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{"created":"2022-01-31T16:26:54.545943+00:00","id":"lit31811","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Giessler","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 23: 124-126","fulltext":[{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nLiteratwrbericht.\nDie summarische Uebersicht des Verf.\u2019s, bei der theoretische und methodologische Fragen fortw\u00e4hrend vermischt werden, f\u00fchrt zu keiner wirklich eindringenden Behandlung.\tJ. Cohn (Freiburg i. B.).\nF. le Dantec. La th\u00e9orie biochimique de l\u2019h\u00e9r\u00e9dit\u00e9. Rev. philos. 47 (5), 457\u2014494. 1899.\nVon le Dantec sind bereits eine Reihe neuer Theorien auf dem Gebiete des Lebens zu verzeichnen. Ihnen schliefst sich die vorliegende biochemische Theorie der Vererbung an, welche nach Verf. mindestens ebenso vollst\u00e4ndige Erkl\u00e4rungen von allen Ph\u00e4nomenen des Lebens bietet wie die vitalistische, mittelst der man aber aufserdem nach Verf. neue Erscheinungen vorauszusehen vermag, welche die vitalistische nicht ver-muthen liefs. Nach der vitalistischen Theorie besitzen bekanntlich die organischen K\u00f6rper aufser den chemischen Eigenschaften noch vitale. Der biochemischen Theorie steht erstlich das Bedenken entgegen, dafs jeder leblose K\u00f6rper, welcher rein chemisch reagirt, dadurch in Bezug auf seine chemische Zusammensetzung zerst\u00f6rt wird, dafs beim lebenden K\u00f6rper dagegen durch chemisches Reagiren eine Vermehrung seiner Masse stattfindet. Um daher in beiden F\u00e4llen von chemischen Vorg\u00e4ngen reden zu k\u00f6nnen, stellt Verf. eine neue Definition von Chemie auf: Es ist die Wissenschaft von den Eigenschaften, welche einer chemischen Structur inh\u00e4riren. Ein zweites Bedenken ist Folgendes: Alle lebenden K\u00f6rper sind fortw\u00e4hrend in Activit\u00e4t, die chemischen dagegen k\u00f6nnen einige Zeit in chemischer Ruhe erhalten werden. Indessen giebt es auch niedere Organismen, wie z. B. die Sporen von Schimmelpilzen, welche man ebenso aufbewahren kann wie Chemikalien. Das ist latentes immanentes Leben.\nVon diesem biochemischen Standpunkte aus sucht Verf. nun die Lebenserscheinungen, namentlich die Vererbung, zu erkl\u00e4ren: Die Plastiden derselben Art unterscheiden sich nur durch quantitative Differenzen. Die lebenden Substanzen zeigen constructive (Assimilationen) und destructive (analytische) Reactionen. Erstere treten nur ausnahmsweise auf unter Umst\u00e4nden, welche die Bedingungen des elementaren Lebens realisiren, letztere in allen anderen F\u00e4llen von chemischer Activit\u00e4t. Erstere vermehren die Quantit\u00e4t der plastiden Substanzen, letztere bilden den Grund f\u00fcr Variationen. Nach Verf. entstehen demnach die Variationen durch Ver\u00e4nderungen der quantitativen Zusammensetzung. Nehmen wir einen Polyplastiden. Hier werden die einzelnen Elemente von ihrer Nachbarschaft aus beein-flufst. Nicht jedes wird in directem Contact mit dem \u00e4ufseren Medium stehen. Die Assimilation wird nicht mit derselben Schnelligkeit an allen Punkten erfolgen. Es wird Orte geben, wo die Abwesenheit von Nahrung momentan eine gewisse Destruction gewisser plastischer Substanzen herbeif\u00fchren w\u00fcrde. Hieraus entspringt die histologische Differentiirung in der individuellen Entwickelung des Polyplastiden.