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{"created":"2022-01-31T16:36:46.352175+00:00","id":"lit31961","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ziehen, Th.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 40: 102-108","fulltext":[{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturberieht\nWilhelm Wundt. \u00f6rtadiige der phy\u00e4iologUcheu Psychologie. 5. v\u00f6llig um gearb. Aufl. Leipzig, Engelmann. I. 553 8. 13 M. II. 686 S. 16 M. III. 796 S. 17 M. 1902 u. 1903.\nEin knappes Jahrzehnt nach der 4. Auflage ist nunmehr die 5. Auflage des grofsen Wundts eben Werkes erschienen. Die 2 B\u00e4nde der fr\u00fcheren Auflage sind zu 3 B\u00e4nden geworden. Die meisten Abschnitte sind einer sehr gr\u00fcndlichen Umarbeitung unterzogen worden. Das Buch ist dadurch, wie W. selbst in der Vorrede bemerkt, \u201ebeinahe ein neues geworden*. Dabei beabsichtigte W. nicht sowohl eine vollst\u00e4ndige \u00dcbersicht \u00fcber die gesamte weitverzweigte Literatur der physiologischen Psychologie als vielmehr eine vollst\u00e4ndigere Darlegung und Begr\u00fcndung seiner eigenen Erfahrungen und \u00dcberzeugungen. Der Stoff ist so gruppiert, dale der 1. Band (553 S., 156 Textabbildungen) von den k\u00f6rperlichen Grundlagen des Seelenlebens und den Elementen des Seelenlebens handelt; der 2. Band (686 S., 153 Textabbildungen) bringt die Lehre von den Elementen des Seelenlebens zum Abschluls und behandelt die Bildung der Sinnes Vorstellungen; im 3. Band (796 8., 75 Textabbildungen) wird die Lehre von der Bildung der Sinnesvorstellungen zum Abschluls gebracht und die Lehre von den Gem\u00fctsbewegungen und Willenshandlungen sowie von dem Verlauf und den Verbindungen der psychischen Vorg\u00e4nge abgehandelt, aulserdem enth\u00e4lt er \u201ephilosophische Schlufsbetraclitungen\u201c.\nDer erste Band hat zun\u00e4chst ganz aufserordentlich dadurch gewonnen, dafs die der Anatomie des Zentralnervensystems gewidmeten Kapitel, welche in der 4. Auflage nicht einmal dem damaligen Standpunkt der wissenschaftlichen Anatomie entsprachen, g\u00e4nzlich umgearbeitet worden sind. In ihrer jetzigen Form entsprechen sie unseren heutigen Kenntnissen in der Tat recht gut. Ref. m\u00f6chte nur f\u00fcr die n\u00e4chste Auflage die Weglassung einiger veralteten, z. T. geradezu unrichtigen Abbildungen empfehlen. Dahin rechne ich z. B. die Fig. 42, 43, 45, 46, 50, 56, 57 u. a. Die \u00e4lteren Autoren, denen diese Abbildungen gr\u00f6fstenteils entlehnt sind, w\u00fcrden wahrscheinlich heute selbst Bedenken tragen sie zu ver\u00f6ffentlichen. Auch die sehr wenig naturgetreue Fig. 65 w\u00fcrde besser eliminiert. Ebenso ist die Fig. 73 zu beanstanden. Ganz besonders vervollkommnet ist in der neuen Auflage die Darstellung der Leitungsbahnen und der Struktur der Grofs-hirnrinde.\nNicht ganz in demselben Mals ist die Physiologie des Zentralnervensystems vom Verf. umgearbeitet worden, aber auch hier sind allent-","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Li fera turbericht.