Open Access
{"created":"2022-01-31T16:35:27.241148+00:00","id":"lit31958","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Marty, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 40: 1-54","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"1\n\u00dcber Annahmen.\n(Ein kritischer Beitrag zur Psychologie, namentlich der deskriptiven.)\nVon\nA. Mabty.\nInhaltsverzeichnis.\nEinleitung: Absicht und Disposition der folgenden Untersuchung (S. 2).\n\u00a7 1. Vieldeutigkeit des Terminus \u201eAnnahme\u201c (S. 3).\n\u00a7 2. Das Prinzip der Klassifikation der psychischen Ph\u00e4nomene bei Meinoko dasselbe wie bei Brentano, Aristoteles u. a. (S. 4).\n\u00a7 3. Andeutung \u00fcber den Umfang der neu von ihm statuierten Klasse der \u201eAnnahmen\u201c (8. 4);\n\u00a7 4. und \u00fcber die Charakter derselben. Sie sollen ein Mittelding zwischen Vorstellen und Urteilen sein. \u2014 Der Weg zur Pr\u00fcfung dieses Novums (S. 5).\nI. Abschnitt.\nPr\u00fcfung der vorg\u00e4ngigen Wahrscheinlichkeit der Lehre von\nden \u201eAnnahmen\u201c,\n\u25a0\u00a7 1. Es ist weder annehmbar, dafs \u201eAnnahmen\u201c und Urteile verschiedene Gattungen psychischen Verhaltens bilden (8. 6);\n\u2022\u00a7 2. noch, dafs sie Spezies einer Gattung seien. Denn es fehlt die innere Differenz. Die \u00dcberzeugtheit und ihr Mangel kann es nicht sein (S. 8).\n\u25a0\u00a7 3. N\u00e4here Er\u00f6rterung der Bedeutungen des Terminus \u201e\u00dcberzeugung\u201c und \u201e\u00dcberzengungsgrade * (8. 10).\n\u00a7 4. Verlegenheit Meinonob, einen positiven Charakterzug anzugeben, der seine Gesamtklasse \u201eDenken\u201c (d. h. die Gruppe der \u201eAnnahmen\u201c und Urteile) von dem Vorstellen unterscheidet (8. 15).\n\u2022\u00a7 5. Schwierigkeit zu sagen, wie sich die \u201eAnnahmen\u201c hinsichtlich Evidenz und Blindheit verhalten (S. 17);\n5 6. ebenso, wie hinsichtlich des apodiktischen und assertorischen Charakters (S. 19).\n\u00a7 7. K\u00f6nnen Btrikte entgegengesetzte Affirmationen und Negationen zugleich in uns sein (S. 20)?\n\u00a7 8. Bedenklichkeit der Stellung, welche die \u201eAnnahmen\u201c, im Gegensatz zu den Urteilen, den Vorstellungen gegen\u00fcber einnehmen sollen (S. 23).\nZeitsoarift far Psychologie 40.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nA. Marty.\n\u00a7 9. Bedenklichkeit der \u201eSchein- oder Phantasiegef\u00fchle\u201c und der \u201eScheinoder Phantasiebegehrungen\u201c new, -welche Mmnono als Analogon zu den \u201eAnnahmen\u201c (als \u201eScheinurteilen\u201c) statuiert (S. 2\u00f6).\nII. Abschnitt.\nUnn\u00f6tigkeit der Hypothese einer besonderen Klasse der \u201eAnnahmen\u201c.\n\u00a7 10. Die negativen Begriffe brauchen nicht, wie Mbinqng glaubt, als \u201eAnnahmen\u201c gefafet zu werden. Innere Bedenken gegen diese Auffassung\n(S. 28).\n\u00a7 11. Ebensowenig verlangt, waa Meinono die \u201eGegenst\u00e4ndlichkeit der negativen Urteile\u201c nennt, die Beteiligung von \u201eAnnahmen\u201c (S. 34);\n\u00a7 12. noch die Bildung der Vorstellungen von Kontradiktorischem und Kontr\u00e4rem und \u00fcberhaupt Unanschaulichem. Innere Bedenklichkeit der MEiNONOschen Deutung dieser Vorg\u00e4nge (S. 39).\n\u00a7 13. Auch die Vergegenw\u00e4rtigung oder das sog. \u201eNachbilden\" fremder Urteile verlangt keine \u201eAnnahmen\u201c (8. 41).\n\u00a7 14. Von den sog. expliziten \u201eAnnahmen\u201c Meinongb und den \u201eAnnahme-schl\u00fcssen\". Wahre Natur der Ph\u00e4nomene (S. 44).\n\u00a7 15. Von den \u201eAnnahmen\u201c in Spiel und Kunst. Richtige Deutung dieser Tatsachen (S. 47).\nEinleitung.\nIndem ich mir in meinen demn\u00e4chst erscheinenden \u201eBeitr\u00e4gen zur allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie\u201c zur Aufgabe machte, die fundamentalen Probleme der deskriptiven Bedeutungslehre zur Behandlung zu bringen, war ich. naturgem\u00e4\u00df darauf gef\u00fchrt, mir auch die Frage zu stellen, wie viele und welche fundamentalen Klassen psychischer T\u00e4tigkeiten es gibt, die unsere Sprach mittel auszudr\u00fccken und im H\u00f6rer zu erwecken berufen sind.\nIch vertrete dort die Ansicht, dafs es drei solcher Klassen gebe, die der Vorstellungen, der Urteile (des \u201eAnerkennens\u201c und \u201eVerwerfens\u201c) und des Interessenehmens (des \u201eLieben\u00ab und Hassens\u201c \u2014 Bbentano), welche in einer Dreizahl fundamental verschiedener selbstbedeutender sprachlicher Formeln (den Vorstellungssuggestiven insbesondere den Namen, den Aussagen und den interesseheischenden \u00c4ufserungen oder Emotiven) zum Ausdruck kommen. Ich befinde mich also hier im Gegensatz nicht blofs zu der Meinung, die man h\u00e4ufig h\u00f6rt, als ob die wesentliche Leistung aller Worte und S\u00e4tze darin best\u00e4nde, Vorstellungen und \u201eVorstellungsgruppen\u201c auszudr\u00fccken, sondern auch zu den Theorien, welche zwar nicht alle in der Sprache","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Annahmen.\n3\nge\u00e4ufserten psychischen T\u00e4tigkeiten in Vorstellungen aufl\u00f6sen wollen, aber doch eine andere Scheidung der Grundklassen als die von uns oben erw\u00e4hnte f\u00fcr richtig halten. Unter diesen letzteren Klassifikationsversuchen begegnet uns auch einer von A. Meinong, welcher zwar, wie Brentano und ich, das Vorstellen und Urteilen f\u00fcr wesentlich verschieden h\u00e4lt, aber hinzuf\u00fcgen zu m\u00fcssen glaubt, nicht blofs sei das Urteilen weit davon entfernt, selbst ein Vorstellen zu sein, sondern es \u201egrenze an das Gebiet des Vorstellens nicht einmal an\u201c1, vielmehr sei es von diesem Gebiete noch durch eine Gruppe gleichsam zwischenliegender Tatsachen getrennt, durch die Klasse der \u201eAnnahmen\u201c.* * In meiner oben erw\u00e4hnten Arbeit gestattete mir der Raum nicht, eingehend bei der Pr\u00fcfung dieser von Meinokg statuierten Zwischenklasse zu verweilen, und so entschlofs ich mich, diesem Gesch\u00e4fte eine besondere Abhandlung zu widmen, auf die in meinem Buche nur verwiesen wird. Die folgenden Ausf\u00fchrungen sollen der Aufgabe gewidmet 6ein.\n\u00a7 1. Der Name \u201eAnnahme\u201c wird bekanntlich \u2014 auch Meinokg weist darauf hin \u2014 vieldeutig gebraucht, und nicht alles, was gemeinhin so genannt wird, sondern nur ein Teil dessen soll nach ihm so beschaffen sein, dafs es weder als ein blofses Vorstellen noch als ein Urteilen sondern als ein Mittelding zwischen beiden zu bezeichnen sei, das von den Psychologen bisher in dieser Eigenart verkannt worden w\u00e4re.\nMan gebraucht \u201eannehmen\u201c im Sinne von: der Ansicht eines anderen zustimmen oder beipflichten, sie billigen; wenn dies auch auf zureichende Gr\u00fcnde hin geschieht. Dies ist nat\u00fcrlich nicht dasjenige, dem Meinong eine Mittelstellung zwischen Vorstellen und Urteilen anweisen m\u00f6chte. Es ist ja auch offenkundig nichts anderes als ein Urteilen.\nDasselbe gilt aber, wenn man sagt., dafs einer etwas \u201eannehme\u201c, wenn er es ohne zureichende Vernunftgr\u00fcnde, mehr oder weniger blind, glaubt, insbesondere wenn er sich vom Willen zum F\u00fcrwahrhalten bestimmen l\u00e4fst, weil es ihm lieber\n1 Das hatte freilich auch Brentano nicht gelehrt. Was verschiedenen Gattungen angeh\u00f6rt, kann nicht aneinander grenzen. Auch kann nicht eigentlich etwas dazwischen liegen, wodurch der Abstand noch gr\u00f6fser w\u00fcrde.\n* \u201e\u00dcber Annahmen\u201c von A. Meinono. Erg.-Bd. II dieser Zeitschrift.","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nA. Marty.\nist, die Sache so als so anzusehen oder er es f\u00fcr geboten h\u00e4lt, daran zu glauben.\nAuch dies ist nicht dasjenige, wof\u00fcr Meinong seine neue Klasse statuieren zu m\u00fcssen meint.\nMan spricht aber endlich auch von \u201eAnnahmen\u201c in F\u00e4llen, wo damit kein Glauben oder \u00dcberzeugtsein gemeint ist, weder ein begr\u00fcndetes noch ein blindes, wie wenn ich sage \u201eAngenommen, aber nicht zugegeben, die Zeit besitze ein gewisses Kr\u00fcmmungsmafs\u201c usw. oder \u201eNehmen wir an, Napoleon der Grofse lebte noch usf.\u201c kurz, wo wir etwas fingieren, etwa um Konsequenzen daraus zu ziehen. Hier glaubt Meinong eine Klasse psychischer T\u00e4tigkeiten vor sich zu haben, deren charakteristische Eigent\u00fcmlichkeit bisher \u00fcbersehen worden sei.\n\u00a7 2. Was den Gesichtspunkt betrifft, von dem er bei seiner Klassenbildung ausgeht, so ist es im \u00fcbrigen derjenige, den Brentano zuerst mit voller Sch\u00e4rfe geltend gemacht hat, der aber \u2014 nur ohne klar ausgesprochen zu werden \u2014 schon Aristoteles bei seiner Zweiteilung alles psychischen Verhaltens in vofi\u00e7 und ope\u00a7/c, und auch den Sp\u00e4teren wieder bei ihrer Dreiteilung: Denken, F\u00fchlen und Wollen, vorschwebte. Es ist der Gesichtspunkt der tiefergehenden \u00dcbereinstimmung und Verschiedenheit in der Weise der intentionalen Beziehung zum Objekte, die bei den verschiedenen psychischen T\u00e4tigkeiten gegeben ist. Von diesem Klassifikationsprinzip aus betrachtet, meint Meinong, erweise sich unser psychisches Verhalten, wenn wir eine \u201eAnnahme\u201c im zuletzt erw\u00e4hnten Sinne machen, d. h. wenn wir etwas so behandeln, als ob wir es glaubten, um die Konsequenzen daraus zu ziehen, weder als ein blofses Vorstellen noch auch als ein Urteilen sondern es k\u00f6nne, wie schon gesagt, nur als ein Mittelding zwischen beide eingeordnet werden.\n\u00a7 3. Weiterhin findet er dann aber, dafs aufser den eben erw\u00e4hnten noch eine ganze Anzahl anderer Vorg\u00e4nge, die gew\u00f6hnlich f\u00fcr Vorstellungen gehalten werden und die sonst niemand \u201eAnnahmen\u201c nennt, in Wahrheit dieser von ihm statuierten neuen Klasse angeh\u00f6ren. So soll z. B., wenn einer sich vergegenw\u00e4rtigt, was ich urteile, ohne dafs er es doch selbst glaubt, dieser sein Gedanke eine Annahme sein. Ebenso der Gedanke des Fragenden, so weit es sich um die Vergegenw\u00e4rtigung dessen handelt, was der Fragende zu wissen verlangt.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n5\nWeiter auch die Gedanken desjenigen, der ein M\u00e4rchen erz\u00e4hlt oder die Erz\u00e4hlung anh\u00f6rt und versteht ohne an den Inhalt zu glauben usw.\nUnd auf den naheliegenden Einwurf, dafs es gegen allen Sprachgebrauch sei, auch diese intellektuellen Zust\u00e4nde \u201eAnnahmen\u201c zu heifsen, wird Meinong ohne Zweifel erwidern, es Bei hier ein Fall gegeben, wo die Bedeutungs\u00e4nderung bei einem \u00fcblichen Namen wohl erlaubt, ja wissenschaftlich geboten sei, da sie im Interesse einer richtigen Klassifikation und zweck-m\u00e4fsigen Nomenklatur f\u00fcr die Erscheinungen liege. Alle die Gedanken, die er als \u201eAnnahmen\u201c bezeichne, bildeten eine nat\u00fcrliche Klasse und w\u00fcrden darum auch billig mit demselben Namen belegt. Als solcher aber biete sich am passendsten derjenige der \u201eAnnahmen\u201c, welcher \u00fcblicherweise bereits auf einen Teil des Umfanges der neuen Klasse angewendet werde. Es sei nur angemessen, ihn auf den ganzen Bereich jener innerlich verwandten Erscheinungen auszudehnen.\nOffenbar kommt hier alles darauf an, ob diese von Meinong Bupponierte Klasse wirklich existiert.\n\u00a7 4. Wie schon angedeutet, sollen die \u201eAnnahmen\u201c ein Mittelding bilden zwischen dem Vorstellen und dem Urteilen. Zum letzteren geh\u00f6rt, so meint der Autor, wesentlich, dafs das betreffende psychische Verhalten nicht blofs den Charakter eines Anerkennens oder Verwerfens sondern auch den des \u00dcberzeugtseins habe. Nun aber gebe es F\u00e4lle, wo wir etwas anerkennen oder verwerfen, ohne davon \u00fcberzeugt zu sein, wie wenn wir z. B. fingieren, dafs die Buren gesiegt h\u00e4tten usw. Somit k\u00f6nne es sich dabei nicht um ein Urteilen handeln. Andererseits aber liege offenbar auch kein blofses Vorstellen vor. Denn bei einem solchen sei kein Anerkennen oder Leugnen gegeben. Es handle sich eben vielmehr um etwas, was eine Mittelstellung zwischen beiden einnehme.\nDie Versuche, diese \u201eUrteile ohne \u00dcberzeugung\u201c oder \u201eSchein-urteile\u201c f\u00fcr wirkliche Urteile zu halten, seien nicht ernst. Weil man doch offenkundig etwas in dieser Weise annehmen k\u00f6nne, wovon man das Gegenteil glaube oder wisse, was ja dann involvierte, dafs man zugleich Entgegengesetztes urteilte.\nEher sei man versucht, den Vorgang f\u00fcr ein blofses Vor-stellen zu nehmen, wie er es selbst fr\u00fcher getan habe. Indessen l\u00e4gen dringende Beweise f\u00fcr die Unm\u00f6glichkeit auch dieses Aus-","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nA. Marty.\nwegs vor, namentlich in dem Hinweis auf die negativen Annahmen. Die Negation sei niemals Sache des Vorstellens. Wo sich daher eine Negation vorfinde, dort sei der Bereich des blofsen Vorstellens ganz gewifs \u00fcberschritten. Nicht blofs der Charakter der \u00dcberzeugtheit sondern auch der Gegensatz zwischen Affirmation und Negation \u201emache eine wesentlich vorstellungsfremde Tatsache aus\u201c.\nUnd neben den eben erw\u00e4hnten Erscheinungen in unserem psychischen Leben, die \u2014 wie der Autor meint \u2014 sich offenkundig nicht ohne Annahme eines Zwischengebietes zwischen Vorstellen und Urteilen von der Art wie seine \u201eUrteile ohne \u00dcberzeugung\u201c erkl\u00e4ren lassen, soll es, wie schon angedeutet wurde, nach ihm noch eine Reihe anderer geben, die sich wenigstens am nat\u00fcrlichsten als Ph\u00e4nomene dieser Art begreifen w\u00fcrden.\nOb dem wirklich so sei, ist hier zu untersuchen, und ich glaube, wir werden uns dabei \u00fcberzeugen, dafs keine der Tatsachen, auch die, welche etwa auf den ersten Blick am meisten f\u00fcr die Unentbehrlichkeit der neuen Lehre zu sprechen scheinen, wirklich von der Art ist, sondern dafs sie sich ebensogut, wo nicht besser, ohne sie deuten lassen.\nAber nicht blofs ist der Erkl\u00e4rungswert der fraglichen Theorie nicht ein solcher, der die Wagschale f\u00fcr sie zum Sinken zu bringen verm\u00f6chte, sie leidet auch an vorg\u00e4ngiger starker Unwabrscheinlichkeit ja Unm\u00f6glichkeit. Und naturgem\u00e4fs fassen wir vorab diese Seite der Frage ins Auge und f\u00fchren uns also zuerst einige der Schwierigkeiten vor, die meines Erachtens von vornherein dahin dr\u00e4ngen, nach einer anderen Erkl\u00e4rung f\u00fcr die in Rede stehenden Tatsachen zu suchen als die der Meinong-schen \u201eAnnahmen\u201c, weil diese an innerer Improbabilit\u00e4t leidet.\nI. Abschnitt.\nPr\u00fcfung der rorg\u00e4ngigen Wahrscheinlichkeit der Lehre von\nden \u201eAnnahmen\u201c.\n\u00a7 1. Vor allem erregt mir hier die Stellung, welche den \u201eAnnahmen\u201c einerseits zum Vorstellen, andererseits zum Urteilen zukommen soll, schwere Bedenken und Meinoxg zeigt selbst in seinen bez\u00fcglichen Schilderungen ein gewisses Schwanken. Einesteils wird uns ja gesagt, zwischen den \u201eAnnahmen\u201c und Urteilen sei eine engere Verwandtschaft als zwischen jenen und","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n7\nden Vorstellungen, und die Annahmen seien den Erkenntnissen und Urteilen \u201e\u00e4hnlich genug um sie vertreten zu k\u00f6nnen\u201c. Anderenteils aber nennt Meinong sie auch wieder blofs \u201eScheinurteile\u201c, da ihnen das Wesentliche des Urteils (der \u201e\u00dcber-zeugungs\u201cCharakter) fehle und h\u00f6rten wir vorhin auch schon, die Versuchung, sie f\u00fcr wirkliche Urteile zu halten, sei nicht grofs; naheliegender sei die, das \u201eAnnehmen\u201c als ein blofses Vorstellen zu fassen. Doch wir m\u00fcssen gegen\u00fcber diesen Angaben nicht blofs auf v\u00f6llig harmonische sondern auch auf exaktere und tiefergreifende Aufschl\u00fcsse dringen. Haben wir es, das scheint mir die Kardinalfrage, bei Annahmen und Urteilen mit zwei verschiedenen Gattungen psychischer Beziehung zu tun oder nicht?\nNehmen wir an, sie bilden verschiedene Gattungen, wie w\u00e4re es dann denkbar, dafs sie dieselben SpezieB: Anerkennen und Verwerfen aufweisen? Das w\u00e4re ebenso, wie wenn einer Rot und Blau auch aufserhalb der Gattung Farbe finden wollte. Man m\u00fcfste, die fundamentale und generische Verschiedenheit von Annahmen und Urteilen aufrecht haltend, in Wahrheit lehren, das annehmende Anerkennen und Verwerfen sei blofs ein Analogon des urteilenden, so etwa wie man auch das Lieben ein Analogon des Anerkennens und den Hals als ein Analogon des leugnenden Ablehnens bezeichnen kann. Nat\u00fcrlich k\u00f6nnte aber dann das Annehmen auch nicht im eigentlichen Sinne wahr und falsch sein. Auch solche Pr\u00e4dikate k\u00f6nnten von ihm nur in einem irgendwie analogen Sinn wie vom Urteil gelten.\nAllein welche' Erfahrung weifs etwas von derartigen Analogien z. B. von solchen eigent\u00fcmlichen, nur auf das \u201eAnnehmen\u201c reflexen Begriffen, die blofs ein Analogon w\u00e4ren zu den auf das Urteilen und seine verschiedenen Modi reflexen Begriffen : wahr und falsch, Sein- und Nichtsein, Notwendigsein, Unm\u00f6glichsein?\nWenn man von wahren und falschen \u201eAnnahmen\u201c spricht, so ist dies in Wahrheit entweder v\u00f6llig im selben Sinne gemeint wie beim Urteil (dann n\u00e4mlich, wenn es sich eben um Urteile handelt, die \u2014 wir sagten es schon \u2014 unter Umst\u00e4nden auch Annahmen, z. B. eine \u201eblinde Annahme\u201c, genannt werden) oder aber, wenn unter \u201eAnnahmen\u201c ein Fingieren d. h. nach der alten Ansicht ein blofses Vorstellen gemeint ist, dann heifst dieses psychische Verhalten nur beziehungsweise wahr und falsch,","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nA. Marty.\nn\u00e4mlich mit R\u00fccksicht darauf, dafs einer, der das \u201eAngenommene\u201c glauben w\u00fcrde, wahr resp. falsch urteilte.