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{"created":"2022-01-31T16:34:24.909793+00:00","id":"lit31904","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Giessler","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 133-134","fulltext":[{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"JAteraturbericht.\n133\nSantksoise. Religion et folie. Rev. philos. 50 (8), 142\u2014164. 1900.\nDie Beziehungen zwischen Beligion und Wahnsinn sind bisher nur ungen\u00fcgend studiert worden, sofern man dabei nur den religi\u00f6sen Wahn ins Auge gefafst hat Es existirt aber nach S. kein wesentlicher Unterschied zwischen normalem und pathologischem religi\u00f6sem Gef\u00fchl, sondern nur ein Gradunterschied. Und es sind mehrere psychische Ph\u00e4nomene, welche man bei der normalen Religion trifft, identisch mit einigen von denjenigen, welchen man bei den Krankheiten der Sinne begegnet.\nMan kann die Wahnideen nach Ball und Ritti in 8 Classen eintheilen: Ideen von Genugthuung, Gr\u00f6fse, Reichthum, Ideen von Erniedrigung, Ver-zweifelung, Verfall, Verfolgungsideen, hypochondrische, religi\u00f6se, erotische, Ideen von der k\u00f6rperlichen Umwandlung des eigenen Ich oder der Umgebung, Wahnideen mit Bewufstsein z. B. Agoraphobie, Topophobie, Claustrophobie, Zweifelsucht, Ber\u00fchrungsdelirium. Der religi\u00f6se Glaube \u2014 speciell der katholischen Religion \u2014 enth\u00e4lt von diesen Ideen die der Gr\u00f6fse, Demuth, Verfolgung. Hierzu kommt die Idee des Schutzes. Verf. bespricht dies nun im Einzelnen. Die Idee der Gr\u00f6fse findet man bei den Priestern. Im Gegensatz hierzu wird der Masse der Gl\u00e4ubigen Demuth als Tugend gepredigt : Das Leben ist voller Thr\u00e4nen und Elend, nichts als eine Vorbereitung auf den Tod. Der Christ wird dadurch in eine Art religi\u00f6ser Melancholie versetzt. Er glaubt ferner, fortw\u00e4hrend vor dem Teufel auf seiner Hut sein zu m\u00fcssen: also die Idee der Verfolgung. Alle diese Erscheinungen k\u00f6nnen von Hallucinationen begleitet sein : Erscheinen Gottes, der heiligen Jungfrau, der Engel, des Teufels.\nDies waren die positiven Ph\u00e4nomene, welche die Religion hervorbringt. Die negativen geh\u00f6ren theils dem Sensoriellen, theils dem Affectiven an. Die Religion polarisirt gleichsam das seelische Leben. Denn das religi\u00f6se Gef\u00fchl in seiner h\u00f6chsten Entwickelung, der Zustand der religi\u00f6sen Exstase besteht darin, dafs die Gl\u00e4ubigen mit offenen Augen nichts sehen, nichts h\u00f6ren, nichts f\u00fchlen. Sie werden gef\u00fchllos, sie sollen ja Jesu zu Liebe auf Vater, Mutter, Gattin, Kinder, Br\u00fcder und Schwestern verzichten. Alles dies hat nun einen krankhaften Charakter als Folge. Der Christ soll auf die Freuden der Erde verzichten, er qu\u00e4lt sich mit Fasten, Kasteiungen u. s. w. und sch\u00e4digt dadurch seinen Organismus.\nImmerhin aber ist die Religion weder eine nothwendige, noch hinreichende Ursache des Wahnsinns. Sie schafft nicht die Ideen der Gr\u00f6fse oder der Verfolgung, sondern sie giebt ihnen nur eine Form. Andererseits mufs man zu Gunsten der Religion anerkennen, dafs die Religion, wie Taibe ausf\u00fchrt, einen heilsamen moralischen Einflufs ausge\u00fcbt hat, und dafs Bie den Menschen zu einem hohen Grad von Reinheit f\u00fchrt. In den Zeiten der Irreligiosit\u00e4t sank auch der Mensch von seiner sittlichen H\u00f6he. Religion kann durch nichts ersetzt werden. \u2014\nDie Ausf\u00fchrungen des Verf.