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{"created":"2022-01-31T16:26:14.001968+00:00","id":"lit31880","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Offner","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 105-106","fulltext":[{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturberich t.\n105\nTh. Ziehen. Das Verh\u00e4ltmfs der Herb art\u2019sehen Psychologie zur physiologisch-experimentellen Psychologie. Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der p\u00e4dagogischen Psychologie u. Physiologie herausgegeben von H. Schiller u. Th. Ziehen, 3 (5). 79 S. 1900.\nDer physiologischeste \u2014 sit verbo venia \u2014 unter den physiologischen Psychologen, Th Ziehen, hat sich der dankenswerthen Arbeit unterzogen, das Verh\u00e4ltnifs der von ihm vertretenen Richtung in der Psychologie mit der HERBART\u2019schen z\u00fc vergleichen, wie sie uns vorliegt in den Schriften Herbart\u2019s und der bedeutendsten seiner Sch\u00fcler. In erster Linie bespricht er die beiderseitigen Principien. Die moderne Psychologie \u2014 womit im Folgenden der K\u00fcrze halber lediglich die experimentell-physiologische bezeichnet wird \u2014 geht rein empirisch vor. Die Empirie hat Herbart ja gleichfalls zur Grundlage genommen, dann aber die Metaphysik zu H\u00fclfe gerufen, um die Widerspr\u00fcche zwischen den einzelnen aus der Erfahrung gewonnenen S\u00e4tzen zu l\u00f6sen. Hinsichtlich der Methode bedeutet Herbart\u2019s \u25a0Vernachl\u00e4ssigung des Physiologischen und Verwerfung des Experimentes \u2014 ausgenommen in der Tonlehre \u2014 einen R\u00fcckschritt gegen fr\u00fchere Psychologen. Dagegen ist es ein grofses Verdienst Herbart\u2019s, die M\u00f6glichkeit und Nothwendigkeit der mathematischen Behandlung der Psychologie nachgewiesen zu haben, wenn auch die Durchf\u00fchrung dieser Forderung erst Fechner und der physiologischen Psychologie gelungen ist. Die Thierpsychologie erkennt er in ihrem vollen Werthe, weniger die psychopathischen Erscheinungen. Den zweiten, umfangreichsten Abschnitt bildet die Vergleichung der beiderseitigen Lehren und Ergebnisse. Die Lehre von den Empfindungen, die in der modernen Psychologie eine so hohe Ausbildung erfahren, fand durch Herbart auffallend geringe Beachtung. Lediglich den Tonempfindungen widmete er eingehenderes Studium. Darauf hatte ihn sein grofses Interesse f\u00fcr Musik \u2014 Herbart war selbst vorz\u00fcglicher Klavierspieler und hat auch componirt \u2014 gef\u00fchrt. Aber seine Ergebnisse gerieten, wie Stumpe nachgewiesen, vielfach in Widerspruch mit den That-sachen der unmittelbaren Beobachtung. Um so bedeutungsvoller ist seine Lehre von der Raumanschauung, insofern er gegen die KANT\u2019sche Lehre von der apriorisch-subjectiven Natur der Raumvorstellung, die Abh\u00e4ngigkeit derselben von den Reizen und die Unerl\u00e4fslichkeit einer Erforschung der psychischen Bedingungen ihrer Entstehung betont hat. Hier baute die moderne Psychologie nur weiter, indem sie die Bedingungen der r\u00e4umlichen Anordnung unserer Empfindungen empirisch ermittelte, vornehmlich die Bewegungsempfindungen, auf deren Mitwirken die Sch\u00fcler Herbart\u2019s schon hingewiesen, eingehender w\u00fcrdigte. Nicht gering ist Herbart\u2019s Verdienst um die Lehre von den Vorstellungen (= Erinnerungs- und Phantasievorstellungen), trotz seiner ungen\u00fcgenden Scheidung zwischen Empfindung und Vorstellung, besonders durch richtigere Feststellung des Wesens der Abstraction und durch Beseitigung des sog. inneren Sinnes der fr\u00fcheren Psychologen. Am eigenartigsten und folgereichsten war bekanntlich Herbart\u2019s Lehre von der Ideenassociation. W\u00e4hrend die moderne Psychologie wie er festh\u00e4lt an der Gesetzm\u00e4fsigkeit unseres Gedankenablaufes, an dem Unterschied zwischen latenten und actuellen Vorstellungen und an den Begriffen Hemmung und Verschmelzung, die Begriffe H\u00fclfe und","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nLiteraturbericht.