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{"created":"2022-01-31T16:25:08.310938+00:00","id":"lit31940","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 225-263","fulltext":[{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\nVon\nTheodor Lipps.\nMax Meyer\u2019s Theorie.\nIch bin zu den folgenden Bemerkungen veranlafst durch Max Meyer\u2019s \u201eContributions to a Psychological Theory of Music\u201c, die das erste Heft des ersten Bandes der \u201e University of Missouri Studies\u201c, Juni 1901, f\u00fcllen. Max Meyer giebt in dieser Abhandlung insbesondere Grundz\u00fcge einer neuen Theorie der Melodie.\nDiese Theorie beruht zun\u00e4chst auf dem Satze: Wenn zwei T\u00f6ne sich verhalten wie 2\" : 3, 5, 7, 9, 15, \u2014 wobei 2\" jede Potenz von 2 einschliefslich 2\u00b0 = 1 bezeichnet \u2014 so ist mit dem Fortgang vom ersten zum zweiten dieser beiden T\u00f6ne eine Tendenz der R\u00fcckkehr zum ersten verbunden.\nDieser Satz wird dann alsbald erweitert und gesteigert zu der Regel: Wenn in einer Melodie ein Ton vorkommt, der sich zu allen \u00fcbrigen T\u00f6nen der Melodie verh\u00e4lt wie 2\" : 3, 5, 7, oder zu einem Product aus 2, 3, 5, 7, so ist der H\u00f6rer befriedigt, nur wenn dieser Ton am Schlufs der Melodie wiederkehrt. Einen Ton von der bezeichneten Art nennt M. \u201eTonica\u201c der Melodie. Wir k\u00f6nnen also auch kurz sagen: Die \u201eTonica\u201c einer Melodie, in diesem MEYER\u2019schen Sinne, mufs nach M. den Schlufston der Melodie bilden.\nHieraus ergiebt sich dann ohne Weiteres folgende Con-sequenz: F\u00fcr alle T\u00f6ne der \u201ediatonischen Leiter\u201c ist die Quarte, nach Meyer\u2019s Terminologie, \u201eTonica\u201c. D. h. die Quarte verh\u00e4lt sich zu allen \u00fcbrigen T\u00f6neD der Leiter wie 2\" : 3, 5, 7 oder zu einem Product aus den Zahlen 2, 3, 5, 7. Also m\u00fcfste nach M. jede aus den T\u00f6nen der diatonischen Leiter gebildete Melodie\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 27.\t15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nTheodor Lippe.\nmit der Quarte abschliefsen. Dieser Schlufs m\u00fcfste der einzig befriedigende sein. Nun pflegen die Melodien, die nach der gew\u00f6hnlichen Ansicht auf der diatonischen Leiter beruhen, nicht mit der Quarte abzuschliefsen. Trotzdem ist ihr Abschlu\u00df befriedigend. Also beruhen diese Melodien in Wahrheit nicht auf der diatonischen Leiter. Der Glaube an die diatonische Leiter als Grundlage unserer Melodien ist \u00fcberhaupt ein Aberglaube. Wir m\u00fcssen die \u201ediatonische Leiter\u201c, um die wirkliche Grundlage aller dieser Melodien zu gewinnen, umwandeln. Wir m\u00fcssen insbesondere an die Stelle der Quarte die nat\u00fcrliche Septime der Quint, und weiterhin an die Stelle der Sexte die Secunde der Quint (8:9) setzen. Nehmen wir hier, wie im Folgenden immer, an, der Grundton der Leiter, aus deren T\u00f6nen die Melodie gebildet ist, sei C, so mufs der vierte Ton der Leiter, F, gefafst werden als nat\u00fcrliche Septime von G, der sechste Ton, A, als Secunde von G. Es mufs, mit anderen Worten, das Ver-h\u00e4ltnifs von C : F gedacht werden nicht als 3:4, sondern ah 16 : 21, das Verh\u00e4ltnis C : A nicht als 3 : 5, sondern als 16:27. Damit ist erreicht, dafs der Grundton der Leiter, also C, f\u00fcr die ganze Leiter \u201eTonica\u201c, n\u00e4mlich Tonica im MEYER\u2019schen Sinne ist Erst auf Grund dieser Annahme sind nach M. die nach gemeiner Auffassung auf der diatonischen Leiter beruhenden Melodien psychologisch verst\u00e4ndlich.\nDiese \u201eneue Theorie\u201c setzt M. in scharfen Gegensatz zu der \u201ealten Theorie\u201c. Dabei f\u00e4llt zun\u00e4chst auf, dafs M. sich den Kampf gegen die alte Theorie etwas leicht macht. F\u00fcr die alte Theorie ist nach M. eine Melodie einfach eine beliebige Folge von T\u00f6nen der diatonischen Leiter. Eine solche \u201ealte Theorie* kenne ich nicht. Zweitens : In weniger einfachen Melodien kommen auch T\u00f6ne vor, die der diatonischen Leiter, auf welche die Melodie nach gemeiner Meinung aufgebaut ist, fremd sind, z. B. in C-Dur der Ton Fis. Diese T\u00f6ne sind nach Metis's Meinung f\u00fcr die alte Theorie nur dazu da \u201eto make the melody more like howling\u201c. Nun mag diese Anschauung wohl diesen oder jenen Anh\u00e4nger haben. Aber Meyer redet von der \u201eahen Theorie\u201c in Bausch und Bogen.\nAuf Grund dieser Vorstellung von der \u201ealten Theorie\u201c findet M. \u00fcberall in Melodien T\u00f6ne, oder er findet ganze Melodien, mit denen, seiner Ueberzeugung nach, die alte Theorie gar nichts anzufangen weifs. Das sind Phantasien. In jedem der Falle,","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Zm Theorie der Melodie.\n227\ndie M. an f\u00fchrt, ist die Deutung f\u00fcr die \u201ealte Theorie\u201c vollkommen klar. Die alte Theorie hat ihre darauf bez\u00fcglichen und Jedermann bekannten Regeln. Ich weifs nicht, warum M. von diesen Regeln keine Notiz nimmt.\nDie Theorie der \u201eTonrhythmen\u201c.\nIndessen davon will ich hier nicht weiter sprechen. Etwas gn\u00e4diger als mit den sonstigen Vertretern der alten Theorie verf\u00e4hrt Meyer mit mir. Ich habe, so findet M., einen Anfang zu einer richtigen Theorie gemacht. Doch hat auch mir das Haften an der diatonischen Leiter den Weg zu weiteren Einsichten versperrt.\nIn der That liegt in jenem ersten Satze Meyer\u2019s \u2014 Wenn zwei T\u00f6ne sich verhalten, wie 2* : 3, 5, 7, 9, 15, so sei mit dem Fortgang vom ersten zum zweiten dieser T\u00f6ne die Tendenz der R\u00fcckkehr zum ersten verbunden \u2014 die Anerkennung einer Grundlage der Melodiebildung, auf die ich seit lange aufmerksam gemacht habe. Ich kann dieselbe kurz so bezeichnen: Wenn in dem durch m\u00f6glichst kleine ganze Zahlen ausgedr\u00fcckten Schwingungsverh\u00e4ltnisse zweier gen\u00fcgend nahe verwandter T\u00f6ne das eine Verh\u00e4ltnifsglied 2 oder eine Potenz von 2 ist, so ist der diesem Verh\u00e4ltnifsglied entsprechende Ton gegen\u00fcber dem anderen der \u201eZielton\u201c. Folgt etwa auf ein G ein 0, das sich zu dem vorangegangenen G verh\u00e4lt wie 2:3, so ist in diesem Ganzen oder in dieser als Einheit aufgefafsten Folge das C Zielton des G. Dies will heifsen : Der Fortgang von G zu C hat, im Vergleich mit dem Fortgang von C zu G, den Charakter des Uebergangs zur Ruhe, der in sich zum Abschlufs gelangenden Bewegung, der Gewinnung einer nat\u00fcrlichen Gleichgewichtslage, des Einm\u00fcnden8 einer Bewegung in ihren nat\u00fcrlichen Endpunkt Das G \u2014 C, so habe ich dies auch wohl ausgedr\u00fcckt, klingt wie eine Antwort, w\u00e4hrend das C\u2014G wie eine Frage sich ausnimmt Ich f\u00fcgte hinzu, in gewissem Grade verhalte sich das C auch zu seiner h\u00f6heren Octave c analog wie C zu G.\nMeyer tadelt nun zun\u00e4chst diesen letzteren Zusatz. Er meint, er k\u00f6nne nicht finden, dafs die Folge c \u2014 C in h\u00f6herem Grade den Eindruck des Fortgangs zur Ruhe mache, als die umgekehrte Folge. Dazu bemerke ich, dafs es bei mir zweifellos sich so verh\u00e4lt Im Uebrigen ist dieser Punkt f\u00fcr die Theorie der Melodie nebens\u00e4chlich.\n15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nTheodor Lipps.\nMeyer tadelt weiter die Art, wie ich jene besondere Bedeutung der 2 bezw. der Potenzen von 2 erkl\u00e4re. Er thut meine Erkl\u00e4rung kurz ab mit der Bemerkung, die Rauhigkeit der tiefen T\u00f6ne gebe, wie er nachgewiesen habe, kein Recht zu der Meinung, Tonempfindungen seien nicht stetige Empfindungen, sondern eine Reihe kurzer Empfindungen, die durch kurze leere Zwischenr\u00e4ume getrennt seien.\nMit dieser Bemerkung mag Meyer Recht haben. Nur kann er gewifs nicht Recht haben gegen mich. Denn eine so th\u00f6richte Ansicht vom Wesen der Tonempfindung habe ich niemals anfge-stellt. Auf die Rauhigkeit tiefer T\u00f6ne habe ich mich freilich, als ich meine Anschauung zum ersten Male \u00e4ufserte, berufen. Ob mit Recht oder mit Unrecht, ist aber f\u00fcr die Anschauung selbst gleichg\u00fcltig. Sp\u00e4terhin bin ich \u00fcbrigens auf diese Rauhigkeit geflissentlich nicht wiederum zur\u00fcckgekommen.\nIn Wahrheit ist meine Anschauung die folgende. Ich gebe sie m\u00f6glichst kurz in einer Reihe von S\u00e4tzen wieder.\nErstlich: Das im psychischen Leben Wirkende und Wirkungen Empfangende sind jederzeit nicht die Bewusstseinsinhalte, sondern die diesen zu Grunde liegenden psychischen oder, wenn man lieber will, \u201ecentralen\u201c Vorg\u00e4nge. Also mufs auch die Wechselwirkung zwischen T\u00f6nen als eine Wechselwirkung der psychischen Vorg\u00e4nge betrachtet werden, die den Bewufstseins-inhalten, T\u00f6ne genannt, zu Grunde liegen.\nZweitens: Diese Vorg\u00e4nge sind, wie alle psychischen Vorg\u00e4nge, zu denken \u2014 nicht als sich gleichbleibende Zust\u00e4nde, sondern eben als \u2014 Vorg\u00e4nge, n\u00e4mlich als Vorg\u00e4nge im Sinne wechselnder Zust\u00e4nde, oder im Sinne eines Wechsels von Zust\u00e4nden.\nDrittens : Wir m\u00fcssen annehmen, dafs dem Rhythmus der physikalischen Schwingungen, die einen Ton erzeugen, ein analoger Rhythmus in den zugeh\u00f6rigen Tonempfindungsvorg\u00e4ngen, oder in dem zugeh\u00f6rigen Wechsel psychischer oder centraler Zust\u00e4nde entspricht, dafs also der psychische oder centrale Vorgang der Tonempfindung in eine, der Folge der physikalischen Theilvorg\u00e4nge, d. h. der einzelnen Tonwellen, analoge Folge von Elementen oder elementaren Theilvorg\u00e4ngen sich zerlegt.\nViertens: Einem G m\u00f6gen 300 Schwingungen in der Se-cunde entsprechen; dann entsprechen dem C 200 Schwingungen","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n229\nin der gleichen Zeit. Diese Folgen von Schwingungen haben etwas Gemeinsames: die physikalischen \u201eRhythmen\u201c der beiden T\u00f6ne \u2014 der Rhythmus der Folge von 300 und der Rhythmus der Folge von 200 Schwingungen \u2014 haben einen Grundrhythmus gemein. 300 ist 100 X 3, und 200 ist 100 X 2. Damit ist der gemeinsame Grundrhythmus bezeichnet Es ist der Rhythmus der Folge von 100 im Uebrigen gleichen, nur beim einen Ton jedesmal in 3, beim anderen jedesmal in 2 Elemente zerlegten Einheiten.\nDies nun m\u00fcssen wir nach dem Gesagten \u00fcbertragen auf die Rhythmen der Folgen von elementaren Theilvorg\u00e4ngen der Tonempfindungsvorg\u00e4nge, oder kurz auf die \u201eTonrhythmen\u201c. Auch die Tonrhythmen von G und C haben einen gemeinsamen Grundrhythmus.\nF\u00fcnftens: Treffen zwei solche T\u00f6ne in der Psyche zusammen, so bilden sie ein Ganzes, das diesen gemeinsamen Grundrhythmus zum Einheitspunkte hat Sie bilden ein rhythmisches System, mit diesem gemeinsamen Grundrhythmus als Basis. Dieser Grundrhythmus ist a 1 s Basis, einerseits etwas f\u00fcr sich, psychisch relativ selbst\u00e4ndig. Andererseits differenzirt er sich in beiden T\u00f6nen in entgegengesetzter Weise, d. h. so, dafs das rhythmische Element dieses Grundrhythmus im einen Tone jedesmal als Einheit von drei, im anderen jedesmal als Einheit von zwei Elementen sich darstellt Oder umgekehrt gesagt : Die beiden T\u00f6ne sind innerhalb dieses rhythmischen Systems einerseits diese beiden von einander verschiedenen T\u00f6ne, oder diese beiden qualitativ auseinandergehenden Tonrhythmen; andererseits sind sie doch nicht mehr die beiden qualitativ auseinander-gehenden Tonrhythmen, die sie sonst sind, sondern sie sind in dem einheitlichen Grundrhythmus beschlossen oder zusammenge-schlossen. Dieser Grundrhythmus unterliegt nur in beiden einer verschiedenen Gliederung, n\u00e4mlich im einen einer Dreigliederung, im anderen einer Zweigliederung, <L h. in jenem findet eine Zusammenfassung von je drei, in diesem eine Zusammenfassung von je. zwei Elementen zu im Uebrigen gleichen Einheiten statt\nDie hiermit bezeichnete Einheit eines Mannigfaltigen ist ein Fall der \u00e4sthetischen Einheit eines Mannigfaltigen. Als solche ist sie begleitet von einem Gef\u00fchl der qualitativen Einheitlichkeit, der inneren Zusammengeh\u00f6rigkeit, der Einstimmigkeit, kurz der Consonanz.","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nTheodor Lippa.