\n103\nhalben Erg\u00e4nzungen und Verbesserungen zu bemerken. Im Anschlufs an die Besprechung der Funktionen der Gro\u00dfhirnhemisph\u00e4ren hat W. jetzt einen neuen besonderen Paragraphen eingeschaltet, welcher betitelt ist \u201eBeispiele psychophysischer Analyse komplexer Gro\u00dfhirnfunktionen\u201c. Auff\u00e4llig erscheint hier, dafs W. schon dem photochemischen Vorgang in der Netzhaut als psychische Korrelaterscheinung die Licht- und Farbenempfindung zuzuweisen scheint. In diesem Paragraphen sind auch die Er\u00f6rterungen \u00fcber das \u201eApperzeptionszentrum\u201c eingef\u00fcgt. W. dr\u00fcckt sich bez\u00fcglich der Beziehungen des Stirnhirns zur Intelligenz bzw. Apperzeption jetzt sehr vorsichtig aus: es kann sich h\u00f6chstens um die M\u00f6glichkeit handeln, dafs sich in der betr. Kegion der Gro\u00dfhirnrinde gewisse Knotenpunkte von Leitungen befinden, deren Ausschaltung St\u00f6rungen von an sich zun\u00e4chst elementarer Art herbeif\u00fchrt, die sich dann in dem verwickelten Zusammenwirken der Funktionen als jene Beeintr\u00e4chtigungen der sog. \u201eIntelligenz\u201c und der zusammengesetzteren Gef\u00fchle \u00e4u\u00dfern. Die Apperzeption wird definiert als jener psychologische Vorgang, der nach seiner objektiven Seite in dem Klarerwerden eines bestimmten Bewu\u00dftseinsinhaltes, nach seiner subjektiven in gewissen Gef\u00fchlen besteht, die wir mit R\u00fccksicht auf irgend einen gegebenen Inhalt als den Zustand der Aufmerksamkeit zu bezeichnen pflegen. Vor allem nun f\u00fcr jenes Klarerwerden glaubt W. irgend welche physiologische Substrate voraussetzen zu d\u00fcrfen. Er f\u00fcgt jedoch selbst sofort hinzu: \u201eAuch erhellt ohne weiteres, dafs diese Substrate sehr wohl in einfachen, den allgemeinen Prinzipien der Nervenmecbanik konformen (Ref. w\u00fcrde noch hinzuf\u00fcgen: allenthalben in der Hirnrinde verteilten und vielleicht nicht einmal an besondere Elemente gebundenen) Prozessen bestehen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend es ein aus-sichtsloses Unternehmen sein w\u00fcrde, f\u00fcr den verwickelten Begriff der Intelligenz \u00fcberhaupt irgend welche bestimmten begrenzte physische Substrate aufzusuchen\u201c. Mit Recht lehnt W. ab, dafs das Klarerwerden z. B. einer Empfindung einfach als Intensit\u00e4tszunahme aufzufassen sei. Statt nun aber aus der R\u00fcckwirkung der an die klarerwerdende Empfindung angekn\u00fcpften Vorstellungsprozesse den eigenartigen Proze\u00df des Klarerwerdens der Empfindung zu erkl\u00e4ren, konstruiert er besondere apperzeptive Hemmungsvorg\u00e4nge und kehrt damit zu jenem bekannten Schema (Fig. 71 der 4. Auflage) zur\u00fcck. Dabei bleibt noch immer die Frage offen, warum diesen HemmungB- und Anregungsvorg\u00e4ngen eine Sonderstellung aufserhalb der Vorstellungsassoziation zugeschrieben werden mu\u00df.\nDie Elementenlehre weist wiederum zun\u00e4chst in den anatom\u00dfchen und physiologischen Vorbemerkungen zahlreiche Erg\u00e4nzungen und Berichtigungen auf. Die psychischen Ma\u00dfmethoden werden in manchen Beziehungen von W. jetzt anders dargestellt. Er unterscheidet bei der Bestimmung der Unterschiedsempfindlichkeit jetzt 4 Methoden : 2 Abstufungsmethoden (Methode der Minimal\u00e4nderungen und Methode der mittleren Abstufungen) und 2 Abz\u00e4hlungsmethoden. (Methode der mittleren Fehler und Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle.) Eine Kritik dieser Einteilung hat inzw\u00dfchen bereits G. E. M\u00fcllkk gegeben (Ergebn. d. Phys. II, 2, 1904, S. 10). Ich halte diese Kritik im allgemeinen f\u00fcr zutreffend. Auch didakt\u00dfch scheint sich mir die neue von M\u00fcllbb empfohlene Ein-","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nLiteraivr\u00e0ericht,\nteilung besser zn bewahren. Auch die mathematischen Betrachtungen wtlrden bei einer nenen Anflage wohl besser im Sinne der neuen Darlegungen G. E. M\u00fcllzbs umgestaltet. Bei der Besprechung der einzelnen Sinneegebiete sind u. a. die neuen Untersuchungen von Stratton und Fszr nachgetragen. Das Prinzip des Pendelastheeiometers hatte hier auch Erw\u00e4hnung verdient. Das auf \u00e4u\u00dferst unsichere Versuche gegr\u00fcndete r MKRKBiecbe Gesetz\u201c hatte eine kritischere Beurteilung verdient. Im \u00fcbrigen bieten die Besprechungen der Bedeutung des WxBKRschen Gesetzes vielfach neue Anregungen.