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{"created":"2022-01-31T16:29:24.391024+00:00","id":"lit31707","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Groos, K.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 25: 277-283","fulltext":[{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n277\nH, Gr\u00fcnewald. Ueber den Fehler der Grausamkeit. Kindcrfehler 5,1. 1900.\nEin achtj\u00e4hriger, intelligenter Knabe, Sohn eines j\u00e4hzornigen und rohen Fuhrknechtes, findet ein Vogelnest mit Eiern, nimmt den Vogel gefangen, hackt ihm mit einem Beile zu Hause den Kopf ab und \u00f6ffnet demselben sodann den Leib, \u201eum zu sehen, wie es inwendig aussieht4*. Wie soll man sich die grausame Handlungsweise erkl\u00e4ren?\nWenige Wochen zuvor hatte der Knabe in der Schule die Gedichte \u201eVogel am Fenster\u201c und \u201eKnabe und Vogel\u201c von Hat, die sich sehr gut zur Erweckung des Mitgef\u00fchls mit der Thierwelt eignen, genau kennen gelernt. Doch war dieser Einflufs der Schule sichtlich durch die Eindr\u00fccke ans der h\u00e4uslichen Umgebung des Knaben unterdr\u00fcckt worden. Der Vater behandelte die Pferde grausam ; in der benachbarten Metzgerei wohnte der Knabe \u00f6fters dem Schlachten des Viehs bei.\nOder sollte es der Knabe aus Neugier gethan haben ? Diese an sich keineswegs zu verachtende Empfindung mufs sich stets einem ethischen Princip unterordnen! Verf. glaubt \u201evom p\u00e4dagogischen Standpunkt gegen die Berechtigung dieses Modus der Neugierde entschieden Protest erheben zu m\u00fcssen\u201c. Der Nachahmungstrieb, die Neugierde, vielleicht auch angeborene Antipathie (?) und eine nicht n\u00e4her zu bestimmende, entwickelte Anlage zur Grausamkeit errangen \u00fcber die durch den Unterricht vermittelten ethischen Normen den Sieg.\nRef. h\u00e4lt obigen Vorfall f\u00fcr kein typisches Beispiel des bei Kindern oft zu beobachtenden Fehlers der Grausamkeit, Gef\u00fchlsrohheit oder Hartherzigkeit, da der Knabe den Vogel absichtlich schnell t\u00f6dtete und ihn zur Besichtigung \u00f6ffnete. Der Knabe hat eben durch die eigenartigen Umst\u00e4nde die gew\u00f6hnlich bei Kindern auftretende Scheu, gr\u00f6fsere Thiere zu t\u00f6dten, fr\u00fchzeitig \u00fcberwunden. Besitzt er darum den Fehler der Grausamkeit? Es entspricht doch wohl nicht dem Sprachgebrauch, diese Eigenschaft jedem Schl\u00e4chter oder Jagdliebhaber, von denen doch mancher die denkbar beste Erziehung genossen hat, beizulegen.\nK. Pappenheim (Gr.-Lichterfelde).\nM. Dessoir. Beitr\u00e4ge zur lesthetlk. Arch. f. syst Philos. 3 (1897), 374\u2014388;\n4 (1898), 78\u201496 ; 5 (1899), 69-89, 454-492 ; 6 (1900), 470\u2014501.\nDilthky\u2019s Forderung einer Individualpsychologie hat vielfach anregend gewirkt, so auch auf den Verf. dieser \u201eBeitr\u00e4ge\u201c. Dessoir geht von dem Gedanken aus, dafs die h\u00f6chste Form einer das Individuelle erfassenden Seelenkunde in der Menschenkenntnifs des K\u00fcnstlers, vor Allem des Dichters zu finden sei. Er gelangt so zu vier Studien \u00fcber wichtige Prin-cipienfragen, von denen ein nicht unbetr\u00e4chtlicher Theil \u00fcber das speciell \u00e4sthetische Gebiet hinausgreift und ebenso gut als Beitrag zu einem System der geistigen Bestrebungen des Menschen \u00fcberhaupt bezeichnet werden k\u00f6nnte.