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{"created":"2022-01-31T16:25:21.739080+00:00","id":"lit31874","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Saxinger, Robert","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 18-33","fulltext":[{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus dem philosophischen Seminar der Universit\u00e4t Graz.)\nUeber den Einflufs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungs-\nbewegung.\nVon\nDr. Robert Saxinger.\n\u00a7 i.\nDie Erkenntnifs, dafs das Gef\u00fchl auf den Vorstellungslauf einen Einflufs aus\u00fcbe, stammt keineswegs aus j\u00fcngster Zeit Man hat l\u00e4ngst eingesehen, dafs das Auftreten von Gef\u00fchlen f\u00fcr die Vorstellungsbewegung nicht gleichg\u00fcltig sei; aber im Grofsen und Ganzen ist man \u00fcber allgemeine Formulirungen dieses Gedankens nicht hinausgekommen. Erst bei Ehrenfels findet sich eine zusammenh\u00e4ngende Darstellung und eingehende Schilderung der Einwirkung der Gef\u00fchlsmacht auf den Vorstellungslauf.1 Begreiflicherweise werden die Ansichten dar\u00fcber auseinander gehen k\u00f6nnen, erstens inwieweit sich die Einwirkung des Gef\u00fchles auf den Vorstellungsverlauf geltend macht, und zweitens in welcher Weise die Einwirkung des Gef\u00fchles zu charakterisiren ist. Ist es doch von vornherein denkbar, dafs die Einwirkung des Gef\u00fchles auf den Vorstellungslauf sowohl durch l\u00e4ngeres Verweilen der betreffenden Vorstellungen im Bewufstsein, als auch durch \u00f6fteres Auftauchen derselben zu Tage tritt Ferner wird auch die Art und Weise der Charakterisirung des Einflusses der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung naturgem\u00e4fs eine verschiedene sein, je nachdem man die Qualit\u00e4t oder Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle zum leitenden Gesichtspunkte macht So liegt den\n1 System der Werththeorie, I, 188 ff.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"U\u00e9bcr den Einflufs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung. J9\nAufstellungen Ehrenfels\u2019 offenbar die Anschauung zu Grunde\u00bb dafs einerseits die Gef\u00fchle nur ein l\u00e4ngeres Beharren der Vorstellungen im Bewufstsein bewirken, und dafs andererseits die Qualit\u00e4t der Gef\u00fchle das ausschlaggebende Moment bildet Der Standpunkt Ehrenfels\u2019 erhellt am besten aus dem von ihm aufgestellten Gesetze der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung : \u201eDie Differenz der Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche sich an zwei beliebige Vorstellungen kn\u00fcpfen w\u00fcrden und nicht etwa positive Gef\u00fchle oder eine stete Gl\u00fcckszunahme giebt den Grund ab, weshalb immer die angenehmere in Bezug auf die unangenehmere Vorstellung einen Kraftzuschufs erh\u00e4lt.\u201c 1\nHier kann selbstverst\u00e4ndlich auf das Gesetz der relativen Gl\u00fceksf\u00f6rderung nur soweit eingegangen werden, als es durch die Natur der Sachlage unbedingt geboten erscheint.2 3 Vor Allem ist hervorzuheben, dafs unter der \u201eangenehmeren\u201c \u201eVorstellung\u201c sowohl die lustvollere als auch die minder unlustvolle Vorstellung gemeint ist.8 Beachtet man dies, dann werden sich sofort naheliegende Bedenken auf dr\u00e4ngen. Nach diesem Gesetze m\u00fcfsten p\u00e4mlich die von starken Unlustgef\u00fchlen begleiteten Vorstellungen gegen\u00fcber den von schwachen Gef\u00fchlen getragenen und weiters gegen\u00fcber den indifferenten Vorstellungen zur\u00fcckstehen. Die schwach unlustbetonten und die nicht betonten Vorstellungen w\u00fcrden im Kampfe um die Enge des Bewufstseins den Sieg \u00fcber die stark unlustbetonten Vorstellungen davontragen. Jedermann weifs nun, dafs in Wirklichkeit gerade das Umgekehrte stattzufinden pflegt: Vorstellungen mit starken Unlustgef\u00fchlen \u00fcberwiegen im Bewufstsein entschieden \u00fcber indifferente oder nur mit schwachen Gef\u00fchlen verbundene Vorstellungen. Die Neigung zum Beharren tritt also gerade dort am deutlichsten hervor, wo sie nach dem in Rede stehenden Gesetze am geringsten jsein sollte. Das ist Ehrenfels auch keineswegs entgangen. Allein er giebt nicht zu, dafs die F\u00e4lle, in welchen \u201edie schmerzlichen Vorstellungen im Kampfe um die Enge des Bewufstseins\n1 System der Werthth. I, 197.\n* Vgl. Schwarz, Die empiristische Willenspsychologie und das Gesetz der relativen Gl\u00fceksf\u00f6rderung. Vierteljahrsschrift f. wissensch. Philosophie 23, 205\u2014234, und Ehrenfels, Entgegnung auf H. Schwarz\u2019 Kritik der empiristi-\u00bbchen Willenspsychologie und des Ges. d. rel. Gl\u00fceksf\u00f6rderung. Vierteljahrs-Schrift f. tcissensch. Philos. 23, 261\u2014284.\n3 System d. Werthth. I, 190.\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nRobert Saxinger.\n\u00abine besondere Uebermacht besitzen,\u201c1 wirkliche Gegeninstanzen gegen das Gesetz der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung bilden: Denn <lie von der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung heretammenden Einwirkungen w\u00fcrden oft durch \u201eanderweitige Einfl\u00fcsse\u201c paralysirt, und es g\u00e4be aufser den bekannten noch andere, wahrscheinlich Tein physiologische Theilursachen, welche den Vorstellungslauf beeinflufsten.