\nSehr viele Bereicherungen im einzelnen finden sich im zweiten Band in der Lehre von der Qualit\u00e4t der Empfindungen. Hier mu\u00df sich Ref, da es sich nicht um prinzipielle Fragen handelt, mit diesem Hinweis begn\u00fcgen.\nDas Kapitel, welches die Gef\u00fchlselemente des Seelenlebens behandelt (S. 2\u00df3ff.), wird jetzt in sehr zweckm\u00e4\u00dfiger Weise durch eine Besprechung der \u201eMethoden der Gef\u00fchlsanalyse\u201c eingeleitet W. unterscheidet die \u201eEindrucksmethode\u201c und die \u201eAusdrucksmethode\u201c. Erstere zerfallt in die Methode der Reizvariation bei konstant bleibenden Bedingungen nnd in die Methode der Konstanterhaltung der Reize bei Variation der begleitenden Bedingungen, oder \u2014 von anderem Standpunkte \u2014 in die \u201edirekte Eindrucksmethode\u201c und die \u201eReproduktionsmethode\u201c (willk\u00fcrliche Hervorrufung von Erinnerungsvorstellungen an gef\u00fchlsbetonte Eindr\u00fccke). Der Fortschritt dieser Einteilung gegen\u00fcber der bekannten FzcHNKRschen liegt auf der Hand. S. 274 ff. wird das Instrumentarium der Ausdrucksmethoden (Sphygmograph usf.) ausf\u00fchrlich besprochen. Die Tonometer h\u00e4tten an dieser Stelle eine genauere Besprechung verdient. Hieran schliefst W. jetzt unmittelbar eine Besprechung der Grundformen der Gef\u00fchle, nm dann erst zu den einfachen Gef\u00fchlst\u00f6nen der Empfindung zur\u00fcckzukehren. Ob diese Umstellung sachlich gerechtfertigt und didaktisch zweckm\u00e4lsig ist, erscheint mir sehr zweifelhaft. Die Darstellung selbst ist dank den Arbeiten der WusDTSchen Schule im einzelnen jetzt viel exakter und vollst\u00e4ndiger geworden. Besonders bemerkenswert \u2014 auch f\u00fcr den Nicht-Zustimmenden \u2014 ist die Darlegung der allgemeinen Theorie der Gef\u00fchle. In einer etwas gezwungenen Darlegung gelangt W\u00fcndt zu seinem Satz, dafs \u201ejedes Gef\u00fchl Reaktion der Apperzeption auf das einzelne Bewu\u00dftseinserlebnis ist\u201c (S. 357). Das Gerippe seiner Deduktion ist kurz folgendes: Die Gef\u00fchle sind als subjektive Reaktionen des erlebenden BewuTstseins \u201eeinheitliche Funktionen\u201c. Die Einheit des BewuTstseins wird ihrerseits vermittelt durch jene spezifische Einheitsfunktion desselben, die in wechselnder Weise die einzelnen Bewu\u00dftseinsinhalte durch Hemmung der \u00fcbrigen zu besonderer Klarheit erhebt, d. i. durch die Apperzeption. Diese zentrale Funktion der Apperzeption ist in jedem Augenblick auch f\u00fcr den ganzen \u00fcbrigen Bewu\u00dftseinsinhalt bestimmend, indem dessen s\u00e4mtliche Elemente nach ihrem Verh\u00e4ltnis zu den apperzipierten Elementen geordnet werden. So erscheinen denn auch die an die einzelnen Bewu\u00dftseinsinhalte gebundenen Gef\u00fchle durchaus a\u00df subjektive Bestimmungen, die jedes einzelne Bewu\u00dftseins-erlebniB durch seine Einwirkung auf die Funktion der Apperzeption empf\u00e4ngt, und \u2014 in diesem Sinne ist jedes Gef\u00fchl nicht blo\u00df Reaktion des","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n105\nBewu\u00dftseins, sondern