\nI. Der erste Aufsatz tr\u00e4gt die Ueberschrift \u201eSeelenkunst und Psychognosis\u201c. In der Psychologie verflechten sich, h\u00e4ufig Verwirrung erzeugend, drei verschiedene Betrachtungsweisen. Das religi\u00f6s-moralische Interesse schuf die \u201eSeelentheologie\u201c, das naturwissenschaftliche die \u201eSeelenphysik\u201c, das praktisch-k\u00fcnstlerische die Seelenkunst. Das","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nLiteraturbericht.\nObject der Seelentheologie (der Ausdruck ist wohl nicht besonders gl\u00fccklich gebildet) ist di\u00a9 unsterblich\u00a9 Seelensubstanz, die Seelenphysik sucht aus gesetzm\u00e4fsig sich verkn\u00fcpfenden Einheiten ein Ganzes zusammenzusetzen, die Seelenkunst, deren urspr\u00fcnglicher Gegenstand der Charakter iat, geht von den h\u00f6chsten Gebilden ans und versteht den Anfang als einen Keim, aus dem sich alles zweckm\u00e4fsig entfaltet hat. Die Seelenkunst im engeren Sinn (im weiteren Sinn w\u00fcrde sie nach D. auch die Geschichte des Seelenlebens und damit \u2014 was mir weniger einleuchtet \u2014 di\u00a9 speculative Entwickelngepsychologie des deutschen Idealismus umfassen) erforscht \u201edie Besonderheit des Individuums\u201c und soll, da andere Ausdr\u00fccke wie \u201eCharakterologie\u201c, \u201eIndividualpsychologie\u201c etc. mangelhaft sind, den Namen Psychognosis f\u00fchren. Die Psychognosis verwendet die altbew\u00e4hrten Mittel der Beschreibung,Zergliederung und Vergleichung in besonderen Modificationen. Von den Ausf\u00fchrungen, die D. hier\u00fcber giebt, ist am wichtigsten di\u00a9 Besprechung des dritten Mittels, wo er mit Recht betont, dais die wissenschaftliche Psychognosis unm\u00f6glich Individuel-psychologie in dem Sinne sein k\u00f6nne, als verzichte sie auf das Allgemeine. Auch sie sucht durch Vergleichung das Allgemeine, freilich nicht da\u00ab Abstract-Allgemeine wie die Psychologie, sondern das Concret-Allgemeine, z. B. das, was f\u00fcr die Rassen, Nationen, Berufsarten etc. charakteristisch ist (die Unterscheidung dieses Concret-Allgemeinen vom Typischen scheint mir nicht v\u00f6llig gelungen zu sein).\nII.\t\u201eVom Gegensatz zwischen Wissenschaft und Konst\u201c Das hinter den Erscheinungen verborgene wahre Wesen, der Welt haben weder Kunst noch Wissenschaft zu suchen \u2014 das ist Sache 'der Religion und Metaphysik. Kunst und Wissenschaft finden ihren Gegenstand in dem unmittelbaren Leben, dessen unendliche Mannigfaltigkeit und Irrationalit\u00e4t (die lebhafte Darstellung gipfelt hier in der Versicherung, dafs Natur and Mensch in ihrer Gegebenheit nicht nur irrational, sondern sogar \u201eabsurd\u201c seien ; ganz so schlimm ist es wohl doch nicht I) sie nur dadurch bew\u00e4ltigen k\u00f6nnen, dafs sie es ver\u00e4ndern. Aber die Verschiedenheit des Zieles bringt bei dieser \u201eUmweitung der Welt\u201c tiefgreifende Unterschiede mit sich. Denn di\u00a9 Wissenschaft sucht den Inhalt des Erlebten erkennbar, di\u00a9 Kunst sucht ihn geniefsbar zu machen. Dort Beseitigung des Irrationalen, Ausschaltung der pers\u00f6nlichen Beziehungen, Analyse, Hervorheben denknothwendiger Zusammenh\u00e4nge, Unanschaulichkeit. Hier Ab\u00e4nderungen ganz anderer Art: die Kunst bew\u00e4ltigt die Erlebnisse durch Subjectivirtmg und l\u00e4fst sie dabei in ihrer sinnlichen Eindringlichkeit bestehen; daher Anschaulichkeit, Hervorheben des Pers\u00f6nlichen, teleologische Gesichtspunkte, Synthese. Dieser synthetische Charakter offenbart sich vor Allem in dem Bestreben, ein abgeschlossenes Ganzes mit beherrschendem Mittelpunkt zu gehen, das auf sich selbst beruht und nur durch sich selbst wirkt.