* * Da Ehbenfels fernere behauptet, dals \u201elebhafte Eindr\u00fccke aller Art, also auch schmerzliche, sich mit grolser Beharrlichkeit erhalten,\u201c8 so ist anzunehmen, dafs er die schmerzlichen Eindr\u00fccke zu den lebhaften rechnet, und dafs nach seiner Meinung die \u201eanderweitigen Einfl\u00fcsse\u201c sich eben bei den lebhaften Eindr\u00fccken geltend machen.\nEs fragt sich nun, ob die von Ehbenfels angedeutete Erkl\u00e4rung des Ueberwiegens unlustvoller Vorstellungen in den mit -dem Gesetze der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung nicht in Einklang zu bringenden F\u00e4llen eine ausreichende ist Vergleicht man beispielsweise den Fall, in welchem eine Frau ihr eigenes Kind Sterben sah4, mit dem, in welchem sie dem Sterben eines Nachbarkindes beiwohnte, so zeigt sich, dafs den Erinnerungsbildern, welche von den beim Sterben des eigenen Kindes empfangenen Eindr\u00fccken herr\u00fchren, gegen\u00fcber den anderen gr\u00f6fsere Beharrlichkeit zukommt. Wie ist das Ueberwiegen jener Vorstellungen zu erkl\u00e4ren? Nach Ehbenfels z\u00e4hlt der Anblick des im Sterben liegenden eigenen Kindes jedenfalls zu den lebhaften Eindr\u00fccken, und daher das Beharren der Vorstellungen. Die Lebhaftigkeit des Eindruckes oder genauer die dadurch begr\u00fcndete Disposition ist es, auf welche das Beharren zur\u00fcckgeht. Zu dieser Auffassung ist vor Allem zu bemerken, dafs, wenn man von lebhaften Eindr\u00fccken spricht, die Lebhaftigkeit auf den Eindruck selbst, oder aber auch auf das begleitende Gef\u00fchl bezogen werden k\u00f6nnte. Bei Ehbenfels ist unzweifelhaft das Eretere der Fall. Es ist n\u00e4mlich nicht anzunehmen, dafs der Genannte die Lebhaftigkeit auf das Gef\u00fchl beziehen wollte; denn damit h\u00e4tte er ja selbst das Gesetz der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung von vorn-\n1 System, d. Werthth. I, 193.\na Ebenda 194.\n*\tEbenda 194.\n*\tVgl: Ehrenfels, Syst. d. Werthth. I, 182. Ich habe diesen Fall, der bei Ehrenfels als Beispiel angegeben ist, absichtlich zu dem Vergleich herangezogen.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber den Einflufs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung.\n21\nherein preisgegeben. Sieht man nun von den emotionellem Elementen ab, und betrachtet man nun die bez\u00fcglichen Wahrnehmungsvorstellungen, so mufs zugegeben werden, dafs diese in beiden F\u00e4llen gleiche Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit auf-weisen. Da den in Frage kommenden Dispositionen sohin, gleiche Energie beizulegen ist, so m\u00fcfste also die Beharrlichkeit den beiden Vorstellungskreisen in gleichem Maafse zukommen. Das letztere ist bekanntlich nicht der Fall. Man k\u00f6nnte nun: vielleicht daran denken, die bevorzugte Stellung der einen Vorstellungsgruppe aus einer durch die hinzutretenden Wahr-nehmungsurtheile bewirkten Hebung der Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit zu erkl\u00e4ren. Indefs, wenn man nicht etwa die auf die Urtheile zur\u00fcckgehenden Gef\u00fchle in Betracht ziehen will, so ist nicht einzusehen, warum in dem einen Fall die Urtheils-function mehr leisten sollte als in dem anderen. Auch so l\u00e4fst sich also keine Erkl\u00e4rung des Ueberwiegens der einen Vor-, stellungsgruppe gewinnen. Somit ist es naheliegend, gerade auf die bisher nicht ber\u00fccksichtigte Gem\u00fcthsbeschaffenheit das Augenmerk zu richten. Die Verschiedenheit der Gef\u00fchlslage ist in der That in beiden F\u00e4llen eine auffallende. Auf der einen Seite intensive Unlustgef\u00fchle, auf der anderen mehr oder weniger anklingende Mitleidsregungen. Das Beharren der Vorstellungen vom Tode des eigenen Kindes steht also offenbar mit dem Auftreten der intensiven Unlustgef\u00fchle in Verbindung. Auch der Ausnahmsfall, dafs einer Mutter der Tod des eigenen Kindes nicht sonderlich zu Herzen ginge, kann als Best\u00e4tigung des behaupteten Zusammenhanges zwischen dem Beharren jener Vorstellungen und dem Vorhandensein der intensiven Unlustgef\u00fchle, gelten: Denn in diesem seltenen Falle w\u00fcrden die Vorstellungen vom Tode des eigenen Kindes vor den Vorstellungen, die den Tod eines Nachbarkindes betreffen, r\u00fccksichtlich der Beharrlichkeit wohl kaum etwas voraus haben. Der angestellte Vergleich lehrt also, dafs zur Erkl\u00e4rung des Beharrens der Vorstellungen' unter Umst\u00e4nden die Berufung auf die Lebhaftigkeit der Ein-dr\u00fccke nicht gen\u00fcgt.\nDie Beharrlichkeit unlustvoller Vorstellungen l\u00e4fst sich auch in F\u00e4llen beobachten, wo weder \u00e4ufsere Eindr\u00fccke noch so gewaltige Gef\u00fchlsreactionen, wie die in dem oben angef\u00fchrten Beispiele, vorhanden sind. Mancher wird sich vielleicht an einen kleinen Formfehler (Unterlassung einer geziemenden Handlung)","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nRobert Saxinger.\nerinnern, den er sich einer Pers\u00f6nlichkeit gegen\u00fcber, an deren Werthsch\u00e4tzung ihm gelegen ist, zu schulden kommen liefs. Es ist solchen Falles leicht zu beobachten, wie gerade der Gedanke, sich nicht correct benommen zu haben, eine grofse Beharrlichkeit besitzt. Weiters ein anderes Beispiel : Jemand hat mehrere Besuche zu machen, von welchen ihm ein Besuch peinlich ist. Auch hier kann es nun Niemand entgehen, wie sich der Gedanke an diesen peinlichen Besuch mit besonderer Z\u00e4higkeit im Be-wufstsein erh\u00e4lt. Ich w\u00fcfste nicht, was in den eben angef\u00fchrten Beispielen den Vorstellungen die Beharrlichkeit verleihen sollte, wenn nicht die actuellen Unlustgef\u00fchle. Streichen wir die Unlust, die der Gedanke an den Formfehler oder an den unangenehmen Besuch mit sich bringt, so ist nicht auszudenken, warum gerade diese Gedanken im Bewufstsein beharren.