften im engeren Sinn und Zust\u00e4nden ist es nicht gethan. Ich will aber auf solche Unterabtheilungen nicht eingehen, da das mir zur Verf\u00fcgung stehende Material von Fragen zu klein ist, sondern die attributiven Bestimmungen nur in ihrer Gesammtheit betrachten. Da erhalten\n1 Ich bemerke, dafs die Angaben der Themata ein paar Mal einfach auf Phantasie beruhen. Ich meiste eben manchmal wegen Zeitmangels mit dem, was mir gerade einfiel, vorlieb nehmen. \u2014 Dafs in Nr. 7 und 18 absichtlich anch die M\u00f6glichkeit anderer Beziehungen gegeben wurde, erkl\u00e4rt \u2022ich ans deren Unvermeidlichkeit in anderen F\u00e4llen.","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nKarl Groos.\nwir denn 58,5 (69) \u00ab 12,21 (12,83)% Fragen (Beziehungen) ton attributivem Charakter, worunter 31 (38) Vermuthujjg\u00dffragen. Die Specialthemata Nr. 2 und 19 (\u201eAuf der alten Tanne safs am \u00e4ufsersten Ende eines Zweiges ein fremdartiger Vogel\u201c, \u201eDer Sammler Neumann besitzt ein orientalisches Seidentuch von herrlicher F\u00e4rbung\u201c) ergaben zusammen nur 16 attributive Beziehungen, w\u00e4hrend die anderen ziemlich gleichm\u00e4fsig \u00fcber fast alle Themata verbreitet sind.\nDie Versuche best\u00e4tigen, wenn man die verschiedenen Resultate zusaminenrechnet, die gew\u00f6hnliche Ansicht, wonach die Kategorie der Substantialit\u00e4t nach der Causalit\u00e4t am wichtigsten f\u00fcr das Denken ist. Denn mit 131 (147) Fragen resp. Beziehungen nimmt sie \u00fcber t/4 des Gesammtergebnisses f\u00fcr sich allein in Anspruch. Allerdings darf nicht vergessen werden, dafs hier drei Mal so viele Specialthemata vorhanden sind als in den bisher besprochenen F\u00e4llen. Aber schon die attributiven Bestimmungen und die Beziehungen auf den Gattungsbegriff stehen, -jede f\u00fcr sich allein betrachtet, allen anderen aufser den Causal-beziehungen voran. Und wenn wir uns nach dem Antheil. dieser Beziehungen aufser halb ihrer Specialthemata fragen, so erhalten wir 42,5 (53) Attributive, 31,5 (36) Gattungs- und 3 (3) Namenbeziehungen, also zusammen 77 (92) Substanzialrelationen, die ohne helfende \u201eHaupttendenz\u201c auf treten, worin die Kategorie abermals allein durch die Causalit\u00e4t \u00fcbertroffen wird. (Weiter unten folgt eine Zusammenstellung.)\nF. Die Causalbeziehung.\n*\nWindelband hat die Kategorien (\u201eVom System der Kategorien\u201c, .Sigwartabhandlungen 1900) in reflexive und constitutive eingetheilt, d. h. in solche, denen wir nur eine \u201evorgestellte\u201c, und solche, denen wir eine \u201egegenst\u00e4ndliche\u201c Geltung beilegen. (Denselben Unterschied dr\u00fcckt auch Trendelenburg\u2019s Eintheilung in modale und reale Kategorien aus). Zu den constitutiven geh\u00f6rt die Causalit\u00e4t. Sie unterscheidet sich aber von allen anderen noch dadurch, dafs sie gegen\u00fcber den blofsen \u201eIst-beziehungen\u201c die einzige \u201eMufsbeziehung\u201c ist. So hat z. B. die Beziehung einer Substanz zu einer ihrer Eigenschaften nur dann den Charakter der Nothwendigkeit, wenn wir wissen, warum das Ding die Eigenschaft haben mufs.