\nIII.\t\u201eVom Zusammenhang zwischen Wissenschaft and Kunst.\u201c Die beiden im zweiten Beitrag unterschiedenen Gebiet\u00a9 stehen in Verbindung, und zwar sowohl in bewufster als in unwillk\u00fcrlicher.\nA) Ala bewufste Verbindung ist einerseits die Aestbetik, andererseits die Didaktik zu bezeichnen. D. beschr\u00e4nkt sich, abgesehen","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Lit eratwrbericht.\n279\nvon ein paar h\u00fcbschen Bemerkungen \u00fcber die k\u00fcnstlerische Didaktik, auf die Besprechung der ersten bewufsten Verbindungswege und hier wieder auf den \u00e4sthetischen Genufs, da der k\u00fcnstlerischen Production ein besonderer Beitrag gewidmet ist. Bei den h\u00f6heren Processen \u00e4sthetischen Geniefsens lassen sich vier Factoren unterscheiden:\n1.\tDer individuelle Factor wurzelt nicht im Kunstwerk selbst, sondern ^besteht in dem, was der Geniefsende aus dem Vorrath der eigenen Seele dem Kunstwerk entgegenbringt\u201c. Hierher rechnet D. die pers\u00f6nliche Auflassung, Erinnerung an fr\u00fchere Erfahrungen oder \u00e4hnliche Kunsteindr\u00fccke, ferner die Gef\u00fchle, die aus der Umgebung und Darbietung des Werkes entspringen (eine triviale Serenade kann in Venedig gefallen, weil man sie eben in Venedig h\u00f6rt). \u2014 Mir scheint hier die Definition nicht ganz befriedigend zu sein, da jenes \u201eEntgegenbringen\u201c wohl weiter reicht als das, was der \u201eindividuelle Factor\u201c umgrenzen soll. Jedenfalls verdient aber dieser Factor ein eingehendes Studium. Er tritt z. B. auch in dem V erh\u00e4lt nifs hervor, das die \u00fcbrigen Factoren in der Seele des Individuums je nach seiner Eigenart einnehmen.\n2.\tDer ethische Factor. Hierher rechnet D. die sexuellen und sympathischen Tendenzen. Bei letzteren erw\u00e4hnt er die Theorie der Einf\u00fchlung, die nach seiner Ansicht nicht auf alles \u00e4sthetisch Wirksame ausgedehnt werden kann; immerhin zeigen die angef\u00fchrten Ausnahmen selbst (die ich \u00fcbrigens nicht ohne Weiteres gelten lassen w\u00fcrde) di\u00a9 Wichtigkeit des Begriffes. Den Ausdruck: ethischer Factor k\u00f6nnte ich nur dann als gen\u00fcgend anerkennen, wenn man \u201eethisch\u201c im allerweitesten Sinne nehmen wollte, etwa als das Gebiet der Willens- resp. Triebregungen.\n3.\tDer rationale Factor umschliefst alle Gef\u00fchle, die dem Wissen \u00fcber den Gegenstand entspringen, ja \u201eman kann geradezu sagen, dafs alles Interesse an einem dargestellten Gegenstand dem rationalen Factor zugeh\u00f6rt\u201c. \u2014 Hier sagt D. viel Zutreffendes; doch m\u00fcfste nach meiner Ansicht an dieser Stelle der Begriff des \u00e4sthetischen Urtheils, wie es auch zur \u00e4sthetischen Anschauung des Nichtkenners, geh\u00f6rt, in seinen Hauptl\u00fcgen bestimmter hervorgehoben werden.\n4.