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{"created":"2022-01-31T14:03:22.490181+00:00","id":"lit3161","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Kraepelin, Emil","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 6: 493-513","fulltext":[{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden.\nVon\nProf. Emil Kraepelin\nin Dorpat.\nDie psychophysischen Ma\u00dfmethoden sind bekanntlich ebensowenig wie das Lehrgeb\u00e4ude der Psychophysik \u00fcberhaupt das Ergebnis einer speculativen Construction, sondern sie verdanken ihre Entstehung praktischen Einzelaufgaben, in deren L\u00f6sung sie sich l\u00e4ngst bew\u00e4hrt hatten, bevor ihre Brauchbarkeit zur Gewinnung von Beziehungen zwischen Beiz und Empfindung klar erkannt wurde. Es erscheint daher begreiflich, dass diese Methoden, welche durch Jahrzehnte hindurch fast unver\u00e4ndert gebliehen sind, einander gewisserma\u00dfen selbst\u00e4ndig und unabh\u00e4ngig gegen\u00fcber stehen, w\u00e4hrend doch die Einfachheit des gemeinsamen Untersuchungsobjectes einen nahen inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Betrachtungsarten desselben wahrscheinlich macht. Unter diesem Gesichtspunkte ist es vielleicht n\u00fctzlich, von dem heute gewonnenen Standpunkte aus r\u00fcckschauend jene allgemeinen Grunds\u00e4tze aufzusuchen, welche f\u00fcr die psychophysische Messung \u00fcberall in Frage kommen und welchen wir daher in den einzelnen praktischen Gestaltungen der Ma\u00dfmethoden wieder begegnen m\u00fcssen.\nWundt1) hat die herk\u00f6mmlichen psychophysischen Methoden in Abstufungs- und Fehlermethoden unterschieden. Zu den ersteren rechnet er seine Methode der Minimal\u00e4nderungen, Methode der eben- j merklichen Unterschiede (Fechner), Methode der kleinsten Unter-\n1) Philos. Studien I, 4, S. 556.\nWnnat, Philos. Stn\u00e2ien. VI.\n33","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494\nEmil Kraepelin.\nschiede (G. E. M\u00fcller), und die Methode der mittleren Abstufungen oder der \u00fcbermerklichen Unterschiede, w\u00e4hrend zur letzteren Gruppe die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle, sowie diejenige der mittleren Fehler gez\u00e4hlt werden. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich, dass in dieser Gruppirung die Methode der mittleren Abstufungen gegen\u00fcber den andern insofern eine Ausnahmestellung einnimmt, als es sich allein hei ihr stets um Reizdifferenzen handelt, welche die Unterschiedsschwelle sehr bedeutend \u00fcbersteigen, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen Methoden principiell mit m\u00f6glichst geringen Beizunterschieden arbeiten. Weiterhin treten die Methoden der mittleren Fehler und der ebenmerklichen Unterschiede einerseits zu der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle andererseits in einen gewissen Gegensatz. Dort wird n\u00e4mlich aus der Scala der Reizunterschiede durch Mittelziehung nur ein einzelner in Beziehung zu einer bestimmten Empfindungsgr\u00f6\u00dfe gesetzt; hier dagegen erhalten wir durch die Einf\u00fchrung verschiedener Reizdifferenzen eine ganze Stufenleiter psychophysischer Werthe, welche uns das allm\u00e4hliche Anwachsen der Unterschiedsempfindung aus dem Untermerklichen ins Uebermerkliche darthun, ohne uns irgend einen bestimmten Punkt der Reihe als besonders merkw\u00fcrdig zu signalisiren. Dieser Gegensatz der Methoden ist es gewesen, auf den sich bisher die Zweifel an der Vergleichbarkeit ihrer Resultate in erster Linie gest\u00fctzt haben. Um ihnen zu entgehen, f\u00fchrte G. E. M\u00fcller auch in die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle den Werth der Unterschiedsschwelle ein, deren Lage einer Reizdifferenz entspricht, welche gerade 50^ richtiger F\u00e4lle liefert.\nEs erscheint mir unter diesen Umst\u00e4nden gerechtfertigt, die beiden oben zuerst genannten Methoden zun\u00e4chst der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle unter der Bezeichnung der \u00bbGrenzmethoden\u00ab gegen\u00fcberzustellen. Ihre Aufgabe ist im allgemeinen eine doppelte, da die Feststellung jeder Grenze von zwei verschiedenen Seiten her erfolgen kann. Entweder man untersucht, wie gro\u00df der Unterschied zweier Reize sein muss, damit sie als ungleich aufgefasst werden, oder aber es wird jene Reizdifferenz gesucht, bei welcher noch die Empfindung der Gleichheit bestehen kann. Bei der praktischen Ausf\u00fchrung der Experimente werden diese beiden Seiten der Grenzmethode in der Methode der eben-","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntnis\u00bb der psychophysischen Methoden.\n495\nmerklichen Unterschiede gew\u00f6hnlich zu einem einheitlichen Verfahren mit einander verkn\u00fcpft. Etwas anders gestaltet sich die Methode der mittleren Fehler, indem sie, wie auch Wundt1) bemerkt, einseitig nur von der Seite der untermerklichen Reizdifferenz her den Punkt bestimmt, bis zu welchem im Mittel ein Vergleichsreiz vom Normalreize abweicht, ohne dass wir den Unterschied bemerken. Dieser Punkt wird im allgemeinen unterhalb des Unter-merklichkeitspunktes liegen m\u00fcssen, da wir ja hier nur verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig selten der Grenze uns n\u00e4hern werden, an welcher gerade noch die Gleichsch\u00e4tzung m\u00f6glich ist. Die Methode der mittleren Fehler bietet somit eine gewisse Analogie mit dem aufsteigenden Verfahren bei der Methode der ehenmerklichen Unterschiede, w\u00e4hrend eine dem absteigenden Gange entsprechende Methode fehlt. Eine solche lie\u00dfe sich indessen sehr wohl ersinnen, indem man etwa die Aufgabe stellte, einen Reiz gerade gr\u00f6\u00dfer oder kleiner zu machen, als einen gegebenen, und die Gr\u00f6\u00dfe der sichj dabei ergehenden Schwankungen des Vergleichsreizes um seinen Mittelwerth berechnete. Der so gewonnene Grenzwerth d\u00fcrfte mit dem Uebermerklich-keitspunkte sehr nahe zusammenfallen, da hier, um \u00fcberall psychophysisch verwerthhare Resultate zu erhalten, eine m\u00f6glichste Ann\u00e4herung an die Merklichkeitsgrenze von vorn herein gefordert werden muss.\nDie Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle hat seit langer Zeit den meisten Anlass zu theoretischen Discussionen gegeben, ohne dass darum bis heute die Schwierigkeiten ihrer Handhabung sich wesentlich vermindert h\u00e4tten. Der Grund daf\u00fcr ist, wie mir scheint, wesentlich in dem Umstande zu suchen, dass die Methode in ihrer jetzigen Gestalt zwei durchaus von einander verschiedene Sch\u00e4tzungs-principien in sich vereinigt. Den Stein des Ansto\u00dfes bilden die Gleichheitsf\u00e4lle, und zwar die wirklichen, in denen ohjectiv beide Reize einander gleich sind, wie die scheinbaren, in denen die Reizdifferenz nicht als solche empfunden wird. Schon die Bezeichnung der Methode tritt mit dem \u00fcblichen praktischen Verfahren in Widerspruch, da sie nur von \u00bbrichtigen\u00ab und \u00bbfalschen\u00ab F\u00e4llen spricht, gegen\u00fcber denen die Gleichheitsurtheile offenbar eine Sonderstellung einnehmen. Rein logisch genommen sind die scheinbaren Gleich-\n1) Physiol. Psychologie, 3. Aufl. I, S. 345, 352 f.