\t..","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\tRJl\nWenn man nach der psychologischen Grundlage der be-vufsten Causalbeziehung fragt, so wird in der Antwort gern auf die Willenshandlung verwiesen. Das ist nicht ohne weitere Er-klirung zul\u00e4ssig. Vor Allem ist es zu betonen, dafs dabei genau genommen mindestens zwei verschiedene Arten von Erlebnissen in Betracht kommen, n\u00e4mlich das absichtliche \u201eHervor* bringen\u201c und das Gef\u00fchl des \u201eN\u00f6thigens\u201c und \u201eGen\u00f6thigt-seins\u201c. Beides, auch das N\u00f6thigen und Gen\u00f6thigtsein deutet nun in der That auf das Willensleben hin. Aber der Hinweis tuf die Willenshandlung bedarf nicht nur einer genaueren Analyse, sondern er mufs auch einem directen Angriff auf seine Berechtigung gewachsen sein. Man sagt etwa: das in der iufeeren Causalbeziehung nicht wahrnehmbare und doch hineinverlegte \u201einnere Band\u201c zwischen der Ursache a und der Wirkung b ist als thats\u00e4chliches Erlebnifs f\u00fcr uns da in dem Streben, welches das a setzt, weil es das b will. Erst die Abstraction hat aus der teleologischen die eigentlich causale Beziehung gemacht. Dem gegen\u00fcber kann aber der Einwand erhoben werden: das ist ein Cirkel; denn wie kann ich, um b zu erreichen, a setzen, wenn ich nicht schon ein Bewufstsein von einem causalen Connex beider habe ; die speciell teleologische setzt also die allgemeine Causalbeziehung voraus. \u2014 Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit w\u00fcrde man vielleicht in der W\u00fcrdigung der biologischen Thatsache finden, dafs das Bewufstsein von Anbeginn durch das Erleben der Reflex- und Instinctbewegungen in einen zweck-m\u00e4fsigen Causalnexus verflochten ist, wobei hundertfach ein Drang auf b hin zu dem Setzen des a f\u00fchrt, ohne dafs eine Erkenntnifs des Causalzusammenhanges zwischen a und b schon vorhanden w\u00e4re. Es w\u00fcrde das in gewissem Sinne Kant\u2019s Verh\u00e4ltnis von \u201eAffinit\u00e4t\u201c und \u201eAssociation\u201c analog sein: statt der transscendentalen Affinit\u00e4t h\u00e4tten wir die ererbte Anpassung des Organismus zu seiner Umgebung, in die das erwachende Bewufstsein sich hineingestellt findet und die es dann in bewufsten Beziehungen zur Reflection erhebt.\nWie dem auch sei, jedenfalls hielt ich es f\u00fcr n\u00f6thig, sowohl die teleologische Beziehung (Motiv, Zweck, Mittel u. dergl.) als auch die eigentliche Causalrelation im engeren Sinne zum Gegenstand von Special versuchen zu machen. Ja ich ging hier\u00fcber noch hinaus, indem ich bei der Letzteren die Beziehung auf die Ursache und die auf die Wirkung (causal zur\u00fcck und vorw\u00e4rts,\nZeitschrift f\u00fcr Pvycbolo/fie 96.\t11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nKarl Groos.\nRegrefs und Progrefs) wieder sonderte und f\u00fcr jede der beiden Richtungen zwei Specialthemata verlas. So entstanden die 6 Themata Nr. 8, 16, 5, 13, 3, 21:\nNr. 8 und 16 (teleologische Beziehung) : \u201eDer Techniker, der das Modell des neuen Apparates betrachtete, deutete auf einen Theil der Construction und sagte: \u201eIch w\u00fcrde Ihnen rathen, hierzu Aluminium zu nehmen\u201c. \u2014 \u201eAm ZEPPELiN\u2019schen Luftschiff befinden sich sogen. Laufgewichte, durch deren Bewegung man den Schwerpunkt des Ganzen verschieben kann.