\tDer k\u00fcnstlerische Factor. \u201eSein eigenstes Becht sind die verfeinerten sinnlichen Gef\u00fchle, . . . die Lust am Sinnf\u00e4lligen in Menschenschicksal und Sprache, an der r\u00e4umlich-farbigen Sichtbarkeit, an akustischen und rhythmischen Beizen.\u201c \u2014 Mit dem hier gew\u00e4hlten Terminus stimmt die Thatsache gut \u00fcberein, dafs bei dem Geniefsen des Kenners und K\u00fcnstlers meistens eine Umst\u00fclpung des naiven und nat\u00fcrlichen Geniefsens stattfindet, indem z. B. der Gegenstand eines Gem\u00e4ldes nur noch als dienendes Mittel f\u00fcr ein sinnliches Farben- nnd Formenspiel erscheint. Trotzdem w\u00fcrde ich einen anderen Ausdruck vorziehen, weil die nicht \u201everfeinerte\u201c Lust am Sinnf\u00e4lligen viel weiter reicht als das specifisch K\u00fcnstlerische im Geniefsen; diese elementareren Factoren m\u00fcssen aber doch auch ber\u00fccksichtigt werden, selbst wenn man sich auf die Analyse h\u00f6herer Processe beschr\u00e4nkt.\nDie Betrachtungen \u00fcber die Aesthetik schliefsen mit einer Besprechung des Zeitverlaufs h\u00f6herer \u00e4sthetischer Eindr\u00fccke, die aber trotz der Mittheilung von Versuchen in der Selbstbeobachtung, welche Verf. durch","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nLiteraturbericht,\nStudenten unternehmen liefe, mehr die verwirrende Mannigfaltigkeit der psychischen Vorg\u00e4nge zeigt als zu greifbaren Resultaten f\u00fchrt. Bo w\u00fcrde ich dem, was D. \u00fcber Unterschiede des Zeitverlaufs in den einzelnen Kunstgattungen sagt, nach meinen eigenen Erfahrungen fast durchweg ein Fragezeichen anhttngen. Wenn es z. B. von der bildenden Kunst heilst, der unbefangene Betrachter sehe und geniefse zun\u00e4chst nur R\u00e4umliches und Farbiges, und der zeitlich sp\u00e4tere Eindruck der Bedeutung der dunklen und lichten Flecken sei verbunden mit der Einf\u00fchlung, so kann ich das kaum als die allgemeine Regel ansehen. Wenn wirklich ein bedeutungsvoller Inhalt da ist, so fesselt mich dieser zuerst. Selbst bei einem B\u00f6ckli\u00bb, den ich. zum ersten Male sehe, mag die Wucht des farbigen Eindruckes zwar die Aufmerksamkeit auf das Bild lenken, aber zu einem ruhigen Geniefsen der Farben kommt es bei mir doch erst, wenn die Frage des \u201eWas\u201c erledigt ist. Ist dies geschehen, so folgt (neben aufser\u00e4atbe-tischen Zust\u00e4nden, wie Kritik, Mittheilungsdrang u. dergl.) ein Wechsel von inhaltlichem Miterleben und Freude an Farbe und Form, in dem es mir kaum m\u00f6glich erscheint, eine Gesetzm\u00e4fsigkeit aufzudecken. \u2014 Viel mehr als ein solches Schwanken zwischen verschieden \u00e4sthetischen und aufser\u00e4sthetischen Zust\u00e4nden ergeben aber auch die mitgetheilten Versuche f\u00fcr das Problem des Zeitverlaufes nicht, so interessant sie auch in manchen Einzelnheiten sind. Kur zwei Bemerkungen seien noch hinzugef\u00fcgt. Wenn auf Grund der Versuche zwischen solchen unterschieden wird, die sich dem Kunstwerk v\u00f6llig hingeben und solchen, deren Gef\u00fchle und Gedanken eigentlich nicht am Kunstwerk haften, sondern dadurch nur frei gemacht werden und nach anderen Richtungen sich bewegen, so w\u00fcrde ich nur in dem ersten Verhalten ein \u00e4sthetisches Geniefsen sehen. Die zweite Art des Verhaltens ist nicht speciell an \u00e4sthetische Darbietungen gebunden sie kann Bich ebenso gut beim Anh\u00f6ren eines wissenschaftlichen Vortrags oder einer Predigt einstellen und sehr genufsreich sein ; aber man ist eben dann ein \u201eschlechter Zuh\u00f6rer\u201c. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dafs bei diesen Versuchen, wie dies \u00fcbrigens D. selbst eindringlich hervorhebt, die Selbstbeobachtung aufserordentlich gef\u00e4hrlich ist. Wenn z. B. der junge Amerikaner, der seine Erlebnisse bei der Leet\u00fcre der Kerkerscene im Faust so interessant schildert, sich bei der Stelle: \u201eMitten durchs Heulen und Klappern der H\u00f6lle etc.\u201c aufschreibt : \u201eStarke Geh\u00f6rsvorstellungen ; Bilder von Teufelchen und rothen Flammen\u201c, so sind das Associationen, die bei einer k\u00fcnstlichen Verlangsamung der Leet\u00fcre auftreten m\u00f6gen; im vollen Genufs selbst wird man aber schwerlich etwas Anderes erleben als das Hervorbrechen eines unendlichen Jubels aus tiefstem Jammer.\nB) Unwillk\u00fcrliche Verbindung: Geschichtswissenschaft und Dichtkunst. Dieser Theil der Untersuchungen, dessen Besprechung ich m\u00f6glichst kurz halten m\u00f6chte, geht von der Wissenschaft aus und sucht ihre unwillk\u00fcrlichen Verbindungen mit der Kunst, speciell der Dichtkunst nachzuweisen. Zuerst wird festgestellt, dafs bei der schwer durch-zuf\u00fchrenden, aber auf thats\u00e4chlichen Differenzen beruhenden Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften ein wichtiges Moment beachtet werden mufs: \u201edie geschichtlichen Wissenschaften vom 'Leben und vom Geist sind n\u00e4mlich mit Voraussetzungen, Hilfsmitteln, Methoden und","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht\n281\nZweckbestimmungen der Kunst erheblich versetzt\u201c. Dafs hierauf zum guten Theil ihre Eigent\u00fcmlichkeit beruht, sucht D. am Beispiel der Historie zu zeigen, nachdem er lesenswerte Er\u00f6rterungen \u00fcber die praktisch-technischen Beziehungen der Wissenschaft und \u00fcber die streng theoretische Beite der Historie vorausgeschickt hat. Als formale Verbindungen der Geschichtswissenschaft und Poesie werden hervorgehoben: 1. das Auswahlen typischer Verbindungen; 2. das k\u00fcnstlerische Analogiegef\u00fchl \u2014 der Historiker verh\u00e4lt sich zu seinem Helden wie der Dichter zu seinem Modell; 3. die psychognostische Art der Darstellung, wobei auch der Historiker \u201eunsere innere Nachahmung in\u2019s Spiel\u201c setzt; 4. die \u201esch\u00f6ne\u201c Darstellung. In materialer Hinsicht ist der Stoff beiden Gebieten vielfach gemeinsam.\nAndererseits findet man in der Kunst mancherlei, was in das Gebiet der Wissenschaft hin\u00fcbergreift. Vieles in der Dichtkunst, besonders im Boman, mufs wissenschaftlich verstanden werden \u2014 das Stoffliche als solches ist \u00fcberhaupt nicht k\u00fcnstlerisch, ebensowenig die \u201eErfindung\u201c, wie eie etwa im spanischen Intriguendrama vorherrscht. Auch kann der Dichter, was das rein Formale anlangt, die abstracto Redeweise keineswegs austilgen. \u2014 Die Anf\u00e4nge der Epik und der bildenden Kunst zeigen die Verflechtung des K\u00fcnstlerischen und Wissenschaftlichen besonders deutlich, und dasselbe gilt von der ontogenetischen Entwickelung: das Kind hat z, B. eine logische Art, zu