\n33*","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"496\nEmil Kraepelin.\nheitsf\u00e4lle allerdings \u00bbfalsche\u00ab F\u00e4lle, und Lorenz1) hat auch diese Consequenz gezogen und sie ohne weiteres jenen letzteren zugerechnet, aber es ist selbstverst\u00e4ndlich, dass sie psychologisch wesentlich anders charakterisirt werden m\u00fcssen, als die wirklich falschen Urtheile. Einen rechnerischen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es schlechterdings nicht. Alle vorgeschlagenen Vertheilungsmethoden beruhen auf Voraussetzungen, die bisher nicht bewiesen oder nachweisbar falsch sind und im g\u00fcnstigsten Falle den Effect haben, dass die unbequemen F\u00e4lle schlie\u00dflich durch einfache Umtaufung aus den Berechnungen verschwinden. G\u00e4nzlich werthlos bei der praktischen Anwendung der Methode sind die freilich nur bei einem bestimmten Versuchsverfahren vorkommenden wirklichen Gleichheitsf\u00e4lle. Welches Urtheil ist hier das richtige? Offenbar nur die Sch\u00e4tzung \u00bbgleich\u00ab. Trotzdem liegt es auf der Hand, dass dieses Urtheil eine ganz andere Bedeutung hat, als die \u00fcbrigen richtigen F\u00e4lle, so dass eine gleichartige rechnerische Behandlung nur zu Ungeheuerlichkeiten f\u00fchren k\u00f6nnte. Der ungl\u00fccklichen \u00bbzweifelhaften\u00ab F\u00e4lle, die man in der verschiedenartigsten Weise ohne befriedigenden Erfolg abzusch\u00fctteln versucht hat, will ich hier gar nicht weiter gedenken, da auf sie sp\u00e4ter noch n\u00e4her zur\u00fcckzukommen sein wird.\nAlle diese Schwierigkeiten k\u00f6nnen, soviel ich sehe, nur dadurch, und zwar endg\u00fcltig, beseitigt werden, dass man der Methode ein einheitliches Princip, und zwar dasjenige der Ungleichsch\u00e4tzung zu Grunde legt, von der sie ihren Namen f\u00fchrt. Dieses von mir schon lange angewendete, von Jastrow2) neuerdings empfohlene Verfahren l\u00e4uft darauf hinaus, dass der Versuchsperson die Aufgabe gestellt wird, unter allen Umst\u00e4nden einen der beiden verglichenen Reize als gr\u00f6\u00dfer zu bezeichnen; durch v\u00f6llige Ausschlie\u00dfung objectiver Gleichheitsf\u00e4lle wird dieses Urtheil nicht unwesentlich erleichtert. Wie ich aus eigener Erfahrung versichern kann, st\u00f6\u00dft die praktische Durchf\u00fchrung solcher Versuche bei einiger Uebung auf keine nennenswerthen Schwierigkeiten. Auf diese Weise erhalten wir thats\u00e4chlich nur richtige und falsche F\u00e4lle, deren weiterer Verwerthung keinerlei theoretische Bedenken mehr im Wege stehen.\n1)\tPhilos. Studien II, 3, S. 394ff.\n2)\tAmerican journal of psychology I, 2, S. 271 ff.","page":496},{"file":"p0497.txt","language":"de","ocr_de":"Zar Kenntniss der psychophysischen Methoden.\n497\nHaben wir damit eine in sich geschlossene, von fremden Bestandteilen ges\u00e4uberte Methode gewonnen, die wegen der Genauigkeit ihrer Ergebnisse f\u00fcr feinere Untersuchungen stets von gr\u00f6\u00dftem Wer the sein wird, so werden wir nunmehr auch die ausgeschiedenen Elemente, jedes in seiner Art, noch gesondert der psychophysischen Forschung dienstbar zu machen versuchen. Zun\u00e4chst sind die objectiven Gleichheitsf\u00e4lle in besonderem Ma\u00dfe geeignet, zur Aufdeckung gewisser Arten von constanten Fehlern zu dienen. L\u00e4sst man regelm\u00e4\u00dfig zwei gleiche Reize auf die Versuchsperson einwirken, indem man die Aufgabe stellt, einen derselben als gr\u00f6\u00dfer zu bezeichnen, so werden im allgemeinen bei gro\u00dfer Anzahl der Versuche die Fehlervorg\u00e4nge ebenso oft den einen wie den andern gr\u00f6\u00dfer erscheinen lassen, und selbst die F\u00e4lle, in denen wir keinen subjectiven Unterschied entdecken k\u00f6nnen und unser Urtheil ganz willk\u00fcrlich abgeben, m\u00fcssen sich schlie\u00dflich auf beide Reize in glteicher Zahl vertheilen. Dagegen werden sich alle Arten von Zeit-und Raumfehlern auf das unzweideutigste in einer einseitigen Richtung des Urtheils kundgeben m\u00fcssen, sofern nicht entgegengesetzte Einfl\u00fcsse einander compensiren. Bei gr\u00f6\u00dferer Uebung im Jastrow-schen Verfahren l\u00e4sst sich diese Methode der wahren Gleichheitsf\u00e4lle, obgleich sie nat\u00fcrlich mit der Messung der Unterschiedsempfindlichkeit gar nichts zu thun hat, praktisch doch ganz leicht mit der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle verbinden.\nDie scheinbaren Gleichheitsf\u00e4lle, deren Ballast der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle bisher so l\u00e4stig war, f\u00fchren ohne weiteres zu einer neuen Ma\u00dfmethode der Unterschiedsempfindlichkeit, sobald man sie aus ihrer unorganischen Verbindung losl\u00f6st. Wie Merkel1) bereits dargethan hat, l\u00e4sst sich analog jener soeben genannten Methode mit voller Berechtigung eine Methode der Gleichheits- und Ungleichheitsf\u00e4lle aufstellen. Wir w\u00e4hlen Reizdifferenzen unterhalb der Unterschiedsschwelle und lassen die Versuchsperson die Frage beantworten, ob die verglichenen Reize ihr gleich oder ungleich erscheinen. Bei wechselndem Abstande der Reize von einander erhalten wir auf diese Weise eine Scala von Werthen, welche uns angeben, wie oft bei jeder Reizdifferenz der\n1) Philos. Studien IV, 2, S. 257ff.","page":497},{"file":"p0498.txt","language":"de","ocr_de":"498\nEmil Kraepelin.\nUnterschied unbemerkt geblieben ist. Dass aus diesen Werthen sich mit demselben Rechte ein Urtheil \u00fcber den Gang der Unterschiedsempfindlichkeit ableiten l\u00e4sst, wie aus der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle, bedarf keiner weiteren Ausf\u00fchrung. Zugleich aber w\u00fcrde es m\u00f6glich sein, die Gleichsch\u00e4tzungen zur Berechnung eines mittleren Sch\u00e4tzungsfehlers zu benutzen, indem man auf den Yortheil der Abstufungen verzichtet, der eine subtilere Behandlung der Yersuchsergebnisse gestattet und einen tieferen Einblick in das Wesen der Unterschiedsschwelle er\u00f6ffnet.\nDiese letztere Betrachtung dient dazu, das gegenseitige Ver-h\u00e4ltniss der Grenzmethoden und der zuletzt besprochenen zu beleuchten, die wir vielleicht, um den von Wundt in anderm Sinne gebrauchten Ausdruck der Abstufungsmethoden zu vermeiden, als \u00bbDifferenzmethoden\u00ab bezeichnen k\u00f6nnen. