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{"created":"2022-01-31T14:26:04.576199+00:00","id":"lit31759","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schultze, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24: 357-359","fulltext":[{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n357\nAtome sind einander absolut un\u00e4hnlich. Die gleichen physikalischen Atome leiten ihre Individualit\u00e4t von ihrer Verschiedenheit im Raum her; zwei psychische Atome dagegen sind zwei, weil sie Eigenschaften haben, die nicht verglichen werden k\u00f6nnen. Alle physischen Processe k\u00f6nnen beschrieben werden als Bewegungen deUAtome; psychische Processe sind zu beschreiben als Variationen der Lebhaftigkeit der psychischen Atome. Alle Energien des Physikers sind Functionen der Bewegung der physikalischen Atome; alle Associationen, Hemmungen, Verschmelzungen des Psychologen sind Functionen der Lebhaftigkeit der psychischen Atome.\nMax Meyek (Columbia, Missouri).\nP J-M\u00f6bius. Ueber die Anlage zur Mathematik. Mit 51 Bildnissen. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1900. 331 Seiten. Mk. 7.\u2014.\nSchon im October vorigen Jahres hat M\u00f6bius in der Jahressitzung des Veieins Mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Leipzig einen Vortrag \u00fcber die Anlagen zur Mathematik gehalten. Dafs er bei seinen Anschauungen auf die Zustimmung der Versammlung nicht rechnen konnte, war vorauszusehen, und das hat er auch wohl selbst erwartet. In der Discussion wurden damals zahlreiche Einw\u00e4nde gegen seine Ansichten erhoben. Das dieser Untersuchung zu Grunde liegende Material \u00fcbergiebt M. hiermit der Oeffentlichkeit. Dafs es anziehend und fesselnd geschrieben ist, dafs es durch viele eingestreute Bemerkungen, die eines ausgesprochenen subjectiven Charakters nicht entbehren, gew\u00fcrzt ist, das braucht man bei einem Manne wie M\u00f6bius kaum hervorzuheben; und ebensowenig braucht auf die gute Ausstattung des bekannten Verlags hingewiesen zu werden.\nInteressant ist es, von M. zu erfahren, wde er, der gar nichts von Mathematik versteht, dazu gekommen ist, \u00fcber die Anlage zur Mathematik zu schreiben. Der Zufall hat hier wie so oft mitgespielt. An dem Bilde seines Grofsvaters, der Mathematiker war, war M. die eigenth\u00fcmliche Bildung der Umrandung des linken Auges aufgefallen. M. war sehr \u00fcberrascht, beim Studium von Gall\u2019s Werken diese Bildung als Merkmal des Zahlensinns beschrieben zu sehen. Und so beschlofs M., die GALL\u2019sche Lehre auf ihre Richtigkeit zu pr\u00fcfen und zwar nach dieser Richtung hin, da hier die Vorbedingungen f\u00fcr das Gelingen einer Forschung aufser-ordentlich g\u00fcnstig lagen.\nBedenkt man, dafs das mathematische Talent angeboren ist, dafs es sich v\u00f6llig unabh\u00e4ngig von anderen Geistesth\u00e4tigkeiten entwickelt, dafs es sich auch ohne Erziehung entfaltet, dafs es sich oft recht fr\u00fch und m\u00e4chtig kundgiebt, so kann man es als etwas Selbst\u00e4ndiges, als eine umschriebene Geistesf\u00e4higkeit, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, bezeichnen. Ist dem so, dann kann man auch vermuthen, dafs dieser besonderen Geistesbeschaffenheit auch eine k\u00f6rperliche Besonderheit entspricht. Ob Jemand mathematisches Talent hat, l\u00e4fst sich sicherlich bei den h\u00f6heren Graden leicht entscheiden. Auf der anderen Seite ist aber die fragliche Stelle am Sch\u00e4del jederzeit sichtbar und somit leicht zu untersuchen.\nM. giebt zun\u00e4chst den hier in Betracht kommenden Aufsatz von Gall (sens des rapports des nombres) wieder und berichtet \u00fcber den Entwickelungsgang vieler Mathematiker. Auch der mathematischen Weiber wird gedacht.","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nLiteraturbericht.