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{"created":"2022-01-31T16:28:49.415244+00:00","id":"lit31944","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Offner","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 282-284","fulltext":[{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\nL. William Stirn. Ueber Psychologie der individuellen Differenzen. (Ideen n einer \u201edifferentiellen Psychologie\u201c.) Schriften der Gesellschaft f\u00fcr psychologische Forschung 3 (12). 146 S. 1900. Mk. 4.50.\nEs ist ein begr\u00fcfsenswerthes Buch, das Verf. als 12. Heft der rasch zu Ansehen gelangten \u201eSchriften der Gesellschaft f\u00fcr psychologische Forschung\u201c ver\u00f6ffentlicht hat. Wie schon der Titel sagt, will das Buch keine differentielle Psychologie als festbegr\u00fcndete Wissenschaft mit gesicherten Ergebnissen bieten \u2014 das macht der gegenw\u00e4rtige Stand der psychologischen Wissenschaft von vorn herein noch unm\u00f6glich \u2014 lediglich Ideen zu einer solchen, die das Erforschenswerthe aufzeigen und ein Programm k\u00fcnftiger Arbeit aufstellen. Es zerf\u00e4llt in zwei Abschnitte. Der erste k\u00fcrzere Abschnitt handelt vom Wesen, den Aufgaben und den Methoden der differentiellen Psychologie. W\u00e4hrend die bisherige Psychologie generell war, nur den allgemeinen Gesetzen nachging, nach welchen die Seelenph\u00e4nomene sich vollziehen, untersucht die differentielle Psychologie die individuellen Eigenarten und Unterschiede, bem\u00fcht sich festzustellen, in welchen besonderen Formen bei verschiedenen Individuen die psychischen Elemente auftreten und wie sie sich zu complexen Gebilden und Zusammenh\u00e4ngen vereinen, in welcher besonderen Weise die allgemeinen psychischen Gesetze functioniren, in welchen verschiedenen Formen, St\u00e4rkegraden und Verbindungs weisen die psychischen Th\u00e4tigkeiten und die Dispositionen zu ihnen vorhanden sind (S. 9). So gliedert sich die Aufgabe der differentiellen Psychologie in folgende drei Fragen: 1. Worin bestehen die psychischen Differenzen, welche Individuen, V\u00f6lker etc. unterscheiden? (Differenzen-lehren). 2. Wodurch sind diese Differenzen bedingt? Wie wirken Vererbung, Klima, Stand, Erziehung, Anpassung u. dgl.? (psychische Aetiologie und differentielle Psychophysik). 3. Worin \u00e4ufsern sich die Differenzen, etwa in Gesichtsbildung und Mienen, Handschrift und \u00e4hnl. (psychische Symptomenlehre und Diagnostik (S. 4f.). In die bei solcher Betrachtung sich ergebende \u00fcberreiche Mannigfaltigkeit wird aber Uebersicht und Ordnung gebracht mit H\u00fclfe des Typenbegriffes, unter welchem jeweils die einfachste oder die h\u00e4utigst auftretende Form einer einzelnen psychischen Function festgehalten erscheint. Eine und dieselbe Psyche geh\u00f6rt demnach je nach dem Gesichtspunkt verschiedenen Typen an, die","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n283\nbald als blos neben einander stehend auftreten (Typencomplex), bald als sich gegenseitig bedingend und beeinflussend (complexe Typen). Das Individuum ist somit ein Kreuzungspunkt einer Zahl von Typen. Da der Verf. auch nach der H\u00e4ufigkeit des Vorkommens den Typus bestimmt, so kann er der Begriffe \u201enormal\u201c und \u201eabnorm\u201c entbehren. Aber es ist doch fraglich, ob es nicht vortheilhafter gewesen w\u00e4re, dem \u00e4lteren Gebrauche treu bleibend, f\u00fcr die Feststellung des Typus lediglich die Einfachheit und Klarheit der betr. Erscheinung mafsgebend sein zu lassen und daneben die Begriffe \u201enormal\u201c und \u201eabnorm\u201c als Ausdr\u00fccke f\u00fcr die H\u00e4ufigkeit des Vorkommens im Gebrauch zu behalten. An diese Ausf\u00fchrungen \u00fcber Wesen und Aufgabe der differentiellen Psychologie schliefst sich eine Besprechung ihrer Methoden, wobei unseres Erachtens besondere Anerkennung der scharfen Kritik der Mental tests geb\u00fchrt.