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Gruppen besteht, wie mir scheint, nur darin, dass wir dort alle Zwischenstufen vernachl\u00e4ssigen, um eine Reizdifferenz von bestimmten psychophysischen Eigenschaften aufzufinden , den Ueber- und Untermerklichkeitspunkt oder einen beliebigen, nach den Gesetzen des Zufalls wechselnden Punkt unterhalb der Schwelle. Das urspr\u00fcngliche Versuchsverfahren ist daher f\u00fcr jene Methoden ein continuirliches, d. h. der Vergleichsreiz wird von einem beliebigen Ausgangsreize aus soweit ver\u00e4ndert, bis er den von der Methode geforderten Bedingungen entspricht. Ob diese Ver\u00e4nderung durch einen Geh\u00fclfen oder durch die Versuchsperson selbst vorgenommen wird (passives oder actives Verfahren), ist an sich unwesentlich, kann aber sehr wohl bei der Entstehung con-stanter Fehler eine wichtige Rolle spielen. Indessen, wenn auch innerhalb des einzelnen Versuchs die Zwischenstufen \u00fcbergangen werden und sich daher keine Grade 'der iMerklichkeit oder Un-merklichkeit ergeben, so kann man doch eine derartige Scala sehr leicht erhalten, sobald man eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Versuchen mit einander zusammenstellt und statistisch behandelt. Die oben charak-terisirten Punkte fallen nat\u00fcrlich auf die einzelnen objectiven Reizdifferenzen mit sehr verschiedener H\u00e4ufigkeit, und eine Curve, welche diese Verh\u00e4ltnisse darstellte, w\u00fcrde ohne Zweifel ein sehr viel genaueres Bild von dem Gange der Unterschiedsempfindlichkeit","page":498},{"file":"p0499.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden.\n499\ngew\u00e4hren, als die bisher ge\u00fcbte arithmetische Mittelziehung aus den einzelnen beobachteten Reizunterschieden.\nBei den Differenzmethoden wird gewisserma\u00dfen jeder Versuch der Grenzmethoden in seine einzelnen Phasen auseinandergelegt. An dieser Auffassung \u00e4ndert der Umstand nichts, dass die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle urspr\u00fcnglich nur zwei Reizdifferenzen mit einander verglich; das war nichts, als ein abgek\u00fcrztes, rudiment\u00e4res Verfahren, welches doch darauf hinauslief, wenigstens durch Rechnung die ganze Scala der Beziehungen zwischen Reizunterschieden und richtigen Urtheilen auffinden zu k\u00f6nnen. Zur experimentellen L\u00f6sung dieser Aufgabe dient die Einf\u00fchrung des von Wundt begr\u00fcndeten Principes der Minimal\u00e4nderungen, der systematischen Variation der Reizdifferenz in m\u00f6glichst kleinen Abstufungen. Allerdings hat Wundt jenes Princip zun\u00e4chst f\u00fcr die Methode der ebenmerklichen Unterschiede benutzt und dieselbe darnach als Methode der Minimal\u00e4nderungen bezeichnet. Allein w\u00e4hrend das Abstufungsverfahren dort wesentlich nur eine praktisch genauere Bestimmung des gesuchten Grenzwerthes erreicht, kann es nicht zweifelhaft sein, dass es f\u00fcr die Differenzmethoden eine geradezu grundlegende Bedeutung besitzen muss. Ich habe daher das Princip der Minimal\u00e4nderungen, dessen Einf\u00fchrung Wundt bereits f\u00fcr die Methode der mittleren Fehler und der mittleren Abstufungen empfohlen hat, seit Jahren auch bei der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle regelm\u00e4\u00dfig in Anwendung gezogen1). Ja, man kann sogar sagen, dass die Wundt\u2019sche Methode der Minimal\u00e4nderungen v\u00f6llig mit den Differenzmethoden zusammenf\u00e4llt, sobald wirklich die Urtheile der Versuchsperson bei allen Abstufungen des Vergleichsreizes ber\u00fccksichtigt werden, da dieselben den jeweiligen Procentsatz an richtigen und Gleichheitsf\u00e4llen ohne weiteres enthalten Umgekehrt ergibt jede Versuchsreihe der Differenzmethoden einen Ueber- und Untermerklichkeitspunkt, wenn man die Abstufungen ignorirt und diejenige Reizdifferenz ausw\u00e4hlt, an welcher die subjective Gleichheit verschwindet oder beginnt. Die Art der Sch\u00e4tzung ist naturgem\u00e4\u00df bei allen Methoden dieselbe ; sie kann nur zu den Urtheilen gleich oder ungleich, gr\u00f6\u00dfer oder kleiner\n1) Vgl. Falk, Versuche \u00fcber die Raumsch\u00e4tzung mit H\u00fclfe von Armbewegungen. Diss. Dorpat 1890, S. 9.","page":499},{"file":"p0500.txt","language":"de","ocr_de":"500\nEmil Kraepelin.\nf\u00fchren. Dagegen werden die Reizdifferenzen bei den Grenzmethoden durch continuirliche Ver\u00e4nderung des Vergleichsreizes so gro\u00df gemacht, dass sie einer bestimmten der aufgef\u00fchrten Alternativen entsprechen, w\u00e4hrend bei den Differenzmethoden f\u00fcr jede einzelne Zwischenstufe gesondert die Frage beantwortet wird. Dass dabei die Scala der Reizunterschiede meist etwas anders ausf\u00e4llt als dort, ist nicht von entscheidender Bedeutung. Sobald man in die Grenzmethoden das Princip der Abstufungen einf\u00fchrt, wird die gesammte Technik der Experimente genau dieselbe, wie bei den Differenzmethoden ; der Unterschied in den Versuchsmethoden wird zu einem Unterschiede in der Berechnungsart der Versuche.\nEs k\u00f6nnte nach diesen Ausf\u00fchrungen den Anschein gewinnen, als ob die Vertheilung der verschiedenen Urtheile auf die einzelnen Reizunterschiede im wesentlichen gleich ausfallen m\u00fcsse, mag man sie nun aus den Grenzmethoden oder aus den Differenzmethoden gewinnen, wenn man sie nur auf dieselbe Weise berechnet. Offenbar n\u00e4mlich kann man sich aus jenen Methoden eine ganz \u00e4hnliche Scala von Procents\u00e4tzen dadurch construiren, dass man f\u00fcr jede einzelne Reihe die Reizdifferenzen unterhalb des Untermerklichkeits-punktes als Gleichheitsf\u00e4lle, diejenigen oberhalb des Uebermerklich-keitspunktes als Ungleichheitsf\u00e4lle betrachtet. Dennoch trifft jene Voraussetzung f\u00fcr die gew\u00f6hnliche Art der Versuchsanstellung ohne Minimal\u00e4nderungen durchaus nicht zu. Selbst dann, wenn der Umfang der untersuchten Reiz differ enzen ann\u00e4hernd derselbe ist, h\u00e4ngt bei den Grenzmethoden die relative Zahl der wirklich abgegebenen Urtheile \u00fcber die einzelnen Unterschiede ganz von der Disposition der Versuchsperson ab, da alle Sch\u00e4tzungen hier mehr oder weniger Grenzf\u00e4lle darstellen. Bei den Differenzmethoden dagegen wird jeder \u00fcberhaupt untersuchte Reizunterschied mit gleicher H\u00e4ufigkeit und unter systematischer Ab\u00e4nderung aller Versuchsbedingungen der Beurtheilung dargeboten; wir werden also hier eine weit vollst\u00e4ndigere Elimination der constanten Fehler erwarten d\u00fcrfen als dort. Dazu kommt noch, dass hier die einzelnen Abstufungen im Wesen der Versuchstechnik selbst liegen, w\u00e4hrend sie dort erst nachtr\u00e4glich, nach der Ausf\u00fchrung der Sch\u00e4tzungen, zum Zwecke der Gruppirung mehr oder weniger willk\u00fcrlich hineingetragen werden m\u00fcssten.","page":500},{"file":"p0501.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden.