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{"created":"2022-01-31T16:27:23.967436+00:00","id":"lit31799","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Gaupp","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24: 398-400","fulltext":[{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nLiter aturbericht.\nEnergie, bis jetzt das einzige Maafs, welches wir besitzen, nm die sociale Energie zn sch\u00e4tzen. Die verschiedenen socialen Institutionen sind immaterielle Capitale, deren socialer Werth gemessen wird nach dem pecu-ni\u00e4rem Werthe der Energie, welche zu ihrer Unterhaltung n\u00f6thig sind. \u201eAuf diese Weise werden die meisten der immateriellen G\u00fcter wie die Ehre, Tugend, pers\u00f6nliche W\u00fcrde ... zu Waaren.\u201c \u201eDas allgemeine sociale Aequivalent, die reine Personification und Verk\u00f6rperung der social-biologischen Energie ist das Gold.\u201c\nIm ersten Theile der Arbeit werden Beziehungen zu mathematischen Eormulirungen aus dem Gebiete der h\u00f6heren Physik, speciell der W\u00e4rmetheorie, gesucht. Bez\u00fcglich des zweiten Theiles bemerkt Verf., dafs sich-die biologische Energetik noch in einem derartig rudiment\u00e4ren Zustande befindet, dafs man noch nicht auf Zahlendata rechnen kann. Bef. zweifelt, dafs es \u00fcberhaupt jemals m\u00f6glich sein wird, etwas Exactes darin zu erreichen.\tGiessler (Erfurt).\nLino Ferriani. Schlaue und gl\u00fcckliche Verbrecher. Ein Beitrag zur gerichtlichen und gesellschaftlichen Psychologie. Deutsch von A. Buhmann. Berlin, J. Cronbach, 1899. XXXI u. 492 S.\nDer ungemein fleifsige Verf. will eine Arbeit auf wissenschaftlicher Basis und mit sozialen Zielen liefern \u00fcber das heimliche und offene Verbrecherthum, das sich der Gerechtigkeit durch seine Verschlagenheit entzieht. Zu diesem Zwecke versucht er uns zun\u00e4chst das psychologische Problem des sozialen Lebens unter seinen verschiedenen Gesichtspunkten vorzuf\u00fchren, in seiner Wirklichkeit und in seiner literarischen Wiedergabe, und er thut dies an der Hand eines geradezu erdr\u00fcckenden Materiales. Was hat der Mann alles gelesen! Wir werden mit Citaten geradezu \u00fcbersch\u00fcttet und unwillk\u00fcrlich zu der Frage gedr\u00e4ngt, ob sich nicht der Meister in der Beschr\u00e4nkung gezeigt haben w\u00fcrde. Sicherlich ladet die italienische Sprache dazu ein, in einen gewissen Pathos zu verfallen, welcher der unseren nicht ganz so gut zu Gesichte steht, und wir h\u00e4tten Manches einfacher gew\u00fcnscht.\nAber Alles in Allem enth\u00e4lt das Buch eine Unsumme von gut beobachteten Thatsachen und einen Beichthum an Daten und geistreichen Bemerkungen.\nWer dar\u00fcber noch im Unklaren sein sollte, dafs unsere Strafgesetze mit der Entwickelung der Civilisation nicht gleichen Schritt gehalten haben, und der Schutz der Ehre neben dem Schutze an Person und Eigenthum nicht sehr im Biickstande geblieben sei, der w\u00fcrde sich frei eines Besseren belehren k\u00f6nnen und verstehen lernen, wie zur Zeit wenigstens der Kampf gegen eine Selbsth\u00fclfe auf diesem Gebiete der erforderlichen Unterlagen entbehrt.\nDies und noch vieles Andere kann er aus dem Buche lernen, das zu dem eine nicht gar zu schwere Unterhaltung gew\u00e4hrt.\tPelman.\nConrad Bieger. Die Castration in rechtlicher, socialer und vitaler Hinsicht.\nJena, G. Fischer, 1900. 113 S.\nEin eigenth\u00fcmliches Buch. Selten ist wohl in einer wissenschaftlichen Abhandlung eine sch\u00e4rfere Polemik getrieben worden, selten tr\u00e4gt ein","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n399\nWerk einen solchen individuellen Charakter, wie dieses Buch des W\u00fcrzburger Psychiaters.