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{"created":"2022-01-31T16:26:47.392345+00:00","id":"lit31942","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Nagel, W. A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 267-276","fulltext":[{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Wirkung des Santonins auf den Farbensinn, insbesondere den dichromatischen\nFarbensinn.\nVon\nProf. Dr. W. A. Nagel (Freiburg i. Br.).\nDie interessante Wirkung des Santonins auf den Gesichtssinn ist zur Zeit noch wenig verst\u00e4ndlich, ja auch \u00fcber die that-8\u00e4chlich zu beobachtenden Erscheinungen ist man sich noch recht wenig einig. Der Grund hierf\u00fcr liegt jedenfalls grofsen-theils in der sehr ungleichen Empfindlichkeit verschiedener Personen f\u00fcr die Wirkung des Santonins. Nicht nur brauchen verschiedene Individuen verschieden grofse Dosen, um \u00fcberhaupt eine Wirkung zu erzielen, sondern die Wirkung ist auch qualitativ ungleich. Beispielsweise hat die Dosis von 0,5 gr Natrium santonicum bei mir schon recht starke Allgemeinwirkungen unangenehmer Art, die subjective Geruchsempfindung (Geruchs-hallucination) erreicht eine fast unertr\u00e4gliche Intensit\u00e4t, die Wirkung auf den Gesichtssinn tritt schon nach 5\u201410 Minuten auf, w\u00e4hrend von Anderen bei dieser Dosis keine unangenehmen Allgemeinerscheinungen beobachtet werden und die Wirkung auf den Farbensinn erst nach einer Stunde eintritt; die Geruchs-hallucination scheint bei manchen anderen Beobachtern weit weniger intensiv oder gar nicht aufzutreten. Bei solchen Verschiedenheiten ist es begreiflich, wenn auch die theoretisch interessanteste Wirkung auf den Farbensinn verschiedenen Beobachtern sich ungleich darstellt.\nDer Entscheidung harren noch die Fragen, was von den beachteten Wirkungen des Santonins auf don Gesichtssinn auf Reizung, was auf L\u00e4hmung zur\u00fcckzuf\u00fchren sei, und wo der Angriffsort der Santoninwirkung zu suchen sei, im Centrum (Gehirn) oder in der Peripherie (Netzhaut).","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nW. A. Nagel.\nIch habe w\u00e4hrend der letzten Jahre \u00f6fters an mir selbst Beobachtungen \u00fcber die Santoninwirkung angestellt, und will, veranlafst durch die neuen, diesen Gegenstand behandelnden Arbeiten von R\u00e4hlmann \\ Knies 2 und Filehne 8, die Ergebnisse meiner Versuche hier kurz mittheilen und zu den Ergebnissen der genannten Forscher in Beziehung setzen. Ein gewisses Interesse d\u00fcrfte meinen Beobachtungen deshalb zukommen, weil es die ersten sind, die den Farbensinn eines Deuteranopen (Gr\u00fcnblinden) betreffen. Der meines Wissens einzige bisher untersuchte Dichromat, \u00fcber den R\u00e4hlmann (1. c.) berichtet, war Pro-tanop (Rothblinder).\nF\u00fcr die Anh\u00e4nger der Dreicomponententheorie des Farbensinnes mufste es von vomeherein naheliegen, die Santoninwirkung in der verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig einfachen Weise zu deuten, dafs das Gift zun\u00e4chst die der Violettcomponente entsprechende Sehsubstanz erregte und sie dann ganz oder theilweise aufser Function setzte bezw. l\u00e4hmte. Bei genauerer Betrachtung stellen sich jedoch die Verh\u00e4ltnisse anders und zwar wesentlich corn-plicirter dar. W\u00e4re jene Auffassung zutreffend, so w\u00e4re zu erwarten, dafs beim Dichromaten, der aufser der Violettcomponente nur noch eine weitere besitzt, im Zustande hochgradiger Santoninwirkung nur diese eine Componente seines farbenpercipi-renden Apparates functionsf\u00e4hig bleibe, sein Sehen also durch Ausschaltung der Violettcomponente monochromatisch werde. Das ist aber entschieden nicht der Fall, weder f\u00fcr den Prota-nopen R\u00e4hlmann\u2019s, noch f\u00fcr mich trifft es zu.