\n501\nSoll ich endlich noch den praktischen Werth der einzelnen Methoden gegeneinander abw\u00e4gen, wie er sich nach eigenen bisherigen Erfahrungen mir darstellt, so erscheint als die sicherste, aber zugleich bei weitem zeitraubendste die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle in der Jastrow\u2019schen Modification und unter Einf\u00fchrung des Principes der Minimal\u00e4nderungen, eventuell auch mit Benutzung der objectiven Gleichheitsf\u00e4lle zur Ermittelung der Zeit- und Raumfehler. Die Berechnung der Unterschiedsschwelle l\u00e4sst sich dann aus demselben Versuchsmateriale vornehmen, ohne dass man nach der Methode der ehenmerklichen Unterschiede noch besonders zu experimentiren brauchte. Hat man nicht nach dem Jastrow\u2019schen Verfahren, sondern unter Zulassung von Gleich-heitsurtheilen gearbeitet, so werden die berechneten Resultate unter der Unsicherheit der Vertheilung jener letzteren leiden; dagegen wird man die M\u00f6glichkeit haben, aus ihnen direct die Lage der Unterschiedsschwelle wie die Gr\u00f6\u00dfe des begangenen mittleren Sch\u00e4tzungsfehlers zu berechnen. Man umgeht auf diese Weise die Untersuchung nach der Methode der mittleren Fehler, welche im \u00fcbrigen den Vortheil hat, verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig sehr rasch zu verwerth-baren Ergebnissen zu ^f\u00fchren. Daf\u00fcr pflegen hei ihr die con-stanten Fehler eine recht gro\u00dfe Rolle zu spielen, da die Eliminationsverfahren nur sehr unvollkommen anwendbar sind. Dieser Einwand d\u00fcrfte die Methode der Gleichheits- und Ungleichheitsf\u00e4lle nicht treffen, doch ist dieselbe nicht weniger umst\u00e4ndlich, als die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle, und einstweilen theoretisch wie praktisch noch ungen\u00fcgend gepr\u00fcft. Die einfache Methode der ebenmerklichen Unterschiede ohne Benutzung der Minimal\u00e4ndefungen kann zur schnellen Orientirung mit Vortheil gebraucht werden; sie liefert indessen unsichere und mit starken constanten Fehlern behaftete Resultate.\nAllen bisher genannten Methoden war die Eigenth\u00fcmlichkeit gemeinsam, dass zwei von einander sehr wenig unterschiedene Reize mit einander verglichen werden mussten. Wie die Erfahrung lehrt, verm\u00f6gen wir indessen, namentlich hei solchen Reizen, deren objective Ma\u00dfe uns gel\u00e4ufig sind, mit einiger Sicherheit auch noch andersartige Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen abzusch\u00e4tzen, indem wir einen Reiz als ein bestimmtes Multiplum des andern erkennen. Da hier in","page":501},{"file":"p0502.txt","language":"de","ocr_de":"502\nEmil Kraepelin.\nder Regel wohl die Vergleichung des einen Reizes mit einem asso-ciativ erzeugten Phantasiebilde erfolgt, k\u00f6nnen wir alle Methoden, welche sich auf jene Erfahrung st\u00fctzen, vielleicht als indirecte Ma\u00dfmethoden den oben besprochenen directen gegen\u00fcberstellen. Die n\u00e4chstliegende derartige Methode w\u00e4re die von Merkel1) zuerst untersuchte Methode der doppelten Reize, welche sich die Aufgabe stellt, einen Reiz gerade doppelt so gro\u00df zu machen, als einen gegebenen. Wie man sieht, kleidet sich die neue Methode in das Gewand der Methode der mittleren Fehler, insofern sie eben die Fehler (zun\u00e4chst die constanten) untersucht, welche wir bei der L\u00f6sung der gestellten Aufgabe begehen. Nat\u00fcrlich aber k\u00f6nnte ebenso gut auch jede andere der directen Methoden zur Pr\u00fcfung unserer Unterschiedsempfindlichkeit bei der Sch\u00e4tzung des doppelten Reizes herangezogen werden. Es w\u00e4re ebenso gut m\u00f6glich, den Punkt festzustellen, an welchem die Abweichung von dem objectiv zweifachen Werthe gerade anf\u00e4ngt \u00fcber- oder untermerklich zu werden, oder die Procents\u00e4tze von Gleichheits-, Ungleichheits-, richtigen und falschen F\u00e4llen zu bestimmen, welche sich f\u00fcr jede Differenz des Vergleichsreizes gegen\u00fcber dem supponirten doppelten Reize ergeben w\u00fcrden. Selbstverst\u00e4ndlich m\u00fcssten die Ergebnisse recht unsichere werden, und es ist vor der Hand nicht recht abzusehen, welche F\u00f6rderung unserer Erkenntniss etwa aus der Anstellung derartiger vergleichender Versuche erwachsen k\u00f6nnte. Dass in derselben Weise auch eine Methode der 3-, 4-, 5 fachen Reize u. s. f. ersonnen und nach denselben Principien gepr\u00fcft werden kann, bedarf kaum weiterer Erw\u00e4hnung. Neu ist ja hier nicht eigentlich die Methode der Sch\u00e4tzung oder Berechnung, sondern wesentlich das gesch\u00e4tzte Object oder, wenn man will, der Normalreiz, insofern er nicht unmittelbar gegeben, sondern an der Hand eines objectiven Anhalts erst construirt werden muss.\nEine eigenartige Stellung gegen\u00fcber der gew\u00f6hnlichen Multipla-sch\u00e4tzung nimmt, wie es scheint, die Methode der mittleren Abstufungen ein. Sie ist gewisserma\u00dfen eine doppelte Methode der doppelten Reize, da der Vergleichsreiz einmal das Doppelte des einen Normalreizes, der andere Normalreiz aber wieder das Doppelte\n1) Philos. Studien IV, 4, S. 545 ff.","page":502},{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden.\n503\ndes Vergleichsreizes darstellt. Auch diese Methode kann sich zur Feststellung des mittleren Reizes in gleicher Weise der fr\u00fcher geschilderten Methoden bedienen; Wundt1) scheint zu diesem Zwecke ein Verfahren analog demjenigen bei der Bestimmung der Unterschiedsschwelle zu bevorzugen.\nOb auch diese Methode nur auf einem indirecten Sch\u00e4tzungs-vorgange beruht, dessen Chancen bei der zweifachen Constructions-h\u00fclfe besonders g\u00fcnstige sind, oder ob wir wirklich eine unmittelbare F\u00e4higkeit zur Auffassung der mittleren Abstufung besitzen, wie durch manche \u00e4sthetische Erfahrungen angedeutet wird, muss einstweilen dahingestellt bleiben. Leider erwachsen der Sch\u00e4tzung hier sehr schwer eliminirbare constante Fehler aus den Contrasteinfl\u00fcssen.\nDie theoretische Durcharbeitung der psychophysischen Ma\u00dfmethoden ist von Fechner mit so gro\u00dfer Gr\u00fcndlichkeit in Angriff genommen und weiterhin von Gegnern und Anh\u00e4ngern fortgef\u00fchrt worden, dass gerade diese Discussionen einen ganz unverh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig breiten Raum in der psychophysischen Literatur beanspruchen. Es w\u00e4re verfehlt, die grundlegende Bedeutung jener Forschungsh\u00fclfs-mittel verkennen und nicht vor allem sich taugliche Werkzeuge zur wissenschaftlichen Arbeit verschaffen zu wollen; allein es hat sich doch wohl heute mehr und mehr die Erkenntniss Bahn gebrochen, dass ein Fortschritt im Verst\u00e4ndniss und in der Handhabung der Methoden nicht sowohl durch die Aufstellung neuer Formeln, durch mathematische Folgerungen aus unbewiesenen Annahmen, [als vielmehr durch die Herbeischaffung immer sorgf\u00e4ltiger durchgearbeiteten Erfahrungsmaterials erreicht werden kann.