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{"created":"2022-01-31T16:35:12.551433+00:00","id":"lit31624","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Platzhoff","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 25: 141-147","fulltext":[{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n141\nvor jener Art der Verallgemeinerung, wonach di\u00a9 relative Gonstanz in der Abnahme der Fehler mit der Abnahme des brechenden Winkels in dem Warnas'sehen Gesetz ebenfalls einen Ein\u00fcbungserfolg vermuthen lasse.\nWik TH (Leipzig).\nTa. Floubhoy. Des Indes I la plan\u00e8te Bara. Etnde sir in its i\u00a7 gomnam-bllisme Hi\u00ae glossolalie. Paris, Alcan; Gen\u00e8ve, Egg\u00eemann & Cie.; 1900 420 S. 2. Aufl. 8 FrH.\nDie eifrigen und lohnenden Forschungen der deutschen Experimentalpsychologen erstrecken eich bis heut\u00a9 meist auf den Bereich des Durclisch ni tts-Bewusstseins. Von dem Augenblick an aber, als Schwindelund Gewinnsucht mit den abnormen Erscheinungen des Seelenlebens ihr Unwesen zu treiben anfingen, wurde es Pflicht der Wissenschaft, ihr entscheidendes Wort zu sprechen. Nur eine andauernde, m\u00f6glichst vorurteilsfreie, gerechte und liebevolle Besch\u00e4ftigung mit dem einzelnen Fall kann nach und nach den Frieden zwischen dem Wundergl\u00e4ubigen und dem exacten Forscher herbeif\u00fchren und zu Inductionsschl\u00fcssen normativer Art hinleiten. Detailstudien auf diesem Gebiet hat bisher meist die franz\u00f6sische und englische Psychologie (Richet, Janet, Wallace, Crookes) geliefert; ihnen gesellt sich nun ein ausgezeichneter Genfer Psychophysiker Theodore Flournoy zu, dessen Erfahrungen mit einem h\u00f6chst interessanten Medium hier kurz dargestellt und besprochen werden sollen.\n1. Frl. Helene Smith, ein Pseudonym, hat zu verschiedenen Zeiten gelebt und besitzt die Freundlichkeit, einen weiteren Kreis \u00fcber ihre fr\u00fcheren Existenzen zu unterhalten, f\u00fcr die sie erstaunliche Wahrheitsbeweise erbringt. Sie war im 14. Jahrhundert die Tochter eines arabischen Sheiks, Pirux, den sie verliefs, um unter dem Namen Simandinis die elfte Frau des indischen Prinzen Sivruka Nayaza zu werden, dessen Rein-kamation heute Flournoy heifst und auf dessen Scheiterhaufen sie verbrannt wurde. In die Einzelheiten ihres damaligen Lebens (das Land, die Spazierg\u00e4nge, das Spiel mit dem Aeffclien, die Verlobung, das Lesen der Liebesbriefe) werden die Zuschauer durch h\u00f6chst bezeichnende, wenn auch noch so fremdartige Gesten eingeweiht, bis sie endlich die Verbrennungs scene mit dem athemlosen Niedersinken ihres Opfers schaudernd miterleben. Es versteht sich, dais sich aus dieser Lebensperiode Documente in arabischer Sprache und in Sanskrit erhalten haben, die Frl. 8. mit Leichtigkeit (m\u00fcndlich) reproducirt.\nSp\u00e4ter hat sie den Planeten Erde als Marie Antoinette wieder betreten. Denkt sie an jene Zeit, so handhabt sie den F\u00e4cher, das Lorgnon, das Riechfl\u00e4schchen mit k\u00f6niglicher Grazie. Sie schleudert die Schleppe und gr\u00fcTst ihre H\u00f6flinge, sie schreibt den Stil und spricht mit dem Accent ihrer Zeit. Sie wiegt ihre Kinder und singt ihnen Liedchen vor, zu denen Mirabeau oder Philippe Egalit\u00e9, die sich zum Gl\u00fcck in zwei Genfer Herrn reinkamirt finden, sie begleiten m\u00fcssen.