\nDagegen von einem Wahr und Falsch, Seiend und Nichtseiend usw., das nur in einem analogen Sinne zu verstehen w\u00e4re wie die gleichnamigen vom Urteilen abstrahierten Pr\u00e4dikate (so etwa wie man die G\u00fcte als ein Analogon der Wahrheit bezeichnen kann), zeigt keine Erfahrung etwas. Und wenn es nach Meinong ein \u201eAnnehmen gibt, das kein blofses Vorstellen sondern ein Anerkennen und Verwerfen, aber doch kein Urteilen, sein soll, dann m\u00fcssen die genannten Begriffe doch zu diesem \u201eannehmenden\u201c Anerkennen und Verwerfen ganz ebenso und im selben Sinne in Beziehung stehen wie zum urteilenden, mit anderen Worten: das \u201eannehmende\u201c und das urteilende Anerkennen und Verwerfen m\u00fcssen ein Anerkennen und Leugnen ganz im selben Sinne sein und wir haben hier und dort nur eine Gattung psychischen Verhaltens vor uns.\nDies wird wohl Meinong auch als seine tats\u00e4chliche Ansicht bezeichnen.\nObwohl es dann befremden mufs, dafs er das Annehmen als ein Mittelding zwischen Vorstellen und Urteilen hinstellt, w\u00e4hrend es zwischen solchem, was der Gattung nach verschieden ist, strenge genommen kein Mittleres geben kann. Doch ist dies wahrscheinlich nur uneigentlich gemeint, und Meinong will \u2014 so scheint es \u2014 Annehmen und Urteilen unter dem Namen \u201eDenken\u201c als eine Grundklasse und Gattung wie dem F\u00fchlen und dem Begehren einerseits, so dem Vorstellen andererseits entgegensetzen.1\n\u00a7 2. Wenden wir uns denn dieser Alternative zu. Eine Gattung psychischer Beziehungen kann in verschiedener Richtung und unter verschiedenen Gesichtspunkten differenziert sein. So\n1 Eb bedarf keiner Bemerkung, dafs er in dieser Terminologie, welche keinerlei Vorstellen als ein \u201eDenken\u201c bezeichnen will (S. 278), ziemlich allein steht. Doch wollen wir hier nicht um Worte streiten sondern nur um die naturgem\u00e4fse Klassifikation der psychischen Vorg\u00e4nge, und diese darf sich so wenig als die wissenschaftliche Zoologie oder Botanik durch R\u00fccksicht auf die popul\u00e4re Terminologie (welche ja nicht zu theoretischen Zwecken und auf Grund wissenschaftlicher Beobachtung gebildet ist) beirren lassen. Eben darum konnte ich es nicht billigen, dafs Meinong wie andere fr\u00fcher geneigt schien, Vorstellen und Urteilen mit darum enger zuBammenzurechnen, weil die gew\u00f6hnliche Sprache Beides ein \u201eDenken\u201c nennt.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n9\nist es auch bei der Gattung, die wir hier vor uns haben und die wir einstweilen nur dadurch charakterisieren wollen, dafs sie aufser den Unterschieden des Objekts oder der Materie ein qualitatives Moment und unter diesem Gesichtspunkt die Spezies des Anerkennens und Yerwerfens aufweist. Dieses Verhalten, das wir im \u00fcbrigen einstweilen nur das generelle Verhalten x nennen wollen, kann, wie die Erfahrung zeigt, aufserdem noch so differenziert sein, dafs es entweder ein evidentes oder blindes, entweder ein apodiktisches oder assertorisches ist usw. Aber es f\u00e4llt niemanden ein, wenn er das evidente Verhalten, z. B. das evidente Anerkennen von A, ein Urteilen nennt, dem blinden diesen Namen zu versagen, und unter \u201eUrteilen\u201c versteht er dann eben den gemeinsamen generellen Zug x, der diesen Differenzierungen zugrunde liegt.\nDas Analoge w\u00e4re nun auch zu erwarten, wenn man weiterhin zwischen \u00fcberzeugten und nicht \u00fcberzeugten Urteilen unterscheidet, n\u00e4mlich : dafs doch beides Urteile bleiben. Doch hier gebietet uns Meinong pl\u00f6tzlich Halt. Wenn die \u00dcberzeugung fehlt, dann soll es nicht mehr erlaubt sein, dafs man, wie wenn die Evidenz fehlt, fortfahre von \u201eUrteilen\u201c zu sprechen. Das Urteil ohne \u00dcberzeugung ist nach Meinong nur ein \u201eScheinurteil\u201c, also in Wahrheit gar kein Urteil.1\nDamit ist offenbar gelehrt, dafs das \u00dcberzeugtsein oder sein Mangel nicht eine Differenz sei von der Art wie Evidenz und Blindheit oder wie Apodiktizit\u00e4t und der Mangel dieses Charakters, die jenes generelle Verhalten, das wir x genannt haben, als Spezies innerlich differenzieren, sonst m\u00fcfste, wenn man x im einen Falle ein Urteil nennen kann, es auch im anderen so\n1 Wenn er anderw\u00e4rts die rAnnahmen \u25a0' \u00f6fter auch \u201eUrteile ohne \u00dcberzeugung\u201c nennt, so ist dabei der Terminus Urteil offenbar in modifiziertem Sinne gebraucht, so wie \u201ePferd\u201c in der F\u00fcgung \u201egemaltes Pferd\u201c und \u201eSchlots\u201c in der Verbindung \u201eLuftschlofs\u201c. Ich begreife darum nicht recht wie er (S. 257) die Aufstellung, die Annahmen seien \u201eUrteile ohne \u00dcberzeugung\u201c \u201efast definitionsartig\u201c nennen kann. Damit scheint angedeutet werden zu wollen, es sei fast etwas wie eine Definition per genus proximum und differentia specifics, und dies ist es in Wahrheit weder halb noch ganz sondern gar nicht. W\u00e4re es dies, dann m\u00fc\u00dften die \u201eUrteile ohne \u00dcberzeugung\u201c doch wahrhaft Urteile sein, so wie z. B. die blinden es nicht weniger Bind als die einsichtigen, und wenn dies, wie k\u00f6nnte er sie auch wieder \u201eScheinurteile\u201c nennen und als eine besondere Klasse neben den wirklichen Urteilen anff\u00fchren?","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nA. Marty.\nheifsen d\u00fcrfen. Allein, wenn es keine solche Differenz ist, dann bleibt, so viel ich zu sehen vermag, nur ein Doppeltes. Entweder haben wir an dem \u00dcberzeugtsein doch \u2014 was oben abgelehnt wurde \u2014 - keine blofs spezifische sondern die generelle Differenz des Verhaltens x vor uns, so dafs \u00dcberzeugung (nach Meinong = Urteil) und nicht\u00fcberzeugtes Anerkennen und Verwerfen (nach M binon g = \u201eAnnehmen\u201c) derGattung nach verschiedene Verhaltungsweisen der Seele sind, oder es kann \u00fcberhaupt keine interne Differenz der seelischen Beziehungsweise (so wie die Evidenz usw.) sondern mufs etwas ihr Aufserliches sein. Etwas Drittes vermag ich hier als m\u00f6glich nicht zu erkennen.\nDie eine dieser Alternativen mufsten wir aber \u2014 wie bemerkt \u2014 schon als unannehmbar ablehnen. Es bleibt somit blofs die andere. Und auch damit ist der Fall von Meinongs Theorie besiegelt, da ja nach ihm die \u00dcberzeugung etwas jenes Verhalten x, das er \u201eDenken\u201c nennt, innerlich Differenzierendes sein soll.\n\u00a7 3. Doch wir m\u00fcssen diesem Moment der \u00dcberzeugtheit noch etwas weiter unsere Aufmerksamkeit zuwenden.\nFr\u00fcher hat Meinong dasselbe als die dem Urteilen eigent\u00fcmliche Intensit\u00e4t angesehen. Jetzt scheint er davon abgekommen.1 Sonst m\u00fcfste* er ja auch nunmehr lehren, die Annahme (d. h. \u201edas Urteil ohne \u00dcberzeugung\u201c) sei ein \u201eUrteilsakt\u201c mit der Intensit\u00e4t Null, also f\u00fcr den, der auf diesem Gebiet \u00fcberhaupt an das Bestehen einer Intensit\u00e4t glaubt, gar nichts Positives.\nIn der Erkenntnis, dafs die \u00dcberzeugungsgrade nicht Urteilsintensit\u00e4ten sein k\u00f6nnen, ist Meinong nur dem Beispiele angesehener Psychologen gefolgt; wie denn z. B. Sigwart die Unm\u00f6glichkeit dieser Identifizierung schon l\u00e4ngst betont hatte.\nJetzt will er, indem er die \u00dcberzeugtheit als ein besonderes, nicht weiter r\u00fcckf\u00fchrbares Moment am Urteil fafst, die \u00dcberzeugungsgrade nicht als Unterschied der St\u00e4rke des Urteilsaktes selbst sondern nur dieses Moments am Urteilsakte fassen. Allein St\u00e4rkegrade, die einem solchen Moment am Urteil im\n1 Er identifiziert jetzt die Intensit\u00e4t des Urteils mit der \u201eGewifs-heit\u201c (worunter er das Mafs der Wahrscheinlichkeit versteht) und spricht es auch den Annahmen zu, so dafs es danach Anerkennungen und Leugnungen gibt, denen h\u00f6chste \u201eGewifsheit\u201c, doch ohne jeden \u00dcberzeugungsgrad, eigen ist.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n11\nbesonderen und ausschliefslich zuk\u00e4men, scheinen mir eine ganz unm\u00f6gliche Annahme. Damit w\u00fcrde der \u00dcberzeugungscharakter aufh\u00f6ren ein blofses Moment an einem Akte, er m\u00fcfste selbst ein Akt, ein reales Akzidens der Seele oder vielmehr ein Akt am Akte sein, was alles ganz unannehmbar ist. 1st er dies nicht, sondern blofs so wie die Evidenz oder der apodiktische Charakter eine besondere Seite am Urteilsakt, dann scheint es mir absurd, -ihm eine besondere Intensit\u00e4t zuzuschreiben, die nicht Intensit\u00e4t dieses Aktes selbst w\u00e4re.\nIn Wahrheit sind die sog. Grade der \u00dcberzeugung1 entweder Unterschiede in der Materie des F\u00fcrwahrgehaltenen; denn wenn ich das einmal urteile: etwas sei, das anderemal blofs: es sei mehr oder weniger wahrscheinlich, so sind dies nichts anderes als Unterschiede des Beurteilten.2 Oder, soweit dies nicht der Fall ist, haben wir es nicht mit einer inneren Differenz des Urteils zu tun, und die \u201eGrade\u201c der \u00dcberzeugung sind nicht anders zu verstehen als wie man auch von St\u00e4rkegraden bei der Gewohnheit und von Graden in der Festigkeit des Vorsatzes spricht.*\nIch sage die Grade der \u00dcberzeugung. Denn man k\u00f6nnte den Terminus \u201e\u00dcberzeugung\u201c auch in einem weiteren Sinne gebrauchen, der keine Grade zul\u00e4lst. Unter \u00dcberzeugung oder Glaube (belief) in diesem weiteren Sinne k\u00f6nnte dann nur der generische Grundzug gemeint sein, der allem Anerkennen und Verwerfen und dem blinden und evidenten, assertorischen und apodiktischen F\u00fcrwahrhalten gemeinsam ist.\n1\tWie dies schon von Brentano in seinen sp\u00e4teren Wiener-Vorlesungen zur Logik ausgef\u00fchrt worden ist.\n2\tWenn man die Grade der \u00dcberzeugung in diesem Sinne (im Unterschied von dem, was sonst noch so heifsen kann) speziell Grade der Gewifs-heit nennen will, so ist dies Sache der \u00dcbereinkunft. Aber sie k\u00f6nnen dann nur darum Sache des \u201eAnnehmens\u201c sein, weil sie auch blofs Unterschiede von Vorstellungsinhalten sein k\u00f6nnen. Im \u00fcbrigen sei dahingestellt, ob diese Terminologie gl\u00fccklich ist.\n2 Darum ist bei der \u00dcberzeugung auch nicht in Wahrheit von einer Intensit\u00e4t zu reden. Verm\u00f6ge einer grofsen Unexaktheit des Sprachgebrauchs geschieht es freilich, dafs man bei allem, was Grade zul\u00e4fst und so auch in den obenangegebenen F\u00e4llen und weiterhin auch bei den Graden der Geschwindigkeit einer Bewegung u. dgl. von \u201eIntensit\u00e4t\u201c spricht. Aber im Interesse der Klarheit der Begriffe w\u00fcrde dies besser vermieden.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nA. Marty\nEs ist dies eben der Zug, der gegen\u00fcber dem blofsen Vorstellen eine neue Weise des Verhaltens der Seele zum Objekte konstituiert. Ich kann mir auch blofs vorstellen, dafs etwas sei oder nicht sei.1 * 3 Aber etwas ganz Neues tritt auf im ernstlichen Anerkennen und Verwerfen, im F\u00fcrwahr- und F\u00fcrfalschhalten, im Glauben oder Leugnen. Doch m\u00f6chte ich nicht raten, diesen, dem Anerkennen und Verwerfen gemeinsamen, Zug \u201eGlauben\u201c zu nennen, da dieser Name gerne blofs f\u00fcr das affirmative Verhalten verwendet wird * und auch nicht \u201e\u00dcberzeugung\u201c, da \u2014 wie schon angedeutet \u2014 dieser Terminus lieber von etwas gebraucht wird, was Grade zul\u00e4fst und kein inneres Moment des fraglichen psychischen Zustandes ist. Am passendsten nennen wir das- \u00dcberzeugtsein, welches keine Grade zul\u00e4fst und den eigent\u00fcmlichen gemeinsamen Charakterzug des Anerkennens und Verwerfens im Unterschied von allem blofsen Vorstellen aasmacht, \u201eUrteilen\u201c, ein Begriff, bei dem auch niemand an Grade denkt.\u201c Den Ausdruck \u201e\u00dcberzeugung\u201c dagegen wollen wir aus-schliefslich im engeren Sinne f\u00fcr jenes Etwas verwenden, was Grade zul\u00e4fst4 und womit, wie schon angedeutet, ein Doppeltes gemeint sein kann, n\u00e4mlich ein objektiver und gewisse subjektive Umst\u00e4nde beim Urteilen. Einerseits n\u00e4mlich die Unterschiede der Sicherheit, wie wenn ich das einmal sage : es ist sicher, das anderemal es ist unsicher oder mehr oder weniger wahrscheinlich, dafs A sei \u2014 also, wie wir schon sagten, gewisse Unterschiede der Urteilsmaterie. Andererseits werden auch als Grade der \u00dcberzeugung eines Urteils bezeichnet das subjektive Verh\u00e4ltnis seines Beharrens oder Schwankens und sein Einflufs auf das \u00fcbrige psychische Leben.\n1 Nat\u00fcrlich erst, wenn ich auch die Begriffe von Sein und Nichtsein, Seiendem und Nichtseiendem aus der Reflexion auf Urteile gewonnen habe. Aber das hindert nicht, dafs diese Begriffe Vorstellungen und nichts anderes seien.\n*\tSo habe ich es eben selbst getan.\n3 Meinong mufs eigentlich auch diese Inkonvenienz in den Kauf nehmen, da er den Urteilscharakter identifiziert mit der \u00dcberzeugung in dem Sinn, in welchem sie Grade zul\u00e4fst. Nach ihm m\u00fcfste ein Zustand mehr oder weniger als der andere ein Urteil sein k\u00f6nnen.\n*\tW\u00fcrden wir \u201e\u00dcberzeugung\u201c in diesem engeren Sinne und zugleich im Sinne von Urteil \u00fcberhaupt gebrauchen, so w\u00fcrden wir nicht blofs eine \u00c4quivokation stiften, sondern auch \u2014 wie schon angedeutet \u2014 mit dem \u00fcblichen Sprachgebrauch in einen unn\u00f6tigen Konflikt kommen.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n13\nEin Urteil, das kritisch angefochten und angezweifelt und \u00fcberhaupt von anderen widerstreitenden verdr\u00e4ngt wird, nennt man nicht eine \u00dcberzeugung im vollen Sinne des Wortes. Man denkt bei \u00dcberzeugung an Widerstandskraft, nicht an Schw\u00e4chlichkeit und den Namen erh\u00e4lt darum Heber ein festes, unersch\u00fctterliches Urteilen, dem wir \u2014 ohne Unruhe \u2014 zuvereicht-Hch anhangen.1\nDiese Festigkeit kann Ausflufs der Evidenz sein. Aber auch blofs Folge davon, dafs wir das Geglaubte f\u00fcr evident halten2 oder dafs sich \u2014 aus irgend einem Grunde und w\u00e4re es nur infolge der Beschr\u00e4nktheit des Ideenkreises \u2014 kein entgegenstehender Zweifel geltend macht. Auch in logisch v\u00f6llig unbegr\u00fcndeter Weise k\u00f6nnen sich ja Urteile unersch\u00fctter\u00fcch in uns festsetzen z. B. durch Instinkt und Gewohnheit, und letztere kann in mannigfacher teils mehr unmittelbarer Weise (tierische exspectatio casuum similium), teils mittelbarer Weise (Fehlschl\u00fcsse verschiedener Art) wirksam sein. Auch kann \u2014 was insbesondere Cabtesius vorschwebte \u2014 der Wille den Ausschlag zur Zustimmung geben oder sie festigen, indem er eine ausschliefsliche Besch\u00e4ftigung mit dem betreffenden Urteil und allem, was dasselbe zu st\u00fctzen geeignet ist, beg\u00fcnstigt und so ein entgegenstehendes kritisches Denken nicht aufkommen l\u00e4fst, und auch wohl, indem er das Gem\u00fctsleben und die praktische Seite unseres Verhaltens in einem Sinne beherrscht, welcher der betreffenden \u00dcberzeugung entsprechen w\u00fcrde, was nach den Gesetzen der Gewohnheit dazu beitr\u00e4gt, jene selbst zu f\u00f6rdern.\nSo kann es in mannigfacher, unlogischer und logischer Weise geschehen, dafs sich uns ein Urteil so aufdr\u00e4ngt oder wir uns\n1 Firmiter (sine formidine alterius) adhaerere, acquiescere.\n* Unter diesem f\u00fcr evident-halten verstehe ich nat\u00fcrlich ein ernstliches Urteilen. Ein blofses \u201eAnnehmen\u201c, dafs ein gewisses Urteil evident sei, w\u00fcrde nichts erkl\u00e4ren, und so ist auch klar, dafs um jenes Moment, welches wir als einen generellen Zug bei allem Urteilen und als einen solchen, der keine Grade zul\u00e4fst, bezeichneten, nicht herumzukommen ist. Es mufs als letzte Tatsache des psychischen Lebens anerkannt werden ; sonst ist auch von dem, was wir Grade der \u00dcberzeugung nennen, keine Rechenschaft m\u00f6glich.\nIrgendwie auf wirkliche oder vermeintliche Evidenz geht auch alles anr\u00fcck, was man Kritik oder kritisches Verhalten gegen ein gegebenes Urteil nennen kann und wodurch es des Charakters der \u00dcberzeugung vor\u00fcbergehend oder f\u00fcr immer entkleidet wird.","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"U\nA. Marty.\nihm so gefangen geben, dafs ihm keinerlei Widerstand entgegensteht, und jedes solche Urteil heifst eine volle oder feste \u00dcberzeugung.\nDas andere, was der \u00dcberzeugung in diesem steigerungsf\u00e4higen Sinne oder der volleren \u00dcberzeugung eigent\u00fcmlich ist, sind ihre Folgen f\u00fcr die Gem\u00fcts- und Willenst\u00e4tigkeit.1 * * * * * * * Sie h\u00e4ngen teils ab von jenen Unterschieden der Materie, wie: ob ich etwas als sicher oder blofs wahrscheinlich beurteile, teils von dem Beharren oder Schwanken des Urteils, teils aber auch von gewissen Dispositionen des Charakters wie Leichtsinn, Mut, Besonnenheit, Furchtsamkeit, Schwermut usw. Ein Urteil, dem zuf\u00e4llig keine kritische Bedenken entgegentreten, wie sehr es auch an und f\u00fcr sich solchen zug\u00e4nglich sein mag, wird ungehemmt nach allen Seiten mafsgebend werden, sich also als volle \u00dcberzeugung gerieren. In anderen F\u00e4llen m\u00f6gen besondere Dispositionen des Gem\u00fctes und Willens dahin wirken, dafs auftauchende Bedenken und Anfechtungen sofort wieder zur\u00fcckgedr\u00e4ngt werden und sich der der Stimmungs- und Willensrichtung genehme Gedanke widerstandslos geltend machen und zu ungehemmter Macht entfalten kann.9\n1 A. Bain wollte bekanntlich den ganzen Unterschied des Glaubens\n(Urteilens) gegen\u00fcber dem Vorstellen in diesem Einflufs auf unser Gem\u00fcts-\nleben aufgehen lassen. Mit Recht hat man ihm entgegengehalten, das\nVorhandensein und der Entfall dieses Einflusses bei gewissen intellektuellen\nZust\u00e4nden bed\u00fcrfe aber doch selbst einer Erkl\u00e4rung, und diese k\u00f6nne de\u00bb\nAnnahme eines inneren Unterschieds zwischen jenen verschiedenen\nKlassen psychischen Verhaltens nicht entraten. Uns, die wir lange nicht so weit gehen wie Bain, trifft nat\u00fcrlich die Einrede nicht.