\nAls das geeignetste Gebiet zur Durchf\u00fchrung einer vergleichenden experimentellen Pr\u00fcfung aller oder doch der meisten psychophysischen Methoden, wie sie in letzter Zeit namentlich von Merkel in Angriff genommen worden ist, war mir seit langer Zeit der Raumsinn der Netzhaut erschienen, weil es hier m\u00f6glich ist, exact gemessene und abgestufte Reize simultan auf ein hochentwickeltes Sinnesorgan einwirken zu lassen. Auf meine Anregung hin stellte Herr stud. med. Higier im Jahre 1889 eine sehr eingehende, etwa\n1) Physiol. Psychologie. 3. Aufl. I, S. 351.","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"504\nEmil Kraepelin.\n50 000 Versuche umfassende Untersuchung in der angedeuteten Richtung an, von deren Ergebnissen ich schon jetzt wenigstens einige Punkte kurz besprechen m\u00f6chte, da die zun\u00e4chst als Dissertation1) erschienene Arbeit weiteren Kreisen voraussichtlich erst in einiger Zeit zug\u00e4nglich sein wird. Den Haupttheil des experimentellen Materiales bilden Versuche, welche vergleichend nach der Methode der mittleren Fehler und nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle unter Benutzung des Principes der Minimal\u00e4nderungen und zwar mit und ohne Zulassung von Gleichheits-urtheilen durchgef\u00fchrt wurden.\nDie erste Frage, welche an der Hand dieses Beobachtungsmateriales untersucht werden konnte, war diejenige nach den Beziehungen zwischen dem mittleren Fehler und den Procents\u00e4tzen richtiger F\u00e4lle. Mit H\u00fclfe des Fechner\u2019schen Pr\u00e4cisionsma\u00dfes wurde der Procentsatz richtiger F\u00e4lle, welcher sich f\u00fcr eine Reizdifferenz von der Gr\u00f6\u00dfe des mittleren Fehlers ergeben w\u00fcrde, \u2014 73,62^ gefunden. Dabei ist indessen zu bemerken, dass, wie sich nachtr\u00e4glich herausstellte, die Scala der Reizdifferenzen nicht f\u00fcr alle Versuchsreihen bis in das Gebiet des Uebermerklichen hineinreichte. In Folge dessen war das berechnete Pr\u00e4cisionsma\u00df ein wenig zu klein ausgefallen, so dass jener Procentsatz bei v\u00f6llig einwurfsfreier Durchf\u00fchrung der Versuche sich noch etwas erh\u00f6hen d\u00fcrfte.\nAllerdings wird sich kaum in Abrede stellen lassen, dass die zeitlich auseinander liegenden Versuchsreihen nach der Methode der mittleren Fehler und derjenigen der richtigen und falschen F\u00e4lle nur bedingt mit einander vergleichbar erscheinen. Dagegen hat Higier gleichzeitig mit den Versuchen nach dem Jastrow-schen Verfahren auch solche mit Zulassung der Gleichheitsf\u00e4lle angestellt und aus diesen letzteren den mittleren variablen Fehler berechnet, der mit dem bei activer Einstellung gefundenen Werthe sehr nahezu \u00fcbereinstimmte. Durch diese Anordnung der Versuche ergab sich weiterhin die erw\u00fcnschte M\u00f6glichkeit, unmittelbar die Methoden rechnerischer Vertheilung der Gleichheitsf\u00e4lle mit der experimentellen Eliminirung derselben zu vergleichen.\nDie beiden n\u00e4chstliegenden Verrechnungsarten der Gleichheits-\n1) Higier, Experimentelle Pr\u00fcfung der psychophysischen Methoden im Bereiche des Raumsinnes der Netzhaut, Diss. Dorpat, 1890.","page":504},{"file":"p0505.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden.\n505\nfalle sind die proportionale und die gleiche Theilung. Der letztere Modus setzt offenbar das Bestehen einer Unterschiedsschwelle voraus, indem er annimmt, dass bei den Gleichheitsf\u00e4llen thats\u00e4chlich nicht das geringste Ueberwiegen des einen der beiden in das Bewusstsein gelangten Reize \u00fcber den andern stattfinde. Nur dann, wenn die Reize a und b wegen der Fehlervorg\u00e4nge wirklich als vollkommen gleich empfunden werden, f\u00e4llt unser Urtheil beim Zwange, trotzdem den einen derselben als gr\u00f6\u00dfer zu bezeichnen, voraussichtlich ebenso oft auf den einen, wie auf den andern. Wesentlich verschieden liegt indessen die Sache, wenn die Urtheile \u00bbgleich\u00ab in Wirklichkeit \u00bbzweifelhaft\u00ab bedeuten, wenn uns also in diesen F\u00e4llen der Unterschied nur nicht deutlich genug erscheint, um uns bestimmt in einer Richtung zu erkl\u00e4ren. Unter solchen Umst\u00e4nden w\u00fcrden sich nat\u00fcrlich bei der zwangsm\u00e4\u00dfigen Entscheidung die Gleichheitsf\u00e4lle nicht in gleicher Anzahl auf die richtigen und falschen F\u00e4lle vertheilen, sondern man darf erwarten, dass die undeutlich empfundene Differenz bei zahlreichen Versuchen doch h\u00e4ufiger zu richtigen als falschen Urtheilen f\u00fchren wird, \u00e4hnlich wie nach Fechner\u2019s Ausf\u00fchrung die minimale Ueherlast in einer Wagschale wohl bei der einzelnen W\u00e4gung imwirksam bleiben kann, bei immer wiederholter Pr\u00fcfung aber schlie\u00dflich doch das mittlere Resultat beeinflussen muss.\nWer selber vielfach experimentirt hat, wird mir wahrscheinlich in der Anschauung beistimmen, dass die zweifelhaften F\u00e4lle nach dem subjectiven Gef\u00fchl unter den sog. Gleichheitsurtheilen die Regel bilden. Fast niemals erscheinen uns die beiden Reize wirklich absolut gleich; weit h\u00e4ufiger f\u00fchlen wir uns einfach unsicher in unserem Urtheil und geben nur selten das Votum \u00bbgleich\u00ab mit jener Zuversicht ab, mit der wir gew\u00f6hnlich den einen Reiz als \u00bbgr\u00f6\u00dfer\u00ab oder \u00bbkleiner\u00ab bezeichnen. Gerade daraus erkl\u00e4ren sich auch die verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig sehr geringen subjectiven Schwierigkeiten, auf welche die Durchf\u00fchrung des Jastrow\u2019schen Verfahrens st\u00f6\u00dft. Allein es kann aus dieser Erfahrung durchaus nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass jene unsichere Empfindung eines Reizunterschiedes, welche uns praktisch zum Aussprechen des Gleich-heitsurtheils veranlasst, wirklich immer aus der unmittelbaren Auffassung eines sehr kleinen Empfindungsunterschiedes entspringe.","page":505},{"file":"p0506.txt","language":"de","ocr_de":"506\nEmil Kraepelin.\nEine solche Annahme w\u00e4re mit der Thatsache der Unterschiedsschwelle unvereinbar, falls wir anders diese letztere als eine Reizdifferenz betrachten, welche, abgesehen von den variablen Fehlervorg\u00e4ngen, durchaus nicht wahrgenommen werden kann. Wenn trotz des Bestehens einer Unterschiedsschwelle die unzweideutige Gleichheitsempfindung relativ selten ist, so kann das nur darauf beruhen, dass unser Urtheil nicht nur von der wirklichen Empfindungsst\u00e4rke, sondern auch noch von allerlei sonstigen Umst\u00e4nden psychologischer Natur, Erwartung, Associationen, Auffassungsschwankungen u. dergl. beeinflusst wird. Diese secund\u00e4ren Fehlervorg\u00e4nge werden sich aber, sobald beide Reize wegen der Unterschiedsschwelle mit urspr\u00fcnglich ganz gleicher St\u00e4rke empfunden werden, bei zahlreichen Versuchen v\u00f6llig compensiren. Anders steht es mit jenen Grenzf\u00e4llen, in denen der subjective Reizunterschied sehr nahe \u00fcber der Schwelle liegt, ohne dass wir doch den Grad von \u00bbconfidence\u00ab erreichen, der uns f\u00fcr ein Ungleichheitsurtheil erforderlich scheint. Wie eine einfache Ueberlegung zeigt, m\u00fcssen diese F\u00e4lle nach dem Jastrow\u2019schen Verfahren weit mehr richtige als falsche Urtheile liefern.