\nR\u00e4hlmann spricht allerdings davon, dafs durch das Santonin das Farbensystem des Dichromaten monochromatisch werde, doch bleibt nach seinen Beobachtungen gerade das Blau erhalten, die langwellige Spectralh\u00e4lfte dagegen wird farblos, grauweifs.\nMich haben meine Beobachtungen, obgleich sie mit den R\u00e4hlmann\u2019sehen in gewisser Hinsicht \u00fcbereinstimmen, doch zu anderen Schl\u00fcssen gef\u00fchrt. Ich habe nicht an einem in toto sichtbaren Spectrum beobachtet, sondern ich erleuchtete das Gesichtsfeld des HELMHOLTz\u2019schen Farbenmischapparates mit dem\n1 Zeit8chr. f. Augenheilk. 2.\n* Arch. f. Augenheilk. 37.\n3 Arch. f. (I. ge8. Physiologie 80.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkung des Santonins auf den Farbensinn, insbes. den dichromatischen. 269\nbetreffenden homogenen Licht, dessen Aussehen ich pr\u00fcfen wollte. Die Farbe erschien auf tiefschwarzem Grunde als halbmondf\u00f6rmiges Feld mit etwa 3 \u2014 40 gr\u00f6fstem Durchmesser. Violett und Blau, \u00fcberhaupt alle T\u00f6ne der kalten Spectralh\u00e4lfte erschienen mir in jedem Stadium der Santoninvergiftung1 vollkommen in ihrem normalen gew\u00f6hnlichen Aussehen. Das gilt auch f\u00fcr das k\u00fcrzestwellige Violett, das mir in unvergiftetem Zustande noch ges\u00e4ttigt farbig erschien. Es tritt also bei mir weder eine absolute, noch eine relative Violettblindheit ein. Da auch nicht einmal die Anf\u00e4nge einer solchen zu constatiren sind, ist es mir einigermaafsen zweifelhaft, ob noch gr\u00f6fsere Dosen Violettblindheit erzeugt haben w\u00fcrden.\nSehr auffallende Ver\u00e4nderungen erlitt dagegen das Aussehen der warmen Farben, vom Gelbgr\u00fcn bis zum \u00e4ufsersten Roth. Sowie die Vergiftung deutlich einsetzte, erschienen sie zuerst blafs und unges\u00e4ttigt, dann schliefslich rein weifs, oder bei geringerer Intensit\u00e4t grau, ganz wie es auch R\u00e4hlmann angiebt\nTrotzdem ist mein Farbensystem in diesem Zustande keineswegs ein monochromatisches, nur unter ganz besonderen Bedingungen, unter denen am Spectralapparat beobachtet wird, werden die warmen Farben weifs gesehen. Pigmentfarben, farbige Gl\u00e4ser, Fl\u00fcssigkeiten und Papiere erscheinen mir durchaus in ihrer gew\u00f6hnlichen Farbe; an Wollproben und Farbentafeln mache ich genau dieselben Unterscheidungen, die mir auch in unvergiftetem Zustande m\u00f6glich sind.\nDieser scheinbare Widerspruch kl\u00e4rt sich in einfacher Weise\n1 Ich habe bei diesen Versuchen 0,2\u20140,5 gr Natrium santonicum innerlich genommen; 0,2 wirkt bei mir auf den Gesichtssinn noch gar nicht, nur auf den Geruchssinn, 0,3 dagegen macht schon starkes Gelbsehen und merkliches Unwohlbefinden. Bei 0,5 treten die Erscheinungen rasch und st\u00fcrmisch auf, nach 10 Minuten ist die Geruchsempfindung und das Gelbsehen schon deutlich. Der H\u00f6hepunkt ist nach etwa einer Stunde erreicht. Dabei tritt Schwindel, Uebelkeit, zuweilen mit Erbrechen, und hochgradige nerv\u00f6se Unruhe auf.