\nEs giebt eine beschr\u00e4nkte Zahl von specifischen Formen f\u00fcr eine Polyplastidenart. Die Reihe der successiven Formen wird immer dieselbe sein. Jedesmal die vorhergehende Variet\u00e4t wird Wesen hervorbringen, welche der n\u00e4chst folgenden Variet\u00e4t angeh\u00f6ren. Die Vererbung ist die Gesammtheit der Eigenschaften des Ei\u2019s. Die Eigenschaften offenbaren","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n125\nsich durch Reactionen, welche von den Bedingungen des Mediums abhangen. Das Individuum ist das Product der Vererbung und Erziehung, letztere im allgemeinen Sinne genommen als Gesammtheit der Bedingungen, welche der Organismus durchgemacht hat, seit er sich im Eizustande befand. Demnach k\u00f6nnen die Aehnlichkeiten zwischen zwei Wesen erstens von den Aehnlichkeiten der Variet\u00e4ten, zweitens von den Analogien in der Erziehung abh\u00e4ngen.\n\u201eDer lebende Organismus ist ein Agglom\u00e9rat von Plastiden, welche in der Weise coordinirt sind, dafs ihre Coordination die Erneuerung des inneren Mediums des Individuums m\u00f6glich macht, d. h. die Einf\u00fchrung von Nahrung und die Ausscheidung der Excremente.\u201c Der Entwickelung der Individuen von gleicher Vererbung sind Grenzen bez\u00fcglich der Divergenz gesetzt. Denn: 1. Beide Individuen m\u00fcssen athmen, essen, trinken, uriniren, schwitzen u. s. w. 2. Die Modificationen der Functionen d\u00fcrfen nicht wesentlich verschieden werden, denn es k\u00f6nnte die Entartung eines Organs der allgemeinen Coordination sch\u00e4dlich werden. Bei den h\u00f6heren Thieren n\u00f6thigt die Bestimmtheit des Mechanismus alle Wesen einer Art zur Ausf\u00fchrung analoger Bewegungen auch unter den verschiedensten Bedingungen des Mediums. Bei den niederen Thieren, wo die Complicirt-heit des Organismus fast Null ist, entstehen keine bedeutenden Divergenzen, denn der Organismus ist zu unvollkommen, als dafs er sich den Variationen des Mediums anpassen k\u00f6nnte. Das Thier kann also nur unter sehr beschr\u00e4nkten Bedingungen leben. Je einfacher der Organismus ist, um so mehr ist er gen\u00f6thigt, unter bestimmten Bedingungen des Mediums zu leben.\nHaben wir zwei Plastiden, bestehend aus den Substanzen a, b, c, d, e, f, welche derselben Species angeh\u00f6ren, so ver\u00e4ndern sich beim Ueber-gange von einem Individuum zum anderen nur die Coefficienten, nicht die absoluten Werthe. Bei der Vererbung erfolgt keine Uebertragung von Substanz von den Eltern auf die Kinder, sondern nur die Uebertragung von numerischen Coefficienten. In einem Medium, dem das Individuum vollst\u00e4ndig angepafst ist, finden sich die Coefficienten des Ei\u2019s ohne Ver\u00e4nderung wieder in den Coefficienten der sexuellen Zellen des Wesens, welches aus diesem Ei hervorgeht. Anders steht es, wenn die Species dem Medium nicht angepafst ist. Im Kampfe mit den neuen Existenzbedingungen erlangt das Individuum neue Charaktere. Verf. versteht unter einem erworbenen Charakter einen solchen, \u201ewelcher unvereinbar ist mit der Existenz jener quantitativen Coefficienten, welche jedem Organismus gemeinsam sind\u201c. (Unklare Ausdrucksweise 1 D. Ref.) Als Beispiel betrachtet Verf. einen kugelf\u00f6rmigen Plastiden a, b, c, d, e, f, welcher durch das Medium w\u00fcrfelf\u00f6rmig geprefst wird. Es entsteht ein Antagonismus zwischen der erzwungenen Form und der specifischen Form des Gleichgewichts. Einige plastische Substanzen werden dabei vielleicht zerst\u00f6rt, also haben wir eine quantitative Variation. Existirt nun zwischen den verschiedenen Combinationen der Coefficienten eine, welche der cubischen Gleichgewichtsform entspricht, so wird diese Combination beharren. Ist dies nicht der Fall, so wird der Plastide, sobald der Druck aufh\u00f6rt, wieder kugelig werden.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nLi teraturberich t.