\nAber Frl. S.\u2019s Anschauungskreis ist nicht an die Erde gebunden. Alexis Mirbel, der verstorbene Sohn einer ihr bekannten Dame, nunmehr auf den Mars versetzt, bedient sich ihrer, um in seiner (des Mars) Sprache","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nLiteraturbericht.\ndie arme Mutter zu tr\u00f6sten. Flournoy hat die Gelegenheit benutzt, un\u00bb die Kenntnifs der Marsbewohner zu verschaffen. Dank seinen Bem\u00fchungen haben wir nun genaue (dem Buche beigegebene) Zeichnungen der Landschaft\u00bb der H\u00e4user, der Thierwelt, der Menschen und ihrer Tracht, ihrer Verkehrsmittel (Flugmaschinen) und ihrer Geselligkeit. Ueber alle diese Einzelheiten bis in die Tiefen der Marsgrammatik hinein unterrichtet un\u00bb Leopold, der unerm\u00fcdliche Dolmetscher und Erkl\u00e4rer, der Warner, Be rather und Freund. Leopold, einst Cagliostro (Josef Balsamo) geheifsen, ist Helenene guter Geist, der sie vor Gefahren sch\u00fctzt, mit seinen Re-cepten von Krankheit heilt, ihr Mifstrauen gegen\u00fcber verd\u00e4chtigen Personen \u00a9infl\u00f6fst und sie zu Anderen Sympathie fassen l\u00e4fst. Er spricht nicht nur mit ihr \u00fcber sie, die R\u00e4thsel ihres Daseins, die Gr\u00fcnde ihrer Zur\u00fcckhaltung und di\u00a9 Mittel zu ihrer Belebung angebend, er redet auch ans ihr mit seiner M\u00e4nnerstimme und seinem italienischen Accent, er schreibt durch eie seine eigene Schrift und theilt auf dem gleichen Wege seine Gedichte mit. Er \u00fcbersetzt ihre Zungensprache in verst\u00e4ndliches Franz\u00f6sisch und \u00fcbertr\u00e4gt auf sie seine charakteristischen Gesten.\n2. Soweit der Th&tbestand ; nun die Versuche, ihm gerecht zu werden. Es sei vorauegeechickt, dafs di\u00a9 Bekanntschaft Flournoy\u2019s mit Fri. S., f\u00fcnf Jahre alt ist. Seitdem hat er mit ihr und ihrer Familie stets freundschaftlich intim verkehrt, sich auch mit der physischen Constitution, mit den heredit\u00e4ren Vorbedingungen leiblicher und geistiger Art, ihrem Milieu und ihrer Gedankenwelt m\u00f6glichst genau bekannt gemacht. Seine Schilderung dieser Verh\u00e4ltnisse erweckt auch im Leser volles Zutrauen zu der Ehrlichkeit und Uninteressirtheit des Mediums. Die Thatsachen sind also unanfechtbar und ein Versuch der Erkl\u00e4rung nach Analogien mufs gewagt werden \u2014 Die erste Frage bei der Betrachtung der Incarnationsperioden ist di\u00a9 nach ihrer Entwickelung. Man beobachte z. B. den Marsroman in seiner Entstehung. Im Anfang vermittelt Fri. S. nur die Botschaft de\u00bb verstorbenen Sohnes an di\u00a9 Mutter, dann wird Mars als Aufenthaltsort des Sohnes angegeben; erst nach Monaten spricht der Sohn in der dort gebr\u00e4uchlichen Sprache und wieder nach einem l\u00e4ngeren Zeitraum wird eine Uebersetzung dieses Idioms geliefert. Eine nicht minder grofse Roll\u00a9 spielt das zeitlich\u00a9 Entwickelungsmoment in der Psychogenes\u00bb Leopold\u2019s. Hat er Anfangs seine Besch\u00fctzerrolle mit \u201eVictor Hugo\u201c theilen m\u00fcssen, dem \u00fcberdies die Priorit\u00e4t zukommt, so gelingt es ihm den Feind aus dem Felde zu schlagen (das correlative P&rallelereignifs im Leben des Fri. S. ist ein Wechsel ihres spiritistischen Verkehrskreises) und eifers\u00fcchtig auf seine Nebenbuhler, endlich allein zu herrschen. Aber auch jetzt noch enth\u00fcllt er sich nur gradweise und in l\u00e4ngeren Pausen mit wachsender Deutlichkeit von dem ersten z\u00f6gernden Tischklopfen bis zur Geschw\u00e4tzigkeit eines Impresario, ja bis zur lautlichen Beth\u00e4tigung seines eigenen Organs.