\nDie Geruchsempfindung ist eine widerlich brenzliche; zu einer Zeit, wo sie spontan noch nicht auftritt, bemerke ich sie beim Cigarrenrauchen, ebenso am Tage nach einem Santoninversuch. Offenbar enth\u00e4lt der Mischgeruch des Cigarrenrauches eine Componente, die dem durch Santonin ausgel\u00f6sten subjectiven Geruch entspricht. Seitdem ich diesen genau kenne, bemerke ich ihn \u00f6fters auch, wenn ich den Rauch schlechter Cigarren rieche.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nW. A. Nagd.\nauf. Bekanntlich tritt das Gelbsehen nur beim Betrachten gr\u00f6fserer heller Fl\u00e4chen auf (f\u00fcr mich am deutlichsten beim Blick auf das helle Fenster), das Violett- oder Blausehen dagegen im gleichen Stadium der Vergiftung stets nur beim Blick auf tiefschwarze Fl\u00e4chen.1\nDas Eigenth\u00fcmliche nun an diesem Violettsehen ist es, dafs die Empfindung einer leuchtenden, ges\u00e4ttigten Farbe nur vor\u00fcbergehend intensiv auftritt, in dem Augenblick, wo ich die schwane Fl\u00e4che ansehe. Betrachte ich sie l\u00e4ngere Zeit, so bedarf es besonderer Aufmerksamkeit, um zu erkennen, dafs ich nicht eigentlich Schwarz, sondern ein tiefes, dunkles Violett oder Blau2 sehe. In dieser Farbe erscheint nun auch das sonst tiefschwane Gesichtsfeld beim Hineinsehen in das Ocular des Spectroskopes, und in diesem dunkelblauen Felde erscheint dann das kleine, mit Roth, Orange oder Gelb beleuchtete Farbenfeld wei\u00df*, und zwar um so sicherer, je kleiner es ist Offenbar erstreckt sich der beim Betrachten der schwarzen Fl\u00e4che fortbestehende Reizungszustand, der zur Violett- oder Blauempfindung f\u00fchrt, auch \u00fcber das kleine helle Feld und erg\u00e4nzt sich mit der von diesem ausgehenden \u201ewarmen\u201c Farbe zu Weifs, gerade wie wenn objectives Blau zugemischt w\u00fcrde.\nEs ist bemerkenswerth, dafs bei gr\u00f6fserem farbigen Felde das Weifs nicht rein wird, sondern einen gelblichen Ton beibeh\u00e4lt. Bei gr\u00f6fseren farbigen Fl\u00e4chen, sowie bei kleinen (rothen oder gelben) Farbenflecken auf hellem Grunde fehlt jene Farben Ver\u00e4nderung, jenes Abblassen zu Weils, vollst\u00e4ndig.\nIch bin hiernach entschieden der Ansicht, dafs der Verlust\n1 Von Anderen wird ein dem Gelbsehen vorausgehendes \u201eStadium des Violettsehens\u201c angegeben, in welchem helle Fl\u00e4chen violett gesehen werden. Ich habe bei meinen zahlreichen Versuchen niemals etwas Derartiges bemerkt. Die erste Erscheinung war immer pl\u00f6tzliches Violett-(Blau ) sehen beim Blick auf eine schwarze Fl\u00e4che, namentlich wenn diese im indirecten Sehen erschien. Nun war aber auch sofort das Tageslicht schwach gelblich, \u00e4hnlich etwa, wie wenn die Sonne bei nicht ganz klarem Wetter sich zum Untergehen anschickt.\nEs mufs dahin gestellt bleiben, ob das Fehlen des prim\u00e4ren Violettsehens mit meiner partiellen Farbenblindheit zusammenh\u00e4ngt oder nicht Einzelne Beobachter mit normalem Farbensinn scheinen es auch nicht be merkt zu haben.\na Blau und Violett ist f\u00fcr mich als Deuteranopen nat\u00fcrlich eines nnd dasselbe.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkung des Santonins auf den Farbensinn, insbes. den dichromatischen. 