\u201c\nNr. 5 und 13 (causal, Regrefs zur Ursache) : \u201eAls der junge Mann gerade an einem stattlichen Hause vorbeiging, fiel pl\u00f6tzlich eine Rose zu seinen F\u00fcfsen nieder.\u201c \u2014 \u201eAn der Westk\u00fcste Englands hat man ein allm\u00e4hliches Sinken des festen Landes nachgewiesen.\u201c\nNr. 3 und 21 (causal, Progrefs zur Wirkung): \u201eAm Thurm der Stadtkirche l\u00f6ste sich ein Stein, schlug auf dem schiefen Dach auf und sprang dann mit einem gewaltigen Satz in die freie Luft hinaus\u201c. \u2014 \u201eMan hat berechnet, dafs die Sonne allm\u00e4hlich an Gr\u00f6fse verliert.\u201c 1\nBetrachten wir vor Allem das Gesammtresultat, so wird uns die Uebermacht der Causalbeziehung \u00fcber alle anderen in h\u00fcbscher Weise verdeutlicht. Denn 70 (78) = 14,61 (14,5) \u00b0/0 teleologische und 150,5 (163) = 31,42 (30,3)% im engeren Sinn causale Relationen sind hier zu verzeichnen, wobei im ersten Fall 48 (55), im zweiten 95,5 (108) zu den Vermuthungsfragen geh\u00f6ren. Wenn also die Substantialbeziehung in allen ihren Formen zusammen 131 (147) Fragen, d. h. mehr als ein Viertel des Ganzen in Anspruch nahm, so macht die Gesammtheit der Causalfragen 220,5 (241) aus. Aufserdem m\u00fcssen wir aber mehr oder weniger auch noch die fr\u00fcheren besprochenen r\u00e4umlichen und zeitlichen auf Richtung gehenden Fragen hinzurechnen, die zusammen 38,5 (45) betragen, so dafs wir sagen d\u00fcrfen : die Causalit\u00e4t bedeckt etwa die H\u00e4lfte des ganzen Gebietes. Freilich mufs auch hier wieder daran erinnert werden, dafs wir statt der sonst \u00fcblichen 2 Specialthemata in diesem Falle 6 vor uns\n1 Nr. 13 und 21 k\u00f6nnen eigentlich nur als allgemein causal bezeichnet werden, da mir hierbei die Tendenz auf Regrefs und Progrefs nicht recht gelungen ist.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennen\u00ab.\n163\nhaben. Dabei bleibt aber das Verh\u00e4ltnifs zu der geradeso gestellten Substantialbeziehung bestehen. Ferner ist jede der beiden e&usalen Hauptbeziehungen (die teleologische und die causale im engeren Sinn) f\u00fcr sich allein schon die st\u00e4rkste wie folgender Ueberblick zeigt,1 in dem wir allerdings die noch zu er\u00f6rternde Existentialbeziehung vorausnehmen m\u00fcssen:\nArt der Relation\tFragen (in %)\tBeziehungen\n\t\t(m \u00b0/0)\nR\u00e4umlich\t,\t8,77\t8,36\nZeitlich\t7,1\t7,43\nAnzahl\t1,77\t2,05\nUnterschied u. s. w.\t6,47\t7,43\nGattung\t9,71\t9,67\nName\t5,43\t4,83\nAttributiv\t12,21\t12,83\nTeleologisch\t|\t14,61\t14,5\nCausal vor und zur\u00fcck\t31,42\t30,3\nExistenz\t2,51\t2,6\n\t100,00\t100,00\nWir besitzen aber auch noch ein weiteres Pr\u00fcfungsmittel. Fragen wir uns n\u00e4mlich, wie wir es schon vorher bei der Substantialbeziehung thaten, wie stark die verschiedenen Kategorien abgesehen von den besonders auf sie eingestellten Versuchen vertreten sind, so erhalten wir, obgleich auf diese Weise die Causalit\u00e4t in der Verrechnung benachtheiligt ist, abermals das Ergebnifs, dafs die Substantialbeziehung ein starkes Viertel, die Causalbeziehung schwach die H\u00e4lfte aller so entstandenen Fragen resp. Beziehungen ausmacht. Dies verdeutlicht die folgende Tabelle :\n1 Da bei der Causalit\u00e4t im engeren Sinne auch noch andere Beziehungen aufser der auf Wirkung oder Ursache hervortraten, mufste in der Tabelle Alles zusammen gerechnet werden, obwohl hier 4 Specialthemata Vorlagen. Es bleibt aber, auch wenn wir die 31,42 \u00b0/0 halbiren bras viel zu streng gerechnet w\u00e4re, da ja ein grofser Theil der Fragen gar sieht in die Specialthemata f\u00e4llt) das Causalverh\u00e4ltnifs im engeren Sinn das st\u00e4rkste von allen.