\nEndlich sechstens: Unter allen Theilungen des in der Zeit Verlaufenden ist die Theilung in zwei gleiche Theile, wiederum die Theilung jedes Theiles in zwei gleiche Theile, f\u00fcr uns die nat\u00fcrlichste. Oder: \u2014 Unter allen Gliederungen ist die Zweigliederung und die potenzirte Zweigliederung, d. h. die Zusammenfassung von je zwei Elementen zur Einheit, dann wiederum die Zusammenfassung von je zwei solchen Einheiten zur Einheit, f\u00fcr uns die nat\u00fcrlichste. Oder vielmehr, solche auf der Zweizahl beruhende Theilung und Gliederung ist f\u00fcr uns die zun\u00e4chst nat\u00fcrliche. Der Zweigliederung am n\u00e4chsten steht die Viergliederung, die dem Bed\u00fcrfnifs der Zweigliederung in minderem Grade gen\u00fcgt ; dieser die Achtgliederung u. s. w. Diese auf der Zweizahl basirenden Gliederungen sind, so kann ich dies auch genauer bestimmen, die in sich relativ gegensatzlosen. Dagegen tr\u00e4gt die Dreigliederung, noch mehr die F\u00fcnf-, Siebengliederung u. s. w. in sich ein Moment der ausgesprochenen Gegens\u00e4tzlichkeit. Jenen Gliederungen eignet demgem\u00e4fs ein Charakter der Ruhe oder des in sich Beruhenden, des Gleichgewichtes, diesen in wachsendem Maafse ein Charakter relativer Unruhe, der Bewegtheit, des aufgehobenen Gleichgewichtes.\n\u2014 Daraus wird mir der verschiedene Eindruck des Fortganges von G zu C, und andererseits des Fortganges von C zu G verst\u00e4ndlich.\nIch f\u00fcge noch hinzu: Die hier kurz angedeutete Anschauung ist nicht eine von mir ad hoc ersonnene Hypothese, sondern sie ist die Anwendung allgemeinster psychologischer Grundanschauungen auf den bestimmten Fall. Diese Grundanschauungen finden im Uebrigen ihre Anwendung auf allen m\u00f6glichen Gebieten des psychischen Lebens.\nMeyer\u2019s Theorie und die Thatsachen.\nKehren wir nun aber zu Meyer zur\u00fcck. Er tadelt, wie gesagt, meine Erkl\u00e4rung des besonderen Vorzuges der Zweitheilung oder Zweigliederung, kurz der ZweizahL Dies hindert doch nicht, dafs er das Wesentlichste an dieser Erkl\u00e4rung selbst voraussetzt. Dies thut er immittelbar, indem er mit der Zweizahl und andererseits der Dreizahl, F\u00fcnfzahl etc. \u00fcberhaupt operirt, und indem er sie insbesondere f\u00fcr die Gesetzm\u00e4fsigkeit der Melodie verantwortlich macht. Alle diese Zahlen sind ja zun\u00e4chst Schwingungszahlen. Offenbar k\u00f6nnen sie psychologische Be-","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n231\ndeutung haben, nur wenn der Rhythmus der Schwingungsfolgen irgendwie auch psychisch existirt. Das ist aber eben die Grundlage meiner Anschauung.\nIm Uebrigen k\u00f6nnte ich damit zufrieden sein, dafs Meyeb den von mir behaupteten Vorzug der Zweizahl anerkennt. Aber Meyer erkennt ihn nicht einfach an, sondern er schr\u00e4nkt ihn einerseits ein, andererseits steigert er ihn.\nDies Beides thut Meyer willk\u00fcrlich und im Widerspruch mit den Thatsachen. Meyer sagt: Wenn in einer Folge verwandter T\u00f6ne, oder in einer \u201eMelodie\u201c ein Ton vorkomme, der sich zu den anderen T\u00f6nen der Melodie verhalte wie 2\" : 3, 5, 7 oder zu einem Producte aus 2, 3, 5, 7, so bestehe das Bed\u00fcrfnils der R\u00fcckkehr zu 2\" und des Abschlusses in 2\". Hier ist unrichtig die Annahme, dafs 2\" innerhalb der Folge von T\u00f6nen Vorkommen, also irgendwelchen dieser T\u00f6ne vorangehen m\u00fcsse, wenn die Tendenz des Ueberganges zu 2 bestehen solle, oder kurz, dafs dieser Uebergang eine R\u00fcckkehr sein m\u00fcsse.\nMan vergleiche mit der Tonfolge G\u2014 c\u2014H\u2014d\u2014f\u2014G\u2014c die Tonfolge G \u2014 H \u2014 d\u2014f\u2014 G \u2014 c. Es ist kein Zweifel, in beiden Tonfolgen entspricht der Abschlufs in c einem f\u00fchlbaren Bed\u00fcrfnis. Bei der ersten Tonfolge nun kann Meyer dies Bed\u00fcrfnis ableiten aus jener eben wiederholten allgemeinen RegeL Vielmehr er mufs es nach seiner ganzen Anschauung und nach Analogie der von ihm eingehender besprochenen F\u00e4lle daraus ableiten. D. h. zun\u00e4chst, er mufs hier, ebenso wie bei den nach gemeiner Meinung auf der diatonischen Leiter aufgebauten Me-lodien, das f als nat\u00fcrliche Septime von G fassen, also f zu c sich verhalten lassen wie 21 : 16. Thut er dies, dann ist c die \u201eTonica\u201c jener Tonfolge. Und daraus ergiebt sich, der Meyer-schen Regel zufolge, das Bed\u00fcrfnis der R\u00fcckkehr zu c.\nNat\u00fcrlich m\u00fcfste dann aber M. bei der zweiten Tonfolge den gleichen Sachverhalt, d. h. das bei ihr in gleicher Weise bestehende Bed\u00fcrfnis des Abschlusses in c in gleicher Weise erkl\u00e4ren. Hier aber geht dem abschliefsenden c innerhalb der Tonfolge kein C voraus.\nSehen wir indessen davon ab. Achten wir nur auf die F\u00e4lle, in denen die gemeinsame \u201eTonica\u201c einer Reihe von T\u00f6nen innerhalb der Reihe vorkommt. Dann frage ich zun\u00e4chst: Wie eigentlich kommt M. zu seiner Regel, ich meine zu der Regel, dafs in solchen F\u00e4llen die Tonica den Schlufston bilden m\u00fcsse?","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nTheodor Lipps.\nMeyer geht aus von der Bemerkung: Wenn ich von 2 zu 3, also etwa von C zu G fortgehe, so habe ich ein f\u00fchlbares Be-dtirfnifs der R\u00fcckkehr zu 2. Aber wieso folgt hieraus der Satz, dafs in jeder Folge von T\u00f6nen, oder jeder \u201eMelodie\u201c, in der2 als Tonica vorkommt, die Tendenz der R\u00fcckkehr zu 2 bestehe. Soll hier nach Meyer jeder der T\u00f6ne die Tendenz der \u201eR\u00fcckkehr\u201c in sich schliefsen. Dann bedenke man, dafs unter den T\u00f6nen einer Melodie, in denen die Tonica 2 vorkommt, nach Meyer auch T\u00f6ne sich finden k\u00f6nnen, die sich zur Tonica wie 21 zu 2\" oder wie 405 : 2\" oder gar wie 675 : 2\" verhalten; kurz, dafs in Melodien T\u00f6ne Vorkommen k\u00f6nnen, die mit der \u201eTonica\" auch nach M. gar nicht verwandt sind. So sind insbesondere in jener Tonfolge G\u2014c\u2014H\u2014d\u2014f\u2014G \u2014 c die T\u00f6ne f und c, wenn f als nat\u00fcrliche Septime von G gefafst wird, nach M. nicht verwandt M. sagt aber selbst an einer Stelle, das Bed\u00fcrfnifs der R\u00fcckkehr von 3 zu 2 sei st\u00e4rker als das Bed\u00fcrf-nifs der R\u00fcckkehr von 7 zu 8, oder von 9 zu 8; und fugt hinzu, dieser Sachverhalt scheine durch den Grad der Verwandtschaft bedingt Daraus m\u00fcssen wir schliefsen, dafs in unserer Tonfolge G\u2014c \u2014 H\u2014d\u2014f\u2014G\u2014c das /*, das, wie gesagt, f\u00fcr Meyer mit c nicht verwandt ist, keine Tendenz der R\u00fcckkehr zu c in sich schliefst.\nDarnach m\u00fcssen wir Meyer\u2019s Regel anders interpretiren, als wir soeben versuchsweise thaten. Nicht alle T\u00f6ne der \u201eMelodien\u201c, die in ihrer Tonica befriedigend abschliefsen, tragen die Tendenz der R\u00fcckkehr zur \u201eTonica\u201c in sich, sondern nur einige derselben. Oder umgekehrt gesagt: Es gen\u00fcgt, dafe einige T\u00f6ne diese Tendenz in sich schliefsen, damit dieselbe f\u00fcr die ganze Melodie bestehe, damit also die ganze Melodie in der Tonica befriedigend abschliefse. Aber wenn es nun so sich verh\u00e4lt, wenn also in unserem Falle f f\u00fcr die Tendenz der R\u00fcckkehr zu c v\u00f6llig bedeutungslos ist, was hat es dann f\u00fcr einen Sinn zu fordern, dafs f sich zu c verhalte wie 21 zu 2\"? Was f\u00fcr einen Sinn hat es zu sagen, dies Verh\u00e4ltnifs m\u00fcsse angenommen werden, weil sonst die Tendenz der R\u00fcckkehr zu c nicht bestehen k\u00f6nne? Warum soll ein /*, das mit der Tendenz der R\u00fcckkehr zu c gar nichts zu thun hat, nicht auch, unbeschadet dieser Tendenz, Quart das c sein? Woher \u00fcberhaupt Meyer\u2019s Eifer gegen die Quart und ihr Verh\u00e4ltnifs 4 :3 zur Tonica ?","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\t233\nWenn f die Quart von c w\u00e4re,* w\u00fcrde nach M. in unserer Tonfolge an die Stelle der Tendenz der R\u00fcckkehr \\zn c die Tendenz der R\u00fcckkehr zu f treten. Betrachten wir die Sache auch von dieser Seite. Ich frage: Warum ist es so? M. antwortet: Weil jetzt f \u201eTonica\u201c ist. Dies ist f in der That nach Meyer\u2019s Terminologie. Aber Terminologien haben doch nicht .die Kraft, eine bestimmte Art des Abschlusses einer Melodie zu erzwingen. Kur die T\u00f6ne der Tonfolge k\u00f6nnen diese Kraft haben. Die Frage lautet also: Wie ist es damit bestellt?\nWenn in der Tonfolge G\u2014 c\u2014H\u2014d\u2014f, /\u201cals Quart von cy also nach Meyer\u2019s Terminologie als Tonica genommen wird, so hat, trotz dieser Terminologie, aber nach Meyer\u2019s eigener Angabe, nur ein einziger Ton, n\u00e4mlich c, die Kraft auf den Abschlufs in f hinzudr\u00e4ngen, c hat diese Kraft verm\u00f6ge seines Verh\u00e4ltnisses zu f= 3:4. Dagegen verh\u00e4lt sich G zur Quart f wie 9 :16 ; H wie 45 : 64 ; d wie 27 : 32. Und alle diese Verh\u00e4ltnisse begr\u00fcnden nach Meyer keine Tendenz der R\u00fcckkehr dieser T\u00f6ne 6r, 17, d zu f.\nDagegen liegt in G, H und d die st\u00e4rkste Tendenz der R\u00fcckkehr zu dem Tone c; in G wegen des Verh\u00e4ltnisses 3:4, in Hund $ wegen der Verh\u00e4ltnisse 15 : 16 und 9 :8 zusammen mit der besonderen N\u00e4he der beiden T\u00f6ne H und d an c.\nWir haben also innerhalb der Folge G \u2014 c\u2014H\u2014d\u2014-f im Ganzen einerseits eine einfache Tendenz des Abschlusses in f, andererseits eine dreifache Tendenz des Abschlusses in c. Nat\u00fcrlich wird jene Tendenz durch diese \u00fcberwunden. Das Resultat ist, trotz der Quart /*, die Tendenz der R\u00fcckkehr zu c. So verh\u00e4lt es sich, wohlverstanden, nach der Consequenz der Meyer\u2019-schen Theorie.\nDies alles nun \u00fcbersieht Meyer, verf\u00fchrt durch seinen Gebrauch des Wortes \u201eTonica\u201c. 2 ist ihm Tonica auch f\u00fcr 21, 405 etc., lediglich weil diese Zahlen Producte sind aus 3, 5, 7. Aber die Frage ist doch nicht, ob man einen Ton verm\u00f6ge einer willk\u00fcrlich erweiterten Terminologie als Tonica eines anderen Tones bezeichnen kann, sondern ob er diesem anderen Tone gegen\u00fcber Tonica ist, d. h. ob er als solcher wirkt. Thut er dies nicht, so ist die \u201eTonica\u201c ein leeres Wort, und auf leere Worte soll man keine Theorien bauen.\nAber die von Meyer aufgestellte Regel widerspricht auch unmittelbar den Thatsachen. Wie gesagt, bringt Meyer die nach","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nTheodor Lippe.\nder Auffassung der \u201ealten Theorie\u201c auf der diatonischen Leiter beruhenden Melodien dadurch mit seiner Regel in Ueberein-8timmung, dafs er an die Stelle der Verh\u00e4ltnisse 3: 4 und 3:5 die Verh\u00e4ltnisse 16:21 und 16: 27 setzt. Er erkl\u00e4rt jene \u201eIntonationen\u201c f\u00fcr falsch, diese f\u00fcr richtig. Aber wenn ich mich nun darauf capricire, trotz Meyer nach der alten Theorie zu intoniren, also in C-dur das F als Quart, das A als Seit erklingen zu lassen? Dann ist nach M. das F die Tonica. Dann m\u00fcfsten also, wiederum nach M., alle jene Melodien in F\\ und nur in F befriedigend abschliefsen. Aber man mache einmal den Versuch, d. h. man lasse die Melodien thats\u00e4chlich in F abschliefsen. Man wird finden, dafs der Versuch mifslingt Der Abschlufs in F klingt nicht befriedigend. \u2014 Ich frage, warum hat M. diesen Versuch nicht gemacht? Und wenn er ihn gemacht hat, wie kann er bei seiner Theorie bleiben?\nFassen wir aber die Sache einfacher. Kehren wir noch einmal zur zweiten der oben einander gegen\u00fcbergestellten Tonfolgen, d. h. zur Tonfolge G\u2014 H\u2014d\u2014f\u2014G zur\u00fcck. In ihr sei f die nat\u00fcrliche Septime von G; das f werde als solche \u201ei n t o n i r t\u201c. Dann verh\u00e4lt sich G:H:d:f wie 4 :5 :6:7. Es ist also hier f\u00fcr M. zweifellos das G die Tonica f\u00fcr alle \u00fcbrigen T\u00f6ne. Die Tonfolge m\u00fcfste also in G befriedigend abschlielsen, und sie k\u00f6nnte nur in G befriedigend abschliefsen. Aber dies ist n i c h t der Fall. Die Reihe schliefst befriedigend ab einzig in e. Meyer\u2019s Theorie ist also falsch.