zeichnen. \u2014 Den Schlufs des dritten Beitrags bilden kritische Er\u00f6rterungen \u00fcber unberechtigte Ann\u00e4herungen der Zeichenkunst und Musik an das Logisch-Wissenschaftliche und \u00fcber die Neigung der modernen Aesthetik, sich mit den in der \u201eNiederkunst\u201c wirkenden Factortm zu besch\u00e4ftigen. Wenn D., der hierbei die rein k\u00fcnstlerischen Merkmale der \u201eHochkunst\u201c hervorhebt, den Terminus \u201eIllusion\u201c mit dem Hinweis auf die Musik bek\u00e4mpft (\u201ewo sollte hier das Reale, wo die Illusion stecken?\u201c), so bemerke ich dazu: unter \u00e4sthetischer Illusion \u2014 \u00fcber die Berechtigung des Ausdrucks streite ich hier nicht \u2014 ist Verschiedenes verstanden worden, vor Allem dreierlei, n\u00e4mlich die Copie-Original-Illusion (Lahor), die Beseelungs-Illusion (z. B. Siebeck) und die Illusion des Miterlebens (z. B. Lotzb); wenn in der Musik, soweit sie nicht nachahmt, die erste fehlt, so bleiben doch die zwei anderen Formen noch .\u00fcbrig.\nIV. Die Seeienkenntnifs des Dichters. Zu dieser h\u00f6chsten Stofe der Psyehognosis geh\u00f6rt vor Allem das Miterleben einer fremden Pers\u00f6nlichkeit. Was D. hier ausf\u00fchrt, steht zugleich in engem Oonnex mit den Problemen des \u00e4sthetischen Geniefsens und ist so von doppeltem Interesse. Das k\u00fcnstlerische Miterleben hat seine Grundlage in dem zuverl\u00e4ssigen und bereiten Ged\u00e4chtnifs f\u00fcr alle die M\u00f6glichkeiten, die der Dichter in seinem Werden durchlaufen hat; so entsteht eine gr\u00f6fsere und \u00bbscher\u00a9 F\u00e4higkeit des sich Einf\u00fchlens \u2014 wer viel besitzt, kann viel \u201eleihen\u201c. Die Triebfeder aber ist das, was Ref. einmal die \u201eWanderlust\u201c der Seele genannt hat. Was schon der Nichtk\u00fcnstler versp\u00fcrt, das ist in hohem Ma&fs\u00a9 dem Dichter eigen: der Drang sich von seinem Ich und seiner Umgebung durch Phantasie zu befreien, indem er sich in ein anderes Erleben hineintr\u00e4umt und durch solche spielenden Umformungen oder Umf\u00fchlungen die Lust am Anderssein, die Freude an der Metamorphose ge*","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nLitcraturbericht.\nmeist. So lit an\u00ab Jugend und Phantasieepiel geflossen, was der Dichter von dem Menschen en sagen weift.\nIndem sich nun der Poet auf Grand dieser F\u00e4higkeiten in gegebene Individualit\u00e4ten einlebt, darf sich das Subject nicht v\u00f6llig in die fremde Individualit\u00e4t verlieren, das Object mois doch Object bleiben. Manches l\u00e4ftt sich nur ans dieser \u201eZwiesp\u00e4ltigkeit\u201c erkl\u00e4ren, so s. B, der leis\u00a9 Zig von Melancholie, der die poetische Darstellung unber\u00fchrter jugendlicher Seelen, so oft begleitet. Aus Unterschieden in diesem Verh\u00e4ltnift leitet D. den Gegensatz von \u201esentimental\u201c und \u201enaiv\u201c oder von \u201eIch- und Sach* dichter\u201c ab (wie es Otto Ludwig genannt hat).