\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nKarl Groo8.\nArt der Relation\tAnzahl der Fragen\tAnzahl der Beziehungen\nR\u00e4umlich\t38\t40\nZeitlich\t24\t27\nAnzahl\t2\t2\nUnterschied u. s. w.\t6\t9\nGattung\t31,5\t36\nName\t3\t3\nAttributiv\t42,5\t53\nTeleologisch\t50\t58\nCausal vor und zur\u00fcck\t80,5\t85\nExistenz\t1\t1\n1 \u20221\t278,5\t314\nInnerhalb der teleologischen Beziehungen empfindet man bald das Bed\u00fcrfnifs nach Unterabtheilungen, wobei eine der Unterscheidung von causalem Progrefs und Regreis entsprechende Division sich aufdr\u00e4ngt, aber nat\u00fcrlich nicht so leicht durchzuf\u00fchren ist; denn das Ziel, das in der Zukunft liegt, ist als Zweckvorstellung zugleich Grund oder Motiv der eintretenden Ver\u00e4nderung. Da mir jedoch daran lag, hier zu scheiden, so ging ich in folgender Weise vor. Hatte die Frage den Sinn von: warum geschah das? \u2014 so rechnete ich diese Beziehung auf den Grund oder das Motiv zum Regrefs. Ebenso nat\u00fcrlich eine weitere Kategorie von Fragen, die sich f\u00fcr das Mittel interessiren, wodurch etwas erreicht wurde. War dagegen die Tendenz des Fragenden mehr auf den Charakter des zu erreichenden Zieles gerichtet, so wurde der Fall dem Progrefo zugez\u00e4hlt. Noch sicherer konnte man das thun, wenn direct gefragt wurde, ob das Ziel erreicht worden sei.\nVon den 70 (78) teleologischen F\u00e4llen gehen nun 27 (30) auf den Grund, 11 (14) auf das Mittel, 22 (24) auf den Charakter des Zieles und 10 (10) fragen, ob das Ziel wirklich erreicht worden sei.\nBei der eigentlichen Causalit\u00e4t ist neben dem Hauptunterschied von regressiven, auf die Ursache und progressiven auf die Wirkung gehenden Fragen auch noch das Interesse f\u00fcr die Umst\u00e4nde, unter denen etwas stattfand, und vielleicht die Kategorie der Wechselwirkung hervorgetreten. Auf die Ursache gingen 86 (96), auf die Wirkung 58 (60), auf Umst\u00e4nde","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Experimenteile Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erketmens.\n165\n5,5 (6), als Beziehung auf Wechselwirkung konnte m\u00f6glicherweise 1 Fall aufgefafst werden: auf das Thema der sinkenden Westk\u00fcste wurde n\u00e4mlich einmal gefragt, ob gleichzeitig die Ostk\u00fcste gestiegen sei.\nDas Hauptinteresse liegt nun hierbei in dem Verh\u00e4ltnifs von Ursache und Wirkung, oder sagen wir allgemeiner : zwischen causalem Regrefs und Progrefs. Wollen wir dieses Verh\u00e4ltnifs \u00fcbersehen, so m\u00fcssen wir nicht nur die teleologischen, sondern auch die auf Richtung gehenden r\u00e4umlichen und zeitlichen Beziehungen mit in die Berechnung ziehen, w\u00e4hrend wir bei den eigentlich causalen die Umst\u00e4nde zum Regrefs, den Fall von Wechselwirkung aber, da er eben doch jedenfalls Interesse f\u00fcr die Wirkung zeigt, zum Progrefs z\u00e4hlen.