Reaktion der Apperzeption auf das einzelne Bewu\u00dft-seinserlebnis. Ich mu\u00df gestehen, dafs ich mich bei dieser Er\u00f6rterung trotz beeten Willens doch etwas scholastisch angeweht f\u00fchlte. Gibt man selbst einmal einen Augenblick die Natur der Gef\u00fchle als einheitlicher Funktionen und die Existenz einer Apperzeption als Urheberin des Klarerwerdens der Empfindungen zu, so ist doch \u00fcber den Zusammenhang der beiden damit gar nichts Tats\u00e4chliches ermittelt. Ebensowenig \u00fcberzeugend ist die Darlegung (S. 360), dafB die den Gef\u00fchlen entsprechenden physischen Begleiterscheinungen ein einheitliches Substrat bilden sollen und dafs die Aus-druckBbewegungen als Reflexe des Apperzeptionszentrums anzusehen w\u00e4ren.\nDer ausgedehnte Abschnitt, welcher die Bildung der Sinnesvorstellungen behandelt, ist etwa auf das Doppelte seines fr\u00fcheren Umfangs angewachsen. Gerade in diesem Abschnitt hat W. es meisterhaft verstanden, seine eigenen nnd fremde Erfahrungen, welche seit 1893 hinzugekommen sind, der \u00e4lteren Darstellung der 4. Auflage organisch einzugliedern. Allenthalben ist neueB eingef\u00fcgt, und doch liest sich der Abschnitt, als w\u00e4re er von Anfang an in der jetzt vorliegenden Gestalt geschaffen worden.\nIm dritten Band sei es gestattet, kurz auf den Abschnitt Gem\u00fcts-bewegungen und Willenshandlungen hinzuweisen (8.107ff.). W. hat hier in sehr zweckm\u00e4\u00dfiger Weise Er\u00f6rterungen vereinigt, welche fr\u00fcher auf verschiedene Kapitel bzw. sogar Abschnitte verteilt waren. Die Darstellung beginnt jetzt mit den Vorstellnngsgeftthlen, geht dann zu den \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen und alsdann zu den Affekten \u00fcber und schliefst hieran unmittelbar die Willensvorg\u00e4nge. Die Lehre von den Affekten hat an Klarheit erheblich gewonnen, ln der 4. Auflage (8. 602) wurden die Affekte definiert als teils unmittelbare Wirkungen der Gef\u00fchle auf den Verlauf der Vorstellungen teilB R\u00fcckwirkungen dieses Verlaufs auf das Gef\u00fchl. Damit war in der Definition eigentlich der Gef\u00fchlscharakter des Affekts halb verloren gegangen. Jetzt heifst es (8. 210) viel zweckm\u00e4\u00dfiger: die Affekte \u201esetzen sich einerseits aus Gef\u00fchlen zusammen und gehen andererseits unter bestimmten Bedingungen in Willensvorg\u00e4nge \u00fcber\u201c. Sie sollen sich von den einfachen Gef\u00fchlszust\u00e4nden nicht nur durch die Verbindung wechselnder Gef\u00fchle zu einem \u201eGef\u00fchlsverlauf\u201c, sondern in der Regel auch durch die gr\u00f6\u00dfere St\u00e4rke der Gef\u00fchle unterscheiden. Es liegt auf der Hand, da\u00df diese neuere Darstellung meiner Ableitung der Affekte aus Irradiationen der Gef\u00fchlst\u00f6ne sehr viel n\u00e4her steht als die \u00e4ltere Darstellung. Auch die weitere Definition der Affekte (8. 211 Mitte) h\u00e4lt diesen Fortschritt fest; a\u00df Genus proximum wird wieder angegeben \u201eForm des Gef\u00fchlsverlaufe\u201c. Sehr dankenswert ist im folgenden auch die genauere Darstellung mancher Ausdrucksbewegungen der Affekte. Der \u00e4u\u00dferlichen Zusammenstellung der Affekte und der Willensvorg\u00e4nge in e i n e m Abschnitt entspricht auch eine innere Ann\u00e4herung dieser beiden psychischen Prozesse in der neuen Darstellung der W\u00fcNDrschen Lehre. Die Willens Vorg\u00e4nge glaubt Wundt allgemein definieren zu k\u00f6nnen als \u201eAffekte, die durch ihren Verlauf ihre eigene L\u00f6sung herbeif\u00fchren\u201c (8. 