\n\u00bbSchon die Entstehungsgeschichte des Buches ist eine eigenth\u00fcmliche. Rieger hatte vor mehreren Jahren die Aufgabe, \u00fcber die Folgen eines merkw\u00fcrdigen Betriebsunfalls ein \u00e4rztliches Obergutachten abzugeben (Aerztl. Sachverst\u00e4ndig en-Zeitung, 15. Juni 1896). Einem jungen Fuhrknecht waren durch eine Eisenplatte beide Hoden zerquetscht worden. Die Hoden gingen v\u00f6llig verloren, der Penis blieb unverletzt. Es galt die Frage zu entscheiden, ob f\u00fcr die Verst\u00fcmmelung eine Unfallrente zu zahlen sei und, wenn ja, welche Rente. Dieses Erlebnifs scheint dem Verf. den \u00e4usseren Anlafs zu eingehender Besch\u00e4ftigung mit dem Problem der Castration in rechtlicher, socialer und vitaler Hinsicht gegeben zu haben. Eine Frucht dieser Studien ist das vorliegende Buch. Aber es enth\u00e4lt mehr als diese Probleml\u00f6sung. Es ist in erster Linie eine Kampfschrift, eine geharnischte Abhandlung gegen alte und neue Phrenologie, ein temperamentvoller Protest gegen die moderne Rehabilitirung Gall\u2019s, um die sich bekanntlich M\u00f6bius eifrig bem\u00fcht. Ein grosser Theil des Buches wendet sich direct gegen M\u00f6bius, in einem anderen Theil deckt Rieger mit unerbittlicher Sch\u00e4rfe, auf Grund genauen Studiums der GALL\u2019schen Werke, alle Schw\u00e4chen, Gedankenlosigkeiten und \u2014 wie Rieger annimmt \u2014 \u201efreche L\u00fcgen\u201c des alten Phrenologen auf, wie sie dem Verf. namentlich beim Studium des Capitels Geschlechtstrieb und Kleinhirn Seite f\u00fcr Seite aufgestofsen sind. Eine 35 Seiten lange Vorrede gilt fast nur dieser Bek\u00e4mpfung phrenologischen Denkens. Rieger betont darin die Autonomie der Psychologie und Psychiatrie, die von alter (Gall) und neuer (Flechsig) Phrenologie gar nichts zu hoffen haben. Er erwTeist sich dabei als ein Anh\u00e4nger des von L\u00f6b entwickelten Gedankens, dafs \u201edie einseitige Betrachtung der r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse im Hirn, die ziemlich gleichg\u00fcltig und nebens\u00e4chlich sind, erg\u00e4nzt und im Wesentlichen ersetzt werden mufs durch die Betrachtung der zeitlichen Verh\u00e4ltnisse aller Bewegungen, die durch das Hirn hindurch geschehen.\u201c\nDas Buch selbst hat vier Theile. Der erste Theil tr\u00e4gt die Ueber-schrift: \u201eRechtliches und Sociales\u201c. Sein Inhalt ist schwer zu referiren, weil eine Menge einzelner Punkte in loser Aneinanderreihung besprochen werden. Rieger er\u00f6rtert, ob und inwieweit die Castration eine Verminderung: der Erwerbsf\u00e4higkeit im Sinne des Unfallversicherungsgesetzes bedingen kann ; er sagt, dass die Castration einen Erwerb direct nicht sch\u00e4digen kann. Daneben finden sich Bemerkungen \u00fcber Erwerbsbeschr\u00e4nkung durch Sch\u00f6nheitsfehler, durch Verlust dsr Stimme, des Singens, Pfeifens etc., weiterhin Ausf\u00fchrungen \u00fcber den Standpunkt, welchen das deutsche Strafgesetzbuch gegen\u00fcber\u2018der Castration einnimmt, u. A. Rieger kommt zu dem Schlufs, dafs der Castrationsschaden rechtlich sehr schwer fafsbar sei. Strafgesetzliche Bestimmungen lassen sich auf die civilrechtliche Entsch\u00e4digung nicht einfach \u00fcbertragen. Da diese wesentlich davon abh\u00e4nge, ob die Castration nicht blos sociale, sondern auch vitale Folgen habe, so m\u00fcsse zun\u00e4chst die F rage entschieden werden : bewirkt die Castration eine directe Gesundheitssch\u00e4digung? Dieser Frage sucht Rieger im 2. und 3. Theil des Buches die Antwort. Staunenswerte historische und","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nLitera tu rber i ch t.