\nHiermit komme ich nun gleich zum zweiten Hauptpunkte der MEYER\u2019schen Theorie. F\u00fcr Meyer ist die 7 innerhalb der Melodie der 3 und der 5 coordinirt. Das Verh\u00e4ltnifs 2\" : 7 hat der Art nach dieselbe Bedeutung wie das Verh\u00e4ltnifs 2* : 3 und 2\" : 5. Auch diese Annahme wird durch die Folge G\u2014H\u2014d\u2014f\u2014Q, in der wir wiederum f als nat\u00fcrliche Septime des G betrachten, also f zu G wie 7 :4 sich verhalten lassen, widerlegt. Lassen wir in dieser Folge f\u00fcr einen Augenblick das f weg, dann finden wir: Die Folge G\u2014H\u2014d schliefst \u2014 zwar in erster Linie gleichfalls in c, sie schliefst aber auch in G befriedigend ab. Auch in G kommt die Bewegung zur Ruhe. Und dieser Sachverhalt bleibt derselbe, vielmehr er steigert sich noch, d. h. der Abschlufs in G ist ein vollkommenerer, wenn die grofse Septime von G, Fis, hinzutritt, also etwa in der Folge G \u2014 H\u2014d\u2014Fis\u20140.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n235\nDagegen ist in dem Augenblick, wo die nat\u00fcrliche Septime des G hinzutritt, ein befriedigender Abschluss in G unm\u00f6glich.\nWie man sieht, ist bei diesem Sachverhalt ein Doppeltes zu unterscheiden. Einmal: \u2014 Die nat\u00fcrliche Septime F tr\u00e4gt zu dem Bed\u00fcrfnifs des Abschlusses in der \u201eTonica\u201c G nichts bei, w\u00e4hrend die grofse Septime Fis allerdings dazu beitr\u00e4gt Und doch ist die nat\u00fcrliche Septime der Tonica verwandter als die grofse Septime. Damit aber ist es nicht genug: Die nat\u00fcrliche Septime hebt auch den befriedigenden Abschlufs in der Tonica auf. Wie vertr\u00e4gt sich das mit Meyer's Theorie?\nDie Melodie nach Max Meyer.\nAuf diese Frage der \u201enat\u00fcrlichen Septime der Quint\u201c komme ich weiter unten zur\u00fcck. Zun\u00e4chst wenden wir uns jetzt zu dem Punkte, der in unserem Streit mit Meyer der eigentlich entscheidende ist Meyer will eine neue Theorie der Melodie begr\u00fcnden. Da fragen wir denn billig: Was eigentlich ist f\u00fcr M. eine Melodie ? Was macht ihr Wesen aus ?\nBei Beantwortung dieser Frage halten wir wohl den Meyer-schen Begriff der Tonica fest, und erinnern uns des MsYER\u2019schen Dogmas: Die \u201eTonica\u201c der Melodie, n\u00e4mlich die Tonica im MEYER\u20198chen Sinne, mufs am Schl\u00fcsse wiederkehren. Ist dies der Fall, dann und nur dann schliefst die Melodie, in welcher die Tonica vorkommt, befriedigend ab.\nDaraus nun m\u00fcssen wir, so scheint es, zun\u00e4chst schliefsen: Eine Melodie ist f\u00fcr M. eine Folge von T\u00f6nen, die eine Tonica hat, und mit der Tonica endigt Eine Melodie ist ja doch in jedem Falle eine abgeschlossene und in befriedigender Weise abschliefsende Folge von T\u00f6nen. Die einzige Antwort aber, die uns Meyer auf die Frage giebt, wie ein solcher befriedigender Abschlufs erreicht werde, ist die soeben bezeichnete : Die Melodie schliefst befriedigend ab, wenn die Tonica am Ende wiederkehrt\nDieser Schlufs scheint noch zwingender zu werden, wenn wir sehen, dafs Meyer jene Regel auch als das elementarste Gesetz der melodischen Tonfolge bezeichnet. Es scheint, eine Tonfolge, auf welche dies elementarste Gesetz gar keine Anwendung findet, kann unm\u00f6glich den Anspruch erheben eine Melodie zu sein.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nTheodor Lipps.\nNun giebt es aber thats\u00e4chlich Melodien, die nicht mit der Tonica abschliefsen, weder mit einer Tonica im Sinne Meters, noch mit der Tonica, welche die alte Theorie in diesen Melodien statuirt. Trotzdem sind diese Melodien richtige Melodien. Sie sind insbesondere befriedigend abschliefsende Melodien.\nDiese Melodien nun kann M. nicht leugnen. So bleiben f\u00fcr ihn nur zwei M\u00f6glichkeiten: Entweder das MEYER\u2019sche Dognm ist falsch, oder es giebt Melodien ohne Tonica. Da ein Dogma nie falsch sein kann, so er\u00fcbrigt f\u00fcr Meyeb nur die letztere Annahme. Zu ihr entschliefst er sich denn auch. Eis giebt f\u00fcr ihn zwei Gattungen von Melodien. Die einen haben eine Tonica; diese schliefsen nothwendig mit der Tonica ab. Die anderen schliefsen mit keiner Tonica ab; diese haben also auch keine Tonica.\nNat\u00fcrlich fragt man, nach welcher Regel denn diese Melodien befriedigend abschliefsen, da der einzige Grund f\u00fcr einen befriedigenden Abschlufs, den M. anzuf\u00fchren weifs, f\u00fcr sie nicht in Frage kommt. Diese Frage bleibt ohne Antwort\nIndessen lassen wir dies, und kehren zur\u00fcck zur oben gestellten Frage. Wenn f\u00fcr Meter die Tonica und der Abschlufs in derselben nicht die Melodie constituirt, was ist dann f\u00fcr ihn die Melodie?\nHier begegnen wir einer neuen Unterscheidung von Gattun gen der Melodie : Die einen heifsen einfache Melodien. In diesen sind alle T\u00f6ne mit allen verwandt. Die anderen heifsen \u201ecomplexe\u201c Melodien. In diesen finden sich auch T\u00f6ne, die nicht mit einander verwandt sind, \u201eoder besser, T\u00f6ne, die mit einander nicht direct, sondern durch Vermittelung eines dritten Tones verwandt sind\u201c. Meyer f\u00fcgt hinzu, diese complexen Melodien m\u00fcfsten demnach theoretisch in \u201epartial melodies\u201c aufgel\u00f6st werden. Sp\u00e4ter sagt Meyer, speciell mit R\u00fccksicht auf die Melodien ohne Tonica, in diesen Melodien \u201efinden sich allerlei Beispiele \u2014 many instances \u2014 partialer Melodien\u201c. Jede dieser partialen Melodien ist in sich zusammengehalten durch eine secund\u00e4re Tonica. Die partialen Melodien sind in der Gesammtmelodie mit einander \u201everwoben\u201c.\nDamit haben wir die Antwort auf unsere Frage. Melodien sind f\u00fcr Meyer Folgen von T\u00f6nen, die verwandt oder nicht verwandt \u201eoder genauer\u201c indirect verwandt sind. Aufserdem scheint zur Melodie dies zu geh\u00f6ren, dafs in ihnen \u201epartial","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n237\nmelodies\" sich finden, die mit einander verwoben sind. Dabei ist zu ber\u00fccksichtigen, dafs zu den indirect verwandten T\u00f6nen auch solche geh\u00f6ren, die sich etwa wie 2n:405 oder wie 2*: 675 verhalten.\nDieses Ergebnifs ist sehr verwunderlich. Meyer wirft, wie wir sahen, der alten Theorie vor, eine Melodie sei f\u00fcr sie nichts weiter als eine beliebige Folge von T\u00f6nen, die der diatonischen Leiter angeh\u00f6ren. Dieser Vorwurf ist ungerecht Aber der Vorwurf, der Meyer trifft, ist schlimmer. Die T\u00f6ne der diatonischen Leiter sind doch wenigstens enger verwandt als gar manche der indirect verwandten T\u00f6ne Meyer\u2019s.\nDie Melodie und ihre Tonica.\nIn jedem Falle gen\u00fcgt Meyer\u2019s Begriffsbestimmung der Melodie nicht. Eine \u201eMelodie\" ist weder eine Folge indirect, noch eine Folge direct verwandter T\u00f6ne. Sie ist auch nicht eine Folge einzelner Melodien, die mit einander verwoben sind, aber keinen Einheitspunkt haben. Sondern eine Melodie ist zun\u00e4chst eine \u00e4sthetische Einheit. Und dies besagt hier, was es \u00fcberall besagt, n\u00e4mlich dafs ein Mannigfaltiges sich unterordnet einem Gemeinsamen, sich selbst Gleichen, dafs das Mannigfaltige sich darstellt als eine Vermannigfaltigung, Ausgestaltung, Differenzi-rung dieses Einen, als ein Aussichherausgehen dieses Einen und Auseinandergehen desselben in Verschiedenheiten und Gegens\u00e4tze. Das \u00e4sthetisch Einheitliche ist ein \u201eOrganismus\u201c in diesem Sinne.\nBei der Melodie nun kann dies Eine oder dieser Einheitspunkt nur bestehen in einem einzigen \u201eTonrhythmus\u201c. Dabei ist unter dem Tonrhythmus nicht ein Rhythmus einer Reihe von T\u00f6nen verstanden, sondern ein Rhythmus von der Art, wie er nach oben Gesagtem in jeder Tonempfindung oder jedem Tonempfindungsvorgang verwirklicht ist. Jede Tonempfindung ist eine psychische Bewegung von bestimmtem Rhythmus. Und auch daran erinnere ich, dafs dieser Rhythmus dem Schwingungsrhythmus analog gedacht werden mufs. Einem solchen Rhythmus ordnet sich die Melodie unter, in ihm hat sie ihren Einheitspunkt. Sie ist ein in der Zeit sich verwirklichendes System von Tonrhythmen, das in einem einzigen Alles beherrschenden Grundrhythmus seinen Einheitspunkt hat und in ihm, als seiner Basis, abschliefsend sich zusammenfafst. Indem sie diesen","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nTheodor Lipps.\nzusammenfa8senden Abschlufs gewinnt, kommt die Bewegung in sich zur Ruhe. \u2014 Dieser Grundrhythmus ist die wahre und eigentliche \u201eTonica\u201c.\nDies f\u00fchre ich im Folgenden etwas n\u00e4her aus. Zun\u00e4chst aber mache ich zwei Vorbemerkungen. Einmal: Ich setze hier voraus, dafs die Melodie aus einfachen T\u00f6nen, nicht aus Kl\u00e4ngen besteht Kl\u00e4nge sind selbst schon simultane, in einem Einheitspunkte zusammengefafste oder auf einem einheitlichen Grundrhythmus, als ihrer Basis, aufgebaute rhythmische Systeme. Besteht die Melodie aus Kl\u00e4ngen, so complicirt sich das Bild der Melodie. Aber es kommt kein principiell neuer Factor in dasselbe hinein.\nDie zweite Vorbemerkung ist eine terminologische. Auf die Frage, welches die Tonica einer Melodie in C-Dur sei, antwortet die \u201ealte Theorie\u201c : C sei diese Tonica. Dabei ist aber unter dem C nicht das grofse C oder das kleine c oder C, oder c1 gemeint, sondern einer dieser T\u00f6ne. C hat also hier eine allgemeinere Bedeutung. Diese allgemeinere Bedeutung nun soll in der folgenden Darlegung das \u201eC\u201c jederzeit haben. Ich vermeide die Verwechselung mit dem grofsen C, also mit dem bestimmten Tone C, der zwischen Cx und c in der Mitte liegt, indem ich diesen mit C0 bezeichne, so dafs also die verschiedenen C der Reihe nach die Namen Ca, C,, C0, c, c1 etc. tragen. Das Gleiche gilt mit R\u00fccksicht auf 2), E etc.\nNehmen wir nun an, eine Melodie bestehe aus den T\u00f6nen c, e und g. Diese T\u00f6ne seien T\u00f6ne von bezw. 400, 500 und 600 Schwingungen. Dann stellt sich der im Ton c verwirklichte Rhythmus dar als Rhythmus einer Folge von 400 Elementen in der Secunde, oder kurz als \u201eRhythmus 400\u201c, ebenso der Rhythmus der T\u00f6ne e und g bezw. als \u201eRhythmus 500\u201c und als \u201eRhythmus 600\u201c. Alle diese Rhythmen nun haben den Rhythmus 100 gemein. Die drei T\u00f6ne c, e, g haben in diesem \u201eRhythmus 100\u201c ihren Einheitspunkt oder ihre einheitliche Basis; ihre Rhythmen sind verschiedene Differenzirungen dieses Grund-rhythmus. Sie bilden ein einheitliches rhythmisches System, das auf diesem Grundrhythmus sich aufbaut Alle diese Ausdrucke kann ich durch den einen ersetzen : Der Rhythmus 100 ist die eigentliche \u201eTonica\u201c der Melodie.\nDieser Rhythmus ist identisch mit dem Rhythmus des Tones C1. Demnach k\u00f6nnen wir, wenn einem bestimmten ein-","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Zwr Theorie der Melodie.\n239\nseinen Ton der Name \u201eTonica\u201c der Melodie zuerkannt werden soll, auch dies C\u00b1 \u2014 nicht etwa C0 oder c \u2014 f\u00fcr die eigentliche Tonica der fraglichen Melodie erkl\u00e4ren.\nIndessen zu diesem Cx steht nun C0 und c in einer besonderen Beziehung. C0, n\u00e4chst ihm c, tr\u00e4gt den Rhythmus 100 also den Rhythmus von Cx, in besonderem Maafse in sich. Die Rhythmen 200 und 400 sind, wie wir sahen, die einfachsten Differenzirungen des Rhythmus 100. Sie sind, wie bereits oben gesagt wurde, diejenigen Differenzirungen desselben, durch die in den Grundrhythmus keine eigentliche Gegens\u00e4tzlichkeit hinein kommt Der Grundrhythmus 100 wird, so k\u00f6nnen wir auch sagen, durch diese Differenzirungen sich selbst am wenigsten entfremdet Er bleibt relativ als das, was er an sich ist, bestehen. Kurz, der Rhythmus 300 und der Rhythmus 400, weiterhin auch der Rhythmus 800 etc., ist mit dem Rhythmus 100, obzwar in abnehmendem Grade, relativ identisch. Dies findet in unserem Bewufstsein seinen unmittelbaren Ausdruck darin, dafs uns C0 und c in gewisser Weise als \u201eDasselbe\u201c erscheinen, wie Cu nur in h\u00f6herer Lage. Wir erkennen diesen Sachverhalt unmittelbar an, indem wir sie mit gleichartigen Namen bezeichnen.\nUnd demgem\u00e4fs k\u00f6nnen nun auch die T\u00f6ne C0 und c die Stelle der Tonica Ct vertreten. Sie k\u00f6nnen als stellvertretende Toniken auftreten. Damit rechtfertigt sich jene Gepflogenheit der \u201ealten Theorie\u201c von einer Tonica C zu sprechen in der Weise, dafs dabei zwischen Cx, C0, c etc. nicht unterschieden wird.