\nEine zweite M\u00f6glichkeit zur Anbahnung einer \u201enat\u00fcrlichen\u201c Erkl\u00e4rung des Falles besieht in der genauen Untersuchung des Milieus, aus dem die Anregungen zur Entstehung der Visionen stammen k\u00f6nnen. Hier ist Flournoy mit ganz besonderer Gewissenhaftigkeit verfahren. F\u00fcr die Leopold-Cagliostro vision liefe sich z. B. eine n\u00e4here Besch\u00e4ftigung","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n143\nHelenen8 mit dem Leben des Zauberers nachwelsen. Der Marie Antoinette-Cyelua bedarf bei einer in einer franz\u00f6sischen Stadt aufge wachsen en und mit franz\u00f6sischer Bildung gen\u00e4hrten Person keine besondere Erkl\u00e4rung, sofern er nichts zu Tage f\u00f6rdert, was ein gebildeter Mensch nicht auf nat\u00fcrlichem Wege erfahren haben kann. Und das verr\u00e4tk dieser \u201ek\u00f6nigliche Cyclus\u201c so wenig als der hindostanische, der sprachlich nur ganz bescheidene Kenntnisse des Sanskrit voraussetzt (Flournoy hat mehrere t\u00fcchtig\u00a9 Indologen zur Untersuchung des leider nicht schriftlich wiedergegebenen Sanskritreden seines Mediums herangezogen) und geographisch mit den Angaben einer auf der Genfer Bibliothek befindlichen indischen Geschichte sich deckt. Endlich hat auch der Marscyclus deutliche Bestehungen zum Milieu des incamirenden Mediums. Nicht nur, dafs das ihr wohl von H\u00f6rensagen bekannte Werk von Flammarion 1 Anregungen \u25a0um Ausepinnen dieser Gedanken gab ; auch von einem Besucher des spiritistischen Kreises wurde der lebhafte Wunsch nach dem Verkehr und der n\u00e4heren Bekanntschaft mit jenem Planeten ausgesprochen. Die im Wachen gelieferten Nachzeichnungen ihrer Visionen lassen sich gut als phantastische Ausgestaltungen und Ab\u00e4nderungen des uns gel\u00e4ufigen Anschauungsmaterials verstehen. Die auf den ersten Anblick so \u00fcberraschende Mars-aprache erweist sich bei der philologisch genauen Untersuchung Flournoy\u2019s als einen das Franz\u00f6sische anbedingt voraussetzenden, nach kindlicher Laune zueanamengestellten, wenn auch gleichmftfsigen und verst\u00e4ndlichen Phantasiedialect.\nSo hoffnungsvoll f\u00fcr eine restlose Auf-hellung des B\u00e4thsels diese Erkl\u00e4rungsversuche scheinen, so v\u00f6llig unzureichend sind sie noch f\u00fcr den Augenblick, selbst unter Heranziehung verwandter Pr\u00e4cedenzf\u00e4lle. Am wenigsten fremdartig in der Psychologie sind Erscheinungen wie die \u201eLeopold\u2019s\u201c, den Flournoy als eine stehengebliebene Entwickeluags-phase, einen psychisch selbst\u00e4ndig gewordenen Auswuchs ihrer Pers\u00f6nlichkeit fafst. F\u00e4lle des \u201ezweiten Gesichte4, des \u201eDoppel-Ich\u201c sind ja keine Wunder mehr, zeigen aber noch so viel individuelle Eigent\u00fcmlichkeiten, dais an eine gesetz\u00e4hnliche Formuiirung des Th at bestand ns einstweilen nicht zu denken ist. Hier scheint mir das Auff\u00e4llige in der Unsicherheit \u00fcber die Einheit and Getrenntheit der \u201eIchs\u201c zu bestehen. Unwillk\u00fcrlich wird man an die Bildung der Ichvorstellung bei den Kindern erinnert, die im Augenblick des Uebergangs die gleichen Schwankungen aufweist. Erinnert bei Fri. S. doch \u00fcberhaupt der Drang zur Person-bildung in der Verarbeitung geistiger Eindr\u00fccke an eine primitive Stufe der Geistesentwickelung.