246). Setzt man an Stelle der Affekte in dieser Definition \u201eaffektbetonte Vorstellungen\u201c, so entfernt sie sich gar nicht mehr so sehr weit von der WillenBauffassung der Assoziationspsychologie. Wundt selbst bezeichnet seine Willenstheorie","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nLiteraturbei-icht,\nentsprechend der oben angegebenen Definition als die \u201eemotionale\u201c. Damit verschiebt sich auch die Beziehung der Apperzeption zu den Willensvorg\u00e4ngen etwas. Besonders wichtig ist in dieser Beziehung die Auseinandersetzung auf S. 307 der neuen Auflage. Die elementare Form eines Willensvorganges, heilst es hier, ist die Apperzeption eines psychischen Inhalts. Die Apperzeption wird aufgefafst als ein einfacher Willens Vorgang (\u201eprimitive Willenst\u00e4tigkeit\u201c der 4. Auflage 3. 667). Wer hiermit unbefangen die Darstellung der 4. Auflage vergleicht, in welcher sich die Apperzeptionslehre noch vor der Beschreibung der Willensvorg\u00e4nge, wie sie tats\u00e4chlich ablaufen, eindr\u00e4ngte (S. 662 ff.), wird der jetzigen Darstellung schon, weil sie das Tats\u00e4chliche und das Hypothetische sch\u00e4rfer scheidet und ersteres vorausschickt, weitaus den Vorzug geben.\nDer Abschnitt \u201eVerlauf und Verbindungen\u201c der seelischen Vorg\u00e4nge weist in seinen ersten, vorzugsweise theoretischen Auseinandersetzungen wenig Neuerungen auf. Die etwas eingehendere Erl\u00e4uterung, welche W. S. 333 von dem Unterschied zwischen aktiver und passiver Apperzeption gibt, bedeutet keine Modifikation seiner Auflassungen, sondern erleichtert nur ihr Verst\u00e4ndnis. Auch auf die S. 341 angegebene Zerlegung des Auf-merksamkeits- oder Apperzeptionsvorgangs sei in dieser Beziehung aufmerksam gemacht. Derselbe soll in folgende Teilvorg\u00e4nge zerfallen:\n1.\tKlarheitszunahme einer bestimmten Vorstellung oder Vorstellungsgruppe verbunden mit dem f\u00fcr den ganzen Prozefs charakteristischen T\u00e4tigkeitsgef\u00fchl,\n2.\tHemmung anderer disponibler Eindr\u00fccke oder Erinnerungsbilder,\n3.\tmuskul\u00e4re Spannungsempfindungen mit daran gebundenen das prim\u00e4re Gef\u00fchl verst\u00e4rkenden sinnlichen Gef\u00fchlen,\n4.\tverst\u00e4rkende Wirkung dieser Spannungsempfindnngen auf die Empfindungsinhalte der apperzipierten Vorstellung durch assoziative Miterregung.\nLeider hat W. hierbei unterlassen auseinanderzusetzen, warum jenes Klarerwerden sub 1 und jene Hemmung sub 2 nicht einfach zu erkl\u00e4ren ist aus dem Wechselspiel der assoziativen Erregungen, durch welches schliefslich nur an eine unter den gleichzeitigen Empfindungen eine Vorstellung (Erinnerungsvorstellnng im W\u00fcNDTSchen Sinn) assoziiert wird, welch letztere nun ihrerseits durch R\u00fcckwirkung jenes eigenartige Klarerwerden der Empfindung bedingt, zu dessen Erkl\u00e4rung W. die Apperzeption heranzieht.\nDie Ber\u00fccksichtigung der Tachistoskopuntersuchungen ist sehr dankenswert.\nAus den folgenden Kapiteln sei nur die sehr umfassende Darstellung der Reaktionsmessungen hervorgehoben. Vielfach teilt W. hier Versuche aus seinem eigenen Laboratorium mit, welche z. T. noch nicht ver\u00f6ffentlicht sind. Zugleich hat er die Theorie der Reaktionszeiten und Reaktionsweisen in bedeutungsvoller Weise weiter ausgebaut. Hierin d\u00fcrfte die wesentlichste Neuleistung der 5. Auflage liegen. F\u00fcr eine Berichterstattung an dieser Stelle ist kein Raum. Es sei nur kurz auf die Analyse der \u201enat\u00fcrlichen Reaktionsweise\u201c an der Hand von Streuungskurven (S. 420ff.) hingewiesen.