\nBisher nahm Verf. immer nur ein elterliches Individuum an. Jetzt geht er zur sexuellen Vererbung \u00fcber. Die sexuellen Elemente stellen unvollkommene Plastiden dar. Sie sind unf\u00e4hig zu assimiliren und besitzen kein Gleichgewicht. Die aus der Befruchtung hervorgehenden Individuen dagegen besitzen Gleichgewicht. Das Resultat der Befruchtung von Sperma und Ei enth\u00e4lt beide Geschlechter. Demnach scheint der Hermaphroditismus die Regel zu sein. Es giebt also in dem jungen Individuum zwei Gruppen von desequilibrirten Individuen, deren eine das genitale Gewrebe des M\u00e4nnchens, die andere das genitale Gewebe des Weibchens zusammensetzt. Bei den wirklichen Hermaphroditen gelangen beide Gewebe zur Reife. Bei den eingeschlechtlichen atropirt das eine von beiden. Sind a, b, c, d, e, f die Elemente des K\u00f6rpers, so wird das weibliche Organ gebildet sein aus den Elementen af, bf, Cf, df .. ., das m\u00e4nnliche aus den Elementen am, bm, Cm - \u25a0 \u2022 Nehmen wir nun an, dafs von zwei sich befruchtenden Individuen das eine drei Molec\u00fcle am hat, das andere zwei Molec\u00fcle af, so werden sich nur je zwei Molec\u00fcle befruchten k\u00f6nnen und zwei neue Molec\u00fcle a bilden. Also immer die kleinsten der entsprechenden Coefficienten kommen zur Befruchtung. Sind alle Coefficienten des Sperma kleiner als die des Ei\u2019s, so wird das befruchtete Ei dem Vater gleichen, sind sie gr\u00f6fser, so der Mutter; sind einzelne Coefficienten kleiner, andere gr\u00f6fser, so wird das Junge ein Mittelding werden. Dies nennt le Dantec das sexuelle Gesetz vom kleinsten Coefficienten, welches den Gipfelpunkt der ganzen Abhandlung bildet. \u2014\nMan kann nicht l\u00e4ugnen, dafs die Ausf\u00fchrungen le Dantec\u2019s etwas Bestechendes an sich tragen, obwohl zu wenig Beispiele aus der Praxis herangezogen sind. Die ganze Richtung ist jedoch bedenklich. Wir werden niemals dahin gelangen k\u00f6nnen, die eigentlichen seelischen Vorg\u00e4nge in biochemische aufzul\u00f6sen. Unerfindlich ist mir, wie Verf. mit H\u00fclfe seiner Theorie z. B. die Beherrschung der Leidenschaften erkl\u00e4ren will, wo doch offenbar das Seelische der nat\u00fcrlichen Zusammenfassung des jeweilig k\u00f6rperlichen Atomzustandes als etwas Selbst\u00e4ndiges gegen\u00fcbertritt, wo also gerade eine Abstraction vom Biochemischen stattfindet.\nGiessler (Erfurt).\nE. Blum. La p\u00e9dologie. Ann\u00e9e psychologique 5, 299\u2014331. 1899.\nDie P\u00e4dagogik hatte in Frankreich nach einer kurzen Periode raschen Aufbl\u00fchens und \u00fcbertriebener Erwartungen geraume Zeit geringes Ansehen genossen. Erst in den letzten Jahren hat sie sich wieder mehr Beachtung errungen, freilich nicht ohne an dem alten Vorurtheile, welches nicht unterscheidet zwischen Kindererziehung und Kinderforschung, manchen z\u00e4hen Widerstand zu finden. Als Buisson\u2019s besonderes Verdienst r\u00fchmt es Blum, dafs er in Frankreich die kinderpsychologischen Arbeiten Deutschlands, Amerikas, Italiens bekannt machte und allm\u00e4hlich in weiteren Kreisen der Ueberzeugung zum Durchbruch verhalf, dafs eine wirklich wissenschaftliche Theorie der Erziehung keine Unm\u00f6glichkeit ist. Es ist ja auch die nothwendige Consequenz der experimentellen und physiologischen Psychologie der letzten Jahrzehnte. Heifssporne der neuen Richtung, die sich auch bald zeigten, sahen bereits mit Verachtung auf die alte P\u00e4dagogik","page":126}],"identifier":"lit31811","issued":"1900","language":"de","pages":"124-126","startpages":"124","title":"F. Le Dantec: La th\u00e9orie biochimique de l' h\u00e9r\u00e9dit\u00e9. Rev. philos. 47 (5), 457-494. 1899","type":"Journal Article","volume":"23"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:26:54.545951+00:00"}