\nAus den besprochenen F\u00e4llen folgt also, dafs das Gesetz der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung auf Seite der Unlustgef\u00fchle nicht gilt. G\u00fcnstiger gestaltet sich die Sachlage f\u00fcr das erw\u00e4hnte Gesetz, wenn man nur die Lustgef\u00fchle in Betracht zieht. Hier kann das Gesetz nicht widerlegt werden, weil eine von intensiver Lust begleitete Vorstellung in der Regel auch relativ angenehmer sein wird, als eine mit minder starkem Lustgef\u00fchl verbundene. Wenn sich beispielsweise ein mittelm\u00e4fsiger Sch\u00fcler auf die kommenden Ferien freut, so sind die bez\u00fcglichen Vorstellungen von Lustgef\u00fchlen getragen. Diese Vorstellungen sind dann nat\u00fcrlich angenehmer als die Gedanken an die Zeugnifsver-theilung, welche etwa nur schwache Lustgef\u00fchle mit sich bringen. Erfahrungsgem\u00e4fs beharren solche von kr\u00e4ftigen Lustgef\u00fchlen begleitete Vorstellungen l\u00e4nger im Bewufstsein als andere von minder starker Lust getragene Vorstellungen. Der Sch\u00fcler denkt beharrlicher an die Ferien als an andere Dinge, die ihm weniger Lust bereiten. Der Grund des Beharren des ersteren Vorstellungskreises k\u00f6nnte ebensogut in der relativen Annehmlichkeit der Vorstellung, wie in dem actuellen Gef\u00fchle gesucht werden. Indefs, ist einmal nachgewiesen, dafs das l\u00e4ngere Beharren der Vorstellungen mit dem Vorhandensein mehr oder minder intensiver Unlustgef\u00fchle im Zusammenhang steht, dann ist anzunehmen, dafs dies auch bei den Lustgef\u00fchlen der Fall ist. Und es ist nur consequent, wenn man sich das Beharren lustvoller Vorstellungen in analoger Weise, wie das Beharren der unlustvollen Vorstellungen, n\u00e4mlich durch die Bezugnahme","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den Einflufs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung. 23\nauf die actpellen Gef\u00fchle begreiflich zu machen sucht, zumal* ja auch die Erfahrung damit nicht in Widerspruch steht* Wollte man aber im Bereiche der Lustgef\u00fchle an der Einwirkung durch die relative Gl\u00fccksf\u00f6rderung noch immer festhalten, dann m\u00fcfste* Dian, um die Sache bei den Unlustgef\u00fchlen conform zu gestalten, annehmen, dafs die von der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung her-r\u00fchrenden Einfl\u00fcsse in Wahrheit zwar vorhanden sind, durch die Einwirkung des actuellen Unlustgef\u00fchles jedoch jedesmal aufgehoben werden 1\n- \u00a72.\nEhren Fels erblickt in den Zust\u00e4nden der Melancholiker eine Best\u00e4tigung seines Gesetzes von der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung. \u201eDas psychische Verhalten jener Melancholiker,\u201c \u2014 sagt Ehben-fels, \u2014 \u201el\u00e4fst sich am ungezwungendsten gerade als ein Ergebnis der Tendenz der Phantasie nach den angenehmeren Vorstellungen begreifen. Die Vorstellungen tr\u00fcben oder traurigen Inhaltes sind ihnen thats\u00e4chlich die angenehmeren.\u201c 1 Ich meine nun, dafs sich die psychische Verhaltungsweise der Melancholiker auch ohne Gesetz der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung verst\u00e4ndlich machen l\u00e4fst. Deshalb, und weil sich dabei einige Ausblicke, welche f\u00fcr das Gef\u00fchlsleben \u00fcberhaupt nicht ohne Bedeutung sind, ergeben, glaube ich, von einer kurzen Er\u00f6rterung dieses Gegenstandes nicht Umgang nehmen zu sollen.\nDie Erfahrung zeigt, dafs die gleichen Vorstellungen je nach Umst\u00e4nden verschiedene Gef\u00fchlswirkungen in einem und demselben Subjecte hervorbringen. Besehen wir uns den Seelenzustand eines Menschen, dem ein schwerer Ungl\u00fccksfall begegnet ist: W\u00e4hrend der Betreffende fr\u00fcher an vielerlei Dingen Freude hatte, sind ihm jetzt solche Dinge gleichg\u00fcltig, und es ist f\u00fcr Freude in seiner Seele kein Platz. Der Schmerz \u00fcber die widerfahrene Unbill beherrscht ihn g\u00e4nzlich. In diesem Falle verbleiben Vorstellungen, die sonst Lustgef\u00fchle hervorriefen, wirkungslos in Bezug auf das Gem\u00fcth. Erscheinungen dieser Art sind durchaus nichts seltenes. Sie lassen sich im Allgemeinen an Personen, welche intensive Unlustgef\u00fchle mit sich herumtragen, beobachten. Solche Menschen werden dieser Gef\u00fchle auch dann nicht ledig, wenn sich andere Vorstellungen einstellen, die mit den Ein-\n1 System d. Werthth. I, 194.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nRobert Saxinger.