\nAuf diese allgemeinen Er\u00f6rterungen folgen im zweiten Abschnitte ine Einzelne eingehende Darlegungen \u00fcber die haupts\u00e4chlichen Richtungen der individuell differenten seelischen Functionen und \u00fcber ihre Untersuchung durch das Experiment, wobei sich jetzt schon manche Ergebnisse vermuthen lassen. So f\u00fchrt die scharfe Unterscheidung zwischen nat\u00fcrlicher Sinnesempfindlichkeit und wirklicher Sinnesempfindlichkeit (S.-E. im engeren Sinne) \u2014 Ref. w\u00fcrde \u00fcbrigens lieber sagen: scheinbare S.-f. und reine S.-E. \u2014 zu der Annahme, dafs, wenn die nat\u00fcrliche S.-E. durch Uebung und Ausbildung des Urtheilens und der \u00fcbrigen psychischen Be-dingungenn auf die wirkliche S.-E. reducirt ist, die \u00fcbrigbleibenden individuellen Differenzen der wirklichen und reinen S.-E. relativ gering sind. Umsomehr dagegen unterscheiden sich die Individuen je nach dem Anschauungstypus, dem sie angeh\u00f6ren, der, wenngleich er innerhalb gewisser Grenzen wandelbar ist, doch als angeborene Vorherrschaft eines bestimmten Sinnesgebietes zu betrachten ist. Bei Besprechung des Ged\u00e4chtnisses nimmt Verf. Stellung gegen die seit Ribot h\u00e4ufig gewordene Anschauung, dafs man eigentlich nicht von einem Ged\u00e4chtnifs, sondern von Ged\u00e4chtnissen reden d\u00fcrfe. Das Ged\u00e4chtnifs sei hier, meint St., zu sehr als Reservoir und zu wenig als Function betrachtet. Ganz abgesehen von den Bevorzugungen dieses oder jenes Vorstellungsgebietes gebe es in der Art, wie man lerne, behalte, sich erinnere, sich besinne und vergesse, bestimmte formale Bedingungen, welche die gr\u00f6fsere oder geringere G\u00fcte des Ged\u00e4chtnisses charakterisiren. Unseres Erachtens legt hier der Verf. in das Wort Ged\u00e4chtnifs mehr hinein, als man sonst zu thun pflegt. Binet und Henri, gegen die er sich speciell wendet, bleiben hier mehr auf dem Boden des allerdings gel\u00e4uterten Sprachgebrauches. Freilich scheinen sie jenen formalen Bedingungen, welche St. sehr mit Recht hervorhebt, nicht gen\u00fcgend Rechnung zu tragen. Wir m\u00f6chten hier einen VermittelungsVorschlag machen. Wie oben bei der Sinnesempfindlichkeit liefsen sich auch hier ein nat\u00fcrliches oder lieber scheinbares Ged\u00e4chtnifs (Ged\u00e4chtnifs im weiteren Sinne, wie der unwissenschaftliche Sprachgebrauch das Wort gerne anwendet) und ein wirkliches oder lieber reines Ged\u00e4chtnifs (Ged\u00e4chtnifs im engeren Sinne, entsprechend dem gel\u00e4uterten Sprachgebrauch) unterscheiden, bei welch Letzterem die formalen Bedingungen als Unterschiede in den Leistungen begr\u00fcndende Faktoren in Abrechnung gebracht sind.","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nLiteraturberich t\nStern\u2019s abweichende Auffassung des Wortes Ged&chtnifs tritt dann wieder zu Tage bei Besprechung der Ged\u00e4chtnifstreue. Uebrigens f\u00fcrchten wir, dafs sein Experiment zur Bestimmung dieser Function, schriftliche Wiedergabe vorgelesener kleiner Prosast\u00fccke unter ungleichen zeitlichen Bedingungen, in seinem Werthe nicht unerheblich herabgemindert wird durch den von sehr vielen anderen Dingen abh\u00e4ngigen Faktor der ungleichen stilistischen F\u00e4higkeit, den Verf. zu untersch\u00e4tzen scheint. Ganz mit ihm einverstanden aber sind wir in der Ablehnung von Ph\u00fc.ippb\u2019s Vorschlag, an Nachzeichnungen aus dem Ged\u00e4chtnifs dessen Treue zu messen. Abgesehen davon, dafs damit besten Falles nur ein einziges Sinnesgebiet gepr\u00fcft werden kann, macht schon die grofse Ungleichheit der technischen Geschicklichkeit diesen Versuch werthlos. Und auch des Verf.