\nImmerhin m\u00fcssen wir dabei bleiben: Im strengen Sinne \u201eTonica\u201c ist in unserem Falle nur der Ton O,, oder noch genauer der Tonrhythmus 100. Die T\u00f6ne C0 oder c k\u00f6nnen nur Tonica sein, sofern sie in der bezeichneten Beziehung zu Cx stehen. Dafs sie durch diese Beziehung stellvertretende Toniken werden k\u00f6nnen, dies wird noch verst\u00e4ndlicher, wenn wir uns erinnern, dafs beim Abschlufs der Melodie auch die Quinte oder die Terz die Stelle der Tonica vertreten kann. Daraus ergiebt sich ein minder vollkommener Abschlufs, aber doch ein Abschlufs, der uns gen\u00fcgen kann. Dies ist m\u00f6glich, weil eben doch auch die Quinte und die Terz die Tonica in sich schliefsen, nur minder vollkommen als die h\u00f6heren Octaven der Tonica. Die wirkliche Tonica schwebt der abschliefsenden Melodie, die nicht bis zur Tonica fortschreitet, sondern mit G oder E als","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nTheodor Lipps.\nSchlufston sich begn\u00fcgt, doch sozusagen vor. Sie liegt implicite darin. So liegt auch in den h\u00f6heren Oetaven der eigentlichen Tonica die Tonica implicite, nur vollkommener, unmittelbarer, reiner, mit Fremdem relativ un vermischt.\nDominanten und Tonica.\nBetrachten wir nun die T\u00f6ne der diatonischen Leiter von C-Dur mit R\u00fccksicht auf ihre F\u00e4higkeit, in einer aus diesen T\u00f6nen gebildeten Melodie Tonica zu sein. Offenbar ist diese F\u00e4higkeit am gr\u00f6fsten bei den T\u00f6nen C, G und F. Diese also heben wir speciell heraus. Wir k\u00f6nnen sie von vornherein der Reihe nach als mittlere, obere und untere \u201eDominant\u201c bezeichnen. \u2014 \u201eFu hat hier nat\u00fcrlich den Sinn, den es in der diatonischen Leiter hat, d. h. es ist damit die Quart von C gemeint. Dies gilt mit R\u00fccksicht auf die ganze folgende Ueber-legung.\nC nun hat in G seine Quinte, in E seine grofse Terz. Damit ist zugleich gesagt, dafs diese beiden T\u00f6ne sich, von den verschiedenen H\u00f6henlagen des C selbst abgesehen, am unmittelbarsten in das auf C aufgebaute rhythmische System einordnen. Sie sind die n\u00e4chsten und einfachsten Differenii-rungen des in C enthaltenen Grundrhythmus. Auch als Diff\u00e9r\u00e9 nzirun gen, nur nicht eben als einfache Differenzirungen dieses Grundrhythmus stellen sich die Secunde und die grofse Septime,\nD und i/, dar. Die noch \u00fcbrigen T\u00f6ne der Leiter, F und A dagegen stehen aufserhalb des auf C aufgebauten oder sich auf- ' bauenden rhythmischen Systems. Dies dr\u00fccken wir mit Anwendung jenes Terminus \u201eDominant\u201c zun\u00e4chst so aus, dafe wir sagen: C ist ,.Dominant\u201c f\u00fcr E und G, weiterhin f\u00fcr H und A und es ist Dominant nur f\u00fcr diese T\u00f6ne. Eine Dominant ist wie der Name sagt, ein herrschender Ton. Und f\u00fcr uns kann dies nur heifsen : Sie ist ein Ton, dessen Rhythmus herrschender oder Grundrhythmus ist f\u00fcr andere T\u00f6ne. Dominant ist f\u00fcr uns, kurz gesagt, die Basis eines rhythmischen Systems. Dabei lassen wir aber dahingestellt, ob die Basis wirksame oder nur ideelle Basis ist. Nur die wirksame Basis nennen wir, wie schon angedeutet, Tonica. Davon sogleich ein Weiteres.\nVergleichen wir nun mit dem Grundton C der diatonischen Leiter die Quinte G, so finden wir: G ist Dominant oder","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n241\nBasis nur f\u00f6r zwei T\u00f6ne, n\u00e4mlich f\u00fcr ihre grofse Terz und Quinte, also f\u00fcr die T\u00f6ne E und D.\nDie Quarte F endlich ist Basis zun\u00e4chst f\u00fcr den Grundton C und die Sexte A. Sie hat wiederum in diesen beiden ihre Quint und grofse Terz. Sie ist dann weiter Dominant oder Basis f\u00fcr alle die T\u00f6ne, die C zur Dominant oder Basis haben, also f\u00fcr G und E und f\u00fcr H und D. Sie ist mit einem Worte die alle T\u00f6ne der Leiter umfassende Dominant\nHiermit ist zun\u00e4chst gesagt, wiefern die T\u00f6ne C, G und f als Dominanten der diatonischen Leiter bezeichnet werden k\u00f6nnen. Zugleich rechtfertigt sich in einfacher Weise die Bezeichnung des F als \u201euntere\u201c, des G als \u201eobere Dominant\u201c. Das rhythmische System auf der Basis C ist in dem gesammten rhythmischen System, das F zur Basis hat, eingeschlossen. F ist f\u00fcr das rhythmische System auf C die tiefer liegende Basis. Andererseits schliefst das auf C sich aufbauende rhythmische System das G, und damit auch das rhythmische System, das G zur Basis hat, in sich. C ist die tiefer liegende Basis oder Dominant dieses letzteren rhythmischen Systems. Das rhythmische System auf G hat C zur tieferen, G zur h\u00f6heren und n\u00e4chsten Basis. \u2014 Die Dominant C kann nach dem Gesagten im Vergleich mit F und G mittlere Dominant heifsen.\nIndem wir die Quart F als die alle T\u00f6ne der diatonischen Leiter umfassende Basis oder Dominant charakterisiren, sind wir nun wieder auf den Punkt gestofsen, auf den Meyer bei seiner Theorie alles Gewicht legt. Weil die Quart die allumfassende Dominant ist, soll sie zugleich die Tonica der Leiter sein, und m\u00fcfste darum zugleich, nach Meyer, als die Tonica aller aus den T\u00f6nen dieser Leiter gebildeten Melodien betrachtet werden.\nIndessen ich gab schon zu verstehen: Dafs ein Ton f\u00fcr andere Basis oder Dominant sei, schliefse nicht ohne Weiteres in sich, dafs er wirksame Basis oder wirksame Dominant derselben sei. Statt dessen kann ich nach einer gleichfalls bereits oben gemachten Bemerkung auch sagen: Es liegt darin nicht eingeschlossen, dafs der Ton f\u00fcr die anderen T\u00f6ne Tonica sei. Denn so unterscheiden wir Dominant und Tonica: Beides sagt, dafs der Rhythmus eines Tones f\u00fcr andere T\u00f6ne Grundrhythmus ist. Das Wort Tonica aber besagt, dafs er wirksamer Grundrhythmus oder wirksame Basis f\u00fcr andero T\u00f6ne ist.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 27.\n16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nTheodor Lippe.\nEs bestehe nun weiter eine Melodie aus den T\u00f6nen c, d, g, f. Dann bestimmt sich die unterste, alle diese T\u00f6ne umfassende Dominant genauer als F8. Zugleich ist Fx speciellere Dominant f\u00fcr die T\u00f6ne c und f. Hier nun ist nur Fu nicht F8, wirksame Dominant. F8, das im Toncontinuum gar nicht verkommt, ist ideelle Basis des rhythmischen Systems, das alle jene vier T\u00f6ne in sich schliefst. Aber es wirkt nicht als Basis, d. h. der Tonrhythmus, der in F8 verwirklicht ist, ist zwar allen jenen T\u00f6nen gemein, oder alle die T\u00f6ne, c, d, /*, g, sind einfache Diffe-renzirungen oder Theilungen desselben, aber er ist nicht wirksamer, n\u00e4mlich \u00e4sthetisch wirksamer Einheitspunkt derselben. Er bindet die T\u00f6ne nicht \u00e4sthetisch an einander. \u2014 Die Wirkung, um die es sich hier \u00fcberall handelt, ist aber eben die \u00e4sthetische Wirkung. \u2014 Dagegen bindet der Rhythmus, der in Fx verwirklicht ist, die T\u00f6ne c und f allerdings \u00e4sthetisch an einander. Fx ist also f\u00fcr diese T\u00f6ne wirksame Basis oder Dominant\nDafs es so sich verh\u00e4lt, das giebt sich uns zu erkennen im Vorhandensein bezw. Nichtvorhandensein des Consonanzgeftihls. Das Intervall c\u2014f ist consonant, d. h. nach fr\u00fcher Gesagtem, wir haben angesichts desselben ein Gef\u00fchl der Einheitlichkeit oder der inneren Zusammengeh\u00f6rigkeit. Dies Gef\u00fchl nun beruht auf dem Aneinandergebundensein der beiden T\u00f6ne durch den ihnen gemeinsamen Grundrhythmus. Dieser Grundrhythmus ist in unserem Falle der Rhythmus des Tones F}. Durch diesen sind also, nach Ausweis des Consonanzgef\u00fchls, die T\u00f6ne c und f \u00e4sthetisch an einander gebunden. Dieser Rhythmus ist nicht nur thats\u00e4chlich und f\u00fcr unser reflectirendes Denken, sondern er ist f\u00fcr unser Gef\u00fchl der Einheitspunkt, oder die Basis f\u00fcr diese beiden T\u00f6ne. Er ist mit einem Worte wirksamer, n\u00e4mlich \u00e4sthetisch wirksamer Einheitspunkt oder er ist wirksame, n\u00e4mlich \u00e4sthetisch wirksame Basis der beiden T\u00f6ne. Es ist Dasselbe, wenn ich sage, der Ton Fj ist wirksame \u201eDominant\u201c der beiden T\u00f6ne, oder, er ist f\u00fcr die beiden T\u00f6ne To ni ca.\nDagegen ist das Intervall f\u2014g, erst recht das Intervall f\u2014d, dissonant. D. h. wir haben ein Gef\u00fchl der Nichtzusammengeh\u00f6rigkeit. Der diesen T\u00f6nen gemeinsame Grundrhythmus \u2014 der in dem Tone F8 bezw. F8 sich verwirklicht oder verwirklichen w\u00fcrde \u2014 bindet also die T\u00f6ne f\u00fcr unser Gef\u00fchl nicht an einander. Er ist demnach nicht wirksamer Einheitspunkt oder wirksame Basis der beiden T\u00f6ne, oder er ist f\u00fcr sie nicht \u00e4sthetischer Ein*","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n243\nheitspunkt oder \u00e4sthetische Basis. Wiederum ist es Dasselbe, wenn ich sage, der Ton F9 bezw. Fa ist nicht wirksame \u201eDonm nant\u201c, oder er ist nicht Tonic a f\u00fcr g oder gar f\u00fcr d.\nVerallgemeinern wir dies, so gelangen wir zu der Regel: T\u00f6ne k\u00f6nnen eine gemeinsame Tonica haben, nur wenn sie gen\u00fcgend eng verwandt d. h. wenn sie consonant sind. Tritt zu zwei verwandten T\u00f6nen ein dritter Ton, so verschiebt sich der gemeinsame Grundrhythmus oder die gemeinsame Basas der drei T\u00f6ne nach der Tiefe; und ist der dritte Ton zu einem der beiden ersten dissonant, so verschiebt sich der gemeinsame Grundrhythmus so weit in die Tiefe, dafs er aufh\u00f6rt f\u00fcr die drei T\u00f6ne wirksamer \u00e4sthetischer Einheitspunkt, kurz Tonica zu sein.\nDazu ist nun freilich ein Zusatz erforderlich. H und D sind zu C dissonant, d. h. sie haben dazu geringe Verwandtschaft; ihr gemeinsamer Grundrhythmus gen\u00fcgt nicht, sie \u00e4sthetisch zu vereinheitlichen. Aber H und D sind unter gewisser Voraussetzung die dem C n\u00e4chst benachbarten T\u00f6ne. H0 und d etwa sind unmittelbar benachbart dem C0. Und diese Nachbarschaft vermag bei der Aufeinanderfolge der T\u00f6ne, also in der Melodie, den Mangel der Verwandtschaft zu erg\u00e4nzen. Sie ist sozusagen eine eigene Art der Verwandtschaft, durch welche die Wirkung der eigentlichen Tonverwandtschaft unterst\u00fctzt wird. B0 und d sind f\u00fcr C0 \u201eLeitt\u00f6ne\u201c.\nEbenso hat die Quarte F unter Voraussetzung einer bestimmten Lage ihre Leitt\u00f6ne in E und G. Dagegen hat die Quint G in der diatonischen Leiter keine Leitt\u00f6ne.\nDanach ist also die Quart, was die F\u00e4higkeit Tonica zu sein angeht, zun\u00e4chst dem Grundton C v\u00f6llig gleichgestellt, und nur die Quint benachteiligt. Und dabei bleibt es auch, so lange wir nur jeden der drei T\u00f6ne: Grundton, Quart und Quint, f\u00fcr sich betrachten und nach seiner Stellung zu den T\u00f6nen der Leiter fragen.\nDie Melodie aus der diatonischen Leiter.\nInnerhalb des Ganzen der Melodie ist nun aber aufserdem wichtig das Verh\u00e4ltnifs der Identit\u00e4t oder Verwandtschaft bezw. der Dissonanz, in welchem die T\u00f6ne der drei im Vorstehenden betrachteten rhythmischen Systeme, n\u00e4mlich der rhythmischen Systeme mit C, G und F als Basis, zu einander stehen.","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nTheodor Lipps.\nHierbei ist zun\u00e4chst noch einmal daran zu erinnern, dafeG zugleich der erste Ton des auf C, C zugleich der erste Ton des auf F aufgebauten rhythmischen Systems ist; damit ist zugleich die enge Verwandtschaft zwischen F und C und C und G betont\nWeiter ist zu beachten, dafs die T\u00f6ne des rhythmischen Systems auf G, d. h. H und D, zusammenfallen mit den Leit t\u00f6nen f\u00fcr C, ebenso die T\u00f6ne des rhythmischen Systems auf C, die T\u00f6ne E und G, zusammenfallen mit den Leitt\u00f6nen f\u00fcr F. Es ist endlich besonders zu ber\u00fccksichtigen die volle Dissonanz zwischen I einerseits, und H und Z>, die f\u00fcr C Leitt\u00f6ne sind, oder sein k\u00f6nnen, andererseits.\nDamit kommen wir nun endlich zur Betrachtung der Melodie, die aus den T\u00f6nen der diatonischen Leiter \u00fcberhaupt gebildet ist Die Melodie, so sagte ich, ist eine \u00e4sthetische Einheit Sie wird dazu durch den das Ganze der Melodie beherrschenden Grundrhythmus. Dieser ist die eigentliche Tonica. Betonen wir hier noch speciell das Negative an dieser \u201eEinheit\u201c der Melodie : Die Melodie ist nicht eine Folge von T\u00f6nen, sondern sie ist im Vergleich damit ein Neues. Daraus folgt, dafs ein Ton nicht einfach dadurch Tonica der Melodie wird, dafs er Tonica ist f\u00fcr alle T\u00f6ne der Melodie. Sondern eine Melodie kann da und dort diese oder jene, und sie kann doch zugleich im Ganzen oder als Einheit eine einzige Tonica haben. So hat auch ein Omamenthier diese, dort jene Richtung; und doch ist im Ganzen seine Richtung eine einzige. Oder eine Rede verfolgt hier diesen, dort jenen Gedanken und entwickelt doch im Ganzen nur einen einzigen Gedanken.