\n.Schwelle aber, mittelbare und unmittelbare Reproduction und die Weiterbildung und eine erhebliche Kl\u00e4rung des Begriffes Apperception ihm allein verdankt, lehnt sie aufs entschiedenste seine Verstellungs-Mechanik und -Dynamik ab. Aehnlicherweise bringt Herbabt in der Lehre von den Gef\u00fchlen manche gl\u00fcckliche und werthvolle Beobachtung, in der theoretischen Deutung und Herleitung der Gef\u00fchle und Affecte jedoch kann ihm die moderne Psychologie nicht folgen. Der letzte Abschnitt endlich ist Herbabt'* Willenslehre gewidmet, in der manch ein bedeutender Grundsatz der modernen Psychologie schon zur Geltung gekommen ist. Abschliefeend kennzeichnet Z. nochmal die Unterschiede, welche trotz vielfacher lieber-einstimmung in wichtigen Punkten die beiden Richtungen trennen. Dabei kann Ref. freilich nicht verhehlen, dafs seines Erachtens Verf. den Werth der Physiologie, von ihrem noch unbefriedigenden Stand ganz abgesehen, f\u00fcr die Psychologie etwas \u00fcbersch\u00e4tzt, die Thatsache aber, dafs die physio-logischerseits beobachteten Vorg\u00e4nge ihre Deutung doch erst erhalten durch die Psychologie, nicht hinreichend w\u00fcrdigt. Mit dem sehr beachtenswerthen Hinweis, dafs auch die grofsen Verdienste Herbart\u2019s um die P\u00e4dagogik kein Grund sein k\u00f6nnen, seine Psychologie der modernen vorzuziehen, einfach deshalb weil sich sein p\u00e4dagogisches System auch mit den letzteren recht gut in Einklang bringen l\u00e4fst, schliefst diese werthvolle, zum gegenseitigen Verst\u00e4ndnifs nicht wenig beitragende Untersuchung.\nOffner (M\u00fcnchen).\nP. J. M\u00f6bius. Stachyologle. Weitere vermischte A\u00fcf&\u00e4tie. Leipzig, J. A. Barth,\n1901. 219 S.\nDie vorliegende \u201eAehrenlese\u201c der wie immer anregend geschriebenen Aufs\u00e4tze widmet Verf. dem Andenken Fechner\u2019s zu seinem demn\u00e4chstigen 100 j\u00e4hrigen Geburtstage. Ein Theil der Aufs\u00e4tze liegt aufserhalb des Rahmens der vorliegenden Zeitschrift; andere wie z. B. der \u00fcber Entartung ist bereits hier referirt. Folgendes m\u00f6ge daher gen\u00fcgen.\nDafs dem Psychiater mit so viel Mifetrauen begegnet wird, liegt nach Verf. unter Anderem daran, dafs er sich zu sehr f\u00fcr sich, fern von der Welt h\u00e4lt. Der Psychiater sollte vielmehr sein Reich ausdehnen und auf Eroberungen ausziehen; er sollte die Literaturbetrachtung in den Kreia seiner Arbeit ziehen und vor Allem weniger die Minderwerthigen als vielmehr die Mehrwerthigen studiren, um so unser Wissen von den Talenten, ihrer Abh\u00e4ngigkeit von der Organisation des Individuums, von dem Einfl\u00fcsse der Vererbung etc. aufzukl\u00e4ren. Das ist der Inhalt seiner Ausf\u00fchrungen \u00fcber \u201ePsychiatrie und Literaturgeschichte\u201c.\nWie sehr die Psychiatrie geeignet ist, uns \u00fcber das Wesen von Pers\u00f6n-lichkeiten aufzukl\u00e4ren, das hat M. selbst mit seiner bekannten Arbeit bewiesen, die die Krankengeschichte Rousseau\u2019s betrifft, von seinen anderen Studien gar nicht zu reden. Hier (\u201eUeber J. J. Rousseau\u2019s Jugend\u201c) berichtet er des Genaueren \u00fcber Rousseau\u2019s Jugend, und beweist damit, dafs seine sp\u00e4tere Paranoia, der wir seine Bekenntnisse verdanken, nur der Ausdruck der ererbten Entartung war. Die Art und Weise, wie Rousseau seine Jugend zubrachte, ebnete den Boden f\u00fcr die sp\u00e4tere Paranoia, aber sie schuf auch die Eigenartigkeit seiner Pers\u00f6nlichkeit.","page":106}],"identifier":"lit31880","issued":"1902","language":"de","pages":"105-106","startpages":"105","title":"Th. Ziehen: Das Verh\u00e4ltni\u00df der Herbart'schen Psychologie zur physiologisch-experimentellen Psychologie. Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der p\u00e4dagogischen Psychologie u. Physiologie herausgegeben von H. Schiller u. Th. Ziehen, 3 (5). 79 S. 1900","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:26:14.001974+00:00"}