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{"created":"2022-01-31T15:34:34.787235+00:00","id":"lit31939","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schultze, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 222-224","fulltext":[{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nLiteraturbericht.\nin den ersten drei Gruppen finden sich bei der jeder Schilderung spottenden Mannigfaltigkeit alle m\u00f6glichen Uebergangsformen, so dafs eine scharfe Grenze zwischen den einzelnen Gruppen nicht zu ziehen ist.\nAn der Hand von Krankheitsgeschichten entwirft Verf. ein anschauliches Bild der Symptomatologie jeder Form, ihres Verlaufs und ihres Ausgangs, ihrer Aetiologie, Diagnose und Therapie; besonders eingehend wird das circul\u00e4re Irresein behandelt, welches die anderen Formen in der Praxis an Bedeutung bei Weitem \u00fcberragt. Die den periodischen St\u00f6rungen gemeinsamen k\u00f6rperlichen Symptome werden eingehend gew\u00fcrdigt; aufser der Beschaffenheit des Pulses und dem Verhalten der Menstruation verdienen gewisse, vom Verf. zuerst erhobene Harnbefunde sicherlich alle Beachtung. Bemerkungen \u00fcber den Einflufs intercurrenter k\u00f6rperlicher Krankheiten, \u00fcber die Combination von periodischem Irresein mit anderen Psychosen und Neurosen, die pathologische Anatomie beschliefsen die anregend geschriebene Abhandlung. Welcher Fleifs darin steckt, m\u00f6ge schon daraus erhellen, dafs das beigegebene und im Text auch ausgiebig benutzte Literaturverzeichnifs mehr denn 700 Nummern aufweist.\nErnst Schultze (Andernach).\nA. Baer. Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine social-hygienische Studie. Leipzig, Georg Thieme, 1901. 84 S. Mk. 2.\u2014.\nVersteht man unter Kinderselbstmord nur den Selbstmord, der von Personen unter 15 Jahren ausgef\u00fchrt wird, so lehrt die Statistik, dafs auch die Zahl des Kinderselbstmordes in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen hat, so dafs es nicht nur berechtigt, sondern nothwendig ist, den Ursachen dieser Erscheinung nachzuforschen. Das thut B. in der vorliegenden Brosch\u00fcre in der bei dem Verf. bekannten streng sachlichen und kritischen Weise.\nVerf. bespricht zun\u00e4chst die H\u00e4ufigkeit des Selbstmordes im kindlichen Lebensalter und weist nachdr\u00fccklich darauf hin, dafs er noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts wenig verbreitet und wenig bekannt war. Das hat sich, wie zahlenm\u00e4fsig nachgewiesen wird, wie bei den verschiedensten Cultur-v\u00f6lkern, so auch in Deutschland ge\u00e4ndert, welches Siegert geradezu das klassische Land des Selbstmordes genannt hat. Nach den amtlichen statistischen Angaben f\u00fcr das K\u00f6nigreich Preufsen, welche nat\u00fcrlich auf Vollst\u00e4ndigkeit keinen Anspruch machen k\u00f6nnen und hinter den wirklichen Verh\u00e4ltnissen noch Zur\u00fcckbleiben, ist bei den 1708 Kinderselbstmorden in der Zeit von 1869\u20141898 das m\u00e4nnliche Geschlecht mit fast 79\u00b0/0 betheiligt Die unverkennbare Zunahme zeigt sich darin, dafs der j\u00e4hrliche Durchschnitt in der ersten f\u00fcnfj\u00e4hrigen Periode 38, in der letzten 68 betr\u00e4gt; oder es kommt, wenn man die Bev\u00f6lkerungsziffer zu Grunde legt, in der Zeit von 1869\u20141873 ein Selbstmord auf 666022, in der Zeit von 1894\u20141898 ein Selbstmord auf 497 815. Die Zahl der Selbstmorde \u00fcberhaupt ist in den 30 Jahren etwas st\u00e4rker gestiegen als die der Kinderselbstmorde. Ein Parallelismus oder irgend eine Abh\u00e4ngigkeit zwischen diesen beiden Zahlen l\u00e4fBt sich nicht erweisen, und das spricht daf\u00fcr, dafs dem Kinderselbstmord","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht\n223\nandere Beweggr\u00fcnde und Ursachen zu Grunde liegen, wie dem Selbstmorde der Erwachsenen.