\nAus diesen Erw\u00e4gungen w\u00fcrde sich ergeben, dass von den beiden oben erw\u00e4hnten Vertheilungsweisen der Gleichheitsf\u00e4lle weder die eine noch die andere v\u00f6llig zutreffend ist, da jede nur einen Theil des Gebietes ber\u00fccksichtigt, welches erfahrungsgem\u00e4\u00df durch die Gleichheitsf\u00e4lle eingenommen wird. Man sollte somit vermuthen, dass die einfache experimentelle Beseitigung der Gleichheitsf\u00e4lle nach dem Jastrow\u2019schen Verfahren f\u00fcr jede Reizdifferenz einen Procentsatz richtiger F\u00e4lle liefere, der irgendwo zwischen jenen cor-rigirten Werthen liegt, wie sie nach den besprochenen beiden Vertheilungsweisen gewonnen werden. W\u00e4re die Unterschiedsschwelle = 0, so w\u00fcrde sich voraussichtlich die proportionale Vertheilung als die richtige erweisen. Spr\u00e4che dagegen das Ergebniss der Versuche ohne Gleichheitsurtheile f\u00fcr die volle Bew\u00e4hrung des Hal-birungsprincipes, so w\u00e4re bei allen Gleichheitsf\u00e4llen thats\u00e4chlich die subjective Reizdifferenz eine untermerkliche gewesen; die Unterschiedsschwelle w\u00fcrde demnach etwa der Gr\u00f6\u00dfe des mittleren Fehlers entsprechen, welcher sich aus den Gleichheitsf\u00e4llen berechnen lie\u00dfe.\nLeider haben diese Erw\u00e4gungen keine experimentelle Best\u00e4ti-","page":506},{"file":"p0507.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden.\n507\ngung gefunden. Die Versuche ohne Gleichheitsurtheile lieferten einen Procentsatz richtiger F\u00e4lle, der kleiner war, nicht nur als das corrigirte r' nach der proportionalen, sondern sogar, wenn auch nur sehr wenig, kleiner, als r' bei gleicher Vertheilung der Gleichheitsf\u00e4lle. Dieses \u00fcberraschende Resultat deutete anscheinend darauf hin, dass nach beiden Vertheilungsweisen zu viel richtige F\u00e4lle aus den Gleichheitsf\u00e4llen herausgeholt wurden, dass demnach diese letzteren in gr\u00f6\u00dferer Zahl den falschen, als den richtigen F\u00e4llen entsprachen, welche nach dem Jastrow\u2019schen Verfahren erhalten wurden. War diese Auffassung richtig, so musste \u00fcberall in den Versuchsreihen die Zahl der Gleichheitsurtheile mit der Abnahme der falschen F\u00e4lle relativ anwachsen, und umgekehrt, da sie ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig h\u00e4ufiger so zu sagen verkappte falsche als richtige F\u00e4lle darstellten, resp. beim Jastrow\u2019schen Verfahren sich in solche umwandelten. Bei der Durchsicht der Versuchsprotokolle stellte sich dieses Verhalten in der That als durchgreifende Regel heraus. Demnach bestand hei den Versuchen mit Gleichheitsurtheilen ohne Zweifel die Neigung, solche Sch\u00e4tzungen, die heim Jastrow\u2019schen Verfahren falsch ausfielen, in gr\u00f6\u00dferer Zahl zu Gleichheitsf\u00e4llen umzuwandeln, als jene, welche dort richtige Ergebnisse lieferten. Der experimentellen Eliminirung der Gleichheitsf\u00e4lle w\u00fcrde also in diesen Versuchen eine Vertheilung entsprochen haben, die nicht eine gr\u00f6\u00dfere oder die gleiche, sondern eine geringere Zahl von Gleichheitsurtheilen den richtigen F\u00e4llen zugerechnet haben w\u00fcrde, als den falschen.\nEine Erkl\u00e4rung dieses zun\u00e4chst paradoxen Befundes liegt vielleicht nicht so sehr fern. Alle Versuche wurden nach dem wissentlichen Verfahren angestellt. Dabei ist aber eine volle Freiheit von jeder Voreingenommenheit nicht zu erreichen; vielmehr wei\u00df die Versuchsperson, auch ohne es irgend zu wollen, in jeder Versuchsreihe meist ziemlich bald wenigstens ann\u00e4hernd, oh sie richtig oder falsch urtheilt. Freilich sollten die hieraus entspringenden Fehler sich bei den Versuchen mit und ohne Gleichheitsf\u00e4lle geltend machen. Es l\u00e4sst sich jedoch sehr wohl denken, dass ihr Einfluss dort, wo nur richtige oder falsche F\u00e4lle zugelassen werden, verh\u00e4lt-nissm\u00e4\u00dfig geringer ist, w\u00e4hrend im andern Falle die gleiche minimale Empfindungsdifferenz, die in der mehr oder weniger deutlich","page":507},{"file":"p0508.txt","language":"de","ocr_de":"508\nEmil Kraepelin.\nerwarteten Richtung zur F\u00e4llung eines \u00bbrichtigen\u00ab Urtheils Anlass gibt, in der entgegengesetzten Richtung vielleicht nur eine vorsichtige Gleichsch\u00e4tzung zur Folge hat. Wir wollen diesen hypothetischen Fehler, dessen Deutung mit Sicherheit allerdings erst auf Grund sorgf\u00e4ltiger Yergleichsversuche nach dem unwissentlichen Verfahren festgestellt werden k\u00f6nnte, einstweilen als den \u00bbErwartungsfehler\u00ab bezeichnen. Derselbe ist durchaus nicht zu verwechseln mit jenem Fehler, welcher heim auf- oder absteigenden Verfahren aus einer gewissen Tr\u00e4gheit unserer Auffassung entsteht und uns einen Unterschied noch wahrnehmen l\u00e4sst, wenn er schon verschwunden ist, und umgekehrt. W\u00e4hrend jener Tr\u00e4gheitsfehler sich durch entgegengesetzte Richtung der Abstufungen eliminiren l\u00e4sst, kann dieser aus dem systematischen Gange des Versuchsverfahrens entspringende Fehler nur durch v\u00f6llige Unsicherheit und Unbefangenheit der Versuchsperson beseitigt werden, ein Ausweg, der \u00fcbrigens voraussichtlich wieder nach anderer Seite hin manche Unbequemlichkeiten und Nachtheile darbietet.\nDie im Vorstehenden ber\u00fchrten Ergebnisse sind es, welche einstweilen auch die praktische Bestimmung der Unterschiedsschwelle aus den Versuchen nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle unsicher erscheinen lassen. Die M\u00fcller\u2019sehe Aufstellung, dass bei einer Reizdifferenz gleich dem Unterschiedsschwellenwerthe die Anzahl der wirklichen richtigen F\u00e4lle gerade 50^ betragen muss, gilt nat\u00fcrlich nur hei g\u00e4nzlichem Ausschl\u00fcsse constanter Fehler, da nur unter dieser Bedingung die positiven und negativen Ursachenelemente sich vollkommen symmetrisch vertheilen und somit in der H\u00e4lfte der F\u00e4lle den Vergleichsreiz \u00fcber die Unterschiedsschwelle hinaus vergr\u00f6\u00dfern k\u00f6nnen. Wie es scheint, sind aber die Erwartungsfehler bei dem meist angewandten wissentlichen Verfahren nicht ganz zu vermeiden. Mag auch das Princip der Minimal\u00e4nderungen f\u00fcr ihr Entstehen die g\u00fcnstigsten Bedingungen darbieten, so d\u00fcrften sie doch selbst hei der Vergleichung nur zweier Reize in geringerem Ma\u00dfe ebenfalls vorhanden sein. Wie wir oben eine relativ gro\u00dfe Zahl von eigentlich falschen F\u00e4llen unter dem Einfl\u00fcsse jenes Fehlers in Gleichheitsurtheile sich verwandeln sahen, so besteht auch die Gefahr, dass die Zahl der richtigen Sch\u00e4tzungen auf Kosten der Gleichheitsf\u00e4lle zu gro\u00df","page":508},{"file":"p0509.