\n! Wenn man unter dem D. HtmEschen belief dieses Beeinflufstwerden der Gem\u00fcts- und Willensseite unseres Seelenlebens durch das Urteil versteht, dann w\u00fcrde Bich die Behauptung, die neuestens E. H\u00fcssebl ausgesprochen hat, es stehe dem belief kein positiver Gegensatz gegen\u00fcber, begreifen.\nAnders wenn, wo Humk den belief als ein Gef\u00fchl bezeichnet, darunter nicht das Verhalten der \u00fcbrigen Psyche zum Urteil, sondern das urteilende Verhalten selbst gemeint ist. Da das Gef\u00fchl positiv entgegengesetzte Zust\u00e4nde (Liebe, Hafs; Lust, Leid) aufweist, m\u00fcfste es auch beim belief der Fall sein, wenn er ein Gef\u00fchl ist. Doch sind die bez\u00fcglichen Aufse-rungen des ber\u00fchmten Psychologen schwankend und unklar, und zweifellos scheint mir nur, dafs das Tats\u00e4chliche, was ihm dabei vorschwebte, wo er den belief f\u00fcr ein Gef\u00fchl erkl\u00e4rt (anderw\u00e4rts bezeichnet er ihn be^ kanntlich auch wieder als eine besondere St\u00e4rke und Stetigkeit [Beharren] der Vorstellung), teils der Umstand ist, dafs Urteile, denen tats\u00e4chlich","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n15\n\u00a7 4. Doch weiter! Indem Meino.ng leugnet, dafs etwas wie ein \u00dcberzeugtsein, auch nicht in jenem weiteren Sinne, der keine Grade zul\u00e4fst, den gemeinsamen Grundzug alles Anerkennens und Verwerfens bilde, ist er gehalten etwas anderes anzugeben, was diesen generellen Charakter seiner Klasse \u201eDenken\u201c gegen\u00fcber dem blofsen Vorstellen ausmacht.\nEs gen\u00fcgt ja nicht, dafs der Begriff Denken nicht etwas besagt, was sich, sei es beim sog. annehmenden, sei es beim urteilenden Anerkennen resp. Verwerfen, nicht f\u00e4nde, sondern er mufs auch positiv einen Zug enthalten, der sich in jeder der Unterklassen tats\u00e4chlich aufweisen l\u00e4fst.\nVielleicht antwortet Meinong, er gebe allerdings einen solchen gemeinsamen Charakter an, n\u00e4mlich dafs sowohl das Annehmen als das Urteilen ein aktives, w\u00e4hrend das Vorstellen ein rein passives Verhalten sei.\nAllein ich kann diese Auskunft durchaus nicht befriedigend finden. Was heifst: das Annehmen und Urteilen seien aktiv, das Vorstellen nicht? Ist Aktivit\u00e4t in dem Sinne gemeint, wie sie dem Wollen eignet, das als psychische Beziehung auf ein Tun gerichtet ist? Unm\u00f6glich. Denn weder kommt diese Eigent\u00fcmlichkeit dem Anerkennen und Verwerfen zu, noch k\u00f6nnte sie \u2014 selbst wenn sie ihnen zuk\u00e4me \u2014 ihren besonderen Gattungscharakter bilden; schon darum nicht, weil sie ja eben vor allem auch dem Wollen eignet. Was also ist mit \u201eAktivit\u00e4t\u201c gemeint? Etwa, dafs jeder Akt des Anerkennens und Leugnens gewirkt und in diesem Sinne Produkt einer T\u00e4tigkeit ist? Allein das gilt ebenso von jedem Vorstellen, das ja doch nicht ursachlos entsteht.\nOder ist gemeint, dafs jedes Anerkennen und Verwerfen durch eine Willenst\u00e4tigkeit hervorgerufen sei, das Vorstellen da-\nkeine kritischen Bedenken entgegenstehen, unser Gef\u00fchlsleben beherrschen, andernteils dafs \u2014 wie wir gleichfalls schon andeuteten \u2014 auch umgekehrt Gef\u00fchl und Wille das Ihrige dazu beitragen k\u00f6nnen, ein Urteil zu einem solchen zu machen, das von keinem Zweifel angekr\u00e4nkelt und von keiner Kritik in seiner Festigkeit und Wirksamkeit beeintr\u00e4chtigt wird.\nOb Hume auch \u2014 wie dies zweifellos von Windelband und anderen neueren gilt \u2014 durch die Analogie zwischen \u201eBilligen\u201c im Sinne von F\u00fcr-wahr- und im Sinne von Genehmhalten (im Gef\u00fchl) verf\u00fchrt ist, lasse ich dahingestellt. W\u00e4re dies, dann \u2014 wir sagten es schon \u2014 w\u00e4re es freilich einzig konsequent, dem belief auch ein disbelief als vollkommen koordiniertes Glied gegen\u00fcberzustellen wie der Liebe den Hafs.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nA. Marty.\ngegen nie? Auch dies w\u00e4re durchaus irrig. Weder sind alle Akte des Anerkennens und VerWerfens Produkt einer Willenst\u00e4tigkeit (die evidenten Urteile sicher nicht, aufser etwa ganz indirekt), noch fehlt es an Vorstellungen, die durch den Willen hervorgerufen sind; ja gerade der Lauf unserer Vorstellungen (mehr als derjenige der Urteile1) ist dem Imperium des Willens zug\u00e4nglich, wie die Arbeit des kombinierenden Denkers, Dichters und K\u00fcnstlers tausendfach zeigt.\nOder will endlich gesagt sein, dafs die Akte des Anerkennens und Leugnens nicht blofs selbst gewirkt, sondern auch wirkend seien, die Vorstellungen dagegen nicht? Es bedarf kaum der Bemerkung, dafs auch diese Meinung unhaltbar zu nennen w\u00e4re. Alles Reale kann wirken; der Akt des Vorstellens so gut wie jede andere psychische Bet\u00e4tigung, und die F\u00e4higkeit zum Wirken kann unm\u00f6glich als eine Besonderheit des Anerkennens und Verwerfens gegen\u00fcber jener anderen Klasse seelischer Beziehungen gelten.\nMit dem Gesagten aber haben wir alle m\u00f6glichen Deutungen ersch\u00f6pft; die dem Terminus \u201eAktivit\u00e4t\u2018\u2018 hier gegeben werden k\u00f6nnten*, und ein weiterer Begriff der \u201eT\u00e4tigkeit\u201c, der dem Anerkennen und Leugnen im Gegensatz zum Vorstellen vindiziert w\u00fcrde, m\u00fcfste als ein mythischer abgelehnt werden.\nVielleicht wendet man ein, nicht darauf komme es an, einen Zug anzugeben, der allem Anerkennen und Verwerfen gemeinsam sei, sondern einen, der allem \u201eAnnehmen\u201c und Urteilen eigne, und dieser bestehe eben darin, dafs jedes stets entweder ein Anerkennen oder Verwerfen sei.\nAllein das ist kein gemeinsamer Gattungscharakter von beiden, sondern es sind eben die speziellen Differenzen, die sich nach Meinong da und dort finden sollen. Es k\u00e4me darauf an, einen h\u00f6heren Begriff f\u00fcr Annehmen und Urteilen anzugeben,\n1 Und auch der MEiNONOSchen \u201eAnnahmen\u201c. Denn nicht von allen kann es gelten, dafs sie \u201ejeder Regung des Willens zu Gebote stehen\u201c, vom Schlufssatz in den sog. Annahmeschl\u00fcssen, der apodiktisch sein mufs und nach Meinonqs eigener Erkl\u00e4rung \u201erelativ evident\u201c sein soll, doch sicher nicht.\n* Amstoteles bezeichnete alle psychischen Zust\u00e4nde als passiv mit Bezug darauf, dafs durch sie etwas (das Objekt) in uns aufgenommen sei. Auch das gilt nat\u00fcrlich, soweit es richtig ist, vom Anerkennen und Verwerfen so gut wie vom Vorstellen und F\u00fchlen. Meinonq selbst nennt sie darum ein \u201eErfassen\u201c. \u201eWer urteilt, erfafst... das Objektiv und in diesem den Gegenstand.\u201c S. 200.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n17\nnicht einen, der den Klassen untergeordnet ist oder sich damit kreuzt, und die gegebene Antwort ist ebenso unbefriedigend, als wenn einer sagte, der positive Gattungscharakter der Farben sei, dafs sie entweder rot oder gelb oder blau usw. seien. Diese Spezies sind die Beispiele, worin das Gemeinsame, der allgemeine Begriff des Farbigen, erfafst wird. W\u00e4hrend es aber jedem leicht ist, hier diesen weiteren Schritt zu tun und den \u00fcbereinstimmenden generellen Charakter in jenen niederen Begriffen zu erkennen, vermag ich in dem, was Meinong annehmendes und urteilendes Anerkennen und Verwerfen nennt, keinen gemeinsamen Gattungscharakter zu entdecken. Nur was die sog. Annahmen von den Urteilen unterscheiden soll, verstehe ich, nicht was ihnen als Gattungscharakter gemein sein soll.\n\u00a7 5. Wir sind noch nicht zu Ende. Wir h\u00f6rten, dafs das Moment der \u00dcberzeugtheit die Urteile auszeichnen, den Annahmen fehlen soll, w\u00e4hrend sich die eine und andere Klasse nach Qualit\u00e4t (Anerkennen und Verwerfen) und nach Unterschieden der Intensit\u00e4t (das soll nach Meinong die \u201eGewifsheit\u201c sein) -differenziere. Es dr\u00e4ngt sich weiter die Frage auf, wie sich die Annahmen hinsichtlich der Differenz von Evidenz und Blindheit verhalten ?\nZun\u00e4chst leugnet Meinong ausdr\u00fccklich, dafs den Annahmen im eigentlichen Sinne Evidenz zukommen k\u00f6nne. Eigentliche Evidenz wohne nur im Urteile. Doch schreibt er in der Folge \u2022dem Schlufssatz in den sog. Annahmeschl\u00fcssen wenigstens ,,relative Evidenz\u201c zu, analog wie auch dem Schlufssatz in einem richtig gefolgerten Schlufs aus nicht evidenten Pr\u00e4missen. Allein diese relative Evidenz, die \u201ekeine eigentliche Evidenz\u201c aber ein \u201eevidenz\u00e4hnlicher Tatbestand\u201c sein soll, \u201ebei dem uns einiger-mafsen nach Evidenz zu Mute ist\u201c, scheint mir \u2014 ich kann es nicht verhehlen \u2014 ein Novum, dessen Tats\u00e4chlichkeit und M\u00f6glichkeit ich stark bezweifle. Was mir beim richtig gefolgerten Schlufs aus nicht evidenten Pr\u00e4missen vorzuliegen scheint, ist nichts anderes als einerseits Motiviertheit des Schlufssatzes durch die Pr\u00e4missen (was etwas anderes ist als Evidenz) und -andererseits Evidenz der sog. Schlufsform, (die stets eine wahre, n\u00e4mlich eine Evidenz des Urteils \u00fcber die Abfolge ist).1 Auf\n1 In den \u201eHumestudien\u201c lehrte Meinong, der Schlufs sei stets nichts anderes als ein hypothetisches Urteil, in dem die Abh\u00e4ngigkeit des Motivate vom Motiv zum Ausdruck kommt. Die Evidenz des Schlufssatzes im Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 40.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nA. Marty.\ndie sog. Annahmeschl\u00fcsse und die \u201erelative\u201c Evidenz, die bei ihnen gegeben sein soll, kommen wir sp\u00e4ter ausf\u00fchrlich zu sprechen.\nHier nur die Bemerkung, dafs, wenn es bei ihnen etwas Evidenz\u00e4hnliches, eine sog. \u201erelative Evidenz\u201c g\u00e4be, dem \u201erelativ Evidenten\u201c doch auch etwas wie \u00dcberzeugung, wenigstens \u201erelative \u00dcberzeugung\u201c, zukommen m\u00fcfste. Kann es sich dann aber noch um Annahmen handeln, da doch diesen der Mangel jeder \u00dcberzeugung wesentlich sein soll?\nIch vermag hier Meinongs Angaben nicht recht untereinander zu vereinigen und vermisse \u00fcberhaupt klare Bestimmungen dar\u00fcber, wie sich nach ihm das Moment der Evidenz und Blindheit einerseits und das der \u00dcberzeugung und ihres Mangels andererseits zueinander verhalten. Eines aber scheint mir sicher: falls er lehrt, dafs Evidenz und \u00dcberzeugung zum selben Modus am Urteilsakt geh\u00f6ren, m. a. W. wenn 6ie nach seiner Meinung in derselben kategorialen Linie oder Linie der Differenzierung liegen, ihn dies in Widerspr\u00fcche verwickelt. Denn w\u00e4ren so Evidenz und Blindheit Spezies des \u00dcberzeugungsmoments, dann m\u00fcfste \u2014 da das letztere nach Meinung eine besondere St\u00e4rke besitzt \u2014 auch die Evidenz St\u00e4rkegrade aufweisen, was aber der Autor sonst mit Recht weit von sich weist \u2014 hierin Brentano folgend, der die bez\u00fcgliche T\u00e4uschung mancher l\u00e4ngst als solche nachgewiesen hat.\nSind aber \u00dcberzeugung und Evidenz verschiedene Modi, warum kann es dann keine \u201ewahre und eigentliche\u201c Evidenz, geben ohne \u00dcberzeugung, und dafs dies nicht der Fall sei, scheint doch Meinongs Ansicht?* 1\nDoch wie dem sei. Jedenfalls scheint mir in Wahrheit die Evidenz innerlich mehr mit einer anderen Eigent\u00fcmlichkeit am Urteil als Folge Zusammenh\u00e4ngen, als mit den \u00dcberzeugungsgraden, n\u00e4mlich damit, dafs hier zu jeglichem Gegenstand ein entgegengesetztes Verhalten m\u00f6glich ist, und dafs, wenn das eine, z. B. das An-\nrichtigen Schiufs aus evidenten Pr\u00e4missen \u00fcbersah er ganz. Jetzt scheint er mir in der entgegengesetzten Richtung zu weit zu gehen, indem er auch in Schlufss\u00e4tzen, die nicht evident sondern blofs motiviert sind, etwas wie Evidenz annehmen will, w\u00e4hrend hier wirklich blofs ein evidentes Urteil \u00fcber den Zusammenhang gewisser Urteilsinhalte vorliegt.\n1 Ebenso wie er dagegen zugeben wird, dafs es umgekehrt felsenfest\u00bb \u00dcberzeugungen geben kann, denen doch die Evidenz g\u00e4nzlich fehlt.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n19\nerkennen richtig ist, das Leugnen falsch ist und umgekehrt. Gibt sich diese Richtigkeit kund, so haben wir es mit Evidenz zu tun. Da nun auch das \u201eAnnehmen\u201c bald ein Anerkennen, bald ein Verwerfen ist und da auch hier stets eine der entgegengesetzten Verbaltungsweisen richtig ist1, warum soll es im Wesen der Annahmen liegen, dafs sich ihre Richtigkeit nie kundgeben kann? Wenn ja, dann h\u00e4tten wir aber hier Evidenz ohne jegliche -wirkliche \u00dcberzeugung. Wenn nein, dann haben wir daran, dafs die Annahme des Charakters der Blindheit f\u00e4hig, dagegen der Evidenz nicht f\u00e4hig sein soll, obschon jede entweder richtig oder unrichtig ist, eine neue, durchaus nicht selbstverst\u00e4ndliche Absonderlichkeit der ganzen Annahmelehre. Sie wurzelt freilich darin, dafs Meinong \u2014 wie schon bemerkt \u2014 \u00dcberzeugung in doppeltem Sinne nicht auseinanderh\u00e4lt; in dem Sinne, in welchem sie keine Grade zul\u00e4fst und den gemeinsamen Charakter alles Anerkennens und Verwerfens bildet und es mit sich bringt, dafs jedes evidente Anerkennen und Verwerfen eine \u00dcberzeugung ist, und in dem Sinne, in welchem sie Grade hat. Hier ist nicht jedes und auch nicht jedes evidente Urteil eine \u00dcberzeugung im vollen Sinne des Wortes. Selbst evidente Urteile k\u00f6nnen durch entgegenstehende, die von m\u00e4chtigen Instinkten, Gewohnheiten und Leidenschaften getragen und gest\u00fctzt sind, zeitweilig zur\u00fcckgedr\u00e4ngt und um ihren dominierenden Einflufs \u00fcber das \u00fcbrige Urteilsund \u00fcber das Gem\u00fctsleben sowie die Willenst\u00e4tigkeit gebracht werden.\n\u00a7 6. Aber auch die Frage erhebt sich noch, wie es mit den Annahmen hinsichtlich des Unterschieds von apodiktischem und assertorischem Charakter stehe? Es scheint unvermeidlich, dafs Meinong ihnen auch den ersteren unter Umst\u00e4nden zuschreibe. Seine \u201eAnnahmen\u201c auf einem Gebiete wie das der Mathematik ist, m\u00fcssen apodiktischen Charakter haben, so gut wie die entsprechenden Urteile. Auch beim Schlufssatz in den nach dem\n* Dies aber gilt doch zweifellos, und darum wundere ich mich sehr, dafs Mkihong seinen \u201eAnnahmen\u201c insgesamt blofs ein \u201eimmanentes Objektiv\u201c zuschreiben will. Unter dem \u201eObjektiv\u201c versteht er n\u00e4mlich dasjenige bei unseren Urteilen (und \u201eAnnahmen\u201c), was man sonst den Inhalt nannte z. B. f\u00fcr \u201eA ist\u201c das Sein von A, f\u00fcr \u201eA ist nicht\u201c das Nichtsein von A, im Unterschied vom Objekt oder der Materie, welche beidemal A ist. Da nun die \u201eAnnahmen\u201c, ebenso wie die blinden Urteile, auch (zuf\u00e4llig) richtig sein \"k\u00f6nnen, so ist \u2014 meine ich \u2014 ihr Inhalt doch unter Umst\u00e4nden so gut wirklich, und nicht blofs immanent, wie der eines richtigen Urteils!\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nA. Marty.\nSatze des Widerspruchs gefolgerten Annahmeschl\u00fcssen kann der apodiktische Charakter nicht fehlen, so dafs es also nach Meinong Annahmen gibt, die wohl apodiktischen Charakter aber \u2014- ihrem Begriffe gem\u00e4fs \u2014 keine Spur von \u00dcberzeugung verraten.1\n\u00a7 7. Eine weitere Frage, die sich bez\u00fcglich der Meinong-schen \u201eAnnahmen\u201c erhebt, ist die, ob entgegengesetzte Zust\u00e4nde der Art, und ob Annahmen und Urteile von entgegengesetztem Inhalt, gleichzeitig in uns gegeben sein k\u00f6nnen oder nicht.\nMeinong mufs in bejahendem Sinne antworten, wenn seine \u201eAnnahmen\u201c als Erkl\u00e4rung f\u00fcr das eintreten sollen, was man gew\u00f6hnlich so nennt, und er tut es auch. Denn annehmen kann ich etwas, wenn ich auch das strikte Gegenteil urteile, ja mit Evidenz urteile; wie wenn ich z. B. sage: nehmen wir an, zweimal zwei sei f\u00fcnf.\nAber weiter scheint er auch zu lehren, dafs, wenn ich z. B. urteile : dafs A sei und dafs es gleichzeitig nicht sei, ist falsch u. dgl., diese \u201eDafs-S\u00e4tze\u201c Annahmen enthielten, wir also hier ganz dieselbe Materie positiv und negativ \u201eannehmen\u201c, und ebenso bei: Entweder ist A oder es ist nicht, und bei: Wenn A w\u00e4re und wenn es zugleich nicht w\u00e4re usw., wo die einzelnen Satzglieder nach Meinong gleichfalls Annahmen sein sollen.\u00ae\n1 Auch wenn \u2014 wie wir h\u00f6rten \u2014 E. H\u00fcssebl zwischen Urteilen d, h. nach ihm \u201ePr\u00e4dizieren\u201c und belief unterscheiden will und in diesem letzteren Charakter eine besondere \u201eQualit\u00e4t\u201c des Aktes neben der erstgenannten Eigenschaft erblickt, mufs ich fragen, welcher der beiden Verhaltungsweisen der Charakter der Evidenz und Apodiktizit\u00e4t angeh\u00f6rt?\nNehmen wir z. B. an, die Evidenz sei dem belief eigent\u00fcmlich; nicht so, dafs jeder belief evident w\u00e4re, denn die Erfahrung zeigt zu zweifellos, dafs auch blinde \u00dcberzeugungen felsenfest sein k\u00f6nnen, sondern so dafs, was\nnicht in den Bereich des belief f\u00e4llt, nicht evident sein kann. Dann ent-\n\u00bb\nsteht speziell f\u00fcr H\u00fcssebl, nach dessen Ansicht dem belief kein disbelief als ebenb\u00fcrtig koordiniertes Glied gegen\u00fcberstehen soll, die Schwierigkeit, der Tatsache gerecht zu werden, dafs uns die Erfahrung ganz deutlich den Evidenzcharakter mit einem entgegengesetzten Verhalten zum Objekt verkn\u00fcpft zeigt, m. a. W. dafs wir negative Einsichten so gut wie positive besitzen.\nGeh\u00f6rt aber die Evidenz zum Charakter des Pr\u00e4dizierens, dann mufs H\u00fcssbbl lehren, dafs ein Akt evident sein k\u00f6nne, ohne belief zu sein, und dies ist bedenklich, wenn letzteres ein nicht weiter aufl\u00f6sbarer qualitativer Zug unseres psychischen Verhaltens sein soll.