\nHinsichtlich der Ursachen des Selbstmordes mufs man zwei Gruppen unterscheiden, solche, welche aus den Lebensbedingungen des ganzen Gesellschaftsorganismus hervorgehen, und solche, welche in den besonderen Verh\u00e4ltnissen der Einzelnen gelegen sind. Begreiflicherweise werden uns beim Kinderselbstmorde die letzteren mehr interessiren, wenn wir uns auch die Schwierigkeit des Nachweises des wirklichen Beweggrundes in jedem einzelnen Falle nicht verhehlen d\u00fcrfen.\nVon den individuellen Momenten er\u00f6rtert Verf. den Einflufs der Geistesst\u00f6rung, der minderwerthigen Organisation, der Abstammung und Vererbung und des krankhaften Affects. Man wird seiner Annahme sicherlich beipflichten, dafs Geistesst\u00f6rung bei Kindern in einer noch gr\u00f6fseren Zahl zum Selbstmorde f\u00fchrt als bei Erwachsenen, und diese Annahme trifft auch f\u00fcr die ungleich verbreitetere psychopathische Minder-werthigkeit zu. Der Einflufs des Alkohols in der Ascendenz verdient eine eingehendere Pr\u00fcfung und W\u00fcrdigung, als bisher geschehen ist. Meist ist der Selbstmord das Ergebnifs eines krankhaft gesteigerten, schmerzhaften Unlustaffects. Bei 936 Selbstmorden im Kindesalter aus den Jahren 1884 bis 1898 werden in 76 F\u00e4llen Geisteskrankheit, in 78 F\u00e4llen Zust\u00e4nde von einer lang andauernden depressiven Wirkung, in 410 F\u00e4llen acuter Affect (Scham, Reue, Gewissensbisse, Aerger) als Motiv angef\u00fchrt; und sicherlich wird noch mancher der F\u00e4lle mit unbekannten Gr\u00fcnden hierzu geh\u00f6ren.\nVon den au\u00dferhalb des Individuums gelegenen Ursachen er\u00f6rtert Verf. zun\u00e4chst die Einwirkung der weiteren Umgebung. Die meisten Selbstmorde hat die Provinz Sachsen, die wenigsten die Provinz Posen zu verzeichnen. Industrie und Dichtigkeit der Bev\u00f6lkerung sind aber hierbei nicht ausschlaggebend; und ebensowenig spielt die gewerbliche Besch\u00e4ftigung der Kinder selbst hierbei eine Rolle. Die Annahme, dafs gerade in den Grofs-st\u00e4dten die Zahl der Selbstmorde auff\u00e4llig grofs sei, trifft nicht zu.\nVon ungleich gr\u00f6\u00dferer Bedeutung sind die Einwirkungen der engeren Umgebung, welche die Erziehung des Kindes ausmachen und vornehmlich von der Familie und der Schule ausgehen. Ein Ueberwiegen der Selbstmorde in den verschiedenen Classen der Bev\u00f6lkerung l\u00e4fst sich nicht nach-weisen. Nur wird die Art der Ursachen und Motive in den armen und reichen Gesellschaftskreisen eine andere sein: dort schlechte Ern\u00e4hrung, Hunger, Mifshandlung, Fehlen einer geordneten Erziehung und des Familienlebens, Verwahrlosung, Ueberanstrengung bei der Arbeit; hier Wohlleben, Ueppigkeit, fr\u00fchzeitige Gew\u00f6hnung an f\u00fcr das Kindesalter nicht bestimmte Gen\u00fcsse, unzweckm\u00e4fsige Erziehung, einseitige Ber\u00fccksichtigung der Entwickelung des Verstandes bei Vernachl\u00e4ssigung der Entfaltung des Gem\u00fcths. Beiden gemeinsam ist die Ausbildung einer Fr\u00fchreife, die zur Ursache vielen Uebels wird.