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden.\n509\nausf\u00e4llt. Die Unterschiedsschwelle scheint dann niedriger zu liegen, als es in Wirklichkeit der Fall ist.\nDie Berechnung der Unterschiedsschwelle aus Higi er\u2019s Versuchen wurde leider noch durch den Umstand beeinflusst, dass, wie fr\u00fcher erw\u00e4hnt, die Abstufungen der Reizdifferenzen nicht \u00fcberall bis in das Gebiet des Uebermerklichen hineinreichten. Der ermittelte Werth war also eigentlich als etwas zu niedrig anzusehen. Trotzdem entsprach in den Versuchen mit Gleichheitsurtheilen der Unterschiedsschwelle ein Procentsatz von im Mittel 66,3 richtigen F\u00e4llen an Stelle der theoretisch geforderten 50#. Will man auch dieser Zahl aus dem angef\u00fchrten Grunde und wegen der Berechnung mit H\u00fclfe des Pr\u00e4cisionsma\u00dfes keinen allzu gro\u00dfen Werth heimessen, so d\u00fcrfte sie dennoch f\u00fcr das Vorhandensein eines Fehlers sprechen, der die Zahl der richtigen F\u00e4lle erh\u00f6ht hat. Zu einem \u00e4hnlichen Ergebnisse glaube ich hinsichtlich der von Lorenz und Merkel1) ausgef\u00fchrten Versuche \u00fcber die Unterscheidung von Schallst\u00e4rken kommen zu m\u00fcssen, welche eine weit unmittelbarere und zutreffendere Pr\u00fcfung unserer Frage erlauben. Dort wurde n\u00e4mlich experimentell die Zahl der richtigen F\u00e4lle bestimmt, welche der Unterschiedsschwellenwerth als Reizdifferenz lieferte. Die Versuche ergaben nach Elimination der gew\u00f6hnlichen constanten Fehler f\u00fcr Lorenz 46,44 und f\u00fcr Merkel 48,76#. Allein hei dieser Berechnung sind die zweifelhaften F\u00e4lle, welche von beiden Beobachtern, wenn auch in verschiedenem Ma\u00dfe, zugelassen wurden, zur H\u00e4lfte den richtigen zu-getheilt, w\u00e4hrend die Gleichheitsf\u00e4lle nat\u00fcrlich unber\u00fccksichtigt blieben. Nach den fr\u00fcher angestellten Erw\u00e4gungen glaube ich indessen gerade die zweifelhaften F\u00e4lle als solche auffassen zu m\u00fcssen, bei denen die Empfindungsdifferenz nicht unterhalb, sondern sehr nahe oberhalb der Unterschiedsschwelle gelegen ist. Unter dieser Voraussetzung w\u00fcrden aber diese F\u00e4lle nicht gleich, sondern, wie auch Merkel sp\u00e4ter gemeint hat, proportional unter die richtigen und falschen F\u00e4lle zu vertheilen sein. F\u00fchrt man diese Rechnung aus, so ergibt sich als dem Schwellenwerthe entsprechend f\u00fcr Lorenz 54,3, f\u00fcr Merkel 54,6# richtiger F\u00e4lle. Die Abweichung dieser Zahlen von der theoretisch geforderten ist zwar gr\u00f6\u00dfer, als\n1) Philos. Studien II, 3, S. 469.\nWandt, Philos. Studien. VI.\n34","page":509},{"file":"p0510.txt","language":"de","ocr_de":"510\nEmil Kraepelin.\nbei den oben angef\u00fchrten; daf\u00fcr stimmen sie untereinander besser \u00fcberein und lassen, wie die Versuche Higier\u2019s, den erwarteten positiven constanten Fehler erkennen, der allerdings hier wegen der andersartigen Methodik weit geringer ist.\nBei den Versuchen ohne Gleichheitsf\u00e4lle bestimmt sich die Lage der Unterschiedsschwelle wesentlich anders. Wir haben dabei zwischen vier verschiedenen Arten von Urtheilen zu unterscheiden. In Folge der Fehlervorg\u00e4nge wird auch hier in der einen H\u00e4lfte der F\u00e4lle die Reizdifferenz in positivem Sinne vergr\u00f6\u00dfert, so dass wir wiederum zun\u00e4chst 50# wirklicher richtiger F\u00e4lle erhalten. Genau ebenso h\u00e4ufig kommt es vor, dass die Reizdifferenz sich f\u00fcr die Empfindung bis auf 0 verkleinert oder negative Werthe annimmt. Wird dabei selbst von den gr\u00f6\u00dften zuf\u00e4lligen Fehlervorg\u00e4ngen der an sich gr\u00f6\u00dfere Vergleichsreiz nicht soweit verkleinert, dass er nach der entgegengesetzten Richtung hin sich um mehr als die Unterschiedsschwelle vom Normalreize unterscheidet, so f\u00e4llt die ganze zweite H\u00e4lfte der subjectiven Reizdifferenzen in das Schwellengebiet, innerhalb dessen sie Gleichheitsf\u00e4lle ergeben m\u00fcsste, falls man solche zulie\u00dfe. Nach dem Jastrow\u2019schen Verfahren w\u00fcrden sich diese Gleichheitsf\u00e4lle zu gleichen Theilen in \u00bbscheinbare\u00ab richtige und \u00bbscheinbare\u00ab falsche verwandeln, insofern irgendwelche secund\u00e4re Umst\u00e4nde bald diese, bald jene Auffassung n\u00e4her legen w\u00fcrden. Endlich kann es aber auch noch wirkliche falsche F\u00e4lle geben, in denen die Umkehrung der Reizdifferenz den Merklichkeitsgrad erreicht oder \u00fcberschreitet. Die negativen Fehler m\u00fcssen hier zum Theil die doppelte Gr\u00f6sse der Unterschiedsschwelle \u00fcbertreffen.\nDiese letzteren F\u00e4lle sind es, von denen wesentlich der Procentsatz richtiger F\u00e4lle abh\u00e4ngt, welcher der Benutzung der Unterschiedsschwelle als Reizdifferenz entsprechen w\u00fcrde. Sobald es keine wirklichen falschen F\u00e4lle gibt, addirt sich zu der Zahl der wirklichen richtigen F\u00e4lle (50#) einfach diejenige der scheinbaren richtigen (25#) hinzu, so dass wir also als oberen Grenzwerth f\u00fcr die Unterschiedsschwelle 75# richtiger F\u00e4lle erhalten m\u00fcssenl). Von je zwei wirklichen falschen F\u00e4llen geht aber\n1) Wundt (Physiol. Psychologie. 3. Aufl. I, S. 353) gibt an, dass r' = 100 werde, sobald der Reizuntersehied den Schwellenwerth \u00fcberschreite. Die Be-","page":510},{"file":"p0511.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden.\n511\nimmer einer aus einem scheinbaren falschen, der andere aus einem scheinbaren richtigen Falle hervor, so dass sich also mit dem Wachsen der Fehlermaxima \u00fcber den doppelten Werth der Unterschiedsschwelle hinaus die Zahl der richtigen F\u00e4lle stetig vermindert, welche die Unterschiedsschwelle repr\u00e4sentiren. W\u00e4re diese letztere = 0, so w\u00fcrden schon die kleinsten Fehlervorg\u00e4nge wirkliche falsche F\u00e4lle erzeugen und wir h\u00e4tten dann den andern Grenzfall vor uns, dass die Unterschiedsschwelle als Reizdifferenz ebenso viel richtige wie falsche F\u00e4lle liefert. Je kleiner die Unterschiedsschwelle und je gr\u00f6\u00dfer die Schwankungen im Betrage der zuf\u00e4lligen Fehler, desto zahlreicher werden die wirklichen falschen F\u00e4lle, und desto mehr n\u00e4hert sich der Procentsatz richtiger F\u00e4lle f\u00fcr die Unt\u00e9r-schiedsschwelle dem Werthe 50^, ohne ihn jemals zu erreichen, da die Unterschiedsschwelle niemals 0 werden kann, w\u00e4hrend die obere Grenze von 75^, die Jastrow ein f\u00fcr allemal als Schwelle betrachtet, sehr wohl erreichbar sein d\u00fcrfte.