271\naller anderen Farbenempfindungen aufser der Blauempfindung, den ich ebenso wie R\u00e4hlmann\u2019s Fall constatire, nicht auf dem tempor\u00e4ren Ausfall einer der Componenten des dichromatischen Farbensinnes beruht, sondern im Gegentheil auf einem Reizungszustand der Blaucomponente des farbenpercipiren-den Apparates.\nEs ist nicht ohne Interesse, dafs eine ganz analoge T\u00e4uschung \u00fcber die im Farbenmischapparat gesehenen Farben auch unter anderen Umst\u00e4nden, ohne Santoninvergiftung, auftritt, und zwar, wie es scheint, ebenfalls nur beim Dichromaten. Blicke ich einige Zeit, etwa 10 bis 20 Secunden, gegen eine recht hell mit gemischtem Licht beleuchtete Fl\u00e4che, am besten gegen den hellen Himmel, und richte dann schnell den Blick in das Ocularrohr des Farbenmischapparates, in welchem ein nicht zu grofses Feld (2\u20143\u00b0) mit einer der warmen Spectralfarben erleuchtet ist, so sehe ich, genau wie im Santoninrausch, Anfangs reines Weifs .statt Gelb, Orange oder Roth ; nach einigen Secunden beginnt ein gelblicher Ton aufzutreten, die volle S\u00e4ttigung erreichen die Farben jedoch erst nach etwa einer halben Minute, vorausgesetzt, dafs die vorherige Belichtung des Auges gen\u00fcgend intensiv war.\nDie Farben der kalten Spectralh\u00e4lfte bleiben bei dem gleichen Versuche g\u00e4nzlich unver\u00e4ndert.\nVon einer Anzahl anderer Beobachter, die auf meine Veranlassung den Versuch ebenfalls ausf\u00fchrten, sah nur einer die Erscheinung, und zwar auch in voller Deutlichkeit. Dieser eine aber ist der einzige Dichromat unter den betreffenden Beobachtern (mein Bruder Dr. O. Nagel).\nDiese Beobachtung erkl\u00e4rt sich in ganz derselben Weise, wie die oben erw\u00e4hnte, durch Santoninwirkung bedingte. Nach starker Reizung der Retina mit diffusem, weifsem Licht besteht noch nach dem Aufh\u00f6ren der Lichteinwirkung ein Reizungszustand fort, der sich in intensiver Blauempfindung \u00e4ufsert. In der That sehe ich den schwarzen Hintergrund im Ocularrohr in prachtvoll leuchtendem Dunkelblau. Auf dem kleinen hellen Farbenfelde erg\u00e4nzt sich wieder die Blauempfindung mit der Gelbempfindung zu Weifs.\nGenau wie beim Santoninversuch gilt es auch hier, dafs das","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nW. A. Nagel.\nFarbenfeld nicht zu grofs sein darf, wenn es nach der Blendung wirklich rein weifs oder grau aussehen solL1\nIch habe untersucht, ob bei kurzdauernder Reizung der Retina mit hellem Himmelslicht ebenfalls ein blaues Nachbild auftritt und dieses in der That gefunden. Ich brachte einen Momentverschlufs vor das eine Auge, schlofe das andere und l\u00f6ste nun den Momentverschluis mit langsamem Gang (Vio Sec.) aus, w\u00e4hrend der Blick nach dem Himmel gerichtet war. Das bekannte \u201ePurkinje'sehe Nachbild\u201c ist unter diesen Umst\u00e4nden m\u00e4fsig deutlich sichtbar, dann folgt eine lichtlose Pause von mehreren Secunden, und nun entwickelt sich das eigentliche Nachbild in ges\u00e4ttigtem, tiefem Dunkelblau, auf dem sich die Nachbilder dunkler Objecte, z. B. des Fensterkreuzes, in dunkelgelber Farbe abhoben.\nBedingung f\u00fcr das Eintreten dieser Erscheinung ist, dafe die Helligkeit des Reizlichtes gen\u00fcgend grofs und die Dauer seiner Einwirkung nicht zu kurz ist. Anderenteils erscheint das Nachbild wohl auch, jedoch in farblosem, neutralem Grau, oder h\u00f6chstens mit schwach bl\u00e4ulichem Tone.