\nWir erhalten dann folgendes Ergebnifs:\nRegrefs\tJj\tProgrefs\t\n\u25a0 Ursache + Umst\u00e4nde 91,5(102) j Grand -|- Mittel\t38 (44) Zeitlich zur\u00fcck\t7 (11) R\u00e4umlich woher\t18,5 (20)\tWirkung -|- Wechselwirkung 59\t(61) Ziel -f\u201c Ziel erreicht\t32\t(34) Zeitlich vor\t12\t(13) R\u00e4umlich wohin\t1\t(1)\n155 (177) J\t104(109) Eine gr\u00f6fsere Ausgleichung erh\u00e4lt man allerdings, wenn man den Antheil an Regrefs und Progrefs aufserhalb der teleologischen und causalen Specialthemata untersucht:\t\nRegrefs\tProgrefs\nUrsache -f- Umst\u00e4nde 43,5(46) Grund + Mittel\t20 (24)\t, Zeitlich zur\u00fcck\t7 (11)\t! R\u00e4umlich woher\t16,5 (18)\tWirkung -j- Wechselwirkung 34\t(36) Ziel + Ziel erreicht\t23\t(25) Zeitlich vor\t10\t(11) R\u00e4umlich wohin\t\u2014\t\u2014\n87 (99) i\t67 (72)\nImmerhin bleibt auch so das U eberwiegen des Regresses bestehen, und dieses Ueberwiegen wird noch bedeutsamer durch die beiden Umst\u00e4nde, dafs erstens die auf das Ziel gehende Frage doch das Interesse f\u00fcr den Grund eher involvirt als umgekehrt die auf den Grund gehende das Interesse f\u00fcr den Erfolg, und dafs zweitens unter den 33 (35) Wirkungen nicht","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nKarl Groo\u00ea.\nweniger als ld psychische sind (\u201ewar er erfreut, erstaunt\u201c u.dgL), die mehr einem gef\u00fchlsm\u00e4Mgen Interesse als dem Erkenntnifr-drang entspringen. Nehmen wir zu diesem Ergebnisse das hinzu, was wir \u00fcber das Neu-Urtheil und die Phasen des Fragezustandes gesagt haben, so best\u00e4tigt sich uns der Ausspruch von Lipps: rBezeichnen wir das Gef\u00fchl, das das Auftreten des Neuen begleitet. als Gef\u00fchl der Verwunderung, setzen wir andererseits voraus, dafs in dem R\u00fcckw\u00e4rtsgehen des Denkens, im Aufsuchen von Ursachen und Bedingungen des wahrgenommenen Weltinhaltes, vorzugsweise das Gesch\u00e4ft des Er-kennens bestehe, so hat es mit dem bekannten Satze, die Ver-wunderung sei Anfang der Erkenntnifs, seine psychologische Richtigkeit\u201c 1 Unter allen Beziehungen sind die causalen, unter diesen aber die regressiven am m\u00e4chtigsten.\nG. Die Existentialbeziehung.\nDer Umstand, dafs in dem zweiten Thema (der auf einem Tannenzweig sitzende fremdartige Vogel) eine Frage hervortrat, die die Existenz des Vogels bezweifelte (\u201eWar es wirklich ein Vogel oder nur ein vogel\u00e4hnlicher Gegenstand?\u201c), veranlafste mich, auch auf diese Relation einzugehen. Bekanntlich hat Brentano auf Grund seiner Urtheilstheorie - gelehrt, dafs sich jedes kategorische Urtheil ohne Aenderung des Sinnes in ein Existentialurtheil umwandeln lasse. Nun ist es freilich nicht v\u00f6llig deutlich, wie Brentano den Ausdruck Existenz gefafst wissen m\u00f6chte. Bei Urtheilen \u00fcber Aufsendinge mufs aber doch wohl Existenz im gew\u00f6hnlichen Sinne gemeint sein. Wenn z. B. das Urtheil: \u201eirgend ein Mensch ist krank\u201c, umwandelbar ist in: \u201ees giebt einen kranken Menschen\u201c, so kann dies \u201ees giebt\u201c doch kaum nur die Existenz in meiner Vorstellung sondern nur die Existenz im gew\u00f6hnlichen Sinne bedeuten. In Hinsicht auf solche Urtheile scheint mir nun folgende Kritik E. Eberhards v\u00f6llig zutreffend: \u201eNur von Gegenst\u00e4nden, deren Existenz uns selbst fraglich ist oder von anderen in Zweifel gezogen wird, haben wir im Allgemeinen Veranlassung, das Dasein ausdr\u00fccklich zu betonen, und dann ist der Existentialsatz die einzige ungezwungene und auch stets zu Gebote stehende Ausdrucksweise. Meist aber ist es uns wuchtiger, \u00fcber die Beschaffenheit,\n1 Lipps, rGrundthatsachen\u201c, S. 416.