\nWie l\u00e4fst sich nun der einzelne psychognostische Vorgang wissenschaftlich ans seinen Elementen erkl\u00e4ren ? Wenn ich einen Anderen lachen sehe und mich \u201emitfreue\u201c, so verlege ich 1. das Vergn\u00fcgen (von dem ja blos der k\u00f6rperliche Ausdruck \u201egegeben\u201c ist) In dl\u00a9 fremde Person; 2. kommt es zu einer unwillk\u00fcrlichen Nachahmung, einer \u201efast zwangsartigen Mitbewegung\u201c, di\u00a9 auch in schwachen Andeutungen noch wirksam sein kann. Das ist gerade fir die Seelenkenntnife de\u00ab Dichters wichtig: \u201edurch die Vermittelung von Nachahmung\u00ab-bewegungen hat \u00a9r Theil an der Freude oder an dem Zorn*. Es mag dahingestellt bleiben, ob der Affect des realen Lebens gewisse Organempfindungen hervorruft oder ans ihnen besteht ; bei dem k\u00fcnstlerischen Erleben ist jedenfalls die Erregung eine Folge solcher k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge, wobei noch \u201egenug W\u00e4rme\u201c zur\u00fcckbleibt nnd trotzdem die Freiheit der Production ungest\u00f6rt Ist. Es ist dabei von Vortheil, wenn di\u00a9 motorischen Vorg\u00e4nge und die durch sie ansgel\u00f6sten Empfindungen nur In den zartesten Ans\u00e4tzen vorhanden sind, weil dann einerseits leichter und reichlicher Vorstellungen assoclirt werden und andererseits auch geeignete, der Besonnenheit entstammende Hemmungen eintreten k\u00f6nnen.\nNat\u00fcrlich mufe aber die Auffassung des Dichters von den einzelnen Processen zu dem psychognostischen Beherrschen des ganzen Charakter\u00ab Vordringen, wobei die unbewufsten k\u00f6rperlichen Aeufserungen von besonderem Werthe sind. Die Individualit\u00e4t wird geschildert durch die Art* wie sich receptive und active, ver\u00e4nderliche und stete Naturen \u00e4uftern, wie sie auf besondere Anl\u00e4sse antworten und wie sich in der Reaction die seelische Energie vertheilt. Die Lust an der Metamorphose und noch mehr die Wirkung intensiver Erregung f\u00fchrt hier den K\u00fcnstler weit \u00fcber da\u00bb Ideal-Sch\u00f6n\u00a9 und Harmonische hinaus. \u201eEs ist eine Verleumdung de\u00ab Menschen, zu behaupten, dafs er \u00fcberall, das Ideal-Sch\u00f6ne und Harmonische suche; was er will, das ist nicht di\u00a9 blofse Lust, sondern Leben, d. h. Erregung und Kampf.\u201c \u2014 Die Seelenerkenntnifs vollendet sich achliefslicb erst im Schaffen selbst, wie etwa beim Sprechen der Gedanke wobl im Ganzen vor der Seele schwebt, aber doch erst w\u00e4hrend der Th\u00e4tigkeit zur vollen Entfaltung und Auspr\u00e4gung kommt. Was D. im Anschluft hieran weniger ausf\u00fchrt als andeutet ist kaum, in einem Referat wieder-zugeben; ich will daher lieber den. Verl, der am Schl\u00fcsse eine Zusammenfassung versucht, seihst reden lassen. \u201eDes Dichters Erleben ist. kein 'Beobachten, sondern ein zweckloses und daher vollst\u00e4ndiges Auffassen zumal der eigenen Seelenvorglnge. In Folge dieser Totalit\u00e4t ist di\u00a9 Uebereii-","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n283\nStimmung der Thell\u00a9 vorher da, wie bei dem Satz, den ich zu sprechen beginne. Selbst wer anscheinend treu nach einem Modell arbeitet, repro-docirt nicht den Seelen- und Lebenszusammenhang des Originals, sondern giebt etwas, was k\u00fcnstlerisch befriedigt und durch eine in Urtheilen erfolgende Pr\u00fcfung sicher gestellt wird. Ein paar Charakterz\u00fcge gen\u00fcgen, um einen ganzen Menschen anschaulich zu machen. Das geschieht kraft des urspr\u00fcnglichen Zusammenhanges und durch eine Art Ausstrahlung, wie wir mit R\u00fccksicht auf die physiologische Grundlage und auf \u00e4hnliche gangbare Ausdr\u00fccke (Verschmelzung u. dergl.) sagen durften. Die Individualit\u00e4t, an ihren unbewussten Aeufserungen am leichtesten kenntlich, erweist sich dem Werthcharakter des Lebens entsprechend in ihrem-Sewn als ein Gebilde aus Gef\u00fchl und Wille. Ihre Besonderheit kann nach Inhalt und Function mit den mannigfaltigsten Mitteln dargestellt werden.