\ndr\u00fccken, von welchen die Unlustgef\u00fchle herr\u00fchren, gar nicht\u00bb zu thun haben, und die normalerweise Lustgef\u00fchle erregt hatten. Alles ereignet sich gleichsam unter dem Trauergef\u00fchl ; dasselbe ergreift sozusagen auch alle anderen Vorstellungen. Auch die sonst lustvollsten Vorstellungen versagen vollst\u00e4ndig und rufen keine Freude hervor. Es ist in Wahrheit die F\u00e4higkeit, anders als mit Unlustgef\u00fchlen zu reagiren, verloren gegangen. Uebrigens bedarf es gar nicht immer besonders intensiver Unlustgef\u00fchle, um den Gem\u00fcthszustand eines Menschen in dem Sinne zu \u00e4ndern, dafs er freudigen Eindr\u00fccken unzug\u00e4nglich wird. Das bringen auch schw\u00e4chere Gef\u00fchle zu Stande; freilich m\u00fcssen sie dann l\u00e4ngere Zeit dauern. So vermag beispielsweise das in anhaltendem, wenn auch schwachem Kopfschmerz sich kundgebende Unlustgef\u00fchl jede Lebensfreude zu vernichten. Die Ursache der verschiedenen Weise, in der die Seele die gleichen Eindr\u00fccke durch Gef\u00fchlsregungen beantwortet, kann nat\u00fcrlich nicht auf intellectuellem Gebiete liegen, sondern sie mufs in der Gem\u00fcths-beschaffenheit der Person gesucht werden. Wie lassen sich nun diese Ver\u00e4nderungen des Gef\u00fchlslebens verst\u00e4ndlich machen? Wie f\u00e4ngt es sozusagen ein Gef\u00fchl an, dafs andere Gef\u00fchle neben ihm nicht aufkommen k\u00f6nnen?\nBekanntlich bezieht sich jedes Gef\u00fchl auf einen Gegenstand, der nat\u00fcrlich zugleich Gegenstand einer Vorstellung ist, und insofern bildet diese die psychologische Voraussetzung des Gef\u00fchles.1 2 * Die Gegenst\u00e4nde werden durch bestimmte Inhalte8 vorgestellt, und auf diese gehen die begleitenden Gef\u00fchle zur\u00fcck. Der Inhalt, durch den ein Gegenstand vorgestellt wird, ist also eine Theilursache des Auftretens eines bestimmten Gef\u00fchles. Offenbar mufs aber noch eine zweite Theilursache vorausgesetzt werden, wenn \u00fcberhaupt eine Gef\u00fchlsreaction zu Stande kommen soll. Der Vorstellungsinbalt verm\u00f6chte kein Gef\u00fchl hervorzubringen, w\u00e4re nicht die M\u00f6glichkeit vorhanden, dafs eine Person durch einen gewissen Vorstellungsinhalt gef\u00fchlsm\u00e4fsig \u00e4fficirt w\u00fcrde. Mit anderen Worten : Die Person mufs die Eigenschaft besitzen, auf bestimmte Eindr\u00fccke oder Vorstellungen\n1\tVgl. Meikong, Psychologisch-Ethische Untersuchungen zur Werththeorie, S. 34.\n2\tVgl. Meinong, Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Ver-\nhftltnifs etc. Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 21 (3 u. 4), 186 ff.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einflufs der Gef\u00fchle auf die Vorstdlungsbeiaegung. 25\nmit gewissen Gef\u00fchlsregungen zu antworten. Diese Eigenschaft kann nun eine vor\u00fcbergehende oder eine dauernde sein; jeden-? falls ist sie die zweite Theilursache.1 Den Vorstellungsinhalt, der das Gef\u00fchl erzeugt, bezeichnen wir als Dispositionserreger, die vor\u00fcbergehende oder dauernde Eigenschaft der Person, durch gewisse Inhalte gef\u00fchlsm\u00e4fsig erregt zu werden als Dispositions-^ grundlage und das Gef\u00fchl als das Dispositionscorrelat. Die Gef\u00fchlsdisposition wird actualisirt d. h. das Dispositionscorrelat ausgel\u00f6st, wenn zur Dispositionsgrundlage der Dispositionserreger hinzutritt2 * * * Hiermit w\u00e4re also dem Dispositionsgedanken im Bereiche der Gef\u00fchle eine m\u00f6glichst pr\u00e4cise Fassung gegeben.\nNun ist es klar, dafs die Actualisirung der Disposition zu einem Gef\u00fchle in verschiedener Weise ausfallen kann, und zwar je nach der Beschaffenheit der Disposition und des Dispositionserregers. Bei unge\u00e4nderter Disposition werden gleichen oder \u00e4hnlichen Dispositionserregern gleiche oder \u00e4hnliche Dis-positionscorrelate, d. h. Gef\u00fchlsregungen entsprechen. Rufen also die gleichen Vorstellungsinhalte zu verschiedenen Zeiten verschiedene Gef\u00fchle hervor, so mufs der Grund hief\u00fcr in einer vor sich gegangenen Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchlsdisposition gesucht werden. Ebenso mufs eine Aenderung der Gef\u00fchlsdisposition auch dann angenommen werden, wenn auf eine Vorstellung, die bisher Gef\u00fchlsregungen zur Folge hatte, die erwartete Gef\u00fchlsreaction ausbleibt Wenn wir sehen, dafs mit dem Auftreten von Unlustgef\u00fchlen in vielen F\u00e4llen der Ver-lust oder wenigstens die Herabsetzung der F\u00e4higkeit, Lustr gef\u00fchle zu haben, verbunden ist, so m\u00fcssen wir uns dies durch eine Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchlsdispositionen erkl\u00e4ren.8 Und zwar ist anzunehmen, dafs die betreffenden Unlustgef\u00fchle die Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchlsdispositionen herbeigef\u00fchrt haben. Da also unter Umst\u00e4nden die Actualisirung gewisser Gef\u00fchlsdisp\u00f6sitionen unter der Einwirkung der contr\u00e4ren Gef\u00fchle entweder gar nicht oder doch nur schwer m\u00f6glich ist, so ist es begreiflich, dafs sich trauernde Personen oder zuweilen auch solche, die mit einem\n1 Vgl. Meinong, Phantasievorstellung und Phantasie. Zeitschrift f. Philos.\n95, 165.\n*\tVgl. Witasek, Beitr\u00e4ge zur speciellen Dispositionspsychologie. Archiv\nf. systematische Philos. 3, 273\u2014293.\n*\tVgl. Ehrenfels, System der Werththeorie I, 117 ff.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nRobert Saxinger.\nk\u00f6rperlichen Leiden behaftet sind, selten oder \u00fcberhaupt nicht: zu freuen verm\u00f6gen.