\nIhre Zahl ist gering; das Mathematische ist eben der Gegensatz des Weiblichen; ein mathematisches Weib sei wider die Natur, sei in gewissem Sinne ein Zwitter, sagt geradezu M., der in gelehrten und k\u00fcnstlerischen Frauen nur das Ergebnifs der Entartung sieht (cf. die Schrift von M\u00f6bius: Der physiologische Schwachsinn des Weibes, Halle a. S., Marhold).\nDie Anlage zur Mathematik wird mit zur Welt gebracht; ihre Gr\u00f6fse und Eigenart wird vor der Geburt bestimmt; aber wie? das ist die grofse, noch ungel\u00f6ste Frage. M. unterwirft die Erblichkeit des mathematischen Talents einer eingehenden Besprechung und weist vor Allem auf die Familie Bernoulli hin, die eine Reihe von t\u00fcchtigen Mathematikern zu den Ihrigen z\u00e4hlte. M. kommt zu dem Schlufs, dafs das mathematische Talent zuweilen vererbt wird, und dafs dies dann durch den Vater geschieht. Auch bei den Weibern mit mathematischem Talent ist dieses v\u00e4terliches Erbtheil. Bisher ist noch in keinem Falle festgestellt, dafs die Mutter das Talent \u00fcbertr\u00e4gt. Best\u00e4tigt sich das, so h\u00e4tten wir das bemerkenswerthe Ergebnifs, dafs eine bestimmte Anlage nur von einer Seite vererbt werden kann. Es ist M. aufgefallen, dafs viele Mathematiker aus kinderreichen Familien stammen. Es besteht ein gewisser Zusammenhang der H\u00f6he der Cultur mit dem mathematischen Talent. Dafs Mathematiker einseitige Naturen sind, ist insofern richtig, als eben aufserordentliche und hervorragende Leistungsf\u00e4higkeit auf einem Gebiete eine Beschr\u00e4nkung in anderen Gebieten f\u00fcr gew\u00f6hnlich und naturgem\u00e4fs nach sich zieht. Es giebt aber auch Mathematiker, die neben ihrem mathematischen Talent noch ein anderes Talent besitzen. Oft finden sich musikalische Mathematiker. Auch die Beziehungen der Mathematik zur Theologie und Fr\u00f6mmigkeit, zur Jurisprudenz, Medicin, Philosophie, Philologie und schliefslich zur Poesie werden er\u00f6rtert.\nMathematisches Talent ist relativ selten; es d\u00fcrfte daher nicht angezeigt sein, die Mathematik zur Grundlage der h\u00f6heren Erziehung zu machen.\nDas mathematische Talent, das Verst\u00e4ndnifs der Zahlenverh\u00e4ltnisse macht allein noch keinen grofsen Mathematiker, wenn es auch die unentbehrliche Vorbedingung ist; es bedarf noch anderer Geistesf\u00e4higkeiten wie eines guten Ged\u00e4chtnisses, Scharfsinns, Urtheilskraft, Combinationsverm\u00f6gens, Fleifses, sowie eines lebhaften und feurigen Charakters.\nGeistige St\u00f6rungen sind nicht h\u00e4ufig bei den Mathematikern, wenn auch unter ihnen wie \u00fcberhaupt den Intellektuellen viele Nerv\u00f6se Vorkommen. Mathematiker werden wie diese oft alt. M. stellte wahllos 300 Mathematiker zusammen und berechnete daraus die durchschnittliche Lebensdauer auf 65,6 Jahre. Die durchschnittliche Lebensdauer von 100 ausgezeichneten Mathematikern betrug sogar 72 Jahre. Viele geh\u00f6ren einer langlebigen Familie an; allen ist M\u00e4fsigkeit eigen.\nGall verlegte das mathematische Organ auf den am meisten lateralen Theil des Daches der Augenh\u00f6hle in eine von vorne nach hinten ziehende Furche oder Einsenkung ; der \u00e4ufsere Theil des Orbitaldaches kann herabgedr\u00fcckt werden, so dafs er schr\u00e4g von oben innen nach unten aufsen zieht. Unter Umst\u00e4nden wird der laterale Theil der Orbita nach aufsen gedr\u00fcckt, so dafs der Processus zygomaticus oss. front, oder der \u00e4ufsere","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturb ericht.