\nIst \u201eLeopold\u201c wirklich nichts Anderes, als der tiefste Instinct psychischer und physischer Selbsterhaltung in Helene, als welcher er \u00abIch oft genug giebt, ein Associationsb\u00fcndel also, geformt aus historischen Erinnerungen, pers\u00f6nlichen Eindr\u00fccken und unbewussten Ahnungen, so betont er andererseits seine v\u00f6llige Selbst\u00e4ndigkeit und motivirt \u00abeine gelegentliche Unwissenheit \u00fcber eine Helene betreffende Einzel\n1 La plan\u00e8te Mars et ces conditions d\u2019habitabilit\u00e9. Paris 1892.","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nLiteraturbericht.\nheit durch seine ausgedehnten,, anderweitigen Berufspflichten. \u25a0\u2014 Blee\u00ab' .abwechselnde Einheit lind Getrenntheit des Doppel-Iche hat in einem, anderen Falle nicht gleichzeitigen, sondern, successiven Charakter. So schaut Helene erst das Hinduweib auf dem Scheiterhaufen, um pl\u00f6tzlich bei ihrem Bericht in der ersten Person, fortzufahren. Nicht minder seltsam ist bei der Incarnation der K\u00f6nigin, die Thatsache, dafs es sich hier nicht um ein\u00a9 Reconstruction des Gewesenen, sondern unn eine Fortf\u00fchrung der damaligen Incarnation handelt. Es kann nicht Wunder nehmen, dafs bei der Vielheit nachfolgender Incamationen eine reinliche \u2022Scheidung nicht immer zu erwarten ist. Die Symptome des einen \u2014\u25a0 in Wort -oder Schrift \u2014 brechen zuweilen in die des anderen oder in das normale Bewufstsein: ein ; \u00e4ufsere Ver\u00e4nderungen im Kreise der Zuh\u00f6rer sind dabei -oft von Einflufs, wenn, auch nicht immer ausschlaggebend.\nDie meisten der bisher besprochenen Erscheinungen, werden den Psychologen nicht neu sein, sie machen auch nicht die Eigenart und die Schwierigkeit des Problems aus, die vielmehr erst durch die folgenden Erw\u00e4gungen offenbar wird. Flournoy ist es gelungen, die m\u00f6glichen \u25a0Quellen zur Entstehung der verschiedenen Incarnationskreise namhaft sn machen. Wunderbare und nachtr\u00e4glich gl\u00e4nzend best\u00e4tigt\u00a9 Enth\u00fcllungen Frl. Smith\u2019s \u00fcber seine Vorfahren z. B. lassen sich aus einer fr\u00fcheren Bekanntschaft der beiden Familien erkl\u00e4ren ; ein von ihr citirtes arabisches Sprichwort fand sich handschriftlich in einem. Buche ihres Arztes u. s. w. Bei einer l\u00e4ngeren Bekanntschaft mit seinem Medium w\u00e4re zweifellos noch \u2022eine Menge Entdeckungen der angedeuteten Art. gemacht worden. Was aber hilft die M\u00f6glichkeit der so geschickt hergestellten Beziehungen, wenn ihre Wirklichkeit unerweislich, ist? Mit anderen Worten: Frl Smith sammt ihren Angeh\u00f6rigen leugnet entschieden die Bekanntschaft mit den ihr hypothetisch nachgewiesenen Quellen. Sie kann sich t\u00e4uschen, aber ruhen nicht auch die