\nSchon bei den Versuchen von Lorenz und Merkel beliefen sich die wirklichen falschen F\u00e4lle noch nicht auf ganz 2 %, so dass man beim Experimentiren nach dem Jastrow \u2019sehen Verfahren f\u00fcr die Unterschiedsschwelle voraussichtlich 74^ richtiger F\u00e4lle erhalten h\u00e4tte. Eine volle Constanz dieses Werthes, wie f\u00fcr die M\u00fcller\u2019sche Schwelle, ist nicht zu erwarten; vielmehr d\u00fcrfte das Versuchsgebiet und eine Reihe von andern Umst\u00e4nden, welche die Schwankungen in der Fehlergr\u00f6sse beeinflussen, hier von entscheidender Bedeutung sein. Andererseits vermag man aus jenem Procentsatze unter Zuh\u00fclfe-nahme der von M\u00fcller aufgestellten Beziehung jederzeit die Zahl der wirklichen und scheinbaren richtigen und falschen F\u00e4lle abzuleiten. Higier\u2019s Versuche ergehen f\u00fcr zwei Distanzen mit Zulassung von Gleichheitsf\u00e4llen im Durchschnitte 13,0^ wirkliche falsche F\u00e4lle. Die Unterschiedsschwelle h\u00e4tte demnach bei ihm 68,5richtiger F\u00e4lle nach dem Jastrow\u2019schen Verfahren ergeben m\u00fcssen. Trotzdem lieferte die Berechnung mit H\u00fclfe der allerdings\ndingung r' \u2014 100 schlie\u00dft indessen offenbar bereits Wegfall aller Gleichheits-urtheile in sich, da ja sonst die H\u00e4lfte derselben als /' \u00fcbrig bleiben m\u00fcssten. Jene Gleichung gilt somit f\u00fcr einen Reiz, der so weit vom Normalreiz unterschieden ist, dass die Differenz auch durch die gr\u00f6\u00dften empirischen Fehlervorg\u00e4nge nicht mehr unter die Unterschiedsschwelle herabgedr\u00fcckt werden kann.\n34*","page":511},{"file":"p0512.txt","language":"de","ocr_de":"512\nEmil Kraepelin.\nunsicheren, experimentell gefundenen Unterschiedsschwelle einen Werth von 74,5#. Die Zahl der richtigen F\u00e4lle erwies sich somit auch hier, wahrscheinlich in Folge eines Erwartungsfehlers, ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig zu gro\u00df, wenn auch lange nicht in dem Ma\u00dfe wie bei den Versuchen mit Gleichheitsurtheilen.\nVon den sonstigen constanten Fehlern, welche gew\u00f6hnlich bei psychophysischen Versuchen Ber\u00fccksichtigung fordern, sind die meisten von Hi gier nach M\u00f6glichkeit eliminirt worden. Als solche erwiesen sich einmal der wahrscheinlich aus der monocularen Ausf\u00fchrung der Experimente hervorgehende Kaumfehler, der (f\u00fcr das rechte Auge) zu einer Uebersch\u00e4tzung der links gelegenen Strecke f\u00fchrte, sodann ein Zeitfehler, welcher sich in subjectiver Vergr\u00f6\u00dferung der regelm\u00e4\u00dfig zuerst in\u2019s Auge gefassten Normaldistanz kundgab. Au\u00dferdem bestand ein Tr\u00e4gheitsfehler, der in bekannter Weise den verschiedenen Ausfall der Sch\u00e4tzung bei aufsteigendem und bei absteigendem Verfahren bedingte. Endlich d\u00fcrfte bei der Methode der mittleren Fehler noch ein Contrastfehler mitgespielt haben. Da n\u00e4mlich die Einstellung des Vergleichsreizes in regelm\u00e4\u00dfiger Abwechselung von Strecken ausging, die sehr deutlich gr\u00f6\u00dfer oder kleiner waren, als die Normaldistanz, so war hier die einzige Gelegenheit zum Vergleiche \u00fcbermerklich verschiedener Reize und damit zum Auftreten von Contrasterscheinungen gegeben. Dabei musste durch den Zeitfehler der Unterschied der Normalstrecke von der kleineren Ausgangsdistanz noch vergr\u00f6\u00dfert, dagegen die Differenz gegen\u00fcber der gr\u00f6\u00dferen verkleinert werden, da ja die Vergleichsstrecken allgemein untersch\u00e4tzt wurden. Man konnte daher erwarten, dass die Contrastwirkung sich namentlich bei der kleineren Distanz, und zwar in einer noch weitergehenden subjectiven Verkleinerung derselben, geltend machen werde, w\u00e4hrend die Vergr\u00f6\u00dferung der gr\u00f6\u00dferen durch den Contrast weit geringer ausfallen musste. Daraus w\u00fcrde sich das Bestreben herleiten, hier bei aufsteigender Einstellung in h\u00f6herem Ma\u00dfe zu \u00fcbersch\u00e4tzen, als bei der passiven Beurtheilung untermerklicher Reizdifferenzen nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle. Die entgegengesetzte Neigung beim absteigenden Verfahren w\u00fcrde wegen der durch den Zeitfehler bedingten geringeren Gr\u00f6\u00dfe des Contrastes bei weitem nicht im Stande sein, jene Uebersch\u00e4tzung zu compensiren; wir","page":512},{"file":"p0513.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntnis\u00ab der psychophysischen Methoden.\n513\nm\u00fcssten demnach bei der Methode der mittleren Fehler einen gr\u00f6\u00dferen positiven constanten Fehler erhalten, als aus der Berechnung der Gleichheitsf\u00e4lle hei der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle. Diese Erw\u00e4gungen finden in der That durch die Versuchs -ergebnisse ihre Best\u00e4tigung. Allerdings sind hier wohl sicher noch andere constante Fehlerquellen wirksam gewesen, deren Bedeutung sich erst durch besonders darauf gerichtete Versuche wird bestimmen lassen. Dahin d\u00fcrften namentlich die Gr\u00f6\u00dfe der Ausgangsdistanz, sowie die Geschwindigkeit der Einstellungsbewegung zu z\u00e4hlen sein. Vielleicht bestehen hier Fehlerquellen, analog denjenigen, welche bei Zeitmessungsversuchen zur Ausl\u00f6sung vorzeitiger oder versp\u00e4teter Reactionen Veranlassung geben.\nZur Erg\u00e4nzung der im Vorstehenden berichteten Resultate war von vornherein auch die Anstellung von Versuchen nach der Methode der mittleren Abstufungen in Aussicht genommen worden. Leider jedoch ergab es sich, dass eine unbefangene, nicht unwillk\u00fcrlich messende Einstellung einer mittleren Distanz zwischen zwei gegebenen nicht ausf\u00fchrbar erschien. Auch der Versuch, ein bestimmtes Vielfaches einer gegebenen Strecke einzustellen, lief einfach auf die wiederholte Reproduction dieser letzteren hinaus, so dass ich die Ergebnisse dieser Experimente hier \u00fcbergehen kann. Nur so viel sei erw\u00e4hnt, dass sich bei der Methode der doppelten Reize ein Raumfehler in demselben Sinne, wie fr\u00fcher, wiederfand, w\u00e4hrend der Zeitfehler sich anscheinend umgekehrt hatte, insofern nunmehr nicht die Normaldistanz, sondern die Vergleichsdistanz \u00fcbersch\u00e4tzt wurde. Ber\u00fccksichtigen wir, dass hier die Verh\u00e4ltnisse f\u00fcr die Enstehung von Contrastwirkungen sehr g\u00fcnstig waren und demnach die Ausgangsstrecke relativ zu klein, die Vergleichsstrecke dagegen zu gro\u00df erscheinen musste, so liegt es nahe, anzunehmen, dass unter solchen Umst\u00e4nden der dem Zeitfehler entgegengesetzte Contrasteinfluss jenen ersteren \u00fcberwog und dadurch jene scheinbare Umkehrung desselben ihre Erkl\u00e4rung findet.","page":513}],"identifier":"lit3161","issued":"1891","language":"de","pages":"493-513","startpages":"493","title":"Zur Kenntniss der psychophysischen Methoden","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:03:22.490187+00:00"}