\nNoch sei darauf hingewiesen, dafs mit der Abnahme der Unlustgef\u00fchle auch die F\u00e4higkeit zu Lustgef\u00fchlen nach und nach wiederkehrt. Die Gef\u00fchle gehorchen dem Gesetze der Ab-* stumpfung; Abstumpfung ist aber nichts anderes als eine Dispositionsver\u00e4nderung. W\u00e4hrend dem Auftreten der Unlustgef\u00fchle eine Herabsetzung der Lustgef\u00fchlsdispositionen zu folgen pflegt, scheint mit der Abstumpfung der Unlustgef\u00fchle bezw. der Herabsetzung ihrer Dispositionen eine Kr\u00e4ftigung der Dispositionen zu Lustgef\u00fchlen einzutreten.1\nWir haben in der Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchlsdispositionen durch Gef\u00fchle einen Gesichtspunkt gewonnen, von dem aus sich das: psychische Verhalten des Melancholikers ohne Weiteres verstehen l\u00e4fst, ohne an das Gesetz der relativen Gl\u00fccksf\u00f6rderung appelliren zu m\u00fcssen. Gewifs sind psychologische Vorg\u00e4nge h\u00e4ufig der Grund der anhaltenden Unlustgef\u00fchle des Melancholikers.2 Aber das psychische Verhalten des Melancholikers ist eben doch eine Folge, dieser dauernden Unlustgef\u00fchle. Wir haben oben darauf aufmerksam gemacht, wie sehr anhaltende Unlustgef\u00fchle auf die Gem\u00fcths-beschaffenheit eines Menschen einzuwirken verm\u00f6gen. Sowie bei einem an dauerndem Kopfschmerz Leidenden eine Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchlsdispositionen vor sich geht, so erfahren analog auch die Gef\u00fchlsdispositionen des Melancholikers eine Ver\u00e4nderung. Auf diese Weise erkl\u00e4rt sich die Thatsache, dafs. solche Menschen Alles im tr\u00fcben Lichte erblicken und stets d\u00fcstere Vorstellungen haben; ihnen ist eben die F\u00e4higkeit anders als mit Unlustgef\u00fchlen zu reagiren verloren gegangen.\n\u00a7 3.\nEs ist bereits an fr\u00fcherer Stelle angedeutet worden, dafs sich die Einwirkung des Gef\u00fchles auf die Vorstellungsbewegung nach zwei Richtungen hin geltend machen k\u00f6nnte. Einmal in der Weise, dafs den betreffenden Vorstellungen eine Tendenz\n1\tVon der Er\u00f6rterung der Frage, ob auch Lustgef\u00fchle eine Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchlsdispositionen bewirken k\u00f6nnen, kann hier Umgang genommen werden. In gewissem Sinne w\u00e4re die Frage zweifellos zu bejahen.\n2\tNat\u00fcrlich k\u00f6nnte der Zustand des Melancholikers auch ein rein psychisch bedingter sein. Auch in diesem Falle w\u00e4ren die dauernden Unlustgef\u00fchle die Ursache der Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchlsdispositioneh.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einflufs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung. 27\nzum Beharren verliehen w\u00fcrde, und dann in dem Sinne, dafs die von gewissen Gef\u00fchlen begleiteten Vorstellungen sich ohne associativen Anlafs h\u00e4ufiger im Bewufstsein einstellten als andere. Von der Beharrungstendenz war oben die Rede. Nun handelt \u00ab8 sich darum, festzustellen, ob nicht die Gef\u00fchle ein \u00f6fteres Auftauchen der betreffenden Vorstellungen zu bewirken verm\u00f6gen.\nNach Ehbenfels findet eine Einwirkung des Gef\u00fchles r\u00fcck-sichtlich des Auftauchens der Vorstellungen, wie schon erw\u00e4hnt, nicht statt: \u201eSolange es sich um das Auftauchen der Vorstellungen handelt, herrscht blos das Gesetz der Gew\u00f6hnung und bedingungsweise das der Erm\u00fcdung.\u201c1 Ehrenfels w\u00fcrde z. B. den Umstand, dafs jemand auch ohne associative Ankn\u00fcpfung h\u00e4ufig an den Abschied von einer nahestehenden Person denkt, aus der Lebhaftigkeit des Eindruckes und der dadurch bedingten physischen Disposition erkl\u00e4ren. Unzweifelhaft ist richtig, dafs die Lebhaftigkeit des Eindruckes f\u00fcr die Reproduction nicht gleichg\u00fcltig ist. Aber damit ist nicht ausgeschlossen, dafs nicht in vielen F\u00e4llen noch ein anderer Factor sich wirksam zeigt. Gerade das angef\u00fchrte Beispiel deutet daraufhin, dafs die Beschaffenheit des Eindruckes nicht ausreicht, um das oftmalige Auftauchen der Vorstellungen im Bewufstsein zu erkl\u00e4ren. Man braucht nur den Fall, in welchem jemand von einer nahestehenden Person Abschied nimmt, mit dem, wo es den Abschied von einem gleichg\u00fcltigen Menschen gilt, zu vergleichen, um die Richtigkeit des Gesagten einzusehen. Die Situation beim Abschiednehmen (z. B. am Bahnh\u00f6fe) kann in beiden F\u00e4llen, mit Ausnahme der Gem\u00fcthsstimmung, als vollst\u00e4ndig gleich angenommen werden. Die betreffenden Wahr-uehmungsVorstellungen sind dann hinsichtlich der Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit gleichwerthig und man sollte erwarten, dafs die betreffenden Vorstellungsdispositionen gleiche Energie bes\u00e4fsen. Eine \u00e4hnliche Ueberlegung wie oben f\u00fchrt auch hier zur Erkenntnifs, dafs das, was den Vorstellungen des einen Ereignisses das Uebergewicht verleiht, eben doch nur die intensiven Unlustgef\u00fchle sind. Ehrenfels ist selbst einmal nahe daran, das \u00f6ftere Auftauchen der Vorstellungen im Bewufstsein von dem actuel len Gef\u00fchlen in Abh\u00e4ngigkeit zu bringen. Er be-\n1 System der Werththeorie I, 190.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\tRobert Saxinger.\nhauptet n\u00e4mlich von den lebhaften Eindr\u00fccken, dafs sie \u201edesto h\u00e4ufiger auftauchen, je ersch\u00fctternder sie sich geltend gemacht' haben.\u201c 1 Was anders macht aber wohl ein Ereignifs zu einem ersch\u00fctternden als das begleitende Gef\u00fchl?