\nbiologische Kenntnisse stehen ihm zn Gebote. Man gewinnt den Eindruck, dafs Rieger mit \u00e4ufserster Gr\u00fcndlichkeit zu Wege geht, sich aus alten und neuen Schriften zu unterrichten sucht und nichts vers\u00e4umt, von dem er sich Klarheit \u00fcber die aufgeworfene Frage verspricht.\nIm 2. Theil bespricht er die Castrationsfolgen bei unerwachsenen Knaben. Er kommt zu dem Resultat, dafs als sicher festgestellte Folge der im Knabenalter vorgenommenen Castration nur gelten kann: das Ausbleiben der secund\u00e4ren Sexualmerkmale (Bart, st\u00e4rkere Behaarung des ganzen K\u00f6rpers, gr\u00f6fserer Kehlkopf], alle anderen Behauptungen (Ver\u00e4nderungen des Gehirns, namentlich des Kleinhirns, orchiprive Psychosen, Verweiblichung des K\u00f6rpers, Ver\u00e4nderungen der Haut, des Schweifses und Urins etc.) seien v\u00f6llig unerwiesen. Dieser Abschnitt enth\u00e4lt eine vernichtende Kritik der GALL\u2019schen Phrenologie und eine herbe Verurtheilung Gall\u2019s selbst.\nIm 3. Theil versucht der Verf. den Nachweis, dafs beim E rwaehse-nen die Castration weder auf den K\u00f6rper noch auf den Geist irgend welche sch\u00e4dlichen Wirkungen aus\u00fcbe. Beweis: Leben und Charakter einiger castrirter grofser M\u00e4nner, Ab\u00e4lard, In arses. Origenes. Die kritischen Ausf\u00fchrungen dieses 3. Theiles enthalten sehr viel Bedeutendes. Rieger geifselt den \u201eFuror operativus activus und passivus in Bezug auf die Ovarien\", die P\u00f6HL\u2019sche Spermintheorie und die auf ihr auf gebaute Organsafttherapie, verweist das Spermin in die \u201eDreckapotheke\u201c. Er bestreitet die Behauptung, dafs mit dem Verlust der Hoden die Energie abnehme, und fafst das Haupt-ergebnifs seiner Untersuchungen dahin zusammen : ..Man studire das Leben der drei Castraten Origenes, Narses, Ab\u00e4lard, um zu erkennen, dafs der Mensch an seinem h\u00f6chsten geistigen Dasein, in Kirche, Staat und Wissenschaft etwas besitzt, was zwar durch den vorhandenen Geschlechtstrieb oft getr\u00fcbt und gest\u00f6rt werden kann, aber nicht zerst\u00f6rt durch den beseitigten Geschlechtstrieb.\u201c\nIn der \u201eSchlufsbetrachtung\u201c, dem 4. Theile des Buches, meint der Verf., der Glaube an die vitale Bedeutung der Testikel werde so bald nicht schwinden, obgleich er ein Aberglaube sei. Und dies sei aus socialen Gr\u00fcnden ganz gut. Denn da die Hoden im Vergleich zu den Eierst\u00f6cken durch die Natur weniger gesch\u00fctzt seien, so sollen sie es durch die menschlichen Vorurtheile sein. Diese Vorurtheile finden in der Mythologie ihre St\u00fctze. Sie finden sie aber auch in manchen modernen Anschauungen \u00fcber den Einflufs des Sexuellen auf Gesundheit und Krankheit. Mit dem Hinweis darauf, dafs die FREUD\u2019schen Lehren von der sexuellen Aetiologie der Neurosen von Rieger die bitterb\u00f6se Bezeichnung \u201eAltweibergeschw\u00e4tz\u201c erfahren, glaubt Ref. hinreichend veranschaulicht zu haben, wie sich Rieger zu diesen modernen Theorien stellt und auch \u2014 mit welch \u00e4tzender Kritik er wissenschaftliche Lehren verfolgt, wenn sie ihm als gef\u00e4hrliche Irrlehren erscheinen.\tGaupp (Breslau).","page":400}],"identifier":"lit31799","issued":"1900","language":"de","pages":"398-400","startpages":"398","title":"Conrad Rieger: Die Castration in rechtlicher, socialer und vitaler Hinsicht. Jena, G. 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