Nachweise auf th\u00f6nernen F\u00fcfsen? Und hier -spitzt sich das Problem so zu: k\u00f6nnen geistige Eindr\u00fccke in, das Un. ter bewufstsein auf anderem Wege als durch das Bewufst--sein gelangen, und jahrelang daselbst heimlich gestaltend, th\u00e4tig sein? Mit anderen Worten: Besitzt unser Unterbewusstsein F\u00e4higkeiten, die seine Grenze nie \u00fcberschreiten, und die zu den im be-wufsten Zustande ausge\u00fcbten F\u00e4higkeiten in keinem oder gar in feindlichem Verh\u00e4ltnis stehen? Bann liefse sich, aus ihrer gelegentlichen Mittelmftfsigkeit (Leopold macht z. B. schlechte Gedichte w\u00e4hrend Fri S. nie dergleichen versucht hat) schliefsen, es handle sich hier gum schlummernd\u00a9 Dispositionen, die sozusagen das Examen zur Bewu&theit nicht bestanden haben und um, ihrer Minderwerthigkeit, ihrer geringen Entwickelungskraft willen zum r\u00fchmlosen Hinbr\u00fcten im Dunkel des Unter bewufstseins verdammt wurden. F\u00fcr den Forscher kommen von jene\u00bb unterbewufsten Eindr\u00fccken nat\u00fcrlich nur solche in Betracht, di\u00a9 f\u00fcr irgend Jemand (das Individuum oder seine Zuschauer) irgend wann einmal bew\u00f6lkt werden ; alle anderen sind uncontrolirbar. Die Frage ist bisher unter dem ungl\u00fccklichen Stichwort der Telepathie besprochen worden, die schon ihrer Etymologie nach von vornherein eine nat\u00fcrliche Erkl\u00e4rung ausschliefst, f\u00fcr die Flournoy aber gerade Raum schaffen m\u00f6chte. Warum, fragt er sich,","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n145\nsoll in der That eine directe Einwirkung zwischen lebenden Wesen ohne Einwirkung der Sinne ganz unm\u00f6glich sein? Reichen nicht auch die physischen Kraftwirkungen weit \u00fcber den Bereich unserer Sinne hinaus? Ist nicht selbst di\u00a9 Vererbung geistiger Eigenschaften etwas wie eine \u201eTelepathie\u201c, eine Fernwirkung, deren Bedingungen uns unerkl\u00e4rlich sind ? Man wende nicht ein, sie vollziehe sich an einem physischen Substrat: damit ist ihr Entstehen aus diesem und ihre Beziehung zu ihm noch nicht erkl\u00e4rt. Wer b\u00fcrgt uns \u00fcberdies, dafs es bei der Hypothese einer Telepathie im Sinne des Ueberspringens von geistigen Eindr\u00fccken im Verkehr der Lebewesen an einem Substrat fehlt, dafs die Nervencentren nicht Schwingungen ausl\u00f6sen, die auf verwandte Schwingungen stofsend, Ge-\u2022dankenbilder erzeugen, wie di\u00a9 Begegnung zweier Elektroden einen Funken entstehen lftfst? H\u00e4tten wir hier nicht auch eine Erkl\u00e4rung des Gedankenlesens, des Hellsehens und verwandter Vorg\u00e4nge? Nur ein Anstofs, das Ueberfliegen eines Samenkorns durch einen Windstofs, k\u00f6nnte gen\u00fcgen, um auf dem fruchtbaren Boden des Unterbewufsten sofort eine ganze Vegetation sich entwickeln zu sehen.