\ns Ebenso w\u00e4re mit der \u201eAnnahmetheorie\u201c ein gleichzeitiges entgegengesetztes Verhalten zur selben Materie statuiert, wenn da, wo Meinong (wie","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n21\nNach unserer Ansicht, wonach die Dafss\u00e4tze in den obigen Beispielen und ebenso die gemeinhin sog. Annahmes\u00e4tze Vorstellungen von gewissen Urteilsinhalten ausdr\u00fccken, hat es nat\u00fcrlich nichts Verwunderliches und Bedenkliches, dafs hier Kontradiktorisches und in anderen F\u00e4llen Kontr\u00e4r - Entgegengesetztes gleichzeitig angenommen oder \u00fcberhaupt uns gegenw\u00e4rtig sei, und dafs man auch das strikte Gegenteil von dem urteile, was man so annimmt. Denn in alledem ist nicht involviert, dafs der Seele gleichzeitig ein entgegengesetztes Verhalten zum v\u00f6llig gleichen Objekt zugeschrieben w\u00fcrde.\nAllein anders wird die Sache, wenn die Annahmen und die Dafss\u00e4tze nicht ein blofses Vorstellen sondern ein Anerkennen und Verwerfen ausdr\u00fccken, wie Meinong will. Dann h\u00e4tten wir es in den obigen F\u00e4llen wirklich mit einem entgegengesetzten Verhalten der Seele zum selben Objekte zu tun, und es ist die Frage, ob die Annahme, solches sei gleichzeitig im selben Subjekte vertr\u00e4glich, erlaubt ist und Meinong scheint mir dar\u00fcber zu unbedenklich hinweggegangen zu sein.\nSein \u201eannehmendes\u201c Anerkennen m\u00fcfste so gut ein Setzen und als Seiend-Fassen sein als das urteilende es ist. Wie soll es sich also mit einem gleichzeitigen Verwerfen d. h. als Nichtseiend-Nehmen desselben Gegenstandes vertragen? Bestehen hier keine Gesetze der Inkompatibilit\u00e4t? Ist alles mit allem kompatibel?\nZugegeben, dafs man sich gleichzeitig in entgegengesetzterWeise zu einem Objekt verhalten k\u00f6nne, wenn dabei dieser Terminus\nwir noch h\u00f6ren werden) lehrt, dafs das negative Urteil \u201enicht frei ein-setzen\u201c k\u00f6nne, sondern eine affirmative Annahme als Hintergrund oder Vorbereitung bed\u00fcrfe, eg seine Meinung w\u00e4re, dafs z. B. in dem Urteil \u201eA ist nicht\u201c die Affirmation, dafs A sei, geradezu als Element involviert sei. Auch dann m\u00fcfsten wir A gleichzeitig anerkennen und verwerfen. Doch ist vielleicht seine Lehre, dafs jede Negation eine Affirmation zur Voraussetzung habe, auf die wir noch zur\u00fcckkommen m\u00fcssen, anders zu verstehen, und ich lege darum hier auf diesen Fall kein Gewicht. Dagegen scheint ihn seine Auffassung der negativen Begriffe und der Begriffssynthesen mit kontradiktorischen und kontr\u00e4ren Gliedern unweigerlich darauf zu f\u00fchren, unter Umst\u00e4nden im selben Akt ein entgegengesetztes und widerspruchsvolles Verhalten zur selben Materie zu statuieren. Auch darauf werden wir zur\u00fcckkommen m\u00fcssen.\nDie gemeinhin sog. Annahmen dr\u00fccken allerdings noch mehr aus. Sie sind Aufforderungen, sich gewisse Urteilsinhalte (z. B. dafs die Zeit krumm sei u. dgl.) vorzustellen. Aber auf dieses emotive Element in der Bedeutung der Annahmes\u00e4tze kommt es hier nicht an.","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nA. Marly.\nin einem weiteren Sinne verstanden wird, wie ich beispielsweise einen Gegenstand hassen kann (z. B, den Schmerz bei einer Operation), sofern er in sich selbst ein \u00dcbel ist und\u201d ihn doch vielleicht zugleich liebe, sofern er ein Gut (z. B. Gesundheit) im Gefolge hat. Aber die Frage ist, ob ich mich zu demselben Gegenstand in derselben Beziehung gleichzeitig in entgegengesetzter Weise verhalten k\u00f6nne, m. a. W. ob psychische Zust\u00e4nde mit entgegengesetzter Qualit\u00e4t bei v\u00f6llig identischer Materie1 zugleich in uns gegeben sein k\u00f6nnen, und die Lehre von den \u201eAnnahmen\u201c mufs dies unbedingt bejahen und damit abermals ein nicht unbedenkliches Element in sich aufnehmen.\nVielleicht wendet Meinong ein, ein solches widerstreitendes Verhalten zum gleichen Gegenstand sei als urteilendes darum nicht kompatibel, weil es sich da um \u00dcberzeugungen handle. Von entgegengesetzten \u00dcberzeugungen gebe ja jedermann zu, dafs sie sich gleichzeitig ausschl\u00f6ssen, und w\u00fcrde man darum einen, der behauptete, solche zu hegen, entweder f\u00fcr einen sehr schlechten Beobachter oder f\u00fcr einen L\u00fcgner erkl\u00e4ren. Aber darum handle es sich hier nicht. Denn Annahmen seien eben \u201eUrteile ohne \u00dcberzeugung\u201c.\nAllein warum doch soll es ohne weiteres einleuchten, dafs entgegengesetzte \u00dcberzeugungen sich gegenseitig ausschliefsen, ein Anerkennen und Verwerfen, das keine \u00dcberzeugung ist, dagegen gar nicht und unter keinen Umst\u00e4nden? Vielleicht sagt man : die \u00dcberzeugungen h\u00e4tten einen widerstreitenden Einflufs auf das \u00fcbrige psychische Leben, der den Annahmen nicht zukomme, und da diese entgegengesetzten Wirkungen sich ausschl\u00f6ssen, so gelte es auch bez\u00fcglich der Ursachen.\nAber was sind diese entgegengesetzten Wirkungen ? Solange sie im Gebiete des Psychischen bleiben, k\u00f6nnen sie nichts anderes sein als entgegengesetzte Verhaltungsweisen zum selben Objekt, z. B. Anerkennen und Verwerfen derselben Materie, Liebe und Hafs zu Demselben und in derselben Beziehung. Aber eben\n1 Sogar wenn sich herausstellte, dafs mit dem instinktiven Glauben an den Inhalt der Sinnesempfindungen die wissenschaftliche \u00dcberzeugung, dafs die Farben, T\u00f6ne usw. nicht in Wirklichkeit existieren, aktuell (und nicht blofs habituell) v\u00f6llig gleichzeitig in uns besteht, h\u00e4tten wir daran noch nicht ein Anerkennen und Verwerfen mit strikte derselben Materie. Denn in einem Fall bildet eine konkrete Anschauung, im anderen ein abstrakter Begriff die Grundlage des betreffenden Urteils.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n23\nh\u00f6rten wir ja, dafs gleichzeitiges Anerkennen und Verwerfen derselben Materie unter Umst\u00e4nden gar wohl miteinander vertr\u00e4glich seien, imd wenn dies, warum nicht auch ein gleichzeitiges ebenso strikte widerstreitendes Lieben und Hassen? Und wenn dies, wo sind dann \u2014 wenigstens auf psychischem Gebiet \u2014 die Folgen entgegengesetzter \u00dcberzeugungen, die durch ihre Unvertr\u00e4glichkeit auch jene inkompatibel machen sollen? Es blieben als Grund daf\u00fcr nur etwa die widerstreitenden Wirkungen auf den K\u00f6rper, wie wenn die eine \u00dcberzeugung eine Bewegung in der einen und die entgegengesetzte eine Bewegung in der entgegengesetzten Richtung zur Folge h\u00e4tte, oder die eine ein Stehen, die andere ein Sitzen u. dgl. \u2014 was physiologisch unm\u00f6glich zugleich sein kann. Aber durchaus nicht alle \u00dcberzeugungen haben solche Wirkungen zur Folge. Und was das Psychische anbelangt, so gilt, wie schon angedeutet: wenn ein gleichzeitiges entgegengesetztes Verhalten zum selben Gegenstand sich nicht ausschliefst, so ist kein Grund vorhanden, warum widerstreitende \u00dcberzeugungen wegen ihrer Wirkungen inkompatibel sein sollten. Ist aber jenes der Fall, dann schliefsen sich diese auch, abgesehen von ihren Wirkungen, in sich selbst aus. Mit ihnen dann aber wohl jedes entgegengesetzte Verhalten zur selben Materie, m\u00f6ge man es ein Urteilen oder ein Annehmen heifsen.\nDazu kommt, dafs doch auch die Annahmen entgegengesetzte \"Wirkungen in der Seele haben k\u00f6nnen, z. B. wenn man daraus, dafs A sei, hypothetisch andere Konsequenzen zieht als daraus, dafs es nicht sei. (Vgl. die Annahmeschl\u00fcsse Meinongs !) So ist nach keiner Seite abzusehen, warum blofs entgegengesetzte Urteile sich nicht vertragen sollen, Annahmen dagegen wohl.\n\u00a7 8. Wir haben damit an einen Punkt ger\u00fchrt, der \u00fcberhaupt die Bedenken gegen Meinongs Annahmetheorie verst\u00e4rken mufs, n\u00e4mlich die Frage nach der Stellung, welche sie, im Gegensatz zu den Urteilen, den Vorstellungen gegen\u00fcber einnehmen sollen.\nEin bisher \u00fcbersehenes Mittelding zwischen beiden sollen sie sein. Sieht man aber n\u00e4her zu, so zeigt sich, dafs Meinong bei der Ausstattung dieses Neugefundenen oder Neugeschaffenen ziemlich alle genetischen Gesetze und Eigent\u00fcmlichkeiten von den Vorstellungen hernimmt, dagegen in deskriptiver Be-","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nA. Marty.\nZiehung ihm die unseres Erachtens wichtigsten Z\u00fcge des Urteils gibt.\nDie Annahmen sind ja nach ihm ein Anerkennen und Verwerfen. Es soll ihnen etwas der Evidenz wenigstens \u00c4hnliches zukommen und man k\u00f6nnte \u2014 wie wir gesehen haben \u2014 nicht umhin, ihnen unter Umst\u00e4nden auch etwas wie apodiktischen Charakter zuzuschreiben. Alles Dinge, die beim Vorstellen ganz und gar ausgeschlossen sind.\nWas aber die Gesetze ihrer Genesis betrifft, so sollen sie darin wesentlich mit den Vorstellungen \u00fcbereinstimmen. Sie sollen eben so sehr wie diese der Willk\u00fcr unterliegen und ganz wie sie, auch wenn sie sich kontradiktorisch oder kontr\u00e4r entgegengesetzt sind, doch kompatibel sein, unter sich und mit gleichzeitigen entgegengesetzten Urteilen. Freilich, indem Mei-nong von \u201eAnnahmeschl\u00fcssen\u201c spricht, mufs er lehren, dafs der Schlufssatz, obwohl eine Annahme, durch die Pr\u00e4missen motiviert auftritt1, ja er schreibt ihm, wie wir wissen, einen evidenz\u00e4hnlichen Charakter zu und wird ihn so doch wohl der direkten Herrschaft des Willens entzogen sein lassen. Aber dieses Zugest\u00e4ndnis droht eben nur, ihn in Widerstreit zu bringen mit seiner sonstigen Lehre, dafs den Annahmen, im Gegensatz zu den Urteilen und in \u00dcbereinstimmung mit den Vorstellungen, eine besonders weitgehende Beherrschbarkeit durch den Willen eigent\u00fcmlich sei. Und was die Kompatibilit\u00e4t des Entgegengesetzten betrifft, die den Annahmen gleichfalls im Gegensatz zu den Urteilen eigen sein soll, vermag er \u2014 wie wir schon gesehen haben \u2014 sie in keiner Weise zu erkl\u00e4ren. Er mufs sie, die den Urteilen fehlen, den Annahmen aber zukommen soll, ohne dafs man einsieht, warum, kurzweg als letztes Faktum postulieren und kompliziert dadurch die ganze Hypothese durch ein neues ihre Wahrscheinlichkeit gef\u00e4hrdendes Moment.\nWenn er endlich einwenden w\u00fcrde, er schreibe doch den Annahmen Aktivit\u00e4t zu, und dies sei eine die Gesetze der Genesis betreffende Eigent\u00fcmlichkeit, die sie mit den Urteilen nicht mit den Vorstellungen (welchen vielmehr Passivit\u00e4t anhafte) gemein haben, so will ich gerne zugeben, dafs mit \u201eAktivit\u00e4t\u201c\n1 Brentano verwendet diesen Namen bei den wirklichen Schl\u00fcssen f\u00fcr den Umstand, dafs der Scklufs um der Pr\u00e4missen willen f\u00fcrwahrgehalten wird und wir uns dieses Ilervorgebrachtwerdens des einen durch das andere Urteil (oder die anderen Urteile) bewufst sind.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n25\nund \u201ePassivit\u00e4t\u201c jedenfalls kein deskriptiver Unterschied gemeint sein kann. Wenn er wirklich best\u00e4nde, m\u00fcfste er gewifs ein genetischer sein. Aber wir haben bereits fr\u00fcher gesehen, dafs die Annahme eines solchen fiktiv ist, und so bleibt es dabei, dafs in genetischer Hinsicht nach Meinong die Annahmen wesentlich den Vorstellungen, in deskriptiver dagegen weit mehr den Urteilen verwandt w\u00e4ren. Und diese Art ein Mittelding zwischen der Klasse Vorstellung und Urteil zu schaffen scheint mir keine gl\u00fcckliche; da wir sonst in der ganzen Natur finden, dafs die deskriptiven Unterschiede die fundamentaleren sind, an die sich die Eigent\u00fcmlichkeiten der Genesis als Folgen kn\u00fcpfen. Deskriptiv Gleichartigem kommen auch gleichartige genetische, deskriptiv verschieden Geartetem auch verschiedenartige Gesetze des Entstehens und Vergehens zu.\n\u00a7 9. Nur kurz sei endlich noch erw\u00e4hnt, dafs Meinong sich gedr\u00e4ngt sieht, wie den Urteilen \u201eAnnahmen\u201c d. h. \u2014 wie er sich auch ausdr\u00fcckt \u2014 \u201eScheinurteile\u201c oder \u201ePhantasieurteile\u201c, so den Gef\u00fchlen und Begehrungen auch Schein- oder Phantasiegef\u00fchle und Schein- oder Phantasiebegehrungen entgegenzusetzen. Wie den Annahmen, so soll auch diesen Scheininteressen der Emst fehlen. Freilich kann er die Analogie von vornherein nicht voll festhalten. Denn w\u00e4hrend er die Annahmen als ein Zwischengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen bezeichnet, finde ich nicht, dafs er die Scheingef\u00fchle als ein Mittelding etwa zwischen den intellektuellen Zust\u00e4nden und denen des wirklichen Gef\u00fchls hinstellte. Hier spricht er von einer Unterstufe und Oberstufe. Ersteres sollen die Schein- oder Phantasiegef\u00fchle, letzteres die wirklichen Gef\u00fchle sein. Und analog sollen sich Schein- und wirkliche Begehrungen und Schein- und wirkliche Urteile als Unter- und Oberstufe verhalten. Doch auf das Prek\u00e4re dieser Details will ich nicht weiter eingehen. Nur das mufs ich betonen, dafs mir \u00fcberhaupt die Lehre von der Existenz dieser vermeintlichen Analoga der \u201eAnnahmen\u201c, der sog. Phantasiegef\u00fchle und Phantasiebegehrungen, nicht geringere Bedenken erregt als die von den Phantasieurteilen oder Annahmen selbst. Wohl weifs ich, dafs man statt zu f\u00fchlen und zu begehren, solche Zust\u00e4nde auch blofs vorstellen kann. Aber ein blofs vorgestelltes F\u00fchlen ist nat\u00fcrlich so wenig ein F\u00fchlen als ein blofs vorgestelltes Pferd ein Pferd ist. Auch das sei zugegeben, dafs wir Gef\u00fchle und Begehrungen haben k\u00f6nnen, die nicht voll zur","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nA. Marty.\nWirkung kommen sondern von anderen zur\u00fcckgedr\u00e4ngt und in ihren Folgen paralysiert werden. Aber sowohl die unterliegenden als die dominierenden sind doch wirkliche Gef\u00fchle. Dagegen ein Gef\u00fchl, bei dem gar kein ernstliches Interesse gegeben w\u00e4re, ein S c h e i r. ge f\u00fchl, kommt mir vor wie ein Rot, das keine Farbe w\u00e4re.\nDoch nicht genug. Ein weiteres Analogon der Annahmen und Scheingef\u00fchle und Phantasiebegehrungen sieht Meinong auch in den Phantasievorstellungen im Gegensatz zu den Wahmehmungsvorstellungen ; wenn er auch hier die ersteren nicht Unterstufe der letzteren nennen will (begreiflich!) und es nat\u00fcrlich noch weniger seine Meinung ist, dafs die Phantasievorstellungen als Mittelding zwischen anderen Klassen von psychischen Beziehungen angesehen werden k\u00f6nnten (so wie die Annahmen ein Mittleres zwischen Vorstellen und Urteilen sein sollen) oder dafs die Phantasievorstellungen Scheinvorstellungen d. h. gar keine Vorstellungen seien, so wie die Annahmen keine Urteile. Aber dennoch soll nach Meinong eine Parallele bestehen zwischen den Phantasievorstellungen, Phantasieurteilen usw. einerseits und den Wahrnehmungsvorstellungen, wirklichen Urteilen usw. andererseits, wenn man auch zun\u00e4chst nicht mehr recht weifs, worin sie nun noch liegen soll.\nAber wie immer dem sei ; ich m\u00f6chte doch fragen, was hier unter Phantasievorstellungen im Gegensatz zu Wahrnehmungsvorstellungen gemeint sei. Denn das erst wird uns in den Stand setzen, an der Hand der Erfahrung zu entscheiden, ob in den Phantasievorstellungen etwas Tats\u00e4chliches vorliege, was irgend eine Analogie zeige zu den vermeintlichen Phantasieurteilen und Phantasiegef\u00fchlen.\nIch nehme an, dafs Meinong mit dem Unterschied von Phantasie- und Wahrnehmungsvorstellungen nicht lediglich genetische Differenzen meint. Denn sonst fehlte die gew\u00fcnschte Analogie zwischen diesem Gegensatz und dem von Annahmen und Urteilen, Scheingef\u00fchlen und wirklichen Gef\u00fchlen, was ja doch deskriptive Unterschiede sein sollen, g\u00e4nzlich und von vornherein.\nIst also unter Wahrnehmungsvorstellung etwa eine (anschauliche) Vorstellung samt einem damit verbundenen evidenten oder instinktiven affirmativen Urteil gemeint, welches das Vorgestellte f\u00fcr tats\u00e4chlich jetzt seiend nimmt? (Denn dergleichen pflegt","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n27\nman \u00fcblicherweise \u201eWahrnehmung\u201c zu nennen.) Wenn dies gemeint ist, dann m\u00fcfste der Gegensatz dazu \u2014 also die Phantasievorstellung \u2014 einerseits gesucht werden in einem von einem Urteil begleiteten Vorstellen, welchem das Vorgestellte nicht als gegenw\u00e4rtig sondern als vergangen erschiene, andererseits in einem Vorstellen, das \u00fcberhaupt nicht von einer solchen (evidenten oder instinktiven) Affirmation des Vorgestellten begleitet ist. Allein hat dieser Gegensatz irgendeine \u00c4hnlichkeit mit dem vermeintlichen Gegensatz von Scheinurteilen und wirklichen Urteilen? Ich bin aufserstande, eine solche zu entdecken.\nWill also Meinong vielleicht, und dies scheint allerdings seine Meinung, diesen Unterschied, ob die Vorstellung von einem affirmativen Urteil begleitet sei oder nicht und ob im ersteren Fall das Vorgestellte als gegenw\u00e4rtig oder vergangen erscheine, nicht herangezogen wissen? Wenn dies, und wenn wir also auf dein Gebiete des blofsen Vorstellens bleiben, dann w\u00fcfste ich schlechterdings keinen anderen deskriptiven Unterschied als den zwischen Anschauungen von verschiedener Intensit\u00e4t und den zwischen Anschauung und Begriff. Aber auch zwischen diesen Gegens\u00e4tzen und dem von Urteil und Scheinurteil vermag ich keinerlei Analogie zu entdecken.