\nUnter den gleichen Bedingungen, unter denen ich das Nachbild lebhaft blau sehe, sehen andere Beobachter, mit normalem Farbensinn, das Nachbild farblos. Auch fr\u00fchere Beobachter erw\u00e4hnen, so weit mir bekannt ist, nichts von einem blauen Nachbild nach so kurzdauernder Reizung mit weifsem Licht. Ob, wie ich vermuthe, andere Deuteranopen die Erscheinung ebenso wie ich sehen, konnte ich noch nicht feststellen.\nEin dritter Fall endlich, in welchem mir ebenfalls schwarze Objecte in leuchtendem Blau erscheinen k\u00f6nnen, ist gegeben, wenn ich bei durch Homatropin erweiterter Pupille kleine schwarze Objecte auf sehr hellem Grunde sehe, z. B. wenn ich aus der Ferne dunkel gekleidete Menschen auf sonnenbeschienener Strafse sehe.\nDafs zwischen den hier beschriebenen Erscheinungen ein gewisser innerer Zusammenhang besteht, scheint mir aufser\n1 Erwfthnenswerth d\u00fcrfte sein, dafs eine f\u00fcr mich g\u00fcltige Gleichung zwischen spectralem Roth und Gelbgr\u00fcn g\u00fcltig bleibt, wenn ich sie nach vorg\u00e4ngiger Blendung durch helles weifses Licht betrachte. Beide Seiten der Gleichung erscheinen dann farblos, weifs bis grau, je nach der Helligkeit.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkung des Santonins auf den Farbensinn, insbes. den dichromatischen. 273\nZweifel zu stehen. Da\u00df Blau- (oder Violett-) Sehen schwarzer Objecte neben sehr hell beleuchteten grofsen weifeen Objecten, oder nach dem Betrachten sehr heller weifser Objecte ist im Santoninrausch gewissermaafsen in einenDauer-zustand \u00fcbergef\u00fchrt. Es fehlt noch die Entscheidung dar\u00fcber, ob das Santonin den Reizzustand der Blau- (Violett-) Componente direct herbeif\u00fchrt, oder ob nur unter seinem Einflufs die Nachwirkung eines jeden durch weifses Licht bewirkten Reizes bedeutend in die L\u00e4nge gezogen wird. Zum Zwecke dieser Entscheidung m\u00fcfste untersucht werden, ob f\u00fcr einen mit Santonin behandelten Dichromaten die warmen Spectralfarben auch dann zu Weifs verblassen, wenn die Augen l\u00e4ngere Zeit zuvor vor jedem Lichteinfall gesch\u00fctzt waren. Ich habe diesen Versuch nicht mehr ausgef\u00fchrt, weil bei den bisherigen Versuchen mit Einf\u00fchrung von 0,5 gr Natriumsantonat die Allgemeinwirkungen zu unangenehmen Charakter annahmen.\nDas wesentliche Ergebnifs meiner Beobachtungen scheint mir in dem Beweis zu liegen, dais das Verblassen der langwelligen Spectralh\u00e4lfte und das damit zusammenh\u00e4ngende Violett-(Blau-) Sehen dunkler Fl\u00e4chen (auch w\u00e4hrend des Stadiums des Gelbsehens) nicht auf einer L\u00e4hmungs- oder Ausfallserscheinung beruht, sondern auf einem Reizzustand des Sehorgans. F\u00fcr mich ist eine L\u00e4hmungserscheinung auf Grund der Santoninwirkung (Violettblindheit) \u00fcberhaupt in keinem Stadium der Vergiftung festzustellen.\nDa eine Reihe weiterer hieran sich kn\u00fcpfender Fragen nicht ohne fortgesetzte eingehende Experimentaluntersuchungen zur Entscheidung zu bringen sind, mufe ich es mir versagen, sie hier zu besprechen und hoffen, dafs es entweder mir m\u00f6glich werden wird, die Frage gelegentlich von Neuem aufzunehmen, oder dafs meine Erfahrungen von anderer Seite nachgepr\u00fcft und erg\u00e4nzt werden, wozu es bei der grofsen H\u00e4ufigkeit der Deutera-nopen an Gelegenheit nicht fehlen d\u00fcrfte.