\nWie Aufserordentliches dabei zu Stande kommen kann, mag das Beispiel Helenens beweisen. Man hat bisher das Unterbewnfste als einen bequemen Grenzbegriff ge werth\u00fct und seinem Umfang nur das zuertheilt, was in h\u00f6herer Potenz (Ger\u00e4usche, Druckempfindungen u. s. w.) die ..Schwelle\u201c zu \u00fcberschreiten pflegt. Jetzt kommt man allm\u00e4hlich zu der Einsicht, dafs das Reich des Unterbewufsten unermefslich ist und in seinen zahlreichen ihm eigent\u00fcmlichen Ausdracksformen studirt werden mufste. Da ist zuerst der Traum als seine niedrigste Sch\u00f6pfung und als die elementarste weitest verbreitete Form der unterbewufsten Gestaltungskr\u00e4fte, die dem Bed\u00fcrfnifs des Durchschnitts gen\u00fcgt. In ihm \u00fcberschreiten Eindr\u00fccke, Stimmungen, W\u00fcnsche und Gedanken auf eine Weile die \u201eSchwelle\u201c in wirrem Durcheinander, um theils wieder zur\u00fcckzutreten, theils dem Reich des Bewufsten mehr oder weniger dauernd anzugeh\u00f6ren. Auf einer h\u00f6heren Stufe (Traumreden, Fieberphantasien) tritt zu dem Bilde das auch anderen h\u00f6rbare Wort. Das Nachtwandeln f\u00fcgt weiterhin zu dem Worte die Handlung, ist aber immer noch an complicirte \u00e4ufsere Bedingungen gebunden. Den H\u00f6hepunkt dieser Reihe unterbewufster Th\u00e4tigkeiten stellt die Incarnation dar, in der Flournoy mit Recht nur eine von den obengenannten graduell verschiedene Erscheinung sieht. Je sorgf\u00e4ltiger diese Sch\u00f6pfungen bis ins Einzelste ausgearbeitet werden, je mehr sie der vern\u00fcnftigen Logik des Tages gehorchen, desto mehr crystalliren sie sich um bestimmte Gedankencentren, desto entschiedener wachsen sie zu (von einander ziemlich scharf geschiedenen) Cyclen zusammen. Ein\u00a9 bestimmte Form der Geistesst\u00f6rung ist nichts anderes, als die Concentration s\u00e4mmt-licher Gedanken um ein solches Centrum, sich beth\u00e4tigend in der Darstellung irgend einer historischen Rolle; ein Sieg also der M\u00e4chte des Unterbewufsten, \u00fcber die das normal\u00a9 Bewufstsein, auch nicht mehr auf eine kurze Weile, die Oberhand gewinnen kann. Nur ist hier die dramatische Leistung plump und elementar, w\u00e4hrend sie bei den incamirenden Medien eine unerkl\u00e4rliche H\u00f6he k\u00fcnstlerischen Raffinements und t\u00e4uschen-\nZeitachrift f\u00fcr Psychologie 25.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nLiteraturbericht.\nder Nat\u00fcrlichkeit erhalten kann. Die doch sehr d\u00fcrftigen Angaben und Winke, nach denen das Unterbewufstsein plastisch arbeitet, werden mit solcher Genauigkeit wie spielend befolgt und mit solcher Vollkommenheit ausgearbeitet, wie sie das normale Bewusstsein nach langj\u00e4hriger Anschauung und Uebung nicht einmal au Stande bringen k\u00f6nnte. N\u00e4herer Untersuchung werth ist dabei auch das Moment der Amnesie. Die Dinge liegen leider nicht so einfach, als ob etwa eine lange und besonders eigenartige Incarnation Erinnerungsspuren in das normale Bewufstaein eindr\u00fcckte und eine kurze und wenig ertragreiche Sitzung ged\u00e4chtnifslos verliefe oder umgekehrt. Pflegen doch auch unsere Tr\u00e4ume meist sich aus Erinnerungen zusammenzusetzen, die wir vergessen, oder von denen wir seiner Zeit nur einen schwachen Eindruck erhalten zu haben glaubten. So macht der Traum erst die Tiefe und Dauer eines Eindrucks bewufst. (Vgl. H. Spitta : Die Schlaf- und Traumzust\u00e4nde der menschlichen Seele. 