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n107\nDer Abschnitt \u201eKomplexe intellektuelle Funktionen\u201c ist etwas heterogen zusammengesetzt ; im einzelnen bringt er manche neue Tatsachen und Gedanken.\nTotal umgestaltet und ansehnlich erweitert sind die Schlufs-betrachtungen. Sie zerfallen jetzt in zwei Kapitel \u201eNaturwissenschaftliche Vorbegriffe der Psychologie\" und \u201ePrinzipien der Psychologie\u201c. Auch bez\u00fcglich des jetzigen erkenntnistbeoretischen Standpunkts Wcndts sind sie von grofsem Interesse. W. setzt zun\u00e4chst die logischen Grundlagen der Naturwissenschaft auseinander. Der Gesichtspunkt logischer Verkn\u00fcpfung gegebener Erfahrungsinhalte, welcher f\u00fcr jede Wissenschaft kennzeichnend ist, findet zun\u00e4chst im Prinzip des Erkenntnisgrundes seinen allgemeinsten Ausdruck. \u201eUnterformen\u201c dieses Prinzips sind die kausale und die teleologische Verkn\u00fcpfung der Erscheinungen (8. 682). Der letzteren wird etwa die gleiche Berechtigung wie der ersteren zugestanden. Auf dem Gebiet der Lebenserscheinungen kommt der Gegensatz der beiden Unterprinzipien als Mechanismus und Vitalismus zur Geltung ; in dem gleichen erkenntnis-theoretischen Gegensatz sollen jedoch nach Wctndt auch die physikalischen Grundanschauungen der Mechanik und Energetik wurzeln. Auf die verf\u00fchrerische historische Darstellung, welche Wundt zur Begr\u00fcndung dieser letzten These gegeben hat, kann hier nur hingewiesen werden; beweisend ist sie durchaus nicht, die moderne Energetik hat als solche mit dem teleologischen Prinzip gar nichts zu tun. Dabei kann nicht verschwiegen werden, dafs W. dem teleologischen Prinzip eine von der gew\u00f6hnlichen etwas abweichende Fassung gibt (\u201er\u00fcckw\u00e4rts gerichtete Betrachtung kausaler Zusammenh\u00e4nge\u201c), welche durch ihre Unbestimmtheit eben jene \u00dcbertragungen erst erm\u00f6glicht. Die weiterhin folgenden sehr anfechtbaren Auseinandersetzungen \u00fcber Kausalit\u00e4t und Teleologie psychophysischer Lebensvorg\u00e4nge sind in der letzten Auflage nur angedeutet gewesen, sie entsprechen aber den bekannten, in Wundts anderen Werken niedergelegten Anschauungen so sehr, dafs ihre Besprechung hier nicht geboten erscheint Die folgenden Auseinandersetzungen \u00fcber den Begriff der Seele weichen von den entsprechenden der 4. Auflage (daselbst Bd. II, S. 626 ff.) im einzelnen hier und da betr\u00e4chtlich ab. Es sei hier nur gestattet auf die Bemerkungen 8 . 775 hinzuweisen. W. scheint jetzt doch \u2014 nicht ganz im Einklang mit fr\u00fcheren Meinungs\u00e4ufserungen (Philos. Stud. 10, S. 46 u. 80) -zuzugestehen, dafs es keinen elementaren seelischen Vorgang, also keine Empfindung und keine subjektive Gef\u00fchlserregung gibt, der nicht ein physiologischer Prozefs oder vielmehr bereits ein Komplex physiologischer Prozesse parallel geht. Leider gibt W. nicht ausdr\u00fccklich an, ob die in seiner fr\u00fcheren Arbeit erw\u00e4hnten \u201eWertbestimmungen\u201c auch zu den subjektiven Gef\u00fchlserregungen geh\u00f6ren. Ein psychisches Reservatgebiet schafft aber W. doch wieder, indem er \u2014 wie \u00fcbrigens auch Bchon fr\u00fcher \u2014 wenigstens die Frage aufwirft, ob auch den Verbindungen der psychischen Elemente physiologische Verbindungen entsprechen. Er kommt zu dem Ergebnis (8. 