\n* Brentano, \u00bb.Psychologie vom empirischen Standpunkte\u201c I, S.266f., 276f.","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\t107\nda8 Thun und Treiben des Wirklichen etwas zu erfahren oder mitzutheilen, und hier sind Eigenschafts-, Th\u00e4tigkeitsurtheile u. s. w. die geziemende Form. Brentano\u2019s Umwandlung solcher S\u00e4tze mufs uns deshalb als unzul\u00e4ssig gelten, weil sie ein untergeordnetes Moment zur Hauptsache und diese zur Nebensache macht.\u201c1\nEberhard\u2019s Ansicht wird nun, wie mir scheint, dadurch best\u00e4tigt, dafs abgesehen von den eigens darauf eingerichteten Specialversuchen die Existentialfrage nur das eine Mal gestellt worden ist, wo sie mir zuerst auffiel und dann nie wieder. Es ist aber doch auch von Interesse, den Erfolg jener Specialthemata zu betrachten. Nr. 6 und 11 lauteten: \u201eDer in Wolken eingeh\u00fcllte Bergsteiger hemmte seinen Schritt ; derm vor ihm zeichnete sich in dem dichten Nebel schattenhaft eine Gestalt ab, die wie ein aufgerichteter B\u00e4r aussah\u201c. \u201eIm Simplontunnel befindet sich an einer Stelle ein Quarzgang, der ganz den Charakter einer goldf\u00fchrenden Schicht besitzt\u201c. \u2014 Das erste Thema ergab 91/* (11) auf die Existenz gehende Fragen (\u201eWirklich ein B\u00e4r?\u201c .Ueberhaupt ein Thier?\u201c \u201eVielleicht ein Baumstrunk?\u201c etc.) unter 23 (30) Fragen resp. Beziehungen insgesammt. Das ist ja gewifs ein nicht unbetr\u00e4chtlicher Bruchtheil; wenn man aber bedenkt, in wie aufserordentlichem Maafse hier die Existenzfrage nahegelegt ist, so mufs es doch eher auffallen, dafs beinahe die H\u00e4lfte der Studenten, n\u00e4mlich 8 von 17 diese Frage \u00fcberhaupt nicht gestellt haben. Bei dem zweiten Thema aber, wo es doch auch scheinen m\u00f6chte, als sei die Frage, ob denn thats\u00e4chlich Gold in dem Quarzgang vorhanden ist, so ziemlich in den Mund gelegt, ist nur ein einziger Herr von elfen auf diesen Gedanken verfallen. Das spricht stark daf\u00fcr, dafs die Existentialbeziehung in der Regel beim Urtheilen nur eine untergeordnete Bedeutung in Anspruch nehmen darf.\nHiermit will ich diesen ersten Beitrag schliefsen, obwohl sich noch mancherlei, so z. B. das Interesse f\u00fcr psychische Geschehnisse und das Aufkeimen negativer Urtheile in Erw\u00e4gung ziehen liefse. Ein zweiter, noch k\u00fcrzerer Beitrag soll von dem Charakter der in den Vermuthungsfragen aufgetauchten Schlufs-processe handeln.\n1 E. Ebebhard. \u201eBeitr\u00e4ge zur Lehre vom Urtheil.\u201c Dise., Breslau 1893. S. 41.\n(Eingegangen am 3. April 1901.)","page":167}],"identifier":"lit31442","issued":"1901","language":"de","pages":"145-167","startpages":"145","title":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens","type":"Journal Article","volume":"26"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:05:51.398841+00:00"}