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{"created":"2022-01-31T15:11:23.501892+00:00","id":"lit31820","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schultze, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 23: 157-159","fulltext":[{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n157\ndenkbar, als die Ahnentafel der Ptolom\u00e4er, die es in einer allerengsten Inzucht von mehr als 200 Jahren zu einer Kleopatra brachten? Hier wirkte die Inzucht veredelnd, wie sie dies \u00fcberall da thun wird, wo die \u00e4hnlichen Erzeuger zugleich die Tr\u00e4ger hervorragender Eigenschaften sind.\nDas Vorliegende ist nur eine kurze Andeutung dessen, was das Werk uns bietet.\nDie Studien des Verf.\u2019s liegen so weit ab von der breiten HeerBtrafse der sonstigen Forschung, dafs es schon deshalb von Interesse ist, sie zu verfolgen. Nicht nur dem Psychiater, sondern dem wissenschaftlichen Forscher auf jedem Gebiete sei deshalb das Buch des Jenenser Historikers empfohlen. Er wird es nicht ohne Belehrung aus der Hand legen.\nPelman.\nG. Palantb. L\u2019esprit de corps: remarques sociologiques. Revue philosophique 48 (8), 135\u2014145. 1899.\nVerf. giebt hier eine ansprechende social-ethische Plauderei \u00fcber den sog. Corps-Geist. Darunter versteht er das Gef\u00fchl der Zusammengeh\u00f6rigkeit, der eine durch gleiche berufliche Interessen, also gleichen Lebenswillen vereinigte K\u00f6rperschaft beseelt und zu gemeinsamem Erweitern des Wirkungskreises und der Bedeutung sowie gemeinsamem Schutz gegen St\u00f6rungen von innen wie von aufsen zusammenh\u00e4lt. W\u00e4hrend der Klassengeist \u00fcber die gemeinsame Vertretung rein wirthschaftlicher Interessen nicht hinausgeht, \u00fcbt der Corpsgeist strenge Contr\u00f4le \u00fcber Haltung und Auftreten der Glieder und r\u00e4cht Verst\u00f6fse, welche dem Ansehen des Ganzen schaden k\u00f6nnten, aufs strengste, sofern es ihm nicht gelingt, dieselben zu verdecken. W\u00e4hrend Dornkr und D\u00fcrkheim den Corpsgeist f\u00fcr ein werthvolles Mittel ansehen, um die Kluft zwischen Staat und Individuum zu \u00fcberbr\u00fccken, findet Verf. darin eine schwere Sch\u00e4digung des Individuums. Auf eine tiefergehende Begr\u00fcndung dieses ethischen Urtheils geht Verf. nicht ein, noch viel weniger auf eine psychologische Erkl\u00e4rung dieses Zusammengeh\u00f6rigkeitsgef\u00fchles. Vielleicht glaubt er durch den von Schopenhauer her\u00fcbergenommenen Begriff des Collectivwillens zum Leben das Problem schon gel\u00f6st. Aber freilich Schlagw\u00f6rter machen eine Begr\u00fcndung keineswegs \u00fcberfl\u00fcssig.\tOffner (M\u00fcnchen).\nHermann Seuffert. Aaarchttotis und Strafrecht. Berlin, Otto Liebmann, 1899. 219 S. Mk. 4.50.\nDie vorliegende Abhandlung iBt auf Veranlassung der schauerlichen That in Genf entstanden, der die Kaiserin von Oesterreich zum Opfer fiel.\nS. berichtet zun\u00e4chst \u00fcber das Wesen des Anarchismus, seine theo Fetischen Begr\u00fcndungen und seine Organisation. Dabei theilt er mit, was wir \u00fcber die Lebensgeschichte Lucheni\u2019b, jenes M\u00f6rders in Genf, wissen. Es ist leider nur sehr wenig, und es ist zu bedauern, dafs wir uns bez\u00fcglich der Genese der anarchistischen Gesinnung von Lucheni nur Vermuthungen hingeben d\u00fcrfen. Diese gehen dahin, \u201edafs das Zusammenwirken der jammervollen Kindheit, ein leidenschaftliches Verlangen nach besseren Verh\u00e4ltnissen, die Lekt\u00fcre anarchistischer Schriften und eine","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nLiteraturbericht.\nstarke Dosis von Eitelkeit zusammen den verbrecherischen Plan erzeugt haben.