\u201c\nMit diesem vierten Beitrag schliefst die Serie. Er ist neben der ersten H\u00e4lfte des dritten Beitrags f\u00fcr die centralen Probleme der Aesthetik am wichtigsten. Dafs hier D. bei der Analyse des k\u00fcnstlerischen Miterlebens vielfach zu \u00e4hnlichen Resultaten kommt wie ich bei der Analyse des Miterlebens im \u00e4sthetischen Genufs, ist mir besonders erfreulich.\nK. Gboos (Basel).\nL. Ma\u00fcullier. L\u2019origine des dieu. Rev. philos. 48 (7), 1\u201428; (8), 14B\u2014181.\n(9), 225\u2014262. 1899.\nVorstehende Abhandlung besteht aus zwei Theilen, aus einem ausf\u00fchrlichen Bericht \u00fcber Giant Allen\u2019s Buch, The evolution of the idea of God, an inquiring into the origins of religions (1897) und einer Kritik der in diesem Buche vertretenen Anschauungen, Methoden und Schl\u00fcsse.\nGr. Allen ist ein Sch\u00fcler H. Spencbb\u2019s. Gleich diesem geht er vom Euhemerismus aus und erkennt in der Verehrung der Todten und der Gr\u00e4ber die alleinige Quelle f\u00fcr all\u00a9 religi\u00f6sen Gebr\u00e4uche und Gef\u00fchle. Dementsprechend ist sein Grundsatz: Ein Gott ist ein Verstorbener, der als Geist oder Gespenst sich selbst \u00fcberlebt, bekleidet mit erh\u00f6hter Macht und \u00fcbernat\u00fcrlichen Eigenschaften. Nicht weniger eng ist sein Begriff der Religion. Sie ist nach seiner Auffassung weiter nichts als eine Summe von Ceremonien. Er schliefst also jede Theologie, jede Mythologie, jede Moral aus und zwar deshalb, weil diese letzteren Factoren sich stets \u00e4ndern, nur jener erster\u00a9 constant sei. Diese Ceremonien nun haben keinen anderen Zweck als das Wohlwollen der Verstorbenen und ihre H\u00fclfe zu gewinnen oder ihren Zorn zu beschwichtigen durch Darbringung von Nahrungsmitteln und anderen Opfern. Je nach den Anschauungen, welche ein Volk hat \u00dcber di\u00a9 Art des Fortlebens und \u00fcber die Rolle, welche der K\u00f6rper dabei spielt, sind die Bestattungsweisen verschieden und daran anschliefsend die Formen der Todteuverehrung und weiterhin der Theorie zufolge auch die Formen der Gottes Verehrung. Vor Allem sind es, nach Grant Allen, di\u00a9 Herrscher e\u00fcd Stammesh\u00e4upter, welche in den Rang von Gottheiten \u00fcbergeben. Ihre Gr\u00e4ber sind die erste Form der Tempel ; aus den Todtenbildera entwickeln sich die G\u00f6tterbilder; aus den Sklaven und Dienern, welche di\u00a9 Todtenopfer an den Gr\u00e4bern zu besorgen haben, gehen hervor die Tempel ebener und endlich die Priester. Den Kult von heiligen B\u00e4umen, Steinen","page":283}],"identifier":"lit31707","issued":"1901","language":"de","pages":"277-283","startpages":"277","title":"M. Dessoir: Beitr\u00e4ge zur Aesthetik. Arch. f. syst. Philos. 3 (1897), 374-388; 4 (1898), 78-96; 5 (1899), 69-89, 454-492; 6 (1900), 470-501","type":"Journal Article","volume":"25"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:29:24.391030+00:00"}