\nOder soll endlich die Verwandtschaft zwischen Phantasievorstellung, -urteil, -gef\u00fchl usw. etwa darin liegen, dafs die letzteren in der Regel auf die ersten, d. h. auf etwas blofs Phantasiertes, gerichtet seien ? Das scheint Meinong in der Tat sagen zu wollen. Aber weder wenn man dabei unter Phantasievorstellungen schwache Empfindungen wie Aristoteles, noch wenn man Begriffe wie Joh. v. M\u00fcller, noch wenn man Vorstellungen von Abwesendem wie Lotze darunter versteht1, k\u00f6nnte ich zugeben, dafs das darauf gerichtete Anerkennen und Verwerfen in der Regel ein blofses Scheinurteil und die\n1 Das anerkennende oder leugnende Verhalten von Vergangenem und Zuk\u00fcnftigem w\u00e4re dann meist ein Annehmen. Ja sogar die Erscheinungen des unmittelbaren Ged\u00e4chtnisses, welchen Mbinono doch Evidenz zuschreibt (indem er sie, in allerdings nicht zu billigender Weise, f\u00fcr \u201eevidente Vermutungen\u201c h\u00e4lt) w\u00e4ren dann oft Annahmen, also nach ihm jeder \u00dcberzeugung bar. Dies wird er sicher als seiner Ansicht widerstreitend ablehnen. Aber was ist dann \u00fcberhaupt unter den \u201ePhantasievorstellungen\u201c gemeint, welche die Basis des \u201eScheinurteils\u201c sein und einen irgendwie analogen Gegensatz zu den Wahrnehmungsvorstellungen bilden sollen, wie jenes zum wirklichen Urteil?","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nA. Marty.\ndarauf gerichteten Gef\u00fchle und Begehrungen blolse Scheingef\u00fchle und Scheinbegehrungen seien. Kurz, die Analogien, die Meinong f\u00fcr seine \u201eAnnahmen\u201c sucht, sind nicht geeignet, diese seine urspr\u00fcngliche Entdeckung zu st\u00fctzen sondern eher sie auch dem, der sich auf den ersten Blick von ihr bestechen liefs, um so rascher wieder verd\u00e4chtig werden zu lassen.\nII. Abschnitt.\nNachweis der Unn\u00f6tlgkeit der Hypothese.\nDurch das Vorausgehende ist wohl schon zur Gen\u00fcge klar geworden, dafs Meinongs \u201eAnnahmen\u201c keine unbedenkliche, vielmehr eine vorg\u00e4ngig recht wenig wahrscheinliche Annahme sind. Wenn sich also die Tatsachen unseres psychischen Lebens ohne sie erkl\u00e4ren lassen, so wird \u2014 denke ich \u2014 niemand dar\u00fcber im Zweifel sein, wohin sich die Wagschale der Logik neige.\nWerfen wir denn einen Blick auf das Wichtigste von dem, was Melnong nur aus jener Hypothese oder wenigstens leichter aus ihr als aus jeder anderen begreifen zu k\u00f6nnen meint.\n\u00a7 10. Wir beginnen mit der schon fr\u00fcher erw\u00e4hnten Berufung auf die sog. negativen Begriffe, worauf Meinong das gr\u00f6fste Gewicht legt und die seiner Meinung nach nur als negative Annahmen angesehen werden k\u00f6nnten.\n\u201eWo es sich um Negation handelt, da \u2014 wird uns gesagt \u2014 ist der Bereich des blofsen Vorstellens \u00fcberschritten.\u201c\nDemgegen\u00fcber m\u00fcssen wir fragen, was hier unter Negation gemeint sei. Die eigent\u00fcmliche Bewufstseinsbeziehung des Negierens, Leugnens oder Verwerfens und das Geleugnete als solches sind nat\u00fcrlich etwas, was nie im Bereiche des Vorstellenden als solchem liegt. Wohl aber geh\u00f6rt in diesen Bezirk das Vorstellen des Leugnens und des Geleugneten als solchen und ebenso die Vorstellung des zu Leugnenden d. h. des Nichtexistierenden. Auch bei den letzteren Begriffen mufs (da sie relative sind) die Vorstellung des Leugnens mit gegeben sein, und diese, wie jede andere Vorstellung, setzt \u2014 da es keine angeborene Vorstellungen gibt \u2014 Erfahrungen, speziell die Erfahrung eines Leugnens und eines Geleugneten als solchen und die Reflexion darauf voraus. Nicht aber ist sie selbst ein Leugnen und dasselbe gilt von der Vorstellung oder dem Begriff des zu Leugnenden d. h. Nichtexistierenden.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n29\nNicht anders aber steht es weiter auch mit jenen negativen Begriffen, auf welche Meinong sich beruft, wie Nichtrot, Nichtrund, Nichtmensch usw. Nichtrotes heilst meines Erachtens dasselbe wie : etwas, wovon es falsch ist, dafs es rot ist1, und dies ist eine relative Bestimmung, welche die Vorstellung eines verwerfenden Urteils aber nicht ein verwerfendes Urteil involviert.\nMeinong bemerkt selbst, dafs M nicht A ist, sei eine Art Relation zwischen M und A, die sich nat\u00fcrlich vorstellen lassen m\u00fcsse, und dadurch sei dann auch ein Weg gefunden durch Abstraktion zu einem vorstellbaren Non-A zu gelangen und sonach zur Vorstellung eines sozusagen negativen Gegenstandes. Doch wendet er sofort ein i \u201eNun erw\u00e4ge man aber, was f\u00fcr einen Apparat, wenn man so sagen darf, eine derartige Vorstellung voraussetzt. Um an ein \u201eNichtrundes\u201c zu denken, h\u00e4tte ich den Gedanken zu konzipieren: \u201eEtwas, von dem das Urteil gilt, es sei nicht rund.\u201c W\u00e4hrend hier jeder Unvoreingenommene meinen wird, sich mit seinem Vorstellen im Gebiete der Gestalten zu bewegen, h\u00e4tte man in Wahrheit aufser an Rund auch noch an etwas von Gestalten ganz Verschiedenes, n\u00e4mlich an das negative Urteil und dessen Verh\u00e4ltnis zu dem, wovon es gilt, zu denken. Das ist nat\u00fcrlich m\u00f6glich; aber das Hereinziehen psychologischer und erkenntnistheoretischer Dinge in das in der Regel ganz anderen Interessen zugewandte Denken ist eine so auffallende Sache, dafs derlei, wo es sich zutr\u00e4gt, auch schon fl\u00fcchtiger Beobachtung nicht wohl entgehen kann. Nun vermag aber bei den sogenannten negativen Vorstellungen, vielleicht ganz seltene Ausnahmen abgerechnet, auch die gespannteste Aufmerksamkeit von einem Umwege eben beschriebener Art nichts zu entdecken. Praktisch kommt also die M\u00f6glichkeit dieses Umweges v\u00f6llig aufser Betracht und soll auch im folgenden aufser Betracht bleiben\u201c (a. a. O. S. 13).\nNicht die Unm\u00f6glichkeit also, aber wenigstens eine grofse Unwahrscheinlichkeit soll nach Meinong daf\u00fcr bestehen, dafs wir z. B. bei Nichtrot etwa d\u00e4chten : etwas, wovon es falsch ist, dafs es rot ist. Darum meint er, diese und jede \u00e4hnliche M\u00f6glichkeit aufser Betracht lassen und annehmen zu d\u00fcrfen, dafs ein einfacherer Gedanke n\u00e4mlich eine \u201eAnnahme\u201c den wirklichen\n1 Vgl. darflber meine demn\u00e4chst erscheinenden \u201eBeitr\u00e4ge zur allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie\u201c.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nA, Marty.\npsychischen Tatbestand bilde. F\u00fcr die Un Wahrscheinlichkeit jener Hypothese aber f\u00fchrt er mehreres ins Feld, was wir auseinanderhalten und einzeln ins Auge fassen wollen.\nErstlich erblickt er darin ein Hereinziehen erkenntnistheoretischer und psychologischer Dinge in ein (in der Regel) ganz anderen Interessen zugewendetes Denken.\nSoll nun dies heifsen, dafs, wer bei \u201enichtrot\u201c den von uns vertretenen Gedanken (n\u00e4mlich : etwas, wovon es falsch ist, dafs es rot sei) denkt, damit sein Interesse erkenntnis-theoretischen und psychologischen Dingen zuwende? Das w\u00e4re offenbar zu viel gesagt. Nur das behaupte ich, dafs er gewisse Vorstellungen und Begriffe in seinem Bewufsteein hat, die f\u00fcr den Erkenntnistheoretiker und Psychologen Gegenstand des Interesses sind oder sein k\u00f6nnen, nicht dafs er selbst ihnen ein solches theoretisches Interesse entgegenbringe. Von den Vorstellungen, die wir gleichzeitig haben, brauchen und verm\u00f6gen ja nicht alle Gegenstand unserer speziellen Besch\u00e4ftigung, noch weniger eines allseitigen Interesses zu sein, und w\u00e4hrend wir z. B. nur physikalischen oder geologischen, oder technischen oder sonstigen praktischen Fragen unsere Aufmerksamkeit zuwenden, sind vielfach Begriffe in unserem Bewufstsein, die f\u00fcr den Psychologen, Erkenntnistheoretiker, Ethiker von Wichtigkeit sind, denen wir aber im Augenblick gar nicht dieses Interesse zuwenden.\nDoch weiter: Ist nicht auch schon das verwunderlich, dafs jene Begriffe in uns sein sollen, w\u00e4hrend der \u201eUnvoreingenommene\u201c nichts davon weifs; wie ein solcher denn z. B. nach Meinong nicht zu sagen w\u00fcfste, dafs er bei \u201enichtrot\u201c an ein Urteil denke.\nDemgegen\u00fcber mufs ich bemerken, dafs, wenn der \u201eUnvoreingenommene\u201c zugleich ein in psychologische Beobachtung Uneingeweihter ist, dies nicht im mindesten Staunen erwecken darf. Denn es ist etwas v\u00f6llig anderes, einen psychischen Zustand in sich erfahren, und etwas anderes, sich von ihm deutlich Rechenschaft geben. Das letztere ist Sache besonderen Talentes und insbesondere auch spezieller \u00dcbung. Aber angenommen, es k\u00f6nnten auch talentvolle und ge\u00fcbte psychologische Beobachter, die \u2014 vom theoretischen Interesse geleitet \u2014 den negativen Begriffen ihre Aufmerksamkeit zuwendeten, nicht entdecken, dafs","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n31\nwir dabei regelm\u00e4fsig an Urteile d\u00e4chten, was folgt Entscheidendes daraus?\nVor Meinong hat ja trotz derselben Aufmerksamkeit auch niemand bemerkt, dafs eine ganz neue Klasse psychischer Beziehungen, die \u201eAnnahmen\u201c, hier im Spiele sein sollen. \u00dcberhaupt gibt dieser Forscher selbst zu, die psychologische \u201eTheorie\u201c (d. h. die Psychologen ganz allgemein) habe die \u201eAnnahmen\u201c ungef\u00e4hr in demselben Mafse vernachl\u00e4ssigt, als sie der Praxis des t\u00e4glichen Lebens gel\u00e4ufig seien. Wenn dies nicht von vornherein gegen die Existenz jener von Meinokg statuierten neuen Klasse von psychischen Beziehungen spricht, so spricht es auch nicht gegen die Richtigkeit unserer Lehre, wenn einzelne Psychologen den von uns behaupteten Tatbestand nicht in sich finden zu k\u00f6nnen meinen. Man kann, wie Meinong selbst zugibt, infolge von Voreingenommenheit oder aus anderen Gr\u00fcnden etwas \u00fcbersehen, was tats\u00e4chlich doch da ist, und darum ist es nicht geraten, etwas \u2014 was einem die eigene Erfahrung nicht zu zeigen scheint \u2014 sofort aufser Betracht zu lassen sondern es erscheint ratsamer, die Sachlage reiflicher zu pr\u00fcfen, wie ich dies denn auch bez\u00fcglich der MEiNONGschen \u201eAnnahmen\u201c, obwohl unf\u00e4hig sie in mir zu entdecken, nicht von der Hand weise.\nDoch 1 Ist nicht die gr\u00f6fsere Einfachheit des Gedankens, den Meinong in den negativen Termini ausgesprochen finden will, im Vergleich zu dem, der nach mir dessen Sinn bilden soll, schon etwas, was seine Hypothese vor der althergebrachten Lehreempfiehlt? Auch dies kann ich nicht ohne weiteres zugeben.\nVor allem ist darum, weil der Gedanke, der nach dieser Ansicht die Bedeutung der negativen Termini bildet, komplizierter ist, nicht auch die Hypothese selbst komplizierter. Denn von letzterem kann man ja nur da sprechen, wo es sich um eine Mehrheit von unabh\u00e4ngigen Elementen handelt, die verbunden werden um die betreffende Annahme zur Erkl\u00e4rung einer fraglichen Erscheinung tauglich zu machen. In unserem Falle aber sind die Teile des Gedankens, durch den ich \u201enichtrot\u201c u. dgl. interpretire, notwendig miteinander gegeben, und dafs es \u00fcberhaupt solche negative Vorstellungen gebe, ist keine verwunderliche noch neue Annahme. Meinong selbst mufs zugeben, dafs ihre Bildung zu erwarten ist, da wir negative Urteile besitzen und durch Reflexion auf unser Urteilen und seine Inhalte \u00fcberhaupt mannigfache Begriffe bilden. Dann aber ist offenbar seine","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nA. Marty.\nHypothese, dafs n\u00e4mlich diese negativen Vorstellungen, deren Denkbarkeit er nicht leugnen kann, zur Erkl\u00e4rung der Tatsachen nicht ausreichten sondern daneben die zweifellos neue und \u2014 wie wir gesehen haben \u2014 mit mancherlei unwahrscheinlichen Absonderlichkeiten (um nicht mehr zu sagen) belastete Annahme von \u201eScheinurteilen\u201c gemacht werden m\u00fcsse, die kompliziertere und von vornherein weniger probable.\nDoch vielleicht sagt man, wenn diese Annahme auch komplizierter sei, so habe sie doch den Vorteil, dafs der durch sie supponierte Gedanke ein einfacherer sei als die negative Vorstellung.\nAllein warum eigentlich dies ein Moment sein soll, das die Hypothese ohne weiteres empf\u00f6hle und die andere verd\u00e4chtigte, ist mir nicht begreiflich, und ich frage mich vergeblich nach zwingenden Gr\u00fcnden f\u00fcr eine solche Behauptung. Denn dafs nicht etwa die K\u00fcrze des sprachlichen Ausdrucks als untr\u00fcgliches Zeugnis f\u00fcr Einfachheit und gegen Komplikation des Ausgedr\u00fcckten gelten k\u00f6nne, scheint mir zweifellos und glaube ich an anderem Orte \u00fcberzeugend darzutun.1 Wie kompliziert doch sind Gedanken wie \u201eFreundschaft\u201c, \u201eStaat\u201c, \u201eKirche\u201c usw. trotz der K\u00fcrze des Namens! Aber durch was sonst sollte das Vorurteil erweckt werden, dafs in \u201enichtrot\u201c kein komplizierter sondern ein einfacher Gedanke stecke? Ich glaube, wer tiefer in die Psychologie einzudringen sucht, der wird sich im Gegenteil \u00fcberzeugen, dafs oft, wo der Nichtpsychologe es mit einer ganz einfachen Erscheinung zu tun zu haben glaubt, in Wahrheit recht komplizierte vorliegen.\nJa, bez\u00fcglich der MEiNONGschen Auffassung der negativen Begriffe als \u201eAnnahmen\u201c k\u00f6nnte man in Wahrheit noch Bedenklicheres als den Vorwurf, der supponierte Gedanke sei kompliziert, geltend machen. Wenn Non A eine pr\u00e4dikative Annahme ist (\u2014 etwas ist nicht A), so ist darin das Subjekt anerkannt. Man kann ja nicht von einem Subjekte etwas pr\u00e4dizieren oder ihm etwas absprechen, ohne es anzuerkennen.2 Ist aber eine\n1 In den schon erw\u00e4hnten \u201eBeitr\u00e4gen usw.\u201c.\n\u2022 Meinong gibt dies freilich nicht zu. Nach ihm kann man im (wahrhaft) kategorischen Satz etwas mit einem anderen identifizieren oder f\u00fcr nichtidentisch erkl\u00e4ren, ohne es f\u00fcr seiend zu halten. Schon Aristoteles aber hat die Unm\u00f6glichkeit dessen eingesehen. Vgl. dar\u00fcber meine \u201eBeitr\u00e4ge usw.\u201c","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n38\nsolche Annahme in jedem Urteil, das sich auf einen sog. negativen Begriff besieht, als Element involviert, so auch in dem Urteil: Ein Non A gibt es nicht. Und damit ist gesagt, dais in dem psychischen Verhalten, welches verwirft, dafs es etwas gibt, \u25a0was nicht A ist, als konstituierender Bestandteil die Anerkennung: etwas ist und ist nicht A eingeschlossen sei, dafs also seine Elemente unter sich in Widersprach stehen. Die Ausrede, dafs das negative Verhalten ein urteilendes, das darin (angeblich) implizierte affirmative ein annehmeudea sei, haben wir fr\u00fcher schon gew\u00fcrdigt. Da hier und dort nach Meinono ein Anerkennen und Verwerfen im selben Sinne gegeben sein eoll, so haben wir an der Position und der entgegengesetzten Negation eben doch ein widerspruchsvolles Verhalten vor un6. mag man nun beide Elemente ein Urteilen oder eines ein \u201eAnnehmen\u201c und nur das andere ein Urteilen heifsen.\nNur einen Ausweg sehe ich aus der Verlegenheit; wenn n\u00e4mlich Mexnong der Behauptung, in \u201eEin Non A gibt es nicht\u201c bilde die Annahme, dafs etwa\u00ab nicht A sei, die Materie des verwerfenden Urteils, einen ganz anderen Sinn gibt. Aber nur eine Interpretation ist aufser der, die uns jenes widerspruchsvolle Verhalten zumutet, noch m\u00f6glich. Es kann unter \u201eAnnahme\u201c dann nur der Inhalt der sog. Annahme Non \u00c2 (d. h. nach Meixong: etwas ist nicht A) verstanden werden.1 Und dies ist nichts anderes als eine bestimmte Klasse von Gegenst\u00e4nden, deren Vorstellung durch Reflexion auf die negative Pr\u00e4dikation gebildet ist. Weser Inhalt wird vorgestellt, und so zum Gegenstand des Urteils gemacht. Kurz wir haben damit wesentlich diejenige Auffassung vor uns, die wir f\u00fcr die richtige halten und bei der die ganze MEiNoxosche Annahmelehre entf\u00e4llt.\nSo bleibe ich dabei, dafs bei Begriffen wie \u201enichtrot\u201c nicht eine Negation, wohl aber die Vorstellung einer solchen und die von etwas, was dadurch relativ bestimmt ist, gegeben sei.\n1 Denn etwa zu sagen, unter \u201eAnnahme\u201c sei hier der Akt oder die Beziehung des pr\u00e4dikativen Annehmens \u201eEtwas ist nicht A\u201c gemeint, ist ja ganz unm\u00f6glich. Dafs die subjektive Tatsache dieses in mir stattfindenden Annehmens anzuerkennen sei, ist doch durchaus nicht der Sinn dessen, was ich mitteilen will, indem ich sage: Ein Non A ist, und noch weniger will ich mitteilen, dafs sie zu leugnen sei, indem ich sage : Ein Non A ist nicht. Was ich dem H\u00f6rer mitteilen will, ist vielmehr etwas Objektives.\nZeitschrift fBr Psychologie 40.\n3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nA. Marty.\nGanz analog ist es beim Begriff \u201ebesser\u201c. Auch hier k\u00f6nnt\u00a9 Einer mit demselben Rechte behaupten, wer sagt, A ist besser als B, m\u00fcsse A dem B vorziehen. Die Wahrheit ist aber nur die, dafs der Begriff des Besseren, d. h. des Vorz\u00fcglichen, die Vorstellung des Vorziehens voraussetzt und diese nur aus der Erfahrung irgend eines tats\u00e4chlichen Vorziehens gewonnen sein kann.\n\u00a7 11. Ein anderer Punkt, der nach Meinong offenkundig die Kl\u00e4rung und L\u00f6sung nur durch die Lehre von den \u201eAnnahmen\u201c soll finden k\u00f6nnen, ist das, was er die \u201eGegenst\u00e4ndlichkeit bei negativen Urteilen\u201c nennt.