\u201c Die Aufforderung zum Ungehorsam und zum Verbrechen hat eben f\u00fcr manche Leute etwas Bedenkliches, ja geradezu Anreizendes, die mit sich und ihrem Schicksale unzufrieden, nie gelernt haben zu gehorchen. Die Quellen des Anarchismus, Verarmung, Noth, Unzufriedenheit, wird man mit verst\u00e4ndiger, gerechter Politik in allen Zweigen des \u00f6ffentlichen Lebens unterbinden k\u00f6nnen. Diese gen\u00fcgt aber nicht zur Bek\u00e4mpfung des Anarchismus selbst.\nNach einer Ber\u00fccksichtigung der franz\u00f6sischen, italienischen und spanischen Gesetzgebung gegen den Anarchismus er\u00f6rtert S. des genaueren, inwiefern das Strafgesetzbuch f\u00fcr daB Deutsche Reich und das Sprengstoff-gesetz in den Dienst dieser Sache gestellt werden k\u00f6nnen.\nWer S.\u2019s Ansichten \u00fcber den Zweck und die Bedeutung der Strafe kennt, die er vor Kurzem noch in seiner Rectoratsrede (\u201eWas will, was wirkt, was soll die staatliche Strafe? Bonn 1896) niedergelegt hat, der wird nicht erwarten, dafs sich S. von der Handhabung unserer gesetzlichen Vorschriften viel verspricht. In einer Kritik, der er die einschl\u00e4gige Gesetzgebung unterwirft, hebt er die M\u00e4ngel hervor, die ihr seiner Ansicht nach anhaften ; dafs er diese auch des Genaueren begr\u00fcndet, ist selbstverst\u00e4ndlich.\nSo tadelt er u. A. die grunds\u00e4tzlich mildere Behandlung des Versuchs gegen\u00fcber der Vollendung bei anarchistischen Verbrechen; ein derartiges Mordattentat beweist sattsam die R\u00fccksichtslosigkeit und die -Feindseligkeit gegen die menschliche Gesellschaft, auch dann, wenn es nicht gelungen ist. Er bem\u00e4ngelt ferner, dafs bei den gemeingef\u00e4hrlichen Verbrechen, bei dem Raube und dem raubgleichen Verbrechen die Verh\u00e4ngung der schwersten Strafe von dem Eintritte eines gewissen Erfolges abh\u00e4ngig gemacht wird; er verurtheilt die mildere Bestrafung der H\u00fclfeleistung gegen\u00fcber der Th\u00e4terschaft und Mitt\u00e4terschaft, da hier ein principieller Unterschied kaum bestehe; er ist nicht einverstanden mit der grunds\u00e4tzlichen Straflosigkeit der Vorbereitung von Mord, Raub und gemeingef\u00e4hrlichen Verbrechen, der Verabredung von solchen, der Eingehung von Verbindungen zur Ver\u00fcbung von solchen und w\u00fcnscht die Zul\u00e4ssigkeit der Verfolgung von Auslands verbrechen.\nUnsere Strafgesetzgebung ist aber, und zwar nicht nur mit Hinsicht auf die hier zu verfolgenden Zwecke, einer umfassenden Reform bed\u00fcrftig. Indess ist die Zeit f\u00fcr solche weitgehende, grunds\u00e4tzliche Neuerungen noch nicht gekommen, um so weniger, als die Ansichten \u00fcber die Aufgaben der Strafrechtspflege die Kriminalisten in zwei sich scharf gegen\u00fcberstehende Lager spaltet.\nDaher redet S. einem besonderen Gesetz zur Bek\u00e4mpfung der Gewalttaten des Anarchismus das Wort; seinen Entwurf theilt er uns mit. Dafs er aus ihm die Todesstrafe entfernt hat, war von ihm zu erwarten, der ein Gegner der Todesstrafe ist, und er beruft sich darauf, dafs selbst bei einem so trotzigen und frechen Charakter, wie dem Ltjcheni\u2019s, die Strafe des lebensl\u00e4nglichen Zuchthauses schon wirkte, bevor mit deren Vollz\u00fcge begonnen war. Nur da m\u00f6chte S., nebenbei gesagt, den Scharfrichter wirken sehen, wo eine Augenblickswirkung erzielt werden soll, wie im Kriege oder bei der Revolution. Soll der Versuch nicht in grunds\u00e4tzlichen Gegen-","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n159\ng&tz zur vollf\u00f6hrten Handlung gestellt werden, so bedarf es aller Vorsicht und der Vermeidung von Uebertreibungen, um nicht das widerw\u00e4rtige und gef\u00e4hrliche Denunciantenthum zu z\u00fcchten und um zu verh\u00fcten, dafs ein Unschuldiger wegen einer harmlosen AeufBerung, einer unbedachten Handlung auf die Anklagebank kommt.