\nNicht immer bedarf es so starker Gef\u00fchle, wie solche im Trennungsschinerze zu Tage treten, um die Vorstellungsbewegung im Sinne eines \u00f6fteren Auftauchens der Vorstellungen zu beeinflussen. Auch Gef\u00fchle schw\u00e4cheren Grades scheinen unter Umst\u00e4nden die Macht zu besitzen, die wiederholte Wiederkehr der Vorstellungen im Bewufstsein zu erzwingen. Man braucht daraufhin nur die fr\u00fcher angegebenen Beispiele zu pr\u00fcfen, und man wird das Behauptete best\u00e4tigt finden. Der Gedanke an den Formfehler beharrt nicht nur im. Bewufstsein, er kehrt auch \u00f6fters dahin zur\u00fcck, als es geschehen w\u00fcrde, wenn er nicht ein Unlustgef\u00fchl hervorgerufen h\u00e4tte. Ebenso dr\u00e4ngt sich die Vorstellung des widerw\u00e4rtigen Besuches wiederholt ins Bewufstsein,, w\u00e4hrend die Vorstellungen der \u00fcbrigen Besuche diese Tendenz nicht zeigen. Der Grund, warum man oftmals an den einen Besuch denkt und an den anderen nicht, kann angesichts der sonst gleichen Verh\u00e4ltnisse wiederum nur in dem den einen Fall auszeichnenden Unlustgef\u00fchle gelegen sein.\nWas von den Unlustgef\u00fchlen gilt, das trifft auch bei den Lustgef\u00fchlen zu. Der Sch\u00fcler, der sich auf die kommenden Ferien freut, denkt \u00f6fters an diese, als mit einem gedeihlichen Fortschritte des Unterrichts vereinbar ist. Aehnliche F\u00e4lle sind wohl jedermann bekannt. Es w\u00e4re1 zwecklos die Beispiele zu h\u00e4ufen, da die diesbez\u00fcglichen Erfahrungsthatsachen so handgreiflich sind, dafs sie nicht leicht \u00fcbersehen werden k\u00f6nnen.\nDas l\u00e4ngere Beharren der Vorstellungen und das \u00f6ftere Auftauchen derselben im Bewufstsein beruht, wie wir gesehen haben, insoweit \u00fcberhaupt Gef\u00fchle in Betracht kommen, stets auf einer Einwirkung aktueller Gef\u00fchle. Diese Einwirkung geht sowohl von Lust- als auch von Unlustgef\u00fchlen aus. Und zwar sind die Lustgef\u00fchle in dieser Beziehung nicht anders gestellt als die Unlustgef\u00fchle. Mcht die Qualit\u00e4t sondern die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle ist das f\u00fcr den Einflufs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung maafsgebende Moment. Fragt man nun, ob die Neigung der Vorstellungen zum Beharren und Auftauchen im Bewufstsein mit dem Grade der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle zu-\n1 System d. Werthth. I, 194.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"lieber dm Einflupa der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung. 29\nund abnehme, so ist zu antworten, dafs ein'durchg\u00e4ngiger Parallelismus nicht nachweisbar ist. Ueberblickt man die in Betracht kommenden Erfahrungsthatsachen, so l\u00e4fst sich zwar sagen, dais im Allgemeinen bei intensiven Gef\u00fchlen sich die beiden Tendenzen in erh\u00f6htem Maafse geltend machen, aber es ist auch nicht zu verkennen, dafs schon schw\u00e4chere Gef\u00fchle ein l\u00e4ngeres Beharren und \u00d6fteres Auftauchen der Vorstellungen bewirken k\u00f6nnen. Eine genaue Bestimmung jedoch, ob die Leistung des Gef\u00fchles in R\u00fccksicht auf das Beharren und Auftauchen der Vorstellungen in einem constanten Verh\u00e4ltnisse zur Intensit\u00e4t des Gef\u00fchles steht, ist schon deshalb nicht gut m\u00f6glich, weil wir keinen festen Maafsstab f\u00fcr Gef\u00fchlsintensit\u00e4ten besitzen; zudem h\u00e4ngt die Vorstellungsbewegung auch noch von anderen ver\u00e4nderlichen Factoren ab, die in jedem einzelnen Fall bestimmt werden m\u00fcfsten.\n\u00a7 4.\nEs ist eine auffallende Erscheinung, welche in den oben angef\u00fchrten Beispielen zu Tage tritt und durch Erfahrungstatsachen im weitesten Umkreis best\u00e4tigt wird, dafs die Beharrungstendenz und die Neigung der Vorstellungen zu \u00f6fteren Auftauchen im Bewufstsein stets zusammen Vorkommen. Sollte dies nicht auf einen inneren Zusammenhang der beiden Tendenzen hindeuten? Um einen Einblick in diesen Zusammenhang zu gewinnen, m\u00fcssen wir untersuchen, wie es denn \u00fcberhaupt m\u00f6glich wird, dafs Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung in den angedeuteten Richtungen Einflufs nehmen k\u00f6nnen. Die bisherigen Ausf\u00fchrungen haben ergeben, dafs die gedachten Eigent\u00fcmlichkeiten des Vorstellungsverlaufes, insofern \u00fcberhaupt Gef\u00fchle mit in Betracht zu ziehen sind, auf der Einwirkung actueller Gef\u00fchle beruhen. Dabei war die Frage offen gelassen worden, ob das Hereingreifen der Gef\u00fchle etwa in der Weise zu denken sei, dafs das mit der betreffenden Vorstellung jedesmal auftretende Gef\u00fchl das Auftauchen und das Ueberwiegen der Vorstellung bewirke. Ist V die intellectuelle Grundlage, genauer die Vorstellung, die die psychologische Voraussetzung des Gef\u00fchles G bildet, sind Vl V2 Vs die betreffenden Repro-duetionsvorstellungen und G1 G2 Gz die zu den letzteren geh\u00f6rigen Gef\u00fchlsregungen, so fragt es sich also zun\u00e4chst, ob das Gef\u00fchl Gx das Auftauchen und Beharren der Vorstellung Vt","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\tRobert Saxinger*\nbewirke, und weiters ob ft und ft in derselben Weise auf F* bezw. Vs Einflufs nehmen.