\nEs ist bekannt, so f\u00fchrt er S. 105 aus, dafs sich die eigent\u00fcmliche Steilung der Negation zur Affirmation bereits l\u00e4ngst der Aufmerksamkeit mehr als eines Beobachters aufgedr\u00e4ngt hat. Man hat bemerkt, dafs es in der Natur des negativen Urteils liegt, nicht \u201efrei einzusetzen\u201c, wie die Musiktheoretiker sagen, sondern einer Art affirmativer Vorbereitung zu bed\u00fcrfen. Wenn A B ist, liegt hierin Anlafs genug, eventuell dem A das B im affirmativen Urteile zuzuerkennen ; von A aber zu negieren, dafs es etwa C ist, dazu scheint doch nur Anlafs und Gelegenheit vorzuliegen, wenn dem urteilenden Subjekte der Gedanke ausreichend nahe getreten ist, das C vom A zu affirmieren. Dafs so jede Negation auf eine gegenstandsgleiche Affirmation zur\u00fcckweist, das kommt auch in der eigent\u00fcmlichen Weise zur Geltung, in der der sprachliche Ausdruck der Negation gegen\u00fcber dem der Affirmation differenzirt ist. St\u00fcnden beide einander durchaus auf gleichem Fufse zur Seite, so w\u00e4re ja doch wohl auf ein Aus\u2014 drucksmittel f\u00fcr das Urteil schlechthin und dann auf Zutaten zu rechnen, durch welche das Urteil je nach Bedarf als affirmativ oder negativ gekennzeichnet w\u00fcrde. Inzwischen bietet die Sprache normalerweise zun\u00e4chst einen bestimmten Ausdruck f\u00fcr die Affirmation, der dann erst durch einen besonderen Beisatz in den. Ausdruck der Negation abge\u00e4ndert wird. Das an die affirmative Aussage angeschlossene \u201enicht\u201c, das die negative Aussage konstituieren hilft, bietet so eine Art \u00e4ufserlichen Beleges f\u00fcr das Hinzutreten der Negation an die vorgegebene Affirmation.\nNun ist aber sofort ersichtlich, dafs, wer hier soweit geht, ein affirmatives Urteil als Voraussetzung f\u00fcr das negative in Anspruch zu nehmen, damit den Tatsachen ganz zweifellos Gewalt antut. Negiere ich die Existenz eines runden Viereckes, so werde","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n35\nich dazu sicher Veranlassung gehabt haben, aber es m\u00fcfste doch mit seltsamen Dingen zugehen, wenn ich vorher an das Rundsein des Vierecks geglaubt h\u00e4tte. Auch wo eine quaestio facti in einem negativen Urteile ihre Beantwortung findet, mag eine wirkliche Frage ganz wohl der Anlafs dazu gewesen sein, aber bei weitem nicht eine Vor Wegnahme der Beantwortung durch ein affirmatives Urteil. Dagegen legt der Hinweis auf die Eventualit\u00e4t einer Frage im gegenw\u00e4rtigen Zusammenh\u00e4nge den Gedanken aufserordentlich nahe, der aufgewiesenen \u00dcbertriebenheit dadurch zu Steuern, dafs die Rolle einer Voraussetzung f\u00fcr das negative Urteil zwar nicht einem affirmativen Urteil, wohl aber einer affirmativen Annahme zuerkannt wird.\u201c 1\nDemgegen\u00fcber sei zugegeben, dafs unser Denken mit Affirmationen beginnt. Dafs aber jede einzelne Negation durch eine Affirmation \u00fcber denselben Gegenstand vorbereitet sein und diese eine \u201eAnnahme\u201c sein m\u00fcsse, hat Meinong nicht bewiesen, weder in dem Sinne, dafs jedes negative Urteil \u2014 wie Sigwart will \u2014 indirekt sei oder gar eine wirkliche Affirmation involviere, noch dafs ihm eine solche als Anlafs vorausgehen m\u00fcsse.\nWas das Eine betrifft, dafs eine Affirmation nicht blofs den Anlafs zur Negation sondern in widerspruchsvoller Weise ein konstitutives Element derselben bilde, m. a. W. dafs f\u00fcr jedes Negieren das Setzen des Negierten innerlich die Grundlage sei, so werden sich zu dieser Lehre wohl wenige verstehen. Um so weniger als sie \u2014 selbst den indirekten Charakter jeder Negation angenommen \u2014 ganz unn\u00f6tig ist. Es gen\u00fcgte ja daf\u00fcr, dafs jede Negation auf der Vorstellung des Inhalts einer Affirmation \u2014 etwas, was eine unzweifelhaft m\u00f6gliche und l\u00e4ngstbekannte Tatsache ist \u2014 basiert sei. Ja diese Auffassung des indirekten Charakters einer Negation wie \u201eA ist nicht\u201c, scheint mir die einzig m\u00f6gliche, und wer meinte, in der Negation \u201eA ist nicht\u201c sei die affirmative \u201eAnnahme\u201c, dafs A sei, geleugnet, dem m\u00f6chte ich eine analoge Frage stellen wie dem, der lehrt, in: \u201eEin Non A ist nicht\u201c sei die Annahme\u201c, dafs etwas nicht A sei, verworfen. Ich verweise auf das dort Ausgef\u00fchrte. Die \u00dcbertragung macht sich von selbst.\nDoch wahrscheinlicher ist nicht dies, sondern nur das zweite Meinongs tats\u00e4chliche Ansicht, n\u00e4mlich dafs die negativen Ur-\n1 Auch die negativen Annahmen selbst sollen nach Meinong nicht \u201efrei einsetzen\u201c sondern affirmativer zur Vorbereitung bed\u00fcrfen.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nA. Marty.\nteile in d e m Sinne an eine \u201evorgegebene Affirmation hinzntreten\u201c, dafa stets eine Affirmation (wenn nicht eine urteilende, so eine \u201eannehmende\u201c) den Anlafs zur Bildung des negativen Urteils bilde. Aber ich finde auch dies \u2014 wie schon bemerkt \u2014 bei ihm keineswegs hinreichend begr\u00fcndet.\nVor allem, wenn ihm ein Beweis f\u00fcr seine Behauptung darin zu liegen scheint, dais die Sprache das Zeichen der Negation durch Zusammensetzung einer besonderen Partikel mit der Form des Verbum finitum, die sonst Zeichen der Affirmation ist, bilde, so kann ich diese Berufung durchaus nicht zwingend finden.\nF\u00fcrs erste ist doch diese Methode der Bildung der negativen Aussage durchaus nicht universell, indem manche Sprachen einen besonderen Verbal rnodua der Negation besitzen. Ferner sieben sich die Ausdr\u00fccke : Ja und Nein v\u00f6llig ebenb\u00fcrtig gegen\u00fcber, und ebenso ist in der Geberdensprache der Ausdruck f\u00fcr die Verneinung (z. B. das Sch\u00fctteln des Kopfes) nicht an den f\u00fcr die Bejahung (z. B. das Nicken) angelehnt.\nNehmen wir aber selbst an, allgemein w\u00fcrde der Ausdruck f\u00fcr die Verneinung in der oben von Meinong hervorgehobenen Weise gebildet, so w\u00fcrde sich dies wohl, verstehen lassen, auch ohne die Deutung, die er der Sache geben will. Gerade wie sich auch analoge andere Bildungen, wie z. B. die des Ausdrucks der Zukunft und Vergangenheit durch einen Zusatz zu demjenigen f\u00fcr die Gegenwart, und desjenigen f\u00fcr die M\u00f6glichkeit in Anlehnung an den f\u00fcr die Wirklichkeit, sich begreifen lassen ohne die Lehre, dafs der Glaube an die Zukunft immer zur \u201eAnnahme\u201c der Gegenwart und der an die M\u00f6glichkeit zur \u201eAnnahme\u201c der Wirklichkeit hinzutrete. Und wie kein ernst zu nehmender Psychologe daraus, dafs man f\u00fcr Schmerz auch Ausdr\u00fccke wie Unlust, dislike, dispiaeere u. dgl. gebildet hat1, schliefsen wird, der Schmerz k\u00f6nne\n1 Vgl. Fa. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis S. 67. Siowart hat f\u00fcr seine Meinung, dafs die negativen Urteile s\u00e4mtlich indirekt und den affirmativen nicht als ebenb\u00fcrtige Spezies koordiniert seien, sich unter anderem auch auf die jetzt auch von Msinon\u00bb geltend gemachte sprachliche Erw\u00e4gung berufen, dafs das Zeichen des negativen Urteils durchwegs mittels Zusatzes eines W\u00f6rtchens wie \u201enicht\u201c u. dgl. zum Ausdrucke der Affirmation gebildet sei. Demgegen\u00fcber hat Brentano b. a. O. \u2014 wie mir scheint \u2014 mit vollem Recht erwidert: \u201eSiowart ist wohl mit mir nnd aller Welt darin einverstanden, dafs gefallen und mifsfallen, sich freuen und trauern, lieben und hassen usw. einander koordiniert sind. Dennoch findet sich in einer ganzen Reihe von Ausdr\u00fccken der Rame f\u00fcr","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n37\nnicht \u201efrei einsetzen\u201c, sondern habe stets eine Lust oder wenigstens eine \u201eScheinlust\u201c zur Vorbedingung.\nDie Sprache w\u00fcrde keine derartige syntaktische Bildungen, ich meine: keine durch Zusammensetzung gewonnene Zeichen, bei denen das Ausgedr\u00fcckte eine analoge Zusammensetzung vermissen l\u00e4fst, aufweisen, wenn sie von vollendeten psychologischen Analytikern und zum Zwecke einer m\u00f6glichst ad\u00e4quaten Darstellung unseres Innenlebens planm&fsig gebildet w\u00e4re. Aber von dem allem war nat\u00fcrlich bei der Entstehung unserer Volksidiome keine Rede. Nur im Rohen und Rohesten entsprach und entspricht die Syntaxe der Redeteile, durch welche sie die Ausdr\u00fccke f\u00fcr unsere psychischen Zust\u00e4nde und ihre Inhalte zu gewinnen suchten, der nat\u00fcrlichen Gliederung des Auszudr\u00fcckenden; und die Motive der Bequemlichkeit und Zeichen-erspamis, welche \u00fcberhaupt auf die Entstehung der syntaktischen Redeweise hinwirkten, f\u00fchrten vielfach zu Zusammensetzungen und F\u00fcgungen auf Grund einer blofisen fiktiven und imagin\u00e4ren Scheidung im Ausgedr\u00fcckten.* 1 Eine solche ist auch die Zerlegung des Ausdrucks der Negation in zwei Zeichen, wovon das eine f\u00fcr sich allein auch als Bezeichnungsmittel der Affirmation dient, und als Anlafs zu dieser Bildungsweise gen\u00fcgte der Umstand, dafs, wie unsere ersten Urteile, so auch unsere ersten Aussagen affirmativer Natur waren. Nach der ganzen Art wie die Sprache gebildet wurde, reichte dies hin, um im Interesse der Zeichen\u00f6konomie das Verfahren herbeizuf\u00fchren, das Ausdrucksmittel f\u00fcr die Negation zu gewinnen, indem man dasjenige f\u00fcr die Affirmation durch eine beigef\u00fcgte Geberde oder Partikel oder dgl. modifizierte, und \u00c4hnliches gilt bez\u00fcglich der analogen Bildungen der Ausdrucksmittel f\u00fcr die Vergangenheit und Zukunft und f\u00fcr die M\u00f6glichkeit. Der Gedanke der Gegenwart und Wirklichkeit war zweifellos fr\u00fcher, braucht aber nicht in jedem Falle dem der anderen Temporalbestimmungen und dem der M\u00f6glichkeit vorauszugehen.\ndie Abneigung im Gem\u00fcte dependent von dem Namen f\u00fcr die Zuneigung gebildet: z. B. Neigung, Abneigung: gefallen, mifsfallen; Lust, Unlust; Wille, Widerwille; froh, unfroh; gl\u00fccklich, ungl\u00fccklich; lieb, unlieb; sch\u00f6n, unsch\u00f6n : angenehm, unangenehm.\u201c\nAlles das spricht auch gegen Mzinon'os verwandte Berufung auf die h\u00e4ufige Methode des Ausdrucks bei der Negation.\n1 Ich handle \u00fcber alle diese Dinge ausf\u00fchrlich in meinen demn\u00e4chst erscheinenden \u201eBeitr\u00e4gen zur allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie\u201c.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nA. Marty.\nDoch genug vom Sprachlichen. Was das Sachliche und zun\u00e4chst die Ansicht Meinongs betrifft, einem negativen Urteil \u00fcber eine quaestio facti m\u00fcsse wenigstens eine Frage vorausgehen, was folgt, wenn sie richtig ist? Nicht dafs dabei notwendig eine jenem negativen Urteil gegenstandsgleiche Affinnation (weder ein affirmatives Urteil noch eine solche \u201eAnnahme\u201c) sondern biofs dafs die Vorstellung des betreffenden Urteilsinhalte im Spiele sein mufs. Denn mehr braucht bei der Frage von dieser Seite, und abgesehen von den Ph\u00e4nomenen des Interesses und Willens, welche die Frage charakterisieren und den ihnen zugrunde liegenden Urteilen, nicht vorzuliegen.1\nDen anderen Punkt betreffend, wie ich zur Negierung des Unm\u00f6glichen, z. B. eines runden Vierecks komme, so ist zu sagen : dafs es dazu sofort und mit Evidenz kommen kann, wenn ich diese widerstreitende Vorstellung habe und auf sie aufmerksam werde. In der Vorstellung ist hier das negative Urteil motiviert. Fragt man aber, wie ich auf eine solche Vorstellungsverbindung gef\u00fchrt werde, so ist die wahre Antwort : einmal durch widerstreitende Urteile, dann aber auch ohne dies.\nDurch widerstreitende Urteile. Denn der Widerstreit der Wahrnehmung eines Gegenw\u00e4rtigen mit etwas, was, auf Grund fr\u00fcherer Erfahrung, an derselben Stelle oder \u00fcberhaupt im selben Subjekte erwartet wurde, f\u00fchrt mit Evidenz zur Verwerfung dieses kontr\u00e4r Entgegengesetzten. Und auf Grund dieses apodiktischen Unvereinbarkeitsurteils wird dann das eben gewohnheitsm\u00e4fsig Erwartete auch assertorisch verworfen.\nIch kann aber auch willk\u00fcrlich darauf ausgehen, absurde Begriffsverkn\u00fcpfungen zu bilden, nachdem ich ein f\u00fcr allemal weifs, wie es gemacht wird, und nachdem die wichtigen, theoretischen und praktischen Einsichten, die sich daran kn\u00fcpfen, mir ein Interesse f\u00fcr solche Bildungen eingefl\u00f6fst haben. Und immer kann, wenn die Vorstellung von Kontr\u00e4rem zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird, dies dann auch zu einer apodiktischen und evidenten Verwerfung dieser Verbindung, also zu negativen Erkenntnissen, f\u00fchren.\n1 Auf die Lehre Meinongs, dafa auch der Fragende \u201eannehme\u201c Und nicht biofs vorstelle, was er zu wissen w\u00fcnscht, halte ich nicht f\u00fcr n\u00f6tig n\u00e4her einzugehen. Was er daf\u00fcr vorbringt, erledigt sich nach unseren sonstigen Ausf\u00fchrungen von selbst als unstichhaltig.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Tiber Annahmen.\n39\nSo ist die Annahme einer Vorbereitung des negativen Urteils durch eine Affirmation \u00fcberfl\u00fcssig.1\n\u00a7 12. Doch hier wird Meinong einwenden, eben die Bildung solcher Vorstellungen, wie die von Kontradiktorischem und Kontr\u00e4rem, sei auch ein Fall, wo man ohne seine \u201eAnnahmen\u201c nicht auskomme.\nAllein das Wahre an seinen bez\u00fcglichen Ausf\u00fchrungen (S. 109 ff.) ist nur, dafs unanschauliche Vorstellungen, und zu ihnen geh\u00f6ren nat\u00fcrlich auch die von Kontradiktorischem wie A- non- A und von kontr\u00e4r Bestimmtem wie Rundes\u2014Eckiges u. dgl., zu den auf blofser pr\u00e4dikativer Synthese beruhenden geh\u00f6ren, wovon ich schon in meinen Artikeln \u00fcber subjektlose S\u00e4tze (Vierteljahrsschr. f\u00fcr wiss. Philos. 19, S. 63 ff.) gehandelt habe und worauf ich in den demn\u00e4chst erscheinenden \u201eBeitr\u00e4gen usw.\u201c zur\u00fcckkomme. Wer nie eine Pr\u00e4dikation vollzogen h\u00e4tte, k\u00f6nnte meines Erachtens auch keine solche pr\u00e4dikativ zusammengesetzte Vorstellung haben. Die betreffenden einfachen Begriffe k\u00f6nnten sich wohl assoziativ in seinem Bewufstsein verkn\u00fcpfen, aber zu einer solchen Synthese wie sie z. B. in Rotes\u2014Rundes, d. h. Rotes, welches rund ist, vorliegt, k\u00e4me es nicht.\nAllein damit ist keineswegs gesagt, dafs jede pr\u00e4dikative Vorstellungszusammensetzung eine entsprechende Pr\u00e4dikation voraussetze. Vielmehr k\u00f6nnen nach Analogie zu einer einmal gebildeten derartigen Synthese wie: A, welches B ist, beliebige andere gebildet werden wie : A, welches C, B welches D ist usw. ohne dafs jedesmal das entsprechende pr\u00e4dikative Urteil A ist C, B ist D usw. vorausgegangen oder gleichzeitig gegeben zu sein braucht.\nNoch weniger folgt aus dem oben Zugegebenen, dafs in der unanschaulichen Vorstellung selbst eine Pr\u00e4dikation vorliege (sei es eine urteilende, sei es eine annehmende). Stellenweise k\u00f6nnte man glauben, Meinong wolle die unanschauliche Vorstellung in allen F\u00e4llen so aufgefalst wissen, n\u00e4mlich dafs sie selbst in Wahrheit nie ein blolses Vorstellen sondern stets viel*\n1 Wie die \u201eGegenst\u00e4ndlichkeit des negativen Urteils\u201c, so soll nach Meinong auch die Gegenst\u00e4ndlichkeit der Vorstellung nur aus \u201eAnnahmen\u201c, und weder aus der Reflexion auf das Vorstellen selbst noch auf Urteile zu begreifen sein. Allein was er daf\u00fcr vorbringt, wird sich auf Grund unserer Ausf\u00fchrungen \u00fcber den Begriff des Vorstellungsgegenstands in den \u201eBeitr\u00e4gen usw.\u201c von selbst erledigen.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nA. Marty.\nmehr ein Pr\u00e4dizieren, nur nicht vom Charakter des \u201eUrteils (der \u201e\u00dcberzeugung\u201c) sondern von dem der \u201eAnnahme\u201c sei, und er halte \u00a9ine blofse Voretellungssynthese, wie wir sie annehmen, f\u00fcr unm\u00f6glich.\nAllein darin wird man doch wieder irre, wenn er \u2014 wir h\u00f6rten es schon \u2014\u25a0 anderw\u00e4rts selbst erkl\u00e4rt : dafs z. B. M nicht A ist, sei eine Art Relation zwischen M und A, die sich nat\u00fcrlich vorstellen lassen m\u00fcsse und dadurch sei dann auch ein Weg gefunden, durch Abstraktion zu einem vorstellbaren Non-A zu gelangen, und wenn, er in der Folge nur die Unwahrscheinlich-keit geltend zu machen weife, dafs uns z. B. bei Nicht-rund die (angeblich so komplizierte) Vorstellung: etwas, von dem das Urteil gilt, es sei nicht rund, vorschwebe. Ich meine, indem hier \u00fcberhaupt die M\u00f6glichkeit zugegeben ist, dafs dieser Gedanke uns als blofse Vorstellung gegeben sei, ist auch zugegeben, dafs der Gedanke: etwas Rundes, das eckig ist \u2014 eine blofse Vor-stellungesynthese sein k\u00f6nne.\nAber auch die Behauptung, dafs \u00f6fter oder in den meisten F\u00e4llen dergleichen Gedanken, wie Rundes\u2014Eckiges, die wir eine pr\u00e4dikative Vorstellungssynthese nennen, in Wahrheit \u201eAnnahmen\u201c von pr\u00e4dikativem Charakter seien, f\u00fchrt zu analogen Schwierigkeiten wie die analoge Behauptung bez\u00fcglich der negativen Begriffe. Denn auch so mufa man unter Umst\u00e4nden dem Urteilenden ein widerspruchsvolles Verhalten zuschreiben, indem b. B. wer sagt: etwas Rundes\u2014Eckiges gibt es nicht, danach gleichzeitig ein Rundes\u2014Eckiges anerkennen und leugnen w\u00fcrde. Denn wer dem Runden zuerkennt, dafs es eckig sei (und diese \u201eannehmende\u201c Pr\u00e4dikation w\u00e4re ja nach Meinong der Sinn des sog. Begriffs: Rundes\u2014Eckiges), der erkennt darin Rundes an. Wer also Rundes\u2014Eckiges denkt, der denkt \u2014 wenn dies eine wirkliche Pr\u00e4dikation (sei es eine \u201eannehmende\u201c oder urteilende) ist \u201eein Rundes ist\u201c und es ist eckig, und diese Anerkennung und Zuerkennung m\u00fcfste involviert sein in dem strickte entgegengesetzten Verhalten, welches verwirft, dafs es etwas Rundes\u2014 Eckiges gebe. Ich glaube, wenige werden geneigt sein, in dieser Weise den Widerspruch zu einem schier allgemeinw\u00e4rtigen Elemente unseres psychischen Lebens zu machen.1\n1 Ich sage: schier allgegenw\u00e4rtig. Denn wie oft haben wir es mit verwerfenden Urteilen \u00fcber negative Begriffe und \u00fcber unanschauliche Vorstellungssynthesen wie die obigen zu tun? Und wie erst, wenn es","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n41\nDie einzig m\u00f6gliche Interpretation, die man der Lehre, dafs in einem Satze wie : etwas Rundes\u2014Eckiges gibt es nicht, die Annahme, dafs etwas Rundes eckig sei verworfen werde, geben kann, ist analog derjenigen, die wir fr\u00fcher bei der entsprechenden Lehre vom Satze : ein Non A gibt es nicht, besprachen. Da man auch durch den Satz: etwas Rundes-Eckiges gibt es nicht, nicht ein Urteil \u00fcber etwas Subjektives, wie die Tatsache des Annehmens selbst, dem H\u00f6rer suggerieren will sondern etwas Objektives, so kann unter der \u201eAnnahme\u201c, die hier als zu verwerfend bezeichnet wird, nur der Inhalt der Pr\u00e4dikation : ein Rundes ist eckig, gemeint sein. Und dieser Inhalt ist ein Gegenstand, dessen Vorstellung erstmals durch Reflexion auf eine Pr\u00e4dikation gebildet, aber nicht selbst eine Pr\u00e4dikation (eine nicht \u00fcberzeugte, so wenig als eine \u00fcberzeugte) ist. Er ist die vorgestellte Materie meines Urteils : \u201eEin Rundes-Eckiges gibt es nicht\u201c, wie in einem anderen Falle, wo ich sage: A ist, A die vorgestellte Materie bildet.