\nDem f\u00fcgen wir hinzu : \u2014 Die Melodie entsteht Und indem sie entsteht, wird auch erst ihre Tonica zu der das Ganze beherrschenden Tonica, d. h. das rhythmische System, als welches die Melodie zu betrachten ist, gewinnt erst in seinem Entstehen in einem einzigen Rhythmus seine einheitlich wirksame Basis. Und indem es dieselbe gewinnt, kommt zugleich die Bewegung der Melodie in sich zur Ruhe. Die Gewinnung dieser Basis ist die wahre \u201eR\u00fcckkehr zur Tonica\u201c.\nDieser Procefs vollzieht sich aber durch Gegens\u00e4tze. Je mannigfaltiger die Rhythmen sind, die in die Melodie eingehen, je reicher also die Melodie ist, desto mannigfaltiger und gr\u00f6Cser sind die Gegens\u00e4tze. Die Gegens\u00e4tze sind genauer Gegens\u00e4tze","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\t2^5\nzwischen den Anspr\u00fcchen verschiedener Tonrhythmen, Grundrhythmen oder Tonica des Ganzen zu sein.\nAn sich betrachtet nun erhebt jeder Ton diesen Anspruch. Innerhalb der Melodie in C-Dur k\u00f6nnen ihn aber aus den oben bezeichneten Gr\u00fcnden vor Allem erheben C, F und G. Soll aber einer dieser T\u00f6ne Tonica werden, so m\u00fcssen die Anspr\u00fcche der anderen \u00fcberwunden werden.\nVerl\u00e4uft nun die Melodie in C-Dur, so ist damit ohne Weiteres gesagt, dafs C bestimmt ist Tonica zu sein oder dazu zu werden. Darauf wird also die Melodie von vornherein angelegt sein. Sie mufs in ihrem ganzen Verlauf umso einheitlicher erscheinen, je entschiedener von vornherein auf diese Tonica hingewiesen wird. Dies geschieht am wirksamsten durch die Folge G\u2014C. Damit ist bereits in ihrem einfachsten Grundzuge die Melodie mit C als Tonica gegeben: Wir haben ein rhythmisches System, das in seine Basis C einm\u00fcndet\nAber es handelt sich hier um die reicher sich entfaltende, ' insbesondere um die alle T\u00f6ne der diatonischem Leiter in sich aufnehmende Melodie. Indem diese T\u00f6ne successive auftreten, entstehen jene Gegens\u00e4tze, und beginnt die Aufgabe ihrer U eberwindung.\nNoch aufserhalb des Kampfes um die Stellung als Tonica steht K Indem E zu C und G hinzutritt, wird nur der Hinweis auf C als Tonica gesteigert, also die Stellung der Tonica befestigt Nicht blos darum, weil auch E zum rhythmischen System C hinzugeh\u00f6rt, und mit G zusammen C zur wirksamen Basis hat, sondern auch verm\u00f6ge der relativen Dissonanz zwischen E und G. Hier schon gewinnt die allgemeine Regel Bedeutung \u2014 die auch auf anderen Gebieten ihr Analogon hat: \u2014 Treten zwei T\u00f6ne sich gegen\u00fcber, die zu einander dissonant, aber zugleich mit einem dritten Tone nahe verwandt sind, so vermindert jeder der beiden T\u00f6ne den selbst\u00e4ndigen Anspruch des anderen zu Gunsten des dritten, d. h. es steigert sich der Hinweis auf den dritten und die Geneigtheit der T\u00f6ne diesem dritten als herrschendem Tone sich unterzuordnen.\nDagegen beginnt jener Kampf, indem zu G die auf G als Basis sich aufbauenden H und D hinzutreten. Es entfernt sich jetzt die Melodie von der Tonica C, und stellt sich auf die Tonica G. Zugleich bleibt sie doch durch G an C gebunden, und zwar umsomehr, je mehr G in seinem rhythmischen System","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a346\nTheodor Lippe.\ndominirt, oder die H und D sich ihm unterofdnen. Die Entfernung von C ist also nicht eine Losl\u00f6sung. Die Melodie schwebt zun\u00e4chst nur zwischen C und G, obzwar mit gr\u00f6feerem oder geringerem Uebergewicht des G.\nAndererseits weist die Bewegung, wenn H und D als Leitt\u00f6ne des C auftreten, wiederum unmittelbar auf C hin und kann in C \u00fcbergehen. Dann wird die Entfernung von C in ihrem eigenen Verlaufe zur R\u00fcckkehr zu C, und ebendamitzur volleren Anerkennung des C als Tonica.\nAnders, wenn nun F in die Melodie eintritt. F ist, wie gesagt, f\u00fcr C Basis. Und die auf C unmittelbar sich aufbauenden T\u00f6ne E und G sind f\u00fcr F Leitt\u00f6ne. Und tritt zu F das A, so weist auch A auf F als seine Basis hin. Damit ist zun\u00e4chst gesagt, wie die Melodie durch sich selbst, in ihrem nat\u00fcrlichen Verlauf, zu-Fhingeleitet werden, und zugleich, wie F zu seinem Anspruch auf die Stellung als Tonica gelangen kann.\nAber wir verstehen ebensowohl, wie dieser Anspruch, und zwar zu Gunsten des C, \u00fcberwunden werden kann. Da alle die soeben be-zeichneten T\u00f6ne zu C hinf\u00fchren, und seinen Anspruch Tonic\u00bb zu sein unterst\u00fctzen, da andererseits keiner der auf F als Basis sich aufbauenden T\u00f6ne Leitton f\u00fcr C oder auch nur f\u00fcr G ist, also keiner dieser T\u00f6ne direct oder indirect von F zum Grundton C hinf\u00fchren kann, so kann diese Ueberwindung nur auf einem Wege geschehen. Dieser Weg ist bezeichnet durch die T\u00f6ne H und D.\nDie Melodie sei von C irgendwie, etwa auf dem einfachsten Wege, d. h. unmittelbar von C aus, oder durch G oder E oder durch diese beiden T\u00f6ne hindurch, zu F gelangt, \u2014 in jedem Falle erscheint F zun\u00e4chst als Tonica. Oder die Melodie schwebt zwischen der Tonica F und der Tonica C. Die Folge c \u2014 e\u2014g etwa kann befriedigend abschliefsen in c; aber sie schliefst ebensowohl befriedigend ab in f. In j e n em befriedigenden Abschlufs zeigt sich die Kraft der auf \u00c7 unmittelbar aufgebauten T\u00f6ne, in diesen die Kraft der Leitt\u00f6ne. Und f\u00fcgen wir das F thats\u00e4chlich hinzu, bilden also die Folge c \u2014 e\u2014g \u2014 f, und lassen darauf wieder einen oder mehrere der T\u00f6ne C, G, E folgen, so ist gar die M\u00f6glichkeit unmittelbar zu C \u00fcberzugehen und in C abzuschliefsen, aufgehoben. C ist also jetzt nicht mehr Tonica. Dagegen ist F Tonica geblieben. Es ist jetzt ausschliefsliche Tonica: Die Reihe c\u2014e \u2014 g\u2014f\u2014e etwa","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n247\n[>der c\u2014e\u2014g\u2014f\u2014g kann nur in einem nachfolgenden f unmittelbar zum befriedigenden Abschlufs kommen.\nNun folge aber auf F ein H oder 2), oder es folgen beide T\u00f6ne. Ein vorangegangenes C, an das diese T\u00f6ne als Leitt\u00f6ne gebunden sind, oder ein vorangegangenes G, auf das sie sich unmittelbar auf bauen, kann in nat\u00fcrlicher Weise zu ihnen hinleiten. Damit ist die Situation v\u00f6llig ver\u00e4ndert. Jetzt ist nicht mehr Fy sondern nur noch C Tonica. Die Reihe c \u2014 e\u2014g\u2014f\u2014d etwa, oder c \u2014 e\u2014g\u2014f\u2014H0 kann nicht unmittelbar befriedigend abschliefsen in f. Sie kann auch nicht befriedigend abschliefsen in d oder in H0 oder in einem sonstigen von C verschiedenen Tone, sondern einzig in C, und genauer in dem C, dessen Leitt\u00f6ne die H0 und d sind, in unserem Falle also in c.\nDies nun geschieht nach der Regel, die uns schon oben begegnete. Ich wiederhole dieselbe theilweise in etwras anderer Form: Treten sich zwei dissonante T\u00f6ne gegen\u00fcber, die aber einem und demselben dritten Tone gen\u00fcgend eng verwandt sind, so dr\u00e4ngt die Bewegung von ihnen nach diesem dritten Tone hin und die dissonanten T\u00f6ne selbst verlieren mehr oder minder die Bedeutung und Wirkung f\u00fcr den Verlauf der Tonbewegung, die sie an sich betrachtet, d. h. als diese von einander verschiedenen T\u00f6ne, haben w\u00fcrden. \u2014 Das Letztere ist eine genauere Bestimmung dessen, was ich oben als Tendenz der Unterordnung bezeichnet habe. Die eigene Wirkung der dissonanten T\u00f6ne ordnet sich unter ihrer gemeinsamen Wirkung. Diese gemeinsame Wirkung ist aber eben der Hinweis auf den dritten Ton.\nDamit ist angedeutet, was in unserem Falle das Entscheidende ist, n\u00e4mlich die volle Dissonanz zwischen F einerseits und H und D andererseits, und der Umstand, dafs diese T\u00f6ne gemeinsam zu C in dem innigen Verh\u00e4ltnisse stehen, wie es in ihrer Bezeichnung als Leitt\u00f6ne des C ausgesprochen hegt.\nAus diesem Sachverhalt ergiebt sich zun\u00e4chst ein Doppeltes, n\u00e4mlich einmal der entschiedene Hinweis auf C. Dieser Hinweis besagt noch nicht ohne Weiteres, dafs C Zielton der Bewegung ist. C ist zwar Zielton f\u00fcr die \u2014 als Leitton auftretenden \u2014 H und Z>, aber nicht f\u00fcr F. Indessen hier ist der Umstand wichtig, dafs das H oder D auf F folgt, oder zwischen F und das abschliefsende C tritt. Durch dies dem ^nachfolgende H oder 2) wird F in den Hintergrund gedr\u00e4ngt. Es ordnet sich","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nTheodor Lippe.\ndein H oder D, das dem C zeitlich unmittelbar vorangeht, hinsichtlich seiner Wirkung unter. D. h. als die zun\u00e4chst auf C hinweisenden T\u00f6ne erscheinen H oder D; das F dient nur, diesen Hinweis zwingender zu machen. So geschieht es, dah der Fortgang von F\u2014D oder F\u2014H zu C im Ganzen den Charakter hat, den der Fortgang des H oder D zu C in sich schliefst, d. h. den Charakter des befriedigenden Abschlusses.\nDafs es in der That so ist, zeigt leicht der Versuch. Man lasse das H oder D dem F vorangehen, bilde also etwa die Folge c\u2014e \u2014 g \u2014 H0\u2014/*, und gehe von da zu C \u00fcber. Dies ist nichts weniger als ein befriedigender Abschlufs. Soll ein solcher erreicht werden, so mufs zwischen f und c wiederum ein H0 oder d ein-treten, oder es mufs \u2014 dies leistet die gleichen Dienste \u2014 ein anderer Ton, f\u00fcr den C Zielton ist, also g bzw. G0 oder e eingeschoben werden.\nDas Zweite, was aus diesem Gegeneinanderwirken von F und einem nachfolgenden H oder D sich ergiebt, ist dies, dafs nun keine Tendenz mehr besteht, von dem abschliefsenden C wiederum zu F fortzugehen. Oben war davon die Rede, dafs die Folge c\u2014e\u2014g in /*, ebensowohl aber auch in c befriedigend abschliefeen k\u00f6nne. Wir m\u00fcssen jetzt hinzuf\u00fcgen: Angenommen, ich gehe zu c, so hindert doch der damit erreichte befriedigende Abschlu\u00df nicht, dafs ich von c zu f weitergehe und hier von neuem befriedigend abschliefse. c \u2014 e\u2014g\u2014c schliefst befriedigend ab. Aber c\u2014e \u2014 g \u2014 c\u2014f nicht minder. Jener erste Abschlu\u00df ist also kein endg\u00fcltiger. Ich mufs nicht bei c bleiben. Dagegen ist der durch die Dissonanz zwischen f und einem nachfolgenden H{) oder d bewirkte Abschlufs in c \u2014 nicht blos ein wirklicher befriedigender Abschlufs, sondern er hat den Charakter des endg\u00fcltigen Abschlusses.\nDies hat seinen Grund wiederum in jener Dissonanz. F ist an sich nat\u00fcrlicher Zielton des C, d. h. die Bewegung C\u2014 Fist eine in F zur Ruhe kommende. Aber F\\ auf das H oder D folgt, ist eben nicht mehr das F\\ das es an sich ist, sondern es ist ein F, das der Einwirkung des zu ihm dissonanten U oder D unterlegen ist. Dadurch ist in F eine St\u00f6rung, ein Moment der Unruhe, der Entzweitheit hineingekommen, das auch, wenn das F verklungen ist, und von Neuem auftritt, noch nachwirkt. Und in einem solchen F kann keine Bewegung zur Ruhe kommen. Wir k\u00f6nnen dies auch kurz so ausdr\u00fccken : Die Nachwirkung der Dissonanz,","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n249\ndurch welch\u00a9 das Fortdr\u00e4ngen der Bewegung von F nach C bewirkt wurde, schliefst ohne Weiteres die Aufhebung der umgekehrten Tendenz, d. h. der Tendenz der R\u00fcckkehr von C zu F in sich. Wir k\u00f6nnen die allgemeine Regel aufstellen: Ein Ton, der an sich Zielton f\u00fcr einen anderen Ton w\u00e4re, kann dieser Eigenschaft durch einen zu ihm dissonanten Ton, der vorher erklungen ist und nachwirkt, beraubt werden.\nFunction der Quart.