\nWas zun\u00e4chst die Beharrungstendenz anbelangt, so erscheint die Annahme, die den betreffenden Vorstellungen zugeordneten Gef\u00fchle bewirkten das Beharren derselben, zweifellos als die einfachste. Allein n\u00e4her besehen, zeigt es sich, dafs bei dieser Annahme die Gefahr besteht, ein aufserhalb der Gef\u00fchlssph\u00e4re hegendes Element hereinzutragen. Jedermann weifs, dafs interessante Dinge die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken pflegen. Die Vorstellungen von Gegenst\u00e4nden, die zu unserem Gef\u00fchlsleben in naher Beziehung stehen, werden vielfach absichtlich im Bewufstsein festgehalten. Das, was das Beharren der Vorstellungen bewirkt, ist also streng genommen dann nicht das Gef\u00fchl, sondern der Wille.. Freilich wird man immerhin, insofern der Wille als durch das Gef\u00fchl in Bewegung gesetzt gedacht wird, wenigstens von einer indirecten Einflufsnahme des Gef\u00fchles auf die Vorstellungsbewegung sprechen k\u00f6nnen. Indes hier handelt es sich um eine andere Art der Gef\u00fchlswirkung. Das erhellt sofort aus der Erw\u00e4gung, dafs es Vorstellungen giebt, die selbst gegen unseren Willen im Bewufstsein beharren. Da solche F\u00e4lle mit in den Kreis der Betrachtung gezogen werden m\u00fcssen, so m\u00fcsste sich also die von den mit den betreffenden Vorstellungen verbundenen Gef\u00fchlen ausgehende Einwirkung jedenfalls ohne Mith\u00fclfe des Willens vollziehen. Erinnern wir uns nun, wie Gef\u00fchlsdispositionen actualisirt werden, so ist ersichtlich, dafs ein Vorstellungsinhalt, der als Dispositionserreger fuiigirt, nicht selbst wiederum in irgend einer Beziehung von dem Dispositionsc\u00f6rrelate, dem Gef\u00fchle abh\u00e4ngig sein kann. Die psychologische Voraussetzung bedingt zwar das Gef\u00fchl, nicht aber ist umgekehrt erstere dem letzteren unterworfen. Die Annahme, dafs das Beharren der Vorstellungen auf dem Einflufs der zugeh\u00f6rigen Gef\u00fchle beruhe, erweist sich sonach als eine unhaltbare.\nSehen wir nun, wie es mit der Einwirkung der zugeh\u00f6rigen Gef\u00fchle in betreff des Auftauchens der Vorstellungen bestellt ist* Der gleiche Einwand, der der Anschauung, als k\u00f6nne das Beharren der Vorstellungen auf der Einwirkung der ihnen zugeh\u00f6rigen Gef\u00fchle beruhen, entgegensteht, begegnet uns auch hier. Bedenkt man, dafs die Reproductionen der urspr\u00fcnglichen intellectuellen Grundlage eines Gef\u00fchles die jeweiligen psycho*","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den Einfiufs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung. 31\nlogischen Voraussetzungen der zugeordneten Gef\u00fchlsregungen bilden; die Voraussetzungsvorstellungen die Gef\u00fchle erst her vorrufen, so ist ohne Weiteres einleuchtend, dafs die zu den Vorstellungen geh\u00f6rigen G\u00e9f\u00fchle nicht das Auftauchen derselben bewirken k\u00f6nnen.\nDie Ablehnung einer Einflufsnahme der zugeh\u00f6rigen Gef\u00fchle in dem obgedachten Sinne leitet naturgem\u00e4fs zu einer anderen Auffassung. Nunmehr soll untersucht werden, ob nicht das durch die Vorstellung V hervorgerufene Gef\u00fchl G f\u00fcr die Re-productionen V1 F2 V8 irgendwie von Bedeutung ist.\nDie Dispositionspsychologie lehrt, dafs die Reproduetions-vorg\u00e4nge im Wesentlichen von dem Best\u00e4nde diesbez\u00fcglicher (psychischer) Dispositionen1 abh\u00e4ngig sind. Ver\u00e4nderungen in der Beschaffenheit der Vorstellungsdispositionen werden sich in .den Vorg\u00e4ngen der Reproduction widerspiegeln; und umgekehrt deuten Besonderheiten des Reproductionsvorganges auf eine besondere Gestaltung der Disposition hin. Verst\u00e4rkung der Dispositionen einerseits und Herabsetzung derselben andererseits bezeichnen die Richtungen, in welchen sich die Ver\u00e4nderungen der Dispositionen bewegen. Die Verst\u00e4rkung einer Vorstellungsdisposition verr\u00e4th sich sowohl durch die gr\u00f6fsere Leichtigkeit, mit der der Actualisirung entgegenstehende Hindernisse beseitigt werden, als auch durch eine gr\u00f6fsere Widerstandskraft der betreffenden Vorstellungen. Die Herabsetzung einer Disposition \u00e4ufsert sich dann selbstverst\u00e4ndlich durch die gegentheiligen Erscheinungen. Der leichteren Actualisirbarkeit der Vorstellungsdisposition entspricht naturgem\u00e4fs ein \u00f6fteres Auftauchen der Vorstellungen, der gr\u00f6fseren Widerstandskraft der letzteren, ein l\u00e4ngeres Beharren im Bewufstsein. Erschwerte Actualisirung der Vorstellungsdisposition und geringe Widerstandskraft der Vorstellungen dagegen bedingen seltenes Vordringen der Vorstellungen zum Bewufstsein und eine gewisse Fl\u00fcchtigkeit derselben. Wie also ersichtlich ist, bilden die Beharrungstendenz: und die Neigung zum \u00f6fteren Auftauchen im Grunde genommen gar nicht zwei f\u00fcr sich bestehende Tendenzen. Mit der Tendenz zum Auftauchen ergiebt sich n\u00e4mlich zugleich auch die Neigung zum Beharren von selbst, und die letztere ist sozusagen nur die andere Seite der ersteren. Das Auftauchen und Beharren der Vorstellungen sind also zwei Beth\u00e4tigungsweisen einer und der-\n1 Vgl. H\u00f6fler, Psychologie, S. 165.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nRobert Saxinger.