\n359\nobere Winkel des Randes der Augenh\u00f6hle seitlich \u00fcber die vordere Partie der Schl\u00e4fe vorspringt. M. bemerkt hierzu, dafs die Natur sich viele Variationen erlaubt, auch mehr, als Gall annehme, dafs das mathematische Organ nicht auf beiden Seiten gleich, sondern in der Regel links st\u00e4rker \u2022entwickelt sei, dafs es zumTheil in einer Verdickung der Weichtheile bestehe.\nEine Schilderung kann der Mannigfaltigkeit der Variationen nicht gerecht werden, daher spricht M. ganz allgemein von einer abnormen Bildung der Stirnecke, die auf eine Vergr\u00f6fserung des von der Stirnecke umschlossenen Raumes hinauslaufe. M. hat bisher noch keinen Kopf gesehen, der Gall\u2019s Meinung zu widerlegen im Stande sei. Die Gr\u00f6fse des Organs ist sogar im Allgemeinen der Gr\u00f6fse des Talents proportional, und alle Mathematiker haben mehr mathematisches Organ als die Nichtmathematiker. Gehe man etwa auf einer Naturforscherversammlung von der Section der Mathematiker zu der der Mediciner, so falle der Unterschied sofort auf; M. spricht hier geradezu von einer anderen Menschenrasse.\nIn einem besonderen Capitel bespricht M. die Verw^erthbarkeit der Bilder (Gypsabg\u00fcsse, B\u00fcste, Photographien, K\u00fcnstlerbilder), die nat\u00fcrlich oft an die Stelle der Untersuchung der lebenden Person treten m\u00fcssen, ohne sie freilich ersetzen zu k\u00f6nnen. M. bedauert bei der Gelegenheit sehr, dafs man nicht \u201ewissenschaftliche Portraits\u201c (unretouchirte Aufnahme von vorne, von rechts und von links) herstellt.\nNach der Natur und Art des mathematischen Talents ist die M\u00f6glichkeit zuzugeben, dafs seine Bedingung die Entwickelung einer umschriebenen Stelle der Gehirnrinde sei. Die Sinnesorgane haben mit dem mathematischen Talente nichts zu thun, also auch nicht die Sinnessph\u00e4ren. Die Ueberlegung weist auf das Stirnhirn, den specifisch menschlichen Hirn-theil, hin, und zwar im Besonderen auf den vorderen Abschnitt der dritten Stirnwindung, auf die Uebergangsstelle der zweiten zur dritten Windung. Dieser Stelle entspricht auch die oben erw\u00e4hnte Stirnecke, das mathematische Organ. Gall hatte an diese Stelle bereits den Zahlensinn verlegt. Die Analogie zum Sprachcentrum l\u00e4fst es dann auch erkl\u00e4rlich erscheinen ; warum gerade auf der linken Seite das mathematische Organ besonders ausgepr\u00e4gt ist. Die anatomischen Untersuchungen, die R. Wagner, Thomas Dwight, Gustav Retzius und D. Hansemann an den Gehirnen grofser Mathematiker (Gauss und Lejeune - Dirichlet \u2014 Wright \u2014 Gyld\u00e9n \u2014 Helmholtz) ausgef\u00fchrt haben, sprechen nicht dagegen, dafs die ungew\u00f6hnliche Entwickelung der genannten Rindenstelle Bedingung des mathematischen Talents genannt werden k\u00f6nne. Brauchbare Sch\u00e4deluntersuchungen fehlen zur Zeit noch.\nIn einem l\u00e4ngeren Nachtrag wird M. den Verdiensten von Franz Joseph Gall um die Anatomie, Psychologie und Physiologie gerecht und zeigt in anschaulicher Weise, welche scharfe Verurtheilung sich Gall von seinen zahlreichen Gegnern gefallen lassen mufste. M. schliefst damit, dafs man weder aus anatomischen noch physiologischen noch aus psychologischen noch aus craniologischen Gr\u00fcnden berechtigt sei, Gall\u2019s Lehre von vornherein abzuweisen. Es w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, auch \u00fcber diesen Abschnitt des Buches zu berichten, so grofs auch die Verlockung ist.\nErnst Schultze (Andernach).","page":359}],"identifier":"lit31759","issued":"1900","language":"de","pages":"357-359","startpages":"357","title":"P. J. M\u00f6bius: Ueber die Anlage zur Mathematik. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1900. 331 Seiten","type":"Journal Article","volume":"24"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:26:04.576205+00:00"}