\nHieraus ist nun auch schon theilweise die besondere Bedeutung der Quart, und damit auch der unmittelbar zu ihr geh\u00f6rigen Sext, f\u00fcr das Ganze der Melodie deutlich. Sie besteht einmal darin, dafs die Quart, und mit ihr die Sext, nicht nur die Melodie vermannigfaltigt, sondern in sie den st\u00e4rksten Gegensatz zur Tonica hineinbringt Indem dieser Gegensatz auftritt und \u00fcberwunden wird, kommt in die Melodie ein eigenartiges neues Leben. Dabei ist immer zugleich zu bedenken, dafs das zeitweilige Auftreten des F als Tonica, und das Uebergewicht dieser secund\u00e4ren Tonica \u00fcber die prim\u00e4re Tonica C, ebenso wie das Auftreten der Tonica G und ihr Ueberge wicht \u00fcber die Tonica C, ganz abgesehen von der Ueberwindung, doch insofern die Einheitlichkeit der Melodie wahrt, als F\\ ebenso wie Gy n\u00e4chster Verwandter der Tonica C ist.\nDazu kommt der zweite Punkt: Die T\u00f6ne H und D sind, wie wir sahen, auch ohne die Quart, Vermittler des Fortgangs zu C als Tonica. Aber dieser in sich nat\u00fcrliche Fortgang wird nun durch die hinzutretende Quart zwingender. Und zwar in doppeltem Sinne. Einmal in dem schon oben bezeichneten : Die Bewegung dr\u00e4ngt verm\u00f6ge der Dissonanz der Quart \u2014 und der Sext \u2014 einerseits, und H und I) andererseits, intensiver nach C hin. Man lasse etwa erst die Folge c \u2014 e \u2014 g\u2014H0 oder c\u2014e\u2014g\u2014jjo\u2014d mehrmals hintereinander erklingen, und gehe dann \u00fcber zur Folge c\u2014e\u2014g\u2014f\u2014ti0 bzw. c \u2014 e\u2014g \u2014 f\u2014H0\u2014d. Es ist dann kein Zweifel, dafs die beiden letzteren Folgen energischer zum Fortgang zu C auffordern. Und gehorchen wir in beiden F\u00e4llen dieser Aufforderung, lassen also c thats\u00e4ch-lich folgen, so erscheint der Fortgang im zweiten Falle begr\u00fcndeter, innerlich nothwendiger. Die N\u00f6thigung zum Fortgang hat sich durch das Eintreten des F f\u00fchlbar vervollst\u00e4ndigt, ist sozusagen voller geworden.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nTheodor Lippe.\nUnd wir verstehen auch, warum es so sich verhalt Wir sind eben jetzt von zwei deutlich entgegengesetzten Seiten her zu C hingedr\u00e4ngt. Wir f\u00fchlen darum in h\u00f6herem Grade, als wenn F fehlt: Hier ist kein Ausweg mehr; die Bewegung mois zu C fortschreiten.\nOder man vergleiche die Folge c \u2014 e\u2014g\u2014 H0 mit der Folge c\u2014 e\u2014g \u2014 \u2014H0. Hier ist an die Stelle der Quart die Seit getreten. Aber die Wirkung ist eine gleichartige. Sie verst\u00e4rkt sich, wenn Quart und Sext zusammenwirk\u00ean, wie in c\u2014e\u2014g\u2014f\u2014A\u00df\u2014H0 oder c \u2014 e \u2014 g \u2014 f\u2014A0 \u2014 H0\u2014d.\nAuf diesen Punkt habe ich schon fr\u00fcher, an anderer Stelle, Gewicht gelegt. Meyer sagt mit Bezug darauf, ich stelle das psychologische Gesetz auf, der Grundton C werde in h\u00f6herem Grade Zielpunkt der Bewegung, weil die Quart vorangehe, und f\u00fcgt hinzu : \u201eDies w\u00e4re, als ob man von Napoleon sagen wollte, Elba wurde f\u00fcr ihn in h\u00f6herem Grade Zielpunkt, weil er erst Kaiser war.\u201c Ich bemerke auch hier, dafs ich eine solche th\u00f6richte Behauptung nicht aufgestellt habe.\nAber die Bewegung von H und D nach C hin wird durch die Quart zwingender nicht nur in dem Sinne, dafs wir weniger bei H und D bleiben k\u00f6nnen, sondern auch noch in dem besonderen Sinne, dafs wir mit besonderer Ausschliefslichkeit eben zu diesem Ton, also zu C, fortgedr\u00e4ngt werden.\nHier komme ich zur\u00fcck zu unserem fr\u00fcheren Beispiel G0\u2014H0\u2014d\u2014f\u2014 G. Wir sahen schon damals: Die Folge G0\u2014 schliefst befriegend ab in C, aber auch in G. Tritt nun aber das /\u2018hinzu, so ist der befriedigende Abschlufs in G ausgeschlossen. Es bleibt nur der Abschlufs in C \u00fcbrig.\nDies k\u00f6nnen wir jetzt auch so ausdr\u00fccken: Der Anspruch des G, Tonica zu sein, wird aufgehoben, und die Tonica C in ihr Recht eingesetzt. Ebenso also, wie nach Obigem durch E und D das so wird durch F die Basis des H und D, das G, zu Gunsten des C aus seiner vor\u00fcbergehenden Tonica-Stellung verdr\u00e4ngt. Der Grund liegt wiederum in der Dissonanz. Ich sagte oben, das in die dissonante Beziehung zu J\u00f6 oder D ge-rathene F sei nicht mehr das Fy als das es sonst sich darstelle. Ebenso nun ist das U oder D, nachdem es in die dissonante Beziehung zu F gerathen ist, nicht mehr das H oder 2), oder wirkt nicht mehr als das H oder Z>, das es sonst ist Beide \u00fcben nicht mehr die selbst\u00e4ndige Wirkung, die sie als diese von","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n261\nI verschiedenen T\u00f6ne \u00fcben w\u00fcrden, sondern diese Wirkung ist der gemeinsamen Wirkung auf C untergeordnet Zu dieser selbst\u00e4ndigen Wirkung des H oder D geh\u00f6rt aber vor Allem ihr Abzielen auf G. Dies wird also aufgehoben. Dadurch ist G seines Anspruchs, Tonica zu 9ein, verlustig. \u2014 Die der Wirkung der Quart gleichartige Wirkung der Sext ist ersichtlich etwa aus der Folge G0 \u2014 H0 \u2014 d\u2014 A0 \u2014 G0 \u2014 c; die verst\u00e4rkte Wirkung des Zusammen von Quart Und Sext aus der Folge G0 \u2014 H0\u2014d \u2014 A.0 f Hq c.\nEndlich hat die Quart ihre eigenartigste Bedeutung darin, dafs sie, wiederum auf Grund jener Dissonanz mit H oder D, oder beiden, in besonderem Maafse einen endg\u00fcltigen Abschlufs herbeizuf\u00fchren vermag. Ich wiederhole : H und D verm\u00f6gen in durchaus nat\u00fcrlicher Weise von G zu C hinzuleiten und C den Charakter der Tonica zu geben. Aber nicht jede Hinf\u00fchrung zu C als Tonica ist abschliefsend. Es giebt \u2014 in der Melodie in C-Dur \u2014 einleitende Hinf\u00fchrungen zu C als Tonica, und es giebt solche, bei denen C als Durchgangs-punkt oder als vor\u00fcbergehender Ruhepunkt erscheint. Die Verbindung des U oder D mit F aber schafft in besonderem Maafse solche Hinf\u00fchrungen zu C als Tonica, die C als endg\u00fcltigen Abschlufs erscheinen lassen. Die Folge g\u2014 H0 \u2014 c etwa f\u00fchrt zweifellos zu C als Tonica hin; aber vielleicht dient sie damit nur der Einf\u00fchrung der Tonica C. In der That ist diese Folge zur bestimmten Einf\u00fchrung der Tonica trefflich geeignet. Dagegen geht die Folge g\u2014\u2014 c \u00fcber die blofse Einf\u00fchrung hinaus. Sie ist specifisch geeignet zum Abschlufs des Ganzen. Noch mehr klingt etwa g\u2014f\u2014A0\u2014H0\u2014c oder g \u2014 a\u2014f\u2014e\u2014d\u2014c als endg\u00fcltiger Abschlufs. Man vergleiche mit der letzteren Folge die Folge g\u2014e\u2014d\u2014c, die wiederum zur Einf\u00fchrung der Tonica und damit zur Einleitung der Melodie specifisch geeignet erscheint.\nWiederum hat dieser Sachverhalt seinen Grund in der Dissonanz F\u2014H oder F\u2014D. Ich sagte, diese dissonanten T\u00f6ne ordnen sich oder ihre Wirkung in besonderer Weise unter dem C oder der Wirkung auf C. Hier kommt es mir darauf an, dafs sie sich dem C in besonderer Weise unterordnen. Daboi bedenken wir: Das zur Ruhe Kommen einer Folgo von T\u00f6nen in der Tonica ist Unterordnung unter die Tonica. Es besagt, dafs die Tonica der sicher herrschende Factor geworden ist in einem","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nTheodor l\u00c0pps.\nrhythmischen System, dafs das ganze System sich in der Tonica zusammenfafst und zusammenschliefst, dafs die T\u00f6ne, die sich unterordnen, nicht Geltung beanspruchen als diese so beschaffenen T\u00f6ne, nicht f\u00fcr sich etwas sein wollen, sondern \u201edienen\u201c, zu dienenden Momenten werden in dem herrschenden Factor, also in der Tonica oder dem in ihr repr\u00e4sentirten Grund* rhythmu8, dafs sie in der Tonica relativ aufgehen. Demgem\u00e4fs ist jedes Moment, das irgendwelche T\u00f6ne zu solcher Unterordnung unter einen dritten Ton n\u00f6thigt, geeignet, das zur Ruhe Kommen der Bewegung in diesem dritten Tone zu steigern.\nEin solches Moment ist nun aber eben jene Dissonanz zwischen F einerseits und H und D andererseits. Die dissonanten T\u00f6ne widerstreiten sich oder wirken gegen einander; sie bestreiten sich das Recht des Daseins und wirken damit auf die gemeinsame Unterordnung unter die Tonica C hin. Nach oben Gesagtem geht mit dieser gemeinsamen Unterordnung zugleich eine Unterordnung des F oder seiner Wirkung auf C unter die H oder D und ihren Hinweis auf C, Hand in Hand. \u2014 Nebenbei bemerkt: Meter meint, Tonempfindungen streiten nicht mit einander. Das ist eben ein Irrthum. Im Uebrigen l\u00e4fst auch Meyer gelegentlich die Tonica \u201ewin the battle\u201c. Ich verstehe nicht, wie man eine Schlacht gewinnen kann ohne Streit\nIch f\u00fcge noch hinzu : Auch bei dem Aufbau der Terz und Quint auf der Tonica l\u00e4fst der relative Widerstreit zwischen Terz und Quint nicht nur, wie bereits betont, den Hinweis auf die Tonica zwingender erscheinen, sondern er bewirkt auch, dafe die Tonica in h\u00f6herem Maafse der feste und sichere Ruhepunkt innerhalb des aus Tonica, Terz und Quint gebildeten rhythmischen Systems ist. Das Gleiche nun geschieht in unserem Falle, nur, wegen der st\u00e4rkeren Dissonanz, mit h\u00f6herer Wirkung.\nR\u00fcckkehr zu Meyer\u2019s Intonationen der Quart\nund Sext.\nMit dem oben \u00fcber die Stellung der Quart und der Seit Gesagten bin ich in sehr bestimmten Gegensatz zu Meyeb getreten. Meyer sind in der Melodie mit prim\u00e4rer Tonica Quart und Sext der Tonica unverst\u00e4ndlich. Uns erschienen sie als verst\u00e4ndlich und nothwendig. Diesen Gegensatz zu Meter mufs","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n253\nich nun zun\u00e4chst noch weiter rechtfertigen. Zugleich aber wird sich dabei eine Art von Ann\u00e4herung an Meter ergeben.\nDie Abweisung der Quart und Sext wird von Meter in der Eingangs angegebenen Weise theoretisch begr\u00fcndet. Diese theoretische Begr\u00fcndung ist, wie wir sahen, nicht stichhaltig. M. verkennt das Wesen der Melodie.\nAber auch die gegebenen oder m\u00f6glichen einzelnen Melodien werden aus Meter\u2019s Theorie nicht verst\u00e4ndlich. Wo Einheit und Nat\u00fcrlichkeit des Fortgangs herrscht, w\u00fcrde Meter\u2019s Theorie mitunter die vollste Zusammenhangslosigkeit an die Stelle setzen. Was dies betrifft, so gen\u00fcge ein Beispiel Ich wiederhole : Immer, wenn C Tonica ist, soll, nach Meter, F zu C im Verh\u00e4ltnis von 21:16, A zu C im Verh\u00e4ltnis 27:16 stehen. Eine Melodie in C-Dur nun k\u00f6nnte vollkommen befriedigend abschliefsen in der Folge c \u2014 f\u2014A0 \u2014 H0\u2014c. Diese T\u00f6ne m\u00fcssen sich nach M. verhalten wie 32 : 42 :27 : 30 : 32. Hier ist der zweite Ton, auch f\u00fcr Meter, nicht verwandt mit dem ersten, also auch nicht mit der Tonica; der dritte nicht verwandt mit dem zweiten und ebensowenig mit der Tonica; der vierte nicht verwandt mit dem dritten. Die einzige in der Tonfolge vorkommende Beziehung, die T\u00f6ne musikalisch an einander binden kann, ist die zwischen dem vierten und dem Schlufston. Im Uebrigen erscheinen in jener Tonfolge einfach T\u00f6ne, die einander und der Tonica fremd sind, neben einander gestellt.\nUnd doch haben wir angesichts dieser Folge das Gef\u00fchl des nat\u00fcrlichsten Fortgangs und des nat\u00fcrlichsten Aufbaus auf der Tonica. Die \u201ealte Theorie\u201c nun sagt, warum es so sein mufs. F\u00fcr sie ist der zweite Ton dem ersten, der dritte dem zweiten und der Tonica aufs Engste verwandt. Der vierte ist zum dritten dissonant, aber beide sind durch die Tonica an einander gebunden.\nNun beruft sich aber Meyer auf die Erfahrung. Er hat eine Reihe Melodien untersucht und \u00fcberall T\u00f6ne gefunden, die die alte Theorie als Quarten und Sexten fafst, bei denen aber diejenige Intonation als die richtige, oder als die bessere, oder \u00e4sthetisch wirkungsvollere erschien, die seiner Auffassung dieser T\u00f6ne als Septime bezw. Secunde der Quint entsprach. Ich wiederhole, dafs hierbei F zur Tonica C wie 21:16, A zur Tonica C wie 27:16 sich verh\u00e4lt. Setzen wir statt 21:16 das","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nTheodor Lipps.\nVerh\u00e4ltnis 63: 48, statt 27 :16 das Verh\u00e4ltnis 81:48, so ergiebt sich, dais Meyeb bei seiner Intonation F etwas tiefer, n\u00e4mlich um V\u00ab4 tiefer, und A etwas h\u00f6her, n\u00e4mlich um 7b o h\u00f6her nahm als Diejenigen thun, die die diatonische Leiter festhalten. F\u00fcr diese verh\u00e4lt sich ja F zu C wie 4 : 3 = 64 :48, und A zu C wie 5:3 =* 80 : 48.