\nselben Disposition.1 Wenn sich sohin aus der vergleichenden Beobachtung empirischer F\u00e4lle ergiebt, dafs dort, wo gewisse Gef\u00fchle ins Spiel kommen, die Vorstellungen ohne associative Anl\u00e4sse \u00f6fters auftauchen und l\u00e4nger im Bewufstsein verharren als dort, wo die Gef\u00fchle fehlen oder zu schwach sind, um eine \u2022bemerkbare Wirkung auszu\u00fcben, so kann dies nur so erkl\u00e4rt werden, dafs die betreffenden Vorstellungsdispositionen durch die Einwirkung des Gef\u00fchles eine Verst\u00e4rkung erfahren haben. Die Vorstellung V, welche das Gef\u00fchl G erzeugt, begr\u00fcndet die Disposition D. Diese letztere erf\u00e4hrt durch das Gef\u00fchl G eine Verst\u00e4rkung, welche sich in dem Auftauchen und l\u00e4ngerem Beharren der Reproductionsvorstellungen F, F2 Fa etc. \u00e4ulsert So bewirkt z. B. der Schmerz der Mutter beim Anblick des sterbenden Kindes eine Verst\u00e4rkung der durch die betreffende WahmehmungsVorstellung begr\u00fcndeten Vorstellungsdisposition.\nNicht unwichtig erscheint die Frage, ob die Ver\u00e4nderung der Vorstellungsdispositionen durch das Gef\u00fchl nur bei der Begr\u00fcndung der betreffenden Dispositionen m\u00f6glich ist, oder auch nachtr\u00e4glich w\u00e4hrend des Bestandes derselben erfolgen kann. Soviel ich sehe, giebt es in der That F\u00e4lle, in welchen wir eine Ver\u00e4nderung einer schon bestehenden Vorstellungsdisposition durch den Einflufs des Gef\u00fchles annehmen m\u00fcssen. So l\u00e4tot sich beobachten, dafs nicht selten Erinnerungsbilder fr\u00fcherer Erlebnisse, wenn sie nach l\u00e4ngerer Zeit durch irgend einen associativen Anlafs wieder einmal ins Bewufstsein gehoben werden, unter dem Hinzutritte hinl\u00e4nglich starker Gef\u00fchle wenigstens f\u00fcr k\u00fcrzere Zeit die Tendenz zeigen, ohne associative Beih\u00fclfe \u00d6fters im Bewufstsein aufzutauchen und daselbst l\u00e4nger 2U verweilen. Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob die Erinnerungsbilder vielleicht erst jetzt in Folge ge\u00e4nderter Gef\u00fchlsdispositionen Gef\u00fchle ausl\u00f6sen, w\u00e4hrend etwa das Erlebnifs selber gleichg\u00fcltig war, oder ob es sich um alte, zum Wiederaufleben gebrachte Gef\u00fchlswerthe handelt, da das Resultat dasselbe ist: eine nachtr\u00e4gliche Ver\u00e4nderung der Vorstellungsdisposition im Sinne einer Verst\u00e4rkung.\nDie M\u00f6glichkeit der sp\u00e4teren Ver\u00e4nderung der Vorstellungs-\n1 Vgl. G. E. M\u00fclleb und A. Pilzecker, Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Lehre vom Ged\u00e4chtnifs. Zeitschrift f. Psychologie, Erg.-Bd. lf 3900. Daselbst wird die Tendenz der Vorstellungen, frei ins Bewufstsein zu steigen, als Perseverationstendenz bezeichnet.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einflufs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbetoegung.\n33\ndispositionen ist nun nach einer Richtung hin nicht ohne Belang. Da die Vorstellungen VJ V.2 Vs etc. von \u00e4hnlichen Gef\u00fchlsreac-tionen, wie die Vorstellung V begleitet sind, und weiter Ver\u00e4nderungen schon bestehender Vorstellungsdispositionen durch Gef\u00fchle einmal m\u00f6glich sind, so ist eine Einwirkung der Gef\u00fchle G, G2 G\u00c8 etc. auf die Disposition D, vorausgesetzt, dafs sie hinl\u00e4ngliche Intensit\u00e4t besitzen, meines Erachtens nicht auszuschliefsen. Diese Annahme widerstreitet keineswegs den fr\u00fcheren Aufstellungen. W\u00e4hrend dort der Gedanke, dafs das Beharren und Auftauchen einer Vorstellung jedesmal durch das begleitende Gef\u00fchl bewirkt werde, in dem Vordergrund stand, handelt es sich jetzt um eine Einflufsnahme des Gef\u00fchles, nicht auf die zugeh\u00f6rige Vorstellung, sondern auf nachfolgende Reproductionen. Die von dem Gef\u00fchl G, ausgehende Kr\u00e4ftigung der Disposition D \u00e4ufsert sich nat\u00fcrlich erst bei den Reproductionen V2 V8 etc. Dasselbe gilt dann mutatis mutandis von Einfl\u00fcssen, die von den Gef\u00fchlen G2 G8 etc. herstammen.\nEinem Bedenken soll hier Raum gegeben werden: Wenn n\u00e4mlich von den Gef\u00fchlen Gx G2 Ga etc. Einwirkungen ausgehen, so fh\u00fcfste eigentlich die Disposition D eine fortlaufende Verst\u00e4rkung erfahren, was offenbar in einem steten Auftauchen und endlosen Beharren der betreffenden Vorstellungen zu Tage treten w\u00fcrde. In Wirklichkeit findet aber weder das eine noch das andere statt. Die anscheinenden Schwierigkeiten, die sich der Annahme einer von den Gef\u00fchlen Gl G2 G3'etc. ausgehenden Verst\u00e4rkung der Vorstellungsdisposition D entgegenstellen, sind leicht zu beseitigen. Aus der Erw\u00e4gung, dafs Dispositionen kaum unendlich steigerungsf\u00e4hig sein werden, folgt, dafs die Vorstellungsdispositionen nur bis zu einem gewissen Punkte eine Verst\u00e4rkung erfahren k\u00f6nnen. Wenn bereits durch das Gef\u00fchl G die Grenze der m\u00f6glichen Verst\u00e4rkung erreicht wurde, dann kann nat\u00fcrlich der betreffenden Vorstellungsdisposition durch die Gef\u00fchle G, G2 Gs etc. keine neue Energie mehr zugef\u00fchrt werden. Sowie aber die St\u00e4rke der Disposition unter diese Grenze sinkt, mufs eine Energievermehrung der Disposition als m\u00f6glich gedacht werden. Vielleicht ist es die Hauptaufgabe der den Reproductionsvorstellungen zugeordneten Gef\u00fchle die natur-gem\u00e4fse Herabsetzung der Vorstellungsdispositionen aufzuhalten.\n(Eingegangen am 3. Juli 1901.)\n%\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 27.","page":33}],"identifier":"lit31874","issued":"1902","language":"de","pages":"18-33","startpages":"18","title":"Ueber den Einflu\u00df der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:25:21.739086+00:00"}