\nWo bleibt also eine N\u00f6tigung oder auch nur M\u00f6glichkeit f\u00fcr affirmative Annahmen, die solchen Urteilen zugrunde l\u00e4gen?\n\u00a7 13. Als eine weitere Klasse von Tatsachen, welche es wenigstens sehr wahrscheinlich machen soll, dafs wir \u201eAnnahmen\u201c haben, betrachtet Meinong das \u201eVorstellen\u201c resp. \u201eNachbilden\u201c fremder Urteile.\nEr will nicht leugnen, dafs man sich auch vorstellend vergegenw\u00e4rtigen k\u00f6nne, dafs ein anderer dieses oder jenes urteile. Aber er meint, es geschehe dies erfahrungsgem\u00e4fs nicht immer. \u201eMan pr\u00fcfe z. B. \u2014 so betont er S. 48 \u2014 wie man sich verh\u00e4lt, wenn man sich Lockes Gedanken \u00fcber die prim\u00e4ren und sekund\u00e4ren Qualit\u00e4ten zu vergegenw\u00e4rtigen versucht. Davon, dafs da der Gedanke \u201eUrteil Lockes oder \u201eMeinung Lockes\u201c oder dgl. im Vordergr\u00fcnde der Aufmerksamkeit st\u00fcnde, und das, was Locke gedacht hat, sich nur wie eine Art Determination anschl\u00f6sse, davon ist auch nicht entfernt die Rede. Man h\u00e4lt sioh vielmehr an die prim\u00e4ren und sekund\u00e4ren Qualit\u00e4ten selbst; und wird dabei die Autorschaft Lockes vielleicht zu keiner Zeit ganz\n\u2014 was wir freilich dahingestellt sein liefsen \u2014 Mbinongs Ansicht w\u00e4re, dafs jedes negative Urteil in dem Sinne einen \u201eaffirmativen Hintergrund\u201c haben m\u00fcfste, dafs das Negieren auch hier durch ein ihm entgegengesetztes Ponieren innerlich konstituiert w\u00fcrde!","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nA. Marty.\naus dem Auge verloren, so wird dieser Erfolg doch h\u00f6chstens durch einen an die Hauptgedanken ganz \u00e4ufserlich sich ankn\u00fcpfenden Neben- oder Begleitgedanken an jene erzielt. Und das wird um so gewisser der Fall sein, je kompliziertere oder sonst schwierigere Theoreme es zu erfassen gilt, je mehr es darauf ankommt, Theoreme, die ein Ganzes ausmachen, nicht nur als tats\u00e4chlich verm\u00f6ge der Person des Autors zusammengegeben zu erkennen sondern auch ihren Zusammenhang, ihre nat\u00fcrliche Zusammengeh\u00f6rigkeit zu verstehen.\nDas Verfahren, das man einschl\u00e4gt, gleicht also weit mehr einem Nachbilden als einem passiven Beschauen. Wie ist es aber m\u00f6glich, ein Urteil \u201enachzubilden\u201c, ohne selbst zu urteilen? \u2014 und dafs der das Urteil des Anderen Erfassende es dem Stande seiner \u00dcberzeugung gem\u00e4fs nicht miturteilen kann, haben wir ja vorausgesetzt. Oder sollte das Nachbilden etwa darin bestehen, dafs man ein dem vorgegebenen konformes Urteil nur sozusagen f\u00fcr den Augenblick f\u00e4llt, um es dann sogleich wieder zur\u00fcckzunehmen? Solcher pl\u00f6tzlicher \u00dcberzeugungswechsel verstiefse gegen alle sonstige Erfahrung, und so steht man eben hier wirklich vor einem der .... F\u00e4lle, wo der geh\u00f6rte oder gelesene Satz, obwohl er ein Urteil ausdr\u00fcckt, im H\u00f6renden oder Lesenden doch kein Urteil wachruft. Der einzige psychische Tatbestand jedoch, der das affirmative wie negative Urteil noch \u201enachzubilden\u201c imstande ist, kann, soweit unser Wissen reicht, dann eben nur noch die Annahme sein.\u201c (S. 49.)\nWenn ich recht verstehe, ruht diese Argumentation Meinongs vornehmlich auf der Behauptung, dafs, wenn z. B. die Vergegenw\u00e4rtigung der Gedanken Lockes \u00fcber die prim\u00e4ren und sekund\u00e4ren Qualit\u00e4ten blofs eine Vorstellung des von Locke dar\u00fcber Geurteilten w\u00e4re, der Gedanke daran, dafs dies Lockes Meinung war, im Vordergrund unserer Gedanken stehen m\u00fcfste, w\u00e4hrend es tats\u00e4chlich nur wie ein Begleitgedanke im Spiele sei.\nDemgegen\u00fcber gebe ich ohne weiteres zu, dafs in der Tat die Autorschaft Lockes in solchem Falle uns nur gleichsam im Hintergr\u00fcnde des Bewufstseins gegenw\u00e4rtig zu sein pflegt. Aber ich sehe schlechterdings nicht ein, warum sich dies nicht mit der Annahme vertragen soll, dafs im \u00fcbrigen doch nur ein Vorstellen des Inhalts der LocKEschen Ansichten gegeben sei. Wie Korrelate untereinander, so werden auch relative Bestimmungen samt den Termini, auf welche die Bestimmung zielt, zwar notwendig zu-","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n43\nsammen vorgestellt.1 Aber das eine der Glieder kann dabei doch in einer Weise Gegenstand psychischer Besch\u00e4ftigung sein, die dem anderen versagt bleibt.\nWarum sollte dies nicht auch im obigen Falle bald dem einen bald dem anderen zuteil werden k\u00f6nnen ? Und wenn man von \u201eNachbilden\u201c des fremden Urteils spricht und damit nicht ein vor\u00fcbergehendes analoges Urteilen gemeint ist (und ich will gar nicht behaupten, dafs dies etwa immer gegeben sei), warum soll nicht eben eine besondere Betonung des Urteilsinhalts gemeint sein k\u00f6nnen? Sie verdient ganz wohl den Namen einer Nachbildung des fremden \u201eUrteils\u201c. Denn unter \u201eUrteil\u201c versteht man ja sehr h\u00e4ufig eben das Geurteilte oder den Urteilsinhalt. Neben der Vorstellung dieses Urteilsinhalts kann zwar diejenige eines Urteilenden (wenigstens im allgemeinen) nicht v\u00f6llig ausfallen, aber sie kann \u2014 wie schon bemerkt \u2014 gleichsam im Hintergrund bleiben.\nAnalog k\u00f6nnen wir auch den \u201eWillen\u201c eines anderen, d. h. den Inhalt dieses seines eigent\u00fcmlichen Interesseph\u00e4nomens \u201enachbilden\u201c. Wir tun dies, wenn wir verstehen, was sein Befehl kundgibt und wenn wir dabei vornehmlich auf jenen Inhalt (der ja h\u00e4ufig auch \u201eWille\u201c genannt wird) achten. W\u00e4re freilich die Vorstellung des fremden Wollens notwendig stets eine anschauliche, dann m\u00fcfsten wir ein ebensolches Wollen in uns selbst erfahren. Denn ohne dies w\u00e4re eine anschauliche Vorstellung von ihm nicht m\u00f6glich. Aber dies ist gar nicht n\u00f6tig. Es gen\u00fcgt eine unanschauliche Surrogatvorstellung, die jene Erfahrung nicht voraussetzt.\nWas vom Wollen und den Interesseph\u00e4nomenen gilt, das gilt aber auch vom Urteilen. Zum \u201eNachbilden\u201c eines fremden Irrtums und \u00fcberhaupt eines fremden Urteils gen\u00fcgt eine un-\n1 Wenigstens im allgemeinen mufs ich, ein Glied einer Korrelation denkend, das andere mitdenken. Und analog ist es bei einer relativen Bestimmung und dem, worauf sie zielt \u2014 und darum handelt es sich im Falle, wo wir einen Urteilsinhalt denken. Die Vorstellung eines Urteilenden \u00fcberhaupt kann nicht fehlen (sie ist kein blofs \u201eganz \u00e4ufserlich sich ankn\u00fcpfender Neben- oder Begleitgedanke\u201c), aber ich brauche nicht an einen bestimmten Urteilenden zu denken, und der Urteilende, ob blofs unbestimmt oder bestimmt vorgestellt, braucht nicht Gegenstand derselben besonderen Besch\u00e4ftigung zu sein wie das Geurteilte. Im \u00fcbrigen vergleiche man \u00fcber den Unterschied zwischen dem, was ich Korrelat und was relative Bestimmung nenne, meine \u201eBeitr\u00e4ge usw.\u201c.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nJ, Marty,\nanschauliche Vorstellung des l'rtoilsmhalts mid die eines Urteilenden, wobei die Aufmerksamkeit vernelimlir.li auf den\nersteren gerichtet sein mag\nSo sehe ich auch hier keinerlei N\u00f6tigung f\u00fcr \u201eAnnahmen\u201c, und alles Gesagte scheint mir um so zwingender, als auch Mm-nong von seinem Standpunkte unweigerlich zu solchen uneigentlichen Vorstellungen seine Zuflucht nehmen mufs. Lehrt er doch, dafs wir nicht immer die fremde \u201e\u00dc ber zeugung\u201c, noch weniger das evidente Urteilen des anderen \u201enachbilden\u201c ', aber uns trotzdem der Gedanke gegenw\u00e4rtig ist, dafs der andere etwas mit \u00dcberzeugung oder mit Evidenz anerkenne oder verwerfe.\n\u00a7 14. Doch weiter zu dem, was Mejnong \u201eexplizite Annahmen\u201c nennt, und zu den sog. \u201eAnnahmeschl\u00fcssen\u201c.\nUnter expliziten oder offenen Annahmen versteht der Autor solche, wie sie sich etwa in den Worten \u00e4ufsern : Ich nehme an\n\u2014\toder: nehmen wir an \u2014 es sei ein rechtwinkliges Dreieck gegeben, dessen eine Kathete die halbe L\u00e4nge der anderen hat usw. Oder: Gesetzt der Fall, die Buren h\u00e4tten gesiegt usw. Wenn er nun bez\u00fcglich dieser Annahmen bemerkt, dafs sie gemacht werden um Urteile, Erkenntnisse zu gewinnen, so sei dies ohne weiteres zugegeben.\nEs kann im Interesse des Erkenntnisfortschritts wichtig sein, die Konsequenzen aus einem gewissen Urteilsinhalt zu ziehen, auch wenn man das betreffende Urteil nicht wirklich f\u00e4llt. Und die Einsicht in das, was als Folge in einem gewissen Urteilsinhalt beschlossen ist, ist auch nicht an die Bedingung gekn\u00fcpft, dafs man ihn f\u00fcrwahr h\u00e4lt. Aber dafs diese Vergegenw\u00e4rtigung eines Urteilsinhaltes, die kein Urteil ist, eine \u201eAnnahme\u201c in seinem Sinne und nicht ein Vorstellen sei, hat Meinong durchaus nicht bewiesen. Denn die Berufung darauf, dafs es sich dabei auch um Negatives handle, ist \u2014 wie wir fr\u00fcher gezeigt haben \u2014 untriftig. Und im \u00fcbrigen weifs er nur geltend zu machen, dafs, wenn ich z. B. die G\u00fcltigkeit des Modus Barbara einsehe, ich weder an mich noch an mein Urteilen sondern blofs an die betreffenden Subjekte und Pr\u00e4dikate und deren Relationen denke. Allein daraus, dafs ich nicht gerade an mich und mein Ur-\n1 Wenn nach Meinong den Annahmen nicht Apodiktizit\u00e4t zukommt\n\u2014\twor\u00fcber er sich nicht v\u00f6llig klar ausgesprochen \u2014 so kann er auch bez\u00fcglich dieses Moments am fremden Urteil nur eine uneigentliche Vergegenw\u00e4rtigung lehren.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n45\nteilen denke, folgt nicht, dafs \u201ehier von einem vorgestellten Urteilen zu sprechen ganz unempirisch\u201c sei. Um an einen Urteilsinhalt zu denken, mufs ich allerdings auch die Vorstellung eines Urteilenden haben, aber nur im allgemeinen, und auch sie braucht nicht Gegenstand besonderer Besch\u00e4ftigung zu sein. Diese mag vorwiegend dem Geurteilten zugewendet sein, und darum kann es leicht geschehen, dafs das Vorhandensein jener anderen Vorstellung vom Beobachter \u00fcbersehen wird.1\nMeinong sieht in diesem hypothetischen Konsequenzenziehen \u201eAnnahmeschl\u00fcsse\u201c und meint, solche \u00c4nnahmeschl\u00fcsse seien es in der Regel, was man hypothetische Urteile nenne. Sie seien der \u201enat\u00fcrliche und normale Sinn des Wenn-so\u201c. Diese Auffassung der hypothetischen S\u00e4tze ist offenbar der KANTschen Lehre verwandt, nach welcher ja auch im Vorder- und Nachsatze ein besonderer Modus des Urteilens, das problematische Urteilen, vorliegen sollte, wo man etwas \u201ebeliebig annimmt\u201c.\nOb, wie Meinong will, dieses hypothetische Konsequenzenziehen geradezu den nat\u00fcrlichen und normalen Sinn des \u201eWenn-so\u201c bilde, davon sp\u00e4ter. Was aber die Auffassung des Vorgangs als eines \u201eAnnahmeschlusses\u201c betrifft, so ist dieses Novum \u00fcberfl\u00fcssig. Denn, wie schon bemerkt, gen\u00fcgt es, dafs wir den Inhalt gewisser Urteile vorstellen, um aus der Analyse dieser Vorstellungen zu erkennen, was als berechtigte Folge in ihnen enthalten ist, d. h. einzusehen, ohne was die Wahrheit jener Urteilsinhalte nicht bestehen k\u00f6nnte. Die neue Auffassung begegnet aber \u00fcberdies unver\u00e4chtlichen vorg\u00e4ngigen Bedenken, wie wir gleichfalls schon fr\u00fcher angedeutet haben. Nach Meinong ist ja auch der Schlufssatz in einem solchen Schlufs eine \u201eAnnahme\u201c, und nichtsdestoweniger soll sich an ihm ein \u201eevidenz\u00e4hnlicher Tatbestand\u201c, eine \u201erelative Evidenz\u201c vorfinden. Wenn dies, dann doch wohl auch etwas wie \u00dcberzeugung, und gleichwohl wurde uns sonst die \u201eAnnahme\u201c wesentlich als ein \u201eUrteil ohne \u00dcberzeugung\u201c definiert. Auch mit Bewufstsein um der Pr\u00e4missen willen ist diese \u201eAnnahme\u201c angenommen, wenn das be-\n1 Ich erinnere daran, dafs man gar mancheinen, und selbst manchen Psychologen daran! aufmerksam machen mufs, dafs ein Korrelat nicht ohne das andere gedacht werden kann. Sie \u00fcbersehen es. Und noch leichter geschieht dies bei dem Terminns, auf den eine relative Bestimmung zielt. Und darum handelt es sich bei Urteilsinhalt und Urteilendem. Vgl dar\u00fcber meine \u201eBeitrage usw.\u201c.","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nA. Marty.\ntreffende Anerkennen oder Leugnen den Namen einer Folgerung verdienen soll. Aber wie vertr\u00e4gt sich dies mit ihrem Annahmecharakter, dem es auch eigent\u00fcmlich sein soll jeder Regung des Willens zug\u00e4nglich zu sein? Ferner: Annahmen k\u00f6nnen ihrer Natur nach durch Worte suggeriert werden. Folgerungen als solche aber nicht. Auch das zeigt das Befremdliche eines Zustandes, der eine Annahme und doch zugleich eine Folgerung sein soll.\nAll diesen Schwierigkeiten, ja Unm\u00f6glichkeiten, entgeht unsere Auffassung der S\u00e4tze wie: Nehmen wir an, es sei AB, so folgt, dafs A ist u. dgl.\nSie sind, meinen wir, in Wahrheit Aufforderungen an den Willen zu einer inneren Willenshandlung oder eigent\u00fcmlichen psychischen Unternehmung. Aber was dadurch zun\u00e4chst herbeigef\u00fchrt werden soll und wird, ist in der Regel nichts anderes als ein Vorstellen von gewissen Urteilsinhalten, an welches sich dann allerdings ein wirkliches Urteilen anschliefst, n\u00e4mlich die Erkenntnis der Folgen, die in jenen Inhalten liegen oder exakter gesprochen, dessen, ohne dessen Wahrheit ihre Wahrheit undenkbar ist.1 Ich sage: in der Regel sei das hypothetische Konsequenzenziehen nur ein Vorstellen der sog. Pr\u00e4missen und des Schlu\u00dfsatzes, und geurteilt w\u00fcrde nur \u00fcber die Abfolge. Doch vor\u00fcbergehend m\u00f6gen die sog. Annahmen, indem das Be-wufstsein, dafs der vorgestellte Urteilsinhalt nicht wahr und gesichert ist, aus dem Bewufstsein entschwindet, auch zu Urteilen werden.\nUnd wenn Mkixong einwendet, ein so \u201erascher Uberzeugungswechsel\u201c sei gegen die Erfahrung, so scheint er mir dabei den ganzen Umfang dessen, was die Empirie in bezug auf den Kampf widerstreitender Urteile in uns zeigt, nicht gen\u00fcgend \u00fcberblickt und durchforscht zu haben. Ich erinnere an den Kampf unserer wissenschaftlichen Ansichten \u00fcber die Aufsenwelt einerseits und des instinktiven Glaubens an den Sinnenschein anderseits, welch letzterem wir sofort wieder zum Opfer fallen, wenn jene kritischen Erw\u00e4gungen und Urteile schweigen und zur\u00fccktreten.\n1 Ich nenne dies exakter gesprochen; denn man kann ja hier nicht eigentlich von dem Gegeben sein der Wahrheit des Schlufssatzes mit dem der Pr\u00e4missen sprechen, da eben das Eine und Andere nicht Tatsache sondern nur hypothetische Fiktion ist. Die hier gegebene Einsicht ist kein positiver sondern ein negativer Satz.","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n47\nAber ob nun das \u201eAngenommene\u201c blofs vorgestellt oder vor\u00fcbergehend auch geglaubt werden m\u00f6ge, jedenfalls haben wir an der sog. \u201erelativen Evidenz\u201c des Schlufssatzes in Wahrheit gar keine Evidenz dieses \u201eAnnahmesatzes\u201c selbst vor uns, sondern evident ist das Urteil, dafs die Falschheit des Schlufssatzes und die Wahrheit der Pr\u00e4missen unvertr\u00e4glich sei, dafs das eine mit dem anderen nicht zusammen bestehen k\u00f6nne.\nWas endlich den sprachlichen Ausdruck f\u00fcr die Gedanken, deren Natur uns hier besch\u00e4ftigt, betrifft, so ist bekannt, dafs das zuletzt erw\u00e4hnte Urteil \u00fcber die Abfolge gerne in die sog. hypothetische Form gekleidet wird, und so geschieht es nicht selten, dafs an die Stelle der ganzen Aufforderung : Nehmen wir an, es sei AB, so folgt, dafs A ist u. dgl. eine hypothetische Fassung tritt. Aber es liegt dann eben f\u00fcr die Wenn-so-Formel ein Funktionswechsel und nicht ihr eigentlicher und normaler Sinn vor. Noch weniger kann man sagen, der Sinn der Formel sei unnat\u00fcrlich, wo nicht ein sog. \u201eAnnahmeschlufs\u201c ausgedr\u00fcckt ist. Wenn ich sage : Falls es morgen regnet, wird X mich besuchen, so ist dies, meine ich, doch ein Beispiel eines nat\u00fcrlichen und normalen hypothetischen Satzes. Aber wird hier eine Folgerung aus einer Annahme gezogen? Gewifs nicht. Ebensowenig soll der Nachsatz als Folge an den Vordersatz gekn\u00fcpft sein, wenn der sog. Satz der Identit\u00e4t in die Form gebracht wird : Wenn A ist, ist es.