\nIch gedenke nun nicht die Sorgfalt der Untersuchungen Meyer\u2019s oder sein musikalisches Gef\u00fchl in Zweiei zu ziehen. Aber ich bezweifle die Beweiskraft seiner Ergebnisse. Meyeb selbst hat in Gemeinschaft mit Stumpf h\u00f6chst sorgf\u00e4ltige und dankenswerthe Untersuchungen dar\u00fcber angestellt, welche Intonation der grofsen Terz, der Quint, der Octave, andererseits der kleinen Terz eines gegebenen Tones als die richtige oder \u00e4sthetisch wirksamere erscheine, und das Ergebnifs war, dafs \u2014 nicht Unmusikalischen, sondern musikalisch Hochbegabten als richtige Intonationen diejenigen erschienen, bei denen die grofee Terz, die Quint, die Octave in zunehmendem Grade zu hoch, d. h. h\u00f6her als es die Verh\u00e4ltnisse 4:5, 2:3, 1:2 vorschrieben, die kleine Terz dagegen zu tief, d. h. tiefer als es das Verh\u00e4lt-nifs 5:6 vorschrieb, genommen wurden.\nDies nun hat Meyer nicht etwa veranlafst, in der Tonleiter, aus welcher unsere Melodien gebildet sind, die Verh\u00e4ltnisse 4:5, 2:3, 1:2 und 5:6 zu streichen und andere, die jener richtigen Intonation entsprechen, an ihre Stelle zu setzen. Sondern er hat theoretisch die diesen Verh\u00e4ltnissen entsprechenden Intervalle festgehalten, nur mit dem Zusatz, dafs die musikalische Intonation praktisch davon abweiche.\nHier m\u00fcssen wir zun\u00e4chst fragen: Wie kommt Meyeb m dieser Stellungnahme? Wie kann man theoretisch die Musik auf Verh\u00e4ltnisse auf bauen, die das musikalische Gef\u00fchl durch andere, sei es auch wenig davon abweichende ersetzt?\nAesthetische Abweichungen von Normalformen.\nAuf diese Frage nun ist schon in jener Abhandlung von Stumpt und Meyer eine Antwort gegeben, die mir zutreffend scheint Ich formulire dieselbe aber hier in meiner Weise, zugleich an einem Punkte etwas genauer.\nIn kunstgewerblichen Erzeugnissen, etwa Majolicagef\u00e4fsen, begegnen wir allerlei geometrischen Formen, wie Kreisen, geraden Linien. Die \u00e4sthetische Wirkung dieser Formen beruht","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n255\ndarauf, dafs sie diese geometrischen Formen sind. Und doch w\u00e4re auch wiederum die \u00e4sthetische Wirkung der Formen vermindert, ja es w\u00e4re das Beste an ihr zerst\u00f6rt, wenn die geometrischen Formen rein, in mathematischer Strenge gegeben w\u00e4ren. Die Formen w\u00e4ren \u201echarakterlos\u201c. Das \u00e4sthetische Gef\u00fchl fordert leichte Abweichungen.\nDies nun hat seinen Grund darin, dafs die Formen nicht als solche ihre \u00e4sthetische Wirkung \u00fcben, sondern verm\u00f6ge des Lebens, das sie bekunden, oder das wir in sie hineinf\u00fchlen. Dies Leben ist zun\u00e4chst gebunden an die geometrische Form, d. h. an die wirklichen Kreise und Geraden. Auch die thats\u00e4chlich gegebenen, also geometrisch ungenauen Kreise und Geraden rufen dies Leben f\u00fcr uns ins Dasein, sofern sie eben doch Kreise und Gerade sind, sofern sie also trotz der Abweichung von der reinen geometrischen Form diese Form oder das Gesetz derselben in sich schliefsen ; sie haben ihre Bedeutung nicht als diese in sich selbst so oder so beschaffenen und von den Kreisen und Geraden der Geometrie verschiedene Linien, sondern als Kreise und Gerade.\nDann aber fordert die Eigenart jenes Lebens ihr selbst\u00e4ndiges Recht. Dies Leben ist in unserem Falle speciell Leben eines bestimmten, technisch in bestimmter Weise behandelten, also bestimmte Charakterz\u00fcge zur Schau tragenden Materials. Wir k\u00f6nnen demgem\u00e4fs auch sagen: Material und Technik fordern ihr Recht. Bestimmter gesagt : Sie fordern ihre relative Freiheit Diese nun bekundet sich \u2014 nicht in anderen Formen, wohl aber in einer relativen Durchbrechung jener Formen. Das will sagen: Auch die Wirkung der Abweichung von den geometrischen Formen beruht nicht darauf, dafs durch die Abweichung andere Formen entstehen, sondern darauf, dafs diese Formen Abweichungen sind, dafs sie also zu einer \u201eNorm\u201c in Gegensatz treten. Die geometrischen Formen erscheinen, eben in diesen Abweichungen, als Norm. Auch in ihnen sind die geometrischen Formen nicht geleugnet, sondern vielmehr als die zu Grunde liegenden Formen vorausgesetzt, oder als die Norm anerkannt Indem die thats\u00e4chlich vorliegenden Formen als Abweichungen von der Norm erscheinen, statuiren sie diese Norm, oder was Dasselbe sagt: Ich statuire die Norm oder erkenne die reinen geometrischen Formen als Norm an, indem ich die Wirkung","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nTheodor Lipps.\nder thats\u00e4chlich gegebenen Formen als die Wirkung einer Abweichung von der Norm versp\u00fcre; gerade so wie Derjenige, der sich \u00fcber eine Handlung freut, weil sie ein Gesetz \u00dcbertritt, damit das Dasein des Gesetzes anerkennt.\nDaraus ergiebt sich f\u00fcr die wissenschaftliche Betrachtung der thats\u00e4chlich vorliegenden Formen eine doppelte, klar in scheidende Fragestellung. Die Frage lautet das eine Mal: Als was wirken die Formen, wenn zun\u00e4chst abgesehen wird von den besonderen Forderungen, welche die Eigenart des in ihnen sich verk\u00f6rpernden Lebens stellt. Welches sind die Formen, die dies Leben f\u00fcr uns ins Dasein rufen, abgesehen von der R\u00fcckwirkung, welche dies Leben \u00fcbt, wenn es einmal ins Dasein gerufen ist? Statt dessen k\u00f6nnen wir auch kun sagen: Welches sind die der gegebenen Form zu Grunde liegenden oder welches sind ihre Normalformen? \u2014 Und dazu tritt dann die zweite Frage: Wie und warum wirkt die Eigenart des in den Formen verk\u00f6rperten Lebens auf die Formen, die es ins Dasein gerufen haben, modificirend zur\u00fcck? j\nAnalog nun, freilich auch wiederum anders, verh\u00e4lt es sich mit den musikalischen Formen. Auch sie sind nicht blos diese Formen, sondern sie sind f\u00fcr uns Tr\u00e4ger eines von ihnen selbst ganz und gar verschiedenen Lebens. Wir pflegen dies Leben wohl kurz als Stimmungen zu bezeichnen. Auch hier wirken die Formen zun\u00e4chst als Formen von bestimmter Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit Sie werden verm\u00f6ge dieser Gesetzm\u00e4fsigkeit Tr\u00e4ger dieses Lebens. Dann aber fordert dies Leben die volle Auspr\u00e4gung seiner Eigenart. Und daraus ergeben sich die Abweichungen.\nDer Fortgang etwa von einem Ton zu seiner Octave ist f\u00fcr mich nicht blos die Aufeinanderfolge eines Tones von \u00ab und eines anderen Tones von 2n Schwingungen, sondern in ihm liegt zugleich f\u00fcr mich eine eigenth\u00fcmliche Weise meiner Lebensbeth\u00e4tigung \u00fcberhaupt, ein aus mir Herausgehen, bei dem ich doch mit mir nicht in Zwiespalt gerathe, sondern mit j mir vollkommen einstimmig bleibe. Dies Erlebnifs ist ge- i bunden an jenes Verh\u00e4ltnifs 1:2, an die dadurch bedingte rhythmische Einstimmigkeit, kurz an die Consonanz. Auch wenn das Octavenintervall nicht rein, sondern verstimmt ist, w \u00fcbt es doch diese Wirkung \u2014 nicht als ein anderes Intervall, etwa als das Intervall 100:102, sondern als, obzwar verstimmtes Octavenintervall. Es \u00fcbt die Wirkung nach dem Gesetz, dafe","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n267\nverstimmte Intervalle innerhalb gewisser, in den einzelnen F\u00e4llen variabler Grenzen als reine wirken, also hinsichtlich ihrer Wirkung als reine betrachtet werden k\u00f6nnen und m\u00fcssen ; es \u00fcbt sie, sofern in seiner Wirkung die Wirkung des reinen Intervalls, oder sofern in ihm, seiner Wirkung nach, das reine Intervall steckt, oder darin als Grundform enthalten liegt.\nNun ist aber jenes \u201eaus mir Herausgehen\u201c, das im Octaven-schritt liegt, nicht blos ein .solches, in dem ich mit mir einstimmig bleibe, sondern es ist zugleich ein aus mir Herausgehen in einem specifischen Sinne, insbesondere ein aus mir Herausgehen von ganz anderer Art oder ganz anderem Charakter als dasjenige, das auch im Fortgang zur kleinen Terz liegt, n\u00e4mlich ein solches von eigent\u00fcmlicher Freiheit, Entschlossenheit, Unbek\u00fcmmertheit. Daraus gewinnt die Octave ihren specifischen and zugleich specifisch erfreulichen Charakter.\nUnd nun liegt mir daran, diesen Charakter in der Octave m\u00f6glichst vollkommen und ausgepr\u00e4gt zu erleben. Jemehr er in der Octave schon von Hause aus gegeben ist, umsomehr erscheint er f\u00fcr mich dazu geh\u00f6rig, umsomehr fordere ich ihn, wenn mir die Octave als eine richtige Octave erscheinen soll.\nUnd zur Erf\u00fcllung dieser Forderung ist nun die Erweiterung des Intervalls, die Vergr\u00f6fserung des Tonschrittes, die Steigerung des Fortganges innerhalb des Toncontinuums das Mittel. Indem ich die Erweiterung vollziehe, erf\u00e4hrt das Gef\u00fchl des freien aus mir Herausgehens einen Zuwachs; und es erleidet zugleich, soweit die verstimmte Consonanz als reine zu wirken vermag, der Eindruck der Einstimmigkeit keine Ein-bufse.\nAuch hier aber mufs hinzugef\u00fcgt werden: Nicht dies erweiterte Intervall, das an die Stelle des reinen tritt, sondern dafs dies Intervall eine Erweiterung des reinen Intervalls ist, und ein Hinausgehen \u00fcber die damit gegebene Norm, bedingt jenen Zuwachs. Oder, was Dasselbe sagt: Nicht dafs das Intervall gr\u00f6fser, sondern dafs es zu grofs genommen ist, erzeugt die erh\u00f6hte \u00e4sthetische Wirkung. Dafs es zu grofs genommen wird, dies besagt aber eben, dafs es gr\u00f6fser genommen wird, als es normalerweise, oder auf Grund der Schwingungsverh\u00e4ltnisse genommen werden d\u00fcrfte.\nUnd man sieht auch, wiefern dies \u201ezu grofs\u201c thats\u00e4chlich zutrifft. Gehe ich von einem Ton zu seiner h\u00f6heren Octave, so ist es\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 27.\t17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":".258\nTheodor Lippe.\nmir zun\u00e4chst nat\u00fcrlich, es besteht also f\u00fcr mich eine Art yon N\u00f6thigung, zur reinen Octave fortzugehen. Der tiefere Ton weist mich hin \u2014 nicht auf die verstimmte, sondern auf die reine Octave. Er weist mich darauf hin verm\u00f6ge des Schwingungsverh<nisses 1:2. Die Intonation der verstimmten Octave, d.h. des h\u00f6her liegenden Tones, geschieht demgem\u00e4fs im Gegensatz zu diesem Hinweis. Aber eben dies Hinausgehen \u00fcber das zun\u00e4chst mir vorgeschriebene Ziel, im Widerstreit mit dem Antrieb dabei zu bleiben, die darin hegende Spannung, das \u201eForciren\u201c der H\u00f6he, bedingt jenen Eindruck. Er bringt in jenes aus mir Herausgehen ein Moment der inneren Anspannung, der kraftvollen Activit\u00e4t. \u2014 Es giebt ja keine Activit\u00e4t ohne Gegensatz, ohne Spannung, ohne Ueberwindung einer Hemmung.\nDaraus erst ist die fragliche Wirkung erkl\u00e4rlich. Erg\u00e4be sie sich einfach aus dem Umstand, dafs der Tonschritt ein weiterer ist und doch die Consonanz bestehen bleibt, so m\u00fcfste die Doppeloctave den gleichen Eindruck in sehr viel h\u00f6herem Grade machen, auch wenn hier das Intervall statt zu grofs, zu klein genommen w\u00fcrde. Es w\u00e4re ja noch immer sehr viel gr\u00f6fser als der einfache Octavenschritt. Es w\u00e4re nur nicht \u201ezu grofs\u201c. Es liegt also auch der \u00e4sthetischen Wirkung des vergr\u00f6fserten Intervalls die Wirkung des reinen zu Grunde oder hat diese zur Voraussetzung.\nDurchaus Gleichartiges gilt mit R\u00fccksicht auf die Neigung, die kleine Terz zu niedrig zu nehmen, oder eine kleine Terz, die niedriger intonirt ist, als es das Schwingungsverh\u00e4ltnifs 5:6 vorschreibt, f\u00fcr eine richtige kleine Terz zu erkl\u00e4ren. Der kleinen Terz eignet ein Charakter \u2014 nicht des freien, unbek\u00fcmmerten, \u201eflotten\u201c aus sich Herausgehens, sondern des relativen in sich Bleibens, des innerlichen \u201eArbeitens\u201c, des Sinnens, Gr\u00fcbelns, Sehnens. Wiederum w\u00fcnschen wir diesen Charakter ausgepr\u00e4gt, n\u00e4mlich nach seiner positiven Seite hin. Wir w\u00fcnschen das Sinnen, Gr\u00fcbeln, Sehnen, das Bleiben in der Innerlichkeit des Gem\u00fcthes, das innerliche Arbeiten \u2014 oder mit welchem Namen sonst wir diesen Charakter der kleinen Terz zu bezeichnen versuchen m\u00f6gen \u2014 nicht matt, leer, nichtssagend, sondern bedeutsam, kraft- und inhaltvoll. Und auch hier ist dies nicht m\u00f6glich, ohne dafs in diesen \u00e4sthetischen Inhalt der Terz ein Moment der Activit\u00e4t, also der Spannung hineinkommt Dazu ist aber offenbar wiederum das Hinausgehen \u00fcber die","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n259\n\u201eNorm\u201c, d. h. \u00fcber die reine Consonanz, und die daraus sich ergebende Spannung das Mittel. Nur diesmal nicht das Hinausgehen im Sinne der Erweiterung des Tonschrittes, des freieren Fortganges innerhalb des Ton continuums, sondern im Sinne des geflissentlichen Zur\u00fcckhaltens, der gewaltsamen Einengung der Bewegung in sich selbst.