\u2019s Mifstraueu gegen die Associationsversuche theilen wir. Selbst die Untersuchungen Ziehen\u2019s, die \u00fcbrigens St. auffallenderweise hier nicht erw\u00e4hnt, haben unser Mifstrauen nicht gemindert\nBei Besprechung der BiNET\u2019schen Pr\u00fcfung der Auffassungstypen durch Beschreibung eines Gegenstandes und eines Bildes, das freilich, wie St. sehr berechtigt r\u00fcgt, keine Geschichte darstellen darf, welche den einen bekannt ist, den anderen nicht und so ungleiche Bedingungen schafft und obendrein bei den sie schon Kennenden die Beobachtung mit Erinnerungi-elementen durchsetzt, h\u00e4tten wir abermals einen Hinweis gew\u00fcnscht vif die das Ergebnifs tr\u00fcbende Ungleichheit der F\u00e4higkeit, sich schriftlich auszudr\u00fccken. Sehr ansprechend Bind die Versuche zur Pr\u00fcfung der Aufmerksamkeit mit H\u00fclfe sich allm\u00e4hlich ver\u00e4ndernder Reize, w\u00e4hrend bei denen zur Pr\u00fcfung der Gombinationsf\u00e4higkeit neben der sprachlichen Gewandtheit auch das erworbene Wissen mitspielt, so dafs bestenfalles nicht die reine Combinationsf\u00e4higkeit, sondern die nat\u00fcrliche oder scheinbare gemessen wird. Auf sicherem Boden bewegen wir uns wieder im sehnten Kapitel, das vom Urtheilen handelt, und im elften, das die Reactionstypen bespricht. Das n\u00e4chste giebt Einblicke in die Individualit\u00e4t des Gef\u00fchlslebens und weist mit guten Gr\u00fcnden die tests zur\u00fcck, welche Sharp zur Bestimmung des \u00e4sthetischen Geschmackes aufgestellt hat. Zur Aufdeckung des psychischen Tempos fand St. ein allem Anschein nach vorz\u00fcgliches Pr\u00fcfungsmittel, das Klopfen eines dreitheiligen Tactes, ein Experiment, das nicht nur sehr leicht auszuf\u00fchren und zu controliren ist, sondern sich auch eignet zur Feststellung der psychischen Energie, vielleicht sogar eine ganz praktische Mefsmethode der Erm\u00fcdung abgiebt.\nDas sind die Grundlagen einer Individualit\u00e4tspsychologie oder einer differentiellen Psychologie, wie sie bis jetzt noch nicht in solcher Aasdehnung und Vollst\u00e4ndigkeit geboten wurden, wenngleich schon von verschiedenen Seiten ihr Wesen und ihre Ziele und theilweise auch ihre Wege angegeben worden sind. Die verschiedenen Ans\u00e4tze und Versuche sorgf\u00e4ltig zusammengefafst, \u00fcbersichtlich geordnet, kritisch beleuchtet uu<i vielfach erweitert und verbessert zu haben, ist das Verdienst, das St. f\u00fcr sich in Anspruch nehmen darf. So kann sein Buch Anregung und Aus gangspunkt f\u00fcr mannigfache Forschungen werden, der beste Erfolg, den wir dem Verf. zu w\u00fcnschen wissen.\tOffner (M\u00fcnchen).","page":284}],"identifier":"lit31944","issued":"1902","language":"de","pages":"282-284","startpages":"282","title":"L. William Stern: Ueber Psychologie der individuellen Differenzen. (Ideen zu einer \"differentiellen Psychologie\".) Schriften der Gesellschaft f\u00fcr pychologische Forschung 3 (12). 146 S. 1900","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:28:49.415249+00:00"}