\nJedenfalls mufs immer die M\u00f6glichkeit, ja Wahrscheinlichkeit im Auge behalten werden, dafs die Abweichungen zwischen einem Theil meiner Ergebnisse und denjenigen anderer Beobachter mit der Verschiedenheit der Farbensysteme zusammenh\u00e4ngt.\nZeitschrift T\u00fcr Psychologie il.\n18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nIV. A. Nagel.\nVon anderen Gesichtspunkten aus, als sie den vorstehenden Ausf\u00fchrungen zu Grunde liegen, hat k\u00fcrzlich Filehne (1. c.) die Frage der Wirkung des Santonins auf den Farbensinn behandelt Filehne wollte den Angriffspunkt des Giftes feststellen; er theilt mit, dafs er, obgleich von vorneherein mehr der Annahme centraler Wirkung zugeneigt, durch neue Versuche zu der Anschauung gebracht worden sei, dafs das Santonin auf die Netzhaut wirkt.\nFilehne nimmt als gegeben an: ein prim\u00e4res Violettseben, worauf Gelbsehen mit Violettblindheit folgt, und findet diese Erscheinungen am besten erkl\u00e4rt durch die Annahme einer sensibilisirenden Wirkung des Santonins auf die violettempfindliche Sehsubstanz. Die Empfindlichkeitssteigerung dieser Substanz hat die Folge, dafs anf\u00e4nglich das weifse Licht mit violettem Tone erscheint; durch die grofse Empfindlichkeit verbraucht sich aber die Violettsubstanz auch rascher und nun ist sie in ungen\u00fcgender Menge vorhanden, das weifse Licht erscheint in der complement\u00e4ren gr\u00fcngelben Farbe. Das ist dieselbe Auffassung, die auch von fr\u00fcheren Autoren vertreten wurde, so z. B. von H\u00fcfner im Jahre 1867 (Arch. f. Ophthalmol.).\nUm eine derartige sensibilisirende Wirkung des Santonins wahrscheinlich zu machen, theilt Filehne Versuche \u00fcber die Beeinflussung der Sehpurpurregeneration durch jenes Gift mit.\nF\u00fcr den Sehpurpur soll Santonin nachweisbar als Sensibilisator wirken, und hieraus dann per analogiam entsprechende Wirkung auf die violettempfindliche Sehsubstanz zu schliessen sein.\nFilehne\u20198 Beweisf\u00fchrung erscheint in diesem Punkte nicht \u00fcberzeugend. Wenn F. zun\u00e4chst sich auf eine Angabe von Knies beruft, nach welcher unter Santonineinwirkung die Dunkeladaptation \u201eerschwert und stark verz\u00f6gert\u201c sein soll (1. c. p. 103), so ist es mir nicht m\u00f6glich gewesen zu finden, auf welche Angabe von Knies* sich hier F. st\u00fctzt. In der einzigen mir bekannten Arbeit von Knies \u00fcber Santonin (1. c.) wird im Gegenteil ausdr\u00fccklich an mehreren Stellen hervorgehoben, dafs der Lichtsinn w\u00e4hrend der ganzen Dauer der Vergiftung normal bleibe, auch die Adaptations zeit nicht verl\u00e4ngert sei und deshalb an Betheiligung des Sehpurpurs nicht gedacht werden k\u00f6nne.\nFileiink giebt nun allerdings an, dafs er diese vermeintliche KNiEs\u2019sche Beobachtung best\u00e4tigen k\u00f6nne, theilt jedoch","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkung des Santonins auf den Farbensinn, insbes. den dichromatischen. 2.7,5\n\u00fcber die Art und Weise, wie er die \u201eVerl\u00e4ngerung der Adaptationszeit\u201c nachge wiesen hat, nichts mit, ebensowenig \u00fcber das Maafs dieser Verl\u00e4ngerung. Die Sache bleibt also einstweilen mindestens fraglich.