\nWichtig ist bei der Handhabung dieses \u00dfpecialgesetzes eine genaue Definition dessen, was unter \u201eAnarchismus\" verstanden werden soll, zumal selbst unter den anarchistischen Schriftstellern viele sich mit Abscheu von den Gewaltthaten lossagen; jener Begriff trifft dann zu, wenn der Th\u00e4ter bei dem Verbrechen unmittelbar oder mittelbar die Beseitigung jeder staatlichen Ordnung \u2014 nicht die gewaltsame Ver\u00e4nderung der Verfassung des Reiches oder eines Bundesstaates \u2014 bezweckte.\nErnst Sch\u00fcltze (Andernach).\nC. Stb\u00f6hmbrro. Die Prostitution. Ein Beitrag zur \u00f6ffentlichen Sexnalhygiene and zur staatlichen Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. Eine social-medicinische Studie. Stuttgart, Ferdinand Enke, 1899. 218 S.\nAls eine der wichtigeren Errungenschaften des zu Ende gehenden Jahrhunderts darf man sicherlich die Fortschritte in der Erkenntnifs der Bedeutung der Syphilis, ihrer verderblichen Wirkung auf alle Organe, insbesondere das Centralnervensystem, auf die Arbeitsf\u00e4higkeit, auf die Gesundheit der Nachkommen] nicht nur, sondern ganzer Geschlechter ansprechen. Darin sind sich alle einig, dafs die Prostitution die Grundursache der weiten Verbreitung dieser Seuche ist, welche die Gesundheit der Einzelnen nicht minder als das Wohlergehen der V\u00f6lker sch\u00e4digt. Und dafs die Gonorrhoe durchaus nicht die harmlose Krankheit ist, als welche sie vielfach fr\u00fcher angesehen wurde, dafs sie vielmehr oft genug das Siechthum der mit ihr inficirten Frauen nach sich zieht, das haben uns ebenfalls die Forschungen der letzten Jahrzehnte gelehrt. So ist es erkl\u00e4rlich, wenn sich weitere Kreise wie der in diesem Jahre (1899) in Br\u00fcssel zusammengetretene internationale Congrefs zur Prophylaxe der Syphilis und der venerischen Krankheiten mit diesen Fragen besch\u00e4ftigen; der Congrefs ist der \u00e4ufsere Anlafs, dem das Buch seine Entstehung verdankt.\nImmer wieder betont Verf. in seiner fl\u00fcssig geschriebenen Studie, dafs die Prostitution eine biologisch und anthropologisch bedingte sociale Krankheitserscheinung sei. Die Prostituirten sind durch eine grofse Reihe von charakteristischen Eigenschaften gekennzeichnet, vor allem neben der Arbeitsunlust durch die absolute Unf\u00e4higkeit der Aneignung des Keuschheitsbegriffes. Eine tiefe, un\u00fcberbr\u00fcckbare Kluft trennt diese degenerirten Individuen von der normalen Frau. Es ist mithin ein Zeichen v\u00f6lliger Verkennung der Sachlage, eine durchaus unbegr\u00fcndete und \u00fcbel angebrachte Sentimentalit\u00e4t, wenn sich Frauen der Prostituirten annehmen, indem sie in ihnen nur die unschuldigen Opfer der L\u00fcsternheit und der Geschlechtslust verdorbener M\u00e4nner erblicken. Wer solche Anschauungen hat, bedenkt nicht, dafs die Prostituirten nicht anders wollen, weil sie nicht anders k\u00f6nnen; er weifs nicht, dafs die Prostituirten nichts weiteres Bind als Parasiten der menschlichen Gesellschaft, als weibliche Vertreter des arbeitsscheuen Vagabundenthums.","page":159}],"identifier":"lit31820","issued":"1900","language":"de","pages":"157-159","startpages":"157","title":"Hermann Sauffert: Anarchismus und Strachfecht. Berlin, Otto Liebmann, 1899. 219 S","type":"Journal Article","volume":"23"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:11:23.501898+00:00"}