2. Aufl. Freiburg 1892.) Aehnliches gilt auch f\u00fcr die Amnestie nach der Reincarnation. Der Beobachter des vorliegenden Falles kann bei einer Zusammenstellung der Angaben \u00fcber die abwechselnd v\u00f6llige und theilweise Amnesie des Mediums nur Willk\u00fcr entdecken. Eine Untersuchung \u00fcber die Natur der Eindr\u00fccke, die Amnesie, und jener, die Erinnerungsspuren hinterlassen, h\u00e4ngt offenbar von der Frage nach der Tiefe des jeweils das Medium umfangenden \u201eSchlafes\u201c ab. Hier durchl\u00e4uft Frl. 8. so ziemlich alle nur denkbaren Stadien von der v\u00f6lligen Bewegungslosigkeit bis zur anregendsten Tischunterhaltung, begleitet von betr\u00e4chtlicher Nahrungsaufnahme, aus der sie aber mit einem (freilich nur vor\u00fcbergehenden) starken Hungergef\u00fchl erwacht. \u2014 Eine ebenso eingehende Untersuchung wie die Amnesie verdiente die graphologische Seite des Falles. Die bis zur Unvergleichbarkeit gehende Verschiedenheit der Schrift Helenens, Leopold\u2019s und Marie Antoinette\u2019s ist auffallend, bedenklich andererseits die auf ein Minimum reducirte Aehnlichkeit der Schrift der wirklichen und der incarnirten K\u00f6nigin. Es w\u00e4re nun die Aufgabe eines zuverl\u00e4ssigen Graphologen aus den vorliegenden Documenten den Charakter \u201eLeopold\u2019s\u201c und der fingirten \u201eMarie Antoinette\u201c zu erkennen, wobei sich auch gleichzeitig feststellen liefse, welcher Epoche die hier nachgeahmten Schriften vermuthlich angeh\u00f6ren. Wahrscheinlich sind doch wohl die durch Frl. S. gegebenen \u201eauthentischen\u201c Schriften jener weltgeschichtlichen Gr\u00f6fsen einfache Nachbildungen irgendwo gesehener Muster, \u00e4hnlich wie es sich mit dem arabischen Sprichwort zu verhalten scheint. \u2014 Endlich w\u00fcrde auch der Physiologe an dem Falle sein Interesse haben und z. B. die eigenth\u00fcmlichen\u00bb m\u00fchsamen und schmerzhaften Wandlungen beobachten k\u00f6nnen, die in der Kehle des Mediums vor und nach der Erzeugung der tiefen M\u00e4nnerstimme Cagliostro\u20198 Vorgehen.\nEinmal angenommen, alle die hier aufgeworfenen Fragen f\u00e4nden mit der Zeit eine befriedigende L\u00f6sung, so bliebe der vorliegende Fall immer noch ein wunderbares Beispiel f\u00fcr die z\u00e4he und erfinderische Energie, mit der der Instinct der Selbsterhaltung (im weitesten Wortsinn) in den unter-bewufsten Schichten arbeitet. Es darf nicht unerw\u00e4hnt bleiben, dafs Frl. S. sich der wissenschaftlichen Betrachtungsweise Floubnoy\u2019s gegen\u00fcber \u00e4ufserst skeptisch verh\u00e4lt und darin einen trostlos n\u00fcchternen, schlechtbegr\u00fcndeten","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Liter aturbericht.\n147\nund parteiischen Angriff auf ihr geistiges Besitzthum sieht. W\u00fcrde sie einem \u201enat\u00fcrlichen\u201c Erkl\u00e4rungsversuch ihres Falles Beifall schenken, so ist zu vermuthen, da\u00df der Reichthum ihrer Phantasie langsam schw\u00e4nde und damit auch ihre dramatische Gestaltungskraft bedenklich verarmte\u00bb Immerhin mufs allein schon die Bekanntschaft mit der scharfsinnigen TJngl\u00e4ubigkeit Flournoy\u2019s eine gewisse Unruhe in den unterbewussten Schichten erzeugen und die angezweifelte wunderbare Gabe zu h\u00f6chster Leistungsf\u00e4higkeit und gr\u00f6fster Vorsicht anspornen. Es ist h\u00f6chst unterhaltend zu sehen, wie es dem Experimentator denn doch oft gelingt, Schwankungen und Widerspr\u00fcche bei dem tollen Treiben der Geister zu erkennen und