\nEs liegt sicherlich sehr nahe, die Schule mit dem Selbstmorde in urs\u00e4chlichen Zusammenhang zu bringen, und besonders wird die moderne Schule mit der fast \u00fcbergrofsen Menge des Lehrstoffs und der Ueberb\u00fcrdung angeschuldigt. Das ist aber nicht berechtigt. H\u00f6chstens kann die Schule eine Mitursache sein. Die wesentliche wirkliche Ursache f\u00fcr die Ueber-","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nlAteratvrbericht.\nh\u00fcrdung and Alles, was damit zusammen h\u00e4ngt, ist in der Constitution des Kindes and dessen socialen Verh\u00e4ltnissen zu suchen. Fehler der h\u00e4uslichen Kniehang (hierbei a. JL Aikoholdarreichung) berechtigen fast dasa, eher von einer Ueberb\u00fcrdung aulaerhalb der Schale als durch die Schale s* reden. Auf der anderen Seite soll gewila nicht geleugnet werden, dals die h\u00f6here Schule mit den h\u00e4ufigeren, bisweilen ganz \u00fcberfl\u00fcssigen Cenauren, dem Inspiciren and Examiniren mitwirkt, da diese Momente auch Sch\u00fcler mit normalen F\u00e4higkeiten sch\u00e4digen k\u00f6nnen. Nimmt doch */\u00ab aller Kinder zur Pr\u00fcfungszeit an Gewicht ab. Mit grofeer Genugthuung begr\u00fclst daher Verf. die Reform unseres h\u00f6heren Schulwesens, welche eine Verminderung des Examenwesens bezweckt Wenn so oft gekr\u00e4nkter Ehrgeiz als Beweggrund angef\u00fchrt wird, so liegt dies auch daran, dals man heutzutage dem Fortkommen in der Schule einen zu grofsen Werth beimifst, sowie an der Uebersch\u00e4tzung der eigenen Pers\u00f6nlichkeit durch das jugendliche Individuum, der k\u00fcnstlichen Z\u00fcchtung dee Ehrgeizes. Aehnlich steht es um das verletzte Ehrgef\u00fchl, harte oder unw\u00fcrdige Behandlung, Furcht vor der Strafe. I\u00dft der Schule haben diese Momente immerhin, wie schon oben gesagt oft genug gar keinen directen Zusammenhang, und wenn doch, so f\u00fchrt vor Allem die Eigenart des Individuums in vielen F\u00e4llen zum Selbstmords.\nSchliefslich ber\u00fchrt Verf. noch kurz das suggestive Moment der Nachahmung, indem er auf die Gefahr der Lekt\u00fcre der Tagesbl\u00e4tter hin weist sowie das Moment der Spielerei und Eitelkeit der Sacht Andere su \u00c4rgern und der unzutreffenden Vorstellung des kindlichen Alters vom Tode.\nDa Degeneration und Geistesst\u00f6rung auf der einen, schlechte Erziehung und Fr\u00fchreife auf der anderen Seite die relative H\u00e4ufigkeit der Selbstmorde und ihre Zunahme erkl\u00e4ren, so hat hier die Prophylaxe einzusetzen und sich fr\u00fchzeitig mit der Erforschung der k\u00f6rperlichen und geistigen F\u00e4higkeiten des Kindes und mit einer auf dieser Erkenntnis sich aufbauenden Erziehung und Behandlung abzugeben.\nErnst Sch\u00fcltzb (Andernach).\nBerichtigung.\nIn meiner im 26. Bd. dieser Zeitschr. erschienenen Besprechung 1. auf S. 236, Z. 6 v. u. Gesammtklang, auf S. 237, Z. I Vaselin, Z. 7 Gesammt* empfindung.\tF. Kiesow.\nBerichtigung.\nDurch ein Versehen ist in meinem Aufsatze \u201eUeber den Einflu\u00fcs der Gef\u00fchle auf die Vorstellungsbewegung\u201c, diese Zeitschrift 27, S. 26, Zeile 16 ein Druckfehler stehen geblieben. Daselbst soll es statt \u201epsychologische Vorg\u00e4nge\u201c richtig rphysiologische Vorg\u00e4nge\u201c heiJGsen.\nSaxinokr.","page":224}],"identifier":"lit31939","issued":"1902","language":"de","pages":"222-224","startpages":"222","title":"A. Baer: Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine social-hygienische Studie. Leipzig, Georg Thieme, 1901. 84 S","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:34:34.787241+00:00"}