\nWie die Dafs-Formel und \u00e4hnliche syntaktische F\u00fcgungen, so hat auch die Wenn-Formel mannigfache Bedeutungen. Manchmal ist sie blofs eine Aussage (entweder eine einfache \u2014 dies wohl seltener \u2014 oder eine zusammengesetzte) und dies scheint mir ihr nat\u00fcrlichster Sinn. Es wird gesagt, dafs etwas nicht ohne ein anderes sei oder sein k\u00f6nne. Eine andere, \u00fcbertragene, ist die einer Wunschformel: Wenn ich doch sterben k\u00f6nnte usw. t Und ebenso die einer Aufforderung zur Folgerung aus gewissen Annahmen, statt: Nehmen wir an usw.1\n\u00a7 15. Was ist aber endlich von den Annahmen in Spiel und Kunst zu halten?\nMeinong betont (S. 44), die gr\u00f6fsten Schauspieler h\u00e4tten \u00fcber\n* Und wie der hypothetische Satz durch Funktionswechsel diese Bedeutung erhalten kann, so kann aber auch umgekehrt die Formel : Nehmen Sie an usw. nur ein rhetorischer Ersatz f\u00fcr den schlichten Ausdruck des prim\u00e4ren Sinnes der hypothetischen Formel sein.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nA. Marty.\nBefragen Zeugnis daf\u00fcr abgelegt, dafs f\u00fcr die echte schauspielerische Kunst vor allem erforderlich sei, \u201edafs der Darsteller sich in die Lage des Darzustellenden versetze\u201c, so dafs die nat\u00fcrlichen Ausdrucksinstinkte an die Stelle \u00fcberlegter Absicht in der Anwendung der mimischen Mittel treten. Doch will er nicht leugnen, dafs auch diese \u00fcberall eine gewisse Rolle spiele, und es wohl keine schauspielerische Leistung gebe, in der nicht manches Detail durch absichtliches Erlernen erworben w\u00e4re.\nHier h\u00e4tte also auch nach Meinomg \u2014 wenn ich recht verstehe \u2014 die blofse Vorstellung des darzustellenden Charakters und der zu repr\u00e4sentierender Lage ihr Recht. Aber wo in der vorhin erw\u00e4hnten Weise an die Stelle der Routine die echte schauspielerische Kunst trete, da meint der Autor, h\u00e4tten wir es mit der Herrschaft der \u201eAnnahmen\u201c im K\u00fcnstler zu tun.\nIch antworte: Und warum nicht mit der Herrschaft von Urteilen, denen nur nicht v\u00f6llig freier Lauf gelassen sondern immer wieder durch Verstand und Erfahrung Einhalt getan und deren volles Sichauswirken durch den Einflufs widerstreitender Urteile auf Gef\u00fchle und Wille kontrariiert wird?\nDie instinktiven Ausdrucksbewegungen kn\u00fcpfen sich an Zust\u00e4nde des Interesses, und das Sich-hineinversetzen mufs also ein solcher intellektueller Zustand sein, der Gef\u00fchl und Begehrung in bestimmter Weise beeinflufst. Wenn nach der Theorie von Meinong die \u201eAnnahmen\u201c die Interesseph\u00e4nomene und Ausdrucksbewegungen eben so beeinflussen wie die Urteile, wie sollen wir glauben, dafs ihnen gar nichts von. dem Moment der \u00dcberzeugung beigegeben sei? Graduelle Unterschiede in der \u00dcberzeugung gibt es ja zweifellos, und daran kn\u00fcpfen sich auch Unterschiede im Einflufs der betreffenden Gedanken auf unsere Gef\u00fchle und Handlungen, und zum Teil \u2014 wie wir schon gesehen haben \u2014-rechnet man eben solche Unterschiede mit zu dem, was man \u00dcberzeugungsgrade nennt. Das st\u00e4rker dominierende Urteil hat gleichsam einen gr\u00f6fseren Hofstaat von anderen Urteilen und Von Gef\u00fchlen und Begehrungen um sich, die von ihm erzeugt oder beherrscht sind oder \u2014 denn es kommt nicht blofs auf die Menge sondern auch auf die Art der so beeinflufsten psychischen Zust\u00e4nde an \u2014 es beherrscht auch vorzugsweise die praktischen und folgenschweren Interessenahmen und Entschliefsungen.\nOft l\u00e4fst auch das Schwanken zwischen widerstreitenden Urteilen keines ordentlich zur Herrschaft kommen und wirft den","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n49\nMenschen anch in bezng anf seine Gef\u00fchle und Begehrungen Tuhelos hin und her. Die Folgen des einen Urteils f\u00fcr das F\u00fchlen und Wollen hemmen und paralysieren best\u00e4ndig die des anderen.\nWenn aber bei dem Sichhineinversetaen des K\u00fcnstlern sowie des H\u00f6rers und Zuschauers gar kein Urteilen, auch nicht der geringste Grad der \u00dcberzeugung und auch nicht f\u00fcr die k\u00fcrzeste Zeit, vorhanden w\u00e4re, wie k\u00f6nnten ihre \u201eAnnahmen\u201c ergreifend wirken, Tr\u00e4nen und Jubel hervorrufen, wie k\u00f6nnten sie \u201eIllusionen\u201c genannt werden?\nTolstoi findet geradezu, die Gabe des echten Dichters bestehe darin, seine Gef\u00fchle in anderen mit besonderer St\u00e4rke zu erwecken. Die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Bilder, die der K\u00fcnstler erweckt, so wie dos Wohlgefallen, das sie erwecken, wirken dahin, die dargestellte Situation in gewissen Grenzen f\u00fcr wirklich zu halten. Wir geben uns gerne dem Bch\u00f6nen Eindruck gefangen, wenn auch nur gleichsam auf K\u00fcndigung und f\u00fcr eine bestimmte Frist. Zeitweilig verl\u00e4fst uns beim \u00e4sthetischen G\u00e9nois das Bewufstsein, dafs das Dargestellte nicht wirklich ist. Aber freilich nur zeitweilig. Das zur\u00fcckgedr\u00e4ngte gegenteilige Urteil, unter Umst\u00e4nden das Bewufstsein, dafs wir es sind, welche die Illusion hervorgerufen, oder wenn dies nicht, dafs wir doch die Gr\u00fcnde gegen deren Wirklichkeit beiseite geschoben und unseren Verstand gefangen gegeben haben, h\u00e4lt die Illusion in gewissen Grenzen und zerst\u00f6rt sie wieder.\nDoch Meinong lehrt, dafs zwar auch die \u201eAnnahmen\u201c Gef\u00fchle und Begehrungen erwecken, aber nur Scheingef\u00fchle und -Begehrungen, etwas was mit wirklichen Gef\u00fchlen zwar eine gewisse Verwandtschaft habe, aber den Namen nicht eigentlich verdiene. Wie die \u201eAnnahmen\u201c ein Anerkennen und Verwerfen ohne \u00dcberzeugung, so sind nach ihm diese Scheingef\u00fchle und -Begehren solche Ph\u00e4nomene, bei denen es uns in keinem Grade und in keiner Weise Ernst ist. Solche Scheininteressen sollen durch die \u201eAnnahmen\u201c erweckt werden und die Eigent\u00fcmlichkeit der im Spiel und in der Kunst mit den bez\u00fcglichen \u201eFiktionen\u201c verbundenen Gem\u00fctserregungen ausmachen.\nAber durch dieses Novum auf dem Gebiete der Gem\u00fcts- und Willenst\u00e4tigkeit scheint mir \u2014 ich sagte es schon fr\u00fcher \u2014 die ganze Lehre nicht wahrscheinlicher sondern unwahrscheinlicher gemacht. Gef\u00fchle, bei denen uns gar nicht und auch nicht einen\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 40.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nA Marty.\nAugenblick Ernst ist, sind etwas, wovon mir meine Erfahrung schlechterdings nichts zeigen will. Wohl kenne ich einen Widerstreit und Kampf, ein abwechselndes Obsiegen und Unterliegen entgegengesetzter Stimmungen und Velleit\u00e4ten, und auch einen sehr raschen Wechsel der Art, welcher keines der widerstreitenden Interessen dazu kommen l\u00e4fst, sich zu entfalten und voll auszuwirken. Aber nur dies heilst, scheint mir, es werde mit keinem der beiden voller Ernst gemacht, oder wenn doch schliefslich eines den Sieg davon tr\u00e4gt, es sei mit dem anderen kein ganzer Emst gewesen. Video meliora proboque, d\u00e9t\u00e9riora sequor.\nDas genaue Analogon davon scheint mir auf dem Gebiete des Urteils vorzukommen. \u00dcberhaupt, und in besonders bemerkenswerter Weise bei den Fiktionen und Illusionen des K\u00fcnstlers und des f\u00fcr das \u00c4sthetische empf\u00e4nglichen Zuschauers und H\u00f6rers. Der sch\u00f6ne Schein nimmt unser Urteil gefangen, soweit nicht der Verstand und die entgegenstehende Erfahrung fortw\u00e4hrend Einsprache erheben.\nWir sind sogar von Natur geneigt, alles was uns anschaulich erscheint, f\u00fcrwahr zu halten, die Farben, die T\u00f6ne, die scheinbaren Gr\u00f6fsen und Bewegungen usw. Erst der erwachende Verstand, der das Widersprechende und Widerstreitende, worauf diese blinden Annahmen und Erwartungen f\u00fchren, verwirft, und die fortschreitende Erfahrung, machen uns zu Skeptikern. Aber soweit diese Kritik nicht best\u00e4ndig Einsprache erhebt, ertappt selbst der wissenschaftlich Gebildete sich jede Weile in bezug auf die Sinnesqualit\u00e4ten und r\u00e4umlichen Vorstellungen als naiven Realisten und in bezug auf die Bewegungen der Gestirne als Ptolom\u00e4er. Kommt nun zu diesem Instinkt, der uns in bezug auf den Sinnenschein fortw\u00e4hrend zu einem naiven Realismus zu verf\u00fchren bestrebt ist, die Freude an der Sch\u00f6nheit des Scheines hinzu, so gelingt es beiden im Vereine noch leichter die Einsprache des kritischen Verstandes zeitweilig, wie ein st\u00f6rendes Element, zur\u00fcckzudr\u00e4ngen, und so stehe ich nicht an zu sagen, dafs bei der echten Kunst\u00fcbung und dem vollen Kunstgenuss (und die erste ist ohne den letzteren und das lebendigste Gef\u00fchl f\u00fcr ihn nicht m\u00f6glich) wirklich ein Glauben an das Dargestellte vorkommt.1 Nur ist es nicht derart alleinherrschend, dafs ihm\n1 Damit stimmt es, dafs hervorragende Schauspieler von sich sagen, dafe sie ihre Rolle auf der B\u00fchne in einer Art hypnotischen Zustandes","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n51\ndie volle und dauernde Entkr\u00e4ftung der entgegenstehenden kritischen Urteile gel\u00e4nge und kommt nicht dazu, sich nach jeder Richtung und namentlich auch nicht nach der praktischen v\u00f6llig geltend zu machen. Aber dafs man sich bei der Furcht im Theater \u201egar nicht f\u00fcrchte\u201c wie Meinong sagt, scheint mir allen Tatsachen zu widersprechen.\nF\u00fcr diese unsere Auffassung der \u201eAnnahmen\u201c in der Kunst und der daran gekn\u00fcpften Gem\u00fctsbewegungen scheint mir unter anderem auch der Umstand zu sprechen, dafs das Verhalten sog. naiver Menschen gegen\u00fcber den Darbietungen der Kunst, namentlich des Schauspiels, ein anderes ist als dasjenige der Gebildeten und Kritischen. Allgemein ist bekannt, dafs bei den ersteren die sog. Illusion weit st\u00e4rker zur Wirkung kommt als bei letzteren. Offenbar weil bei jenen der, von der Lebendigkeit des Bildes und dem Wohlgefallen daran getragene, Glaube an das Dargestellte weniger vom kritischen Verst\u00e4nde gest\u00f6rt und paralysiert wird. Solche Wahrnehmungen sind oft das Erg\u00f6tzen des Nichtnaiven. K\u00fcrzlich erst las ich \u00fcber eine Volksauff\u00fchrung des Wilhelm Teil in Z\u00fcrich am 17. M\u00e4rz 1904: \u201eDas Theater hatte ein seltsames Aussehen; wo sich sonst elegante Damen und befrackte Herren manierlich gemessen bewegen, da sah man diesmal wetterharte oder von schwerer Arbeit ausdruckslos erstarrte Gesichter \u2014 linkische Gestalten, die mit Befangenheit ihre Parkett- und Logenpl\u00e4tze einnahmen. Aber ein dankbareres Publikum konnte man sich f\u00fcr die gewaltige ScmLLEEsche Dichtung nicht vorstellen. Mit welchem Enthusiasmus folgte es den Vorg\u00e4ngen auf der B\u00fchne! Wie leuchteten die Augen, wenn oben irgend ein kr\u00e4ftiges Wort ert\u00f6nte! Man sah es, dafs die Leute in dem ungewohnten Prunkraum sich beklommen f\u00fchlten, dafs sie sonst der Zustimmung durch laute Rufe Ausdruck geben, den Teil und die Eidgenossen aneifern, den Gefsler aber niederzischen w\u00fcrden. Es war so sch\u00f6n, die naive Freude zu beobachten, mit welcher das durch keine k\u00fcnstlerische R\u00fccksichten voreingenommene Volk die Vorg\u00e4nge, die sich vor ihm abspielten, aufnahm \u2014 mit welchem Jubel beispielsweise der Darsteller des Teil begriffst wurde, als er, nachdem der Vorhang \u00fcber dem toten Gefsler gefallen war,\ndurchf\u00fchren. Mit dem Schritt hinter die Kulissen h\u00f6rt dieser und die ihm eigent\u00fcmlichen Urteile auf, und es treten die der Wirklichkeit entsprechenden, die habituell stets fortbestanden haben, wieder in volle Kraft.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"62\nA. Marty.\nvor die Rampe trat. Gefsler aber tat gut, als er eich durch das Klatschen nicht verleiten liefe, sich dem Publikum zu zeigen; erw\u00e4re nicht gut aufgenommen worden. \u2014 Diese Naivit\u00e4t war k\u00f6stlich und \u2014 sie bedeutet den gr\u00f6fsten Triumph f\u00fcr die Festvorstellung der popul\u00e4rsten aller ScHiLLEBschen Dichtungen.\u201c\nHier scheinen mir mehr als Scheinurteile oder Urteile ohne jede \u00dcberzeugung im Spiele gewesen zu sein.1\nDoch wird Meinono vielleicht dem gegen\u00fcber das Zugest\u00e4ndnis machen, dafs seine \u201eAnnahmen\u201c zeitweilig in Urteile \u00fcbergehen und hinzuf\u00fcgen, eben dies sei aber leichter denkbar, ab dafs die blofse Vorstellung in ein Urteil \u00fcbergehe, weil zwischen seinen \u201eAnnahmen\u201c und Urteilen eine gr\u00f6fsere Verwandtschaft bestehe.\nAllein auch dieses letztere Argument, das der Autor wirklich gelegentlich zu seinen Gunsten geltend macht, kann ich nicht triftig finden. Da den \u201eAnnahmen\u201c gar nichts von \u00dcberzeugung eigen sein, da sie nur \u201eScheinurteile\u201c sein sollen, entsteht durch das wirkliche Urteil ebenso etwas wesentlich Neues, wie wenn an die Stelle der Vorstellung eines Urteilsinhaltes ein wirkliches Urteil tritt. Und an aller Verwandtschaft fehlt es ja auch zwischen diesen nicht. Nur bedarf Meinono im Vergleich zu uns noch eines besonderen Annahmetriebs, um zu erkl\u00e4ren, wie es zu den Annahmen im Gebiete der Kunst kommt. Aber wenn dieser Trieb die Freude am Sch\u00f6nen im weitesten Sinne sein soll, so vermag dieses selbe Motiv nicht blofs zu erkl\u00e4ren, wie wir Vorstellungen davon in uns hegen und erwecken sondern \u2014 was fr\u00fcher schon bemerkt wurde \u2014 auch dafs wir uns urteilend dem gef\u00e4lligen Schein in gewissen Grenzen gl\u00e4ubig hingeben.\nWas von der Kunst des Erz\u00e4hlers, des Dramatikers und Lyrikers und von dessen empf\u00e4nglichen H\u00f6rern gilt, das gilt aber auch schon vom spielenden Bande. Von dem M\u00e4dchen, das sich als Amme oder Hausfrau und die Puppe als Kind und\n1 Den Ausfall dieses Plus an naiver Freude deckt beim Gebildeten die Freude an der Nachahmung als solcher (man vgL \u00fcber die Wichtigkeit dieses Moments beim \u00e4sthetischen Genufa die bez\u00fcglichen Bemerkungen bei Plato und Aristoteles), sowie an der Technik deB Kunstwerks und anderem. Jedenfalls \u00bbt der \u00e4sthetische Genufs etwas ziemlich Kompliziertes und seine Erkl\u00e4rung wohl nicht bo einfach wie Meikohs hier i\u00ab glauben scheint.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Annahmen.\n5\u00bb\nals Besuch auffafst, von den Knaben, die R\u00e4uber oder Krieg u. dgl. spielen.1\nMeinong meint auch hier, es lasse sich nicht annehmen, dafs das Kind, welches so tut als ob es sich f\u00fcr die W\u00e4rterin der Puppe hielte, dies wirklich urteile d. h. glaube. Aber andererseits scheint es ihm auch zu wenig zu denken, dafs es sich um ein blofses Vorstellen jener Urteilsinhalte handle. Die richtige Mitte sei die Lehre, dafs auch hier Scheinurteile, \u201eAnnahmen\u201c, vorliegen.\nDoch als v\u00f6llig entscheidenden Beweis daf\u00fcr weifs er eigentlich nur etwas schon Bekanntes anzuf\u00fchren, n\u00e4mlich, dafs auch Negatives in diesen kindlichen Fiktionen vorkomme, wie z. B. wenn ein Knabe voraussetzt, dafs er als Siegfried unverwundbar sei u. dgl. Wir haben uns aber bereits \u00fcberzeugt, in welchem Sinne solche Negativa \u00fcber das Vorstellungsgebiet hinausf\u00fchren und nicht, und danach ist dieser Hinweis nicht zwingend. \u00dcberhaupt sehe ich beim Spiele der Kinder nirgends etwas, was sich nicht aus Vorstellungen (darunter nat\u00fcrlich auch Vorstellungen von Urteilsinhalten) und aus wirklichen Urteilen erkl\u00e4rte. Letztere sind \u2014 \u00e4hnlich wie beim K\u00fcnstler und Kunstgeniefsenden \u2014 Urteile gleichsam auf K\u00fcndigung und ohne volle Herrschaft \u00fcber die Seele.\nUnd auch hier spricht f\u00fcr unsere Auffassung der Umstand, dafs bei besonders impressionablen Kindesseelen dieser Glaube ein lebendigerer und ernstlicherer ist als bei anderen. Dafs, w\u00e4hrend in einem Fall der kritische Verstand immer wieder leicht selbst die n\u00f6tige Korrektur vornimmt und Halt gebietet, wenn die Illusion zu weit gehen will, andere Individuen durch fremde Hilfe aus dem Versunkensein in dieselbe gerissen werden m\u00fcssen um nicht einmal Schein und Wirklichkeit in verh\u00e4ngnisvoller Weise zu verwechseln. Jeder, der hier Beobachtungen macht, wird sich \u00fcberzeugen, mit welcher Leichtigkeit manche Kinder, die eine besondere Freude am Spiele entwickeln, sich in den Glauben an die bez\u00fcglichen Illusionen, z. B. an ein wirkliches Leiden und Handeln der Puppe, als deren Krankenpflegerin oder Erzieherin usw. sie sich f\u00fchlen, einleben; wie die Illusion bis zur Erzeugung von Zwangsvorstellungen Macht \u00fcber\n1 Die Spielfreude ist auch darin der \u00e4sthetischen verwandt, dafs auch sie zum Teil eine Freude an der Nachahmung ist.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nA. Marty.\ndas psychische Leben der Kleinen zu gewinnen imstande ist, und diese ganz betr\u00fcbt und b\u00f6se werden k\u00f6nnen, wenn man Zweifel an der Wirklichkeit ihrer Spielphantasien \u00e4ufsert und sich nicht auf ein denselben entsprechendes Verhalten und Handeln einlassen will.1\nSo scheinen mir denn alle wesentlichen Tatsachen, die Mei-nong f\u00fcr seine Theorie von einer neuen Klasse von psychischen Beziehungen, den \u201eAnnahmen\u201c anf\u00fchrt, auch ohne sie, ja besser ohne sie begreiflich, und darum habe ich beim Entw\u00fcrfe der Grundz\u00fcge der deskriptiven Bedeutungslehre, welche meine demn\u00e4chst erscheinenden Beitr\u00e4ge zur allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie bieten wollen, keinerlei Gebrauch von ihr gemacht.\n1 Vgl. lehrreiche Erfahrungen dieser Art, gesammelt bei J. Sullt, Untersuchungen \u00fcber die Kindheit. Deutsch 1904.\n(Eingegangen am 3. Juni 1905.)","page":54}],"identifier":"lit31958","issued":"1906","language":"de","pages":"1-54","startpages":"1","title":"\u00dcber Annahmen (Ein kritischer Beitrag zur Psychologie, namentlich der deskriptiven)","type":"Journal Article","volume":"40"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:35:27.241153+00:00"}