wie diese dann sich \u00e4ngstlich bem\u00fchen, bei sp\u00e4teren Gelegenheiten sie auszugleichen und zu verwischen. Auch vorbeugende Sehutzmaafsregeln, die ein sorgf\u00e4ltiges Ausweichen vor der Gefahr des Compromittirens erreichen wollen, lassen sich deutlich erkennen. Flournoy ist aber auch boshaft genug, jeden kleinsten Anlafs zu einer Entlarvung der Geister zu benutzen, so z. B. Marie Antoinette von Eisenbahnen und Telegraphen zu unterhalten, sie eine Cigarette rauchen zu lassen, um hintennach, wenn sie sich fangen liefs, das Unzeitgem\u00e4\u00dfe des Verfahrens geh\u00f6rig zu beleuchten. Das Medium sucht solche nun einmal geschehene Versehen durch erh\u00f6hte Leistungen wieder vergessen zu machen. Mit welchem Geschick das Unterbewufstsein alle nur irgend zu verwerthenden Angaben aufgreift, um sie an geeigneter Stelle in seinen Incarnationen mit selbstverst\u00e4ndlicher .Nat\u00fcrlichkeit zu verwenden, mufs im Einzelnen bei Flournoy nachgelesen werden. Hier sei nur festgestellt, dafs ein geschickter Experimentator eine Steigerung der Leistungskraft des Mediums bis zu ihren \u00e4ufsersten Grenzen erzeugen kann. Die \u201eUltramarsperiode\u201c ist daf\u00fcr ein gl\u00e4nzendes Beispiel. Als Flournoy Fri. S. in wachem Zustand seine s\u00e4mmtlichen Bedenken gegen den authentischen Charakter der Marsperiode mitgetheilt hatto, machte sich bei den folgenden Sitzungen in den Incarnationen dieses Cyclus starke Ver\u00e4nderungen bemerkbar (eine neue, stark vereinfachte Sprache, andere H\u00e4userzeichnungen u. s. w.) die allen Ausstellungen Flournoy\u2019s gewissenhaft Rechnung trugen, ohne positiv sch\u00f6pferischer zu wirken. Hier war offenbar die plastische Kraft des Unterbewnfstseins ersch\u00f6pft. Auch der deutliche Parallelismus der in den drei Oyclen auftretenden Personen (Cagliostro : Marie Antoinette = Kanga : Simandini \u2014 Astan\u00e9 : Esenale = Leopold : Helene Smith) ist ein Anzeichen, dafs auch der reichsten Erfindungskraft Schranken gesetzt sind. Daraus l\u00e4\u00dft sich nun freilich nicht schlie\u00dfen, da\u00df von unseren Medium nichts mehr zu erwarten w\u00e4re. Flournoy hat vielmehr uns der Werkst\u00e4tte ihres Unterbewu\u00dftseins im Anhang seines Buches schon Bruchst\u00fccke zum Besten gegeben, die sehr wohl zu einem neuen Ganzen sich f\u00fcgen und das Bisherige \u00fcbertreffen k\u00f6nnten. Gelten doch offenbar in dem Reich plastischer Phantasie die gleichen Gesetze der Kraftansammlung und -Verausgabung, der Erm\u00fcdung und Ruhe, wie in dem der todten und lebenden Natur. Niemand wei\u00df also, welche Ueberraschungen das Medium uns noch bereiten wird ? \u2014 M\u00f6ge Flournoy sie uns nicht vorenthalten und den Schleier des Geheimnisses mit ebensoviel Geduld und Geschick zu l\u00fcften wissen.\nPlatzhofp (Tour-de-Peilz, Schweiz).\n10*","page":147}],"identifier":"lit31624","issued":"1901","language":"de","pages":"141-147","startpages":"141","title":"Th. Flournoy: Des Indes \u00e0 la plan\u00e8te Mars. Etude sur un cas de somnambulisme avec glossolalie. Paris, Alcan; Gen\u00e8ve, Eggimann & Cie.; 1900 420 S. 2. Aufl","type":"Journal Article","volume":"25"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:35:12.551438+00:00"}