\nBei Fr\u00f6schen fand Filehne den Vorrath des vor der Santoninvergiftung gebildeten Sehpurpurs in den Netzh\u00e4uten durch nachherige Santoningaben nicht beeinflufst, wohl aber die Regeneration des vorher ausgebleichten Purpurs ganz aufgehoben oder doch stark beeintr\u00e4chtigt. Obgleich ausdr\u00fccklich angegeben wird, dafs die Fr\u00f6sche \u201enicht etwa gel\u00e4hmt, circulationslos, moribund auf ihre Purpur-Wiedererzeugungs-F\u00e4higkeit gepr\u00fcft wurden\u201c, kann ich mich der Vermuthung doch nicht enthalten, dafs die Versuchsthiere doch durch die colossalen Dosen des Giftes eine schwere Sch\u00e4digung erlitten haben m\u00fcssen, die sich nicht allein auf das Pigmentepithel beschr\u00e4nkt haben wird. Sie erhielten zum Theil Gaben, die diejenigen noch erheblich \u00fcbertreffen, die beim erwachsenen Menschen schon starke Allgemein-st\u00f6rungen bewirken. Dabei betr\u00e4gt das Durchschnittsgewicht eines Frosches etwa den tausendsten Theil von dem des Menschen.\nZum Ausgangspunkt weitergehender Schl\u00fcsse scheinen danach die FiLEHNE\u2019schen Versuche wenig geeignet\nIch habe nun \u00fcbrigens einen Versuch angestellt, dessen Ausfall eine Entscheidung der Frage liefern konnte, ob Filehne\u2019s auf die Frosch versuche gegr\u00fcndete Auffassung von der Wirkung des Santonins auf die Violettsubstanz zutreffend ist. Wenn das Gelbsehen die Folge eines zu raschen Verbrauchs violettempfindlicher Substanz ist, mufs ein Auge, das vor Lichteinfall vom Beginn der Vergiftung an gesch\u00fctzt war, beim ersten Lichteinfall zun\u00e4chst entweder gar nicht gelb sehen, oder doch jedenfalls weniger intensives Gelb, als ein Auge, das schon einige Zeit durch Lichteinfall gereizt war. Ich habe diesen Versuch ausgef\u00fchrt, fand jedoch, dafs das dunkelgehaltene Auge, wenn es auf dem H\u00f6hepunkt der Vergiftung von weifsem Licht getroffen wurde, dieses sogar ungemein viel ges\u00e4ttigtergelb sah, als das Hellauge.\nAuf Grund vorstehender Erw\u00e4gungen und Beobachtungen finde ich die Frage nach dem Angriffsort des Santonins durch Filehne\u2019s Versuche nicht entschieden, sondern nach wie vor offen.\nIn diesem Zusammenh\u00e4nge verdient noch ein Versuch Er-\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nW. A. Nagel.\nw\u00e4hnung, den ich, angeregt durch Filehne\u2019s Arbeiten, mehrmals ausgef\u00fchrt habe, Filehne hat in einer anderen Arbeit1 k\u00fcrzlich mitgetheilt, dafs er die Erweiterung der Gesichtsfeldgrenzen durch Strychnin auf nur einem Auge habe erzielen k\u00f6nnen, indem er Strychnin in w\u00e4sseriger L\u00f6sung in den Conjunctivalsack tr\u00e4ufelte. Ich habe dasselbe mit santonsaurem Natron versucht Ich tr\u00f6pfelte in kurzen Zwischenr\u00e4umen (von 2\u20143 Minuten) jedesmal mehrere Tropfen einer starken w\u00e4sserigen L\u00f6sung ein, was ohne jegliche l\u00e4stige Reizerscbeinung m\u00f6glich ist. Der Erfolg war jedoch ein negativer, d. h. es traten nach etwa einer Stunde die ersten Allgemeinvergiftungserscheinungen (Geruchs-hallucination) auf, ohne dafs es zu einseitigen Farbensinns-St\u00f6rungen gekommen w\u00e4re.\nBei diesem Ausfall beweist der Versuch nat\u00fcrlich gar nichts f\u00fcr oder wider die direkte Wirkung des Santonins auf die Retina\n1 Arch. f. d. gm. Physiol. 88.\n(Eingegangen am 18. October 1901.)","page":276}],"identifier":"lit31942","issued":"1902","language":"de","pages":"267-276","startpages":"267","title":"Ueber die Wirkung des Santonins auf den Farbensinn, insbesondere den dichromatischen Farbensinn","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:26:47.392350+00:00"}