\nDie \u201erichtigen Intonationen\u201c der Quart und Sext.\nVerh\u00e4lt es sich nun aber so mit den \u201erichtigen\u201c Intonationen der Octave, Quinte, grofsen Terz, kleinen Terz, so ist bei der wissenschaftlichen Betrachtung der richtigen oder der \u00e4sthetisch wirkungsvolleren Intonationen der Intervalle \u00fcberhaupt, ebenso wie bei der wissenschaftlichen Betrachtung jener vorhin erw\u00e4hnten Formen, die Aufgabe eine doppelte. Es handelt sich einmal um die Feststellung der \u201eNorm\u201c, zum anderen um die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen, Arten, Wirkungen des Hinausgehens \u00fcber die Norm. Es ist Dasselbe, wenn ich sage, es handelt sich das eine Mal darum, aus welcher in den T\u00f6nen und Ton Verbindungen selbst liegende Gesetzm\u00e4fsigkeit, uns das Zusammen der T\u00f6ne und der Fortgang vom einen zum anderen und schliefslich der Zusammenschlufs vieler zu einer \u00e4sthetischen Einheit begreiflich werden kann, das andere Mal um die ganz anders geartete Gesetzm\u00e4fsigkeit, die sich er-giebt aus den specifischen Forderungen des \u00e4sthetischen Inhaltes im engsten Sinne dieses Wortes. Wir kennen aber nur eine Gesetzm\u00e4fsigkeit der ersteren Art, n\u00e4mlich diejenige, die aus der rhythmischen Verwandtschaft und in secund\u00e4rer Weise aus der Nachbarschaft innerhalb des Toncontinuums sich ergiebt.\nMeter nun erinnert sich in seinen Beitr\u00e4gen zur Theorie der Musik wohl jener Erweiterungen bezw. Verengerungen der Intervalle, und der durch sie bedingten Erh\u00f6hung der \u00e4sthetischen Wirkung. Und er stellt die Frage, ob nicht vielleicht die h\u00f6here Wirkung, die in den von ihm untersuchten Melodien aus der Intonation des F als nat\u00fcrliche 'Septime der Quint, und der Intonation des A als Secunde der Quint sich ergiebt, gleichfalls aus einem solchen Hinausgehen \u00fcber das normale Schwingungs-verh\u00e4ltnifs zu erkl\u00e4ren sei. Aber er meint diese Frage verneinen zu m\u00fcssen. Die Abweichung sei hier zu grofs. Er statuirt darum seine neuen Intervalle.\nIndessen Meyer \u00fcbersieht hier einen wichtigen Umstand.\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nTheodor Lippe.\nDie Versuche, die die Neigung zur Vergr\u00f6fserung des Terz-, Quinten-, Octavenintervalls, und die Neigung zur Verkleinerung des Intervalls der kleinen Terz ergaben, operirten mit zwei T\u00f6nen. Einem Ton wurde ein anderer hinzugef\u00fcgt. Aber darum handelt es sich ja bei den von Meyeb untersuchten Melodien gar nicht Sondern hier treten zu T\u00f6nen, die einer Melodie, also einem mehr oder minder reichen rhythmischen System angeh\u00f6ren, andere T\u00f6ne hinzu. Und diese T\u00f6ne treten ebendamit selbst ein in die Melodie. Hier sind demgem\u00e4fs die einzelnen Intervalle nicht mehr diese isolirten Intervalle, sondern Theile einer Melodie, in ihrer Wirkung dem Einflufs der ganzen Melodie, und damit dem Einflufs alles dessen, was die Melodie ausdr\u00fcckt, des in ihr pulsirenden reichbewegten Lebens, der in ihr verk\u00f6rperten Stimmungen und des Fortgangs von Stimmung zu Stimmung unterworfen. Es ist vorauszusehen, dafe hier da und dort in ganz anderer und sehr viel intensiverer Weise eine Abweichung von der Norm \u00e4sthetisch gefordert sein wird. Es ist die Frage erlaubt: Sollte nicht Meyer mit den \u201erichtigen\u201c, d. h. \u00e4sthetisch besonders wirksamen Intonationen, die er gefunden hat, und in denen F zur nat\u00fcrlichen Septime der Quint erniedrigt, A zur Secunde der Quint erh\u00f6ht erschien, eben daf\u00fcr den Beweis geliefert haben?\nIch zweifle nicht, dafs es in einigen F\u00e4llen in der That sich so verh\u00e4lt.\nDoppelbedeutung der Quart und Sext\nIn anderen F\u00e4llen scheint mir Meyer mit seiner Statuirung der Verh\u00e4ltnisse 16:21 und 16:27 Recht, und doch auch wiederum Unrecht zu haben. Oder warum sollte nicht ein F Beides zugleich sein, nat\u00fcrliche Septime der Quint und Quart?\nNennen wir der K\u00fcrze halber das F, das Septime der Quint ist, Ft, das F, das Quart von C ist, F,. Und erinnern wir uns nun noch einmal der Folge Ga\u2014 H0\u2014d\u2014f\u2014G0\u2014c. In dieser Folge scheint mir das f zun\u00e4chst allerdings als F,, also als nat\u00fcrliche Septime des G gefafst werden zu m\u00fcssen. Es scheint mir so, weil ich nicht verstehe, wie wir, mit dem Gef\u00fchl der vollen Nat\u00fcrlichkeit des Fortganges, von G0 \u2014 H0\u2014d\u2014 zu f gelangen sollten, wenn dies f zu den vorangehenden T\u00f6nen H0 und d sich verh\u00e4lt wie 64 : 45 bezw. wie 32: 27. Dagegen ist der Fortgang","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n261\nwohl verst\u00e4ndlich, wenn die vier ersten T\u00f6ne jener Reihe sich verhalten wie 4 : 5 :6 : 7.\nDamit ist nicht gesagt, dafs das f in der bezeichneten Folge thats\u00e4chlich F, sein m\u00fcsse. Vielleicht ist es Fq. Dann wirkt ea doch in diesem Zusammenh\u00e4nge zun\u00e4chst als ein verstimmtes Ft. Vielleicht ist sogar die Intonation als Fq die richtigere, d. h. die \u00e4sthetisch befriedigendere. Auch in diesem Falle w\u00fcrde das F wirken, d. h. zun\u00e4chst in nat\u00fcrlicher Weise in diesen Zusammenhang sich einf\u00fcgen, sofern es ann\u00e4herungsweise F, ist und demgem\u00e4fs innerhalb gewisser Grenzen als F, zu wirken vermag.\nAber eben dieses F, der Reihe G0\u2014 H0\u2014d\u2014f wirkt dann ebenso gewifs auf das nachfolgende C als Fq. Es \u201egleicht\u201c sich dem nachfolgenden C \u201ean\u201c. Solche Doppelwirkung scheint M. an einer Stelle als v\u00f6llig unm\u00f6glich anzusehen. Er denkt dabei, wie es scheint, an eine gleichzeitige Wirkung. Aber darum handelt es sich ja hier nicht Auf f folgt erat G0 und dann erst c. Schon w\u00e4hrend G0 eintritt, besteht f nur noch in der Erinnerung. Und solche \u201eAngleichung\u201c in der Erinnerung ist uns eine sehr gel\u00e4ufige Sache. Zwei sehr \u00e4hnliche Farben, die ich gleichzeitig sehe, erscheinen mir vielleicht deutlich verschieden. Nun sehe ich sie aber nach einander. Dann kann es geschehen, dafs ich keine Verschiedenheit mehr erkenne. Es ist eben dadurch, dafs bei der Wahrnehmung der zweiten Farbe die erste f\u00fcr mich nur noch als Erinnerungsbild besteht, der thats\u00e4chlich bestehende Unterschied der beiden Farben wirkungslos geworden. Die erste Farbe wirkt in meinem Vergleichungsurtheil jetzt nicht mehr als die von der zweiten Farbe deutlich verschiedene, sondern sie wirkt wie eine ihr gleiche. Dies ist es, was ich auch so aus* dr\u00fccke: Die erste Farbe hat sich der zweiten angeglichen. \u2014 Und ebenso nun kann bezw. mufs das F dem nachfolgenden C sich angleichen.\nDen Hergang dieser Angleichung m\u00fcssen wir aber genauer bestimmen. Dabei m\u00fcssen wir zugleich das ganze G0 \u2014 H0 \u2014 d\u2014f\u2014 c noch von anderer Seite her betrachten. Oben wurde Gewicht darauf gelegt, dafs die Quart F mit H und D dissonire, und dafs diese Dissonanz zur Fortbewegung nach dem ihnen gemeinsam verwandten C hindr\u00e4nge. Eine Dissonanz geringeren Grades zwischen F einerseits und R und D andererseits besteht nun aber auch, wenn F als F, genommen wird. Sie besteht also insbe-","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nTheodor Lippe.\nsondere auch in unserem G0\u2014 H0\u2014d\u2014f\u2014c. Die Verh\u00e4ltnisse 5 :7 und 6: 7 schliefsen zweifellos eine solche Dissonanz in sich. Der Hinzutritt des f zu den vorangehenden T\u00f6nen erscheint deutlich als der Hineintritt eines eigenth\u00fcmlich fremdartigen Elementes in die Tonfolge. Auch hier besteht demgem\u00e4fe die Tendenz des Fortganges zu einem allen diesen T\u00f6nen gemeinsam verwandten Ton. Und auch hier ist dieser Ton der Ton c. Zun\u00e4chst weist die Folge G0 \u2014 H0\u2014d in ihren s\u00e4mmtlichen Elementen auf c hin. Dann Hegt der gleiche Hinweis noch einmal in dem zweiten G0.\nEben dadurch nun vollzieht sich jene Angleichung, c, oder genauer der Rhythmus des c, wird durch die G0, \u00a3f0, d in gewisser Weise vorausgenommen. Diesem vorausgenommenen c gleicht sich das f an. Es ist Dasselbe, wenn ich sage : Es folgt dem Hindr\u00e4ngen auf c. Indem ihm c sozusagen als Ziel vorgehalten wird, wird die in ihm liegende M\u00f6glichkeit, als Fq, zu wirken, in Anspruch genommen. Und eben dadurch wird sie zur Thatsache.\nIn allem dem Hegt nichts, was der \u201ealten Theorie\u201c widerstritte. Diese Theorie kennt unter Anderem die Ausweichung einer Melodie in C-Dur nach C-Dur. Gesetzt nun, es kommt in der Melodie, solange sie in C-Dur sich bewegt, ein A vor, so mufs die alte Theorie dies als Secunde von C fassen, also genau so, wie M. das A in aUen Melodien mit C als Tonica gefafst wissen will. Offenbar ist es aber nur consequent, wenn sie unter der gleichen Voraussetzung auch F als nat\u00fcrUche Septime des C fafst. Die Melodie in CDur weicht aber nach C-Dur aus nicht erst, wenn Fis auftritt, sondern auch schon in solchen Folgen, wie die eben erw\u00e4hnte. Sie weicht \u00fcberhaupt jederzeit nach C-Dur aus, wenn, und in dem Maafse, als C den Charakter der Tonica gewinnt. \u2014 Und nicht minder gel\u00e4ufig ist der alten Theorie jene Doppelwirkung und Angleichung eines Tones.\nDas Bild der Melodie.\nAuf Grund des Vorstehenden nun l\u00e4fst sich, wie mir scheint, ein verst\u00e4ndliches Bild der Melodie aus den T\u00f6nen der diatonischen Leiter gewinnen. Die Melodie oscillirt, nachdem ihre Tonica mehr oder minder bestimmt eingef\u00fchrt ist, um die in dieser Tonica gegebene Gleichgewichtslage. Sie oscillirt insbesondere zwischen Quint und Quart. Sie m\u00fcndet verm\u00f6ge des Gegen-","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Melodie.\n263\neinander wirk en 8 dieser beiden secund\u00e4ren Toniken und ihrer rhythmischen Systeme schliefslich endg\u00fcltig in jene Gleichgewichtslage ein. Die Quart hat dabei die vierfache oben bezeichnte Bedeutung. Jetzt mufs noch hinzugef\u00fcgt werden jene Doppelnatur des vierten Tons der Leiter, d. h. die F\u00e4higkeit desselben, zuerst als nat\u00fcrliche Septime der Quint und dann als Quart zu wirken und so in fl\u00fcssiger Form von der Quint zur Tonica hinzuf\u00fchren.\nNur von der Melodie in Dur war die Rede und nur gelegentlich von ihren Ausweichungen. Diese letzteren bieten nichts principiell Neues, sondern vermannigfaltigen und steigern nur, was auch in den einfacheren Melodien schon gegeben ist\nIn der Melodie in Moll kommt zu den beiden Nebentoniken G und F die dritte Nebentoniea As hinzu. Auch Es spielt in gewissem Grade \u2014 schon in der einfachen Folge C\u2014Es\u2014G die Rolle einer Nebentoniea. Dagegen hat der Grundton C den einen der T\u00f6ne, die sich in Dur unmittelbar auf ihm aufbauen, die Terz E, andererseits aber auch die Quart ihren Secundanten A verloren. Damit hat in der Melodie in Moll die Geschlossenheit des Aufbaues auf einem einzigen Tonrhythmus eine Minderung erfahren. Ein Schweben, man k\u00f6nnte sagen eine Sehnsucht nach solcher einfachen Geschlossenheit, bleibt ihr. Ich erinnere noch an das Mittel, dem Abschlufs den Charakter gr\u00f6fserer Sicherheit zu geben, die Einf\u00fchrung der Dur- statt der Mollterz. Im Uebrigen sind aber hier die allgemeinen Principien f\u00fcr ein psychologisches Verst\u00e4ndnifs dieselben wie bei der einfachen Melodie in Dur.\nDiese Principien bleiben auch dieselben bei der harmonisirten Melodie, und schliefslich beim beliebig reichen Tonkunstwerk.\n(Eingegangen am 1. October 1901.)","page":263}],"identifier":"lit31940","issued":"1902","language":"de","pages":"225-263","startpages":"225","title":"Zur Theorie der Melodie. Max Meyer's Theorie","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:25:08.310944+00:00"}