\u2019s haben Ref. nicht davon \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, dafs die normale Religion Elemente des Irrseins enth\u00e4lt. Denn was die gef\u00e4hrlichste der drei genannten Ideen anbetrifft, die Idee, dafs der Christ allezeit vor den Verf\u00fchrungen des Satans auf seiner Hut sein mufs, so wird ein Mensch mit gesundem Gehirn diese Idee niemals bis zu einer Verfolgungsidee ausarten lassen. Dasselbe gilt noch viel melvt","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nLiteraturberichL\nvon den beiden anderen Ideen. Allerdings ist nicht zu leugnen, dato die katholische Religion mit ihren \u00fcbertriebenen Bet- und Bufs\u00fcbungen allm\u00e4hlich im Gl\u00e4ubigen einen pathologischen Zustand erzeugen kann, unter dessen Einflufs dann die religi\u00f6sen Ideen zu pathologischen werden. Im Uebrigen kann sehr leicht ein zur Geisteskrankheit neigender Mensch die religi\u00f6se Idee zu seiner Wahnidee erheben, aber ebensogut auch jede andere Idee, so dafs man von einer speciellen Disposition der religi\u00f6s Beanlagten zur Geisteskrankheit nicht gut reden kann. Die \u00e4hnlichen Be Ziehungen zwischen Religion und Wahnsinn liegen meiner Ansicht nach vielmehr in der allgemeinen Richtung auf das Ueberschw\u00e4ngliche, die sich bekanntlich bei gewissen Formen des Wahnsinns findet. Der Volksmund bezeichnet ja auch wohl das Verr\u00fcckt werden als das \u201eSteigen in die vierte Dimension.\u201c \u2014 Der letzte Theil der Arbeit bildet einen merkw\u00fcrdigen Contrast zu dem Geiste, der die vorausgehenden beseelt, obwohl seine Richtigkeit anerkannt werden mufs.\tGlebslkr (Erfurt).\nCh. F\u00e9r\u00e9. L\u2019iutlnet sexuel, \u00e9volution et dissolution. Paris, Alcan, 1899.\n340 S.\nInstinct ist nach F\u00e9r\u00e9 ein complicirter Reflex, durch welchen angeborene F\u00e4higkeiten auf \u00e4ufseren Reiz ausgel\u00f6st werden. Der geschlechtliche, der Rassenerhaltung gewidmete Instinct entwickelt sich beim Menschen sp\u00e4ter als der Selbsterhaltungstrieb. F\u00e9r\u00e9 unterscheidet darin zwei Formen, 1. Instincte, die sich auf sexuelle Anlockung und Verfolgung beziehen und 2. solche, die eine dauernde Vereinigung und den Schatz der Nachkommenschaft erstreben. Alle peripheren Reizungen, alle Vorstellungen, Gem\u00fcthsbewegungen, welche auf den Organismus einwirken, beeinflussen auch das Geschlechtsleben. Bei civilisirten Wesen sind Erregung der Sinne, wie moralische und intellectuelle Eigenschaften f\u00fcr die Geschlechtswahl von grofser Bedeutung. Nach der Ansicht des Verf.\u2019s erw\u00e4chst aus der Vereinigung zweier mittelm\u00e4fsiger Menschen oft eine werthvollere Nachkommenschaft als aus der ungl\u00fccklichen Ehe zwischen hochbegabten Individuen. Jedes Mal wenn eine Gattung aufh\u00f6rt, durch ihre Fruchtbar keit zu k\u00e4mpfen, bringt sie besser entwickelte Nachk\u00f6mmlinge hervor und l\u00e4fst ihnen mehr Sorgfalt angedeihen. Die Vervollkommnung der Er Ziehung vermindert die Nothwendigkeit der Anzahl. Das ist eine Thatsache, die man bei Fischen, Reptilien und allen nieder organisirten Thieren wahrnehmen kann. Die V\u00f6gel, deren Nest am sorgf\u00e4ltigsten gemacht ist, legen die wenigsten Eier. Ebenso bei den Menschen. Die T\u00f6chter der wilden Rassen verheirathen sich sehr fr\u00fch. In dem Maafse wie die Civilisation vorr\u00fcckt, wird das Heirathsalter hinausgeschoben, obgleich der Geschlechte-trieb schon fr\u00fcher erwacht. Die Anzahl der Nachkommen vermindert sich, wobei die Erziehung des einzelnen w\u00e4chst.\nInteressant ist die allerdings nicht einwurfsfreie atavistische Auffassung der Entartung des Geschlechtstriebes. Nach F\u00e9r\u00e9 werden Tendenz zu regelloser Polygamie, zu geschlechtlicher Z\u00fcgellosigkeit und Neigung zur Prostitution bei der senilen und pathologischen Regression geifltes schwacher Individuen vorzugsweise beobachtet. Jedes noch so geringe Ab-","page":134}],"identifier":"lit31904","issued":"1902","language":"de","pages":"133-134","startpages":"133","title":"Santenoise: Religion et folie. Rev. philos. 50 (8), 142-164. 1900","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:34:24.909799+00:00"}