777), dafs \u201esich die zusammengesetzten psychischen Gebilde mindestens um eine Stufe mehr von ihren physiologischen Korrelatvorg\u00e4ngen entfernen\u201c. Das klingt schon fast an die Assoziationspsychologie an: nur die StufeI? Sollten nicht doch auch bei diesen noch nicht ganz","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nLiterahirberickt.\nanerkannten physiologischen Verbindungen unsere Assoziationsfasern eine gr\u00f6fsere Rolle spielen, als W\u00fckdt selbst jetzt zugesteht? Jedenfalls sind diese Schlufser\u00f6rterungen jetzt allenthalben vorsichtiger ausgefallen als in der 4. Auflage.\n\u00dcberblickt man die neue Auflage im ganzen, so ist jedenfalls ein erstaunliches Werk geschaffen, wahrscheinlich das vollkommenste Denkmal der W\u00fcNDTSchen Psychologie. Im einzelnen waren als die Hauptfortschritte bzw. -Ver\u00e4nderungen gegen\u00fcber der letzten Auflage hervorzuheben: die Verj\u00fcngung des anatomisch-physiologischen Teils, die aufserordentliche durchg\u00e4ngige Bereicherung der tats\u00e4chlichen Darstellung und wohl auch eine etwas weitergehende Verschiebung der WunDTSchen Willenstheorie in der Richtung der emotionalen Auffassung sowie scbliefslich eine vorsichtigere erkenntnistheoretische Interpretation der psychophysischen Beziehungen.\tTb. Zibbst (Berlin).\nG. E. M\u00fclxsh. Die Geilchtspukte ud die Tatsachen der psychophytlachea Methodik. Ergebnisse der Physiologie von G. Asbbb und K. Sputa II (2), S. 1\u2014244. Wiesbaden 1904.\nGem\u00e4fs dem Ziele, das sich das AsHaa-Spiaosche Unternehmen steckt, den einzelnen Gebieten der Physiologie eine \u201eoriginale, kritische und lehrhafte Zusammenfassung\u201c nach ihrem gegenw\u00e4rtigen Stande zuteil werden zu lassen, mufste dasselbe trachten auch von der psychophysischen Methodik, einem der wichtigsten aber auch schwierigsten Kapitel, eine monographische Darstellung zu erhalten. Dafs zur L\u00f6sung dieser Aufgabe der G\u00f6ttinger Psychophysiker der Berufenste war, unterliegt keinem Zweifel; nicht als historischer Berichterstatter steht er dem Problemenkreis der psychophysischen Methodik gegen\u00fcber, sondern als Einer, der schon in der klassischen Epoche Fbchbbbs den t\u00e4tigsten Anteil an ihrer Ausbildung genommen und fortan unerm\u00fcdlich an deren kritischer Vertiefung und Weiterentwicklung arbeitet. Die auf solche Weise erworbene Vertrautheit mit allen Einzelheiten des Gebietes erm\u00f6glicht es ihm aus der Masse des Vorhandenen das Wichtige und Wesentliche auszulesen; der nur etwas ferner Stehende w\u00fcrde Gefahr laufen, allein schon durch die enorme Literatur erdr\u00fcckt zu werden und schon darum den Blick f\u00fcr das Wesentliche zu verlieren.\nEine \u201ezusammenfassende und zugleich kritische \u00dcbersicht \u00fcber alle Verfahrungsweisen und Gesichtspunkte, die seit dem Auftreten Fbcbkbbs in diesem Gebiete zutage gekommen sind, zu geben unter gleichzeitiger Heranziehung aller derjenigen Versuchstatsachen, welche geeignet sind, \u00fcber die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Verfahrungsweisen und die Bedeutung der mittels derselben zu gewinnenden Resultate gewisse Auskunft zu geben\u201c \u2014 das ist die Aufgabe, wie G. E. M\u00fcllbb sie sich gestellt hat. Die so gesteckten Grenzen \u00fcberschreitet er aber \u00fcberall dort, wo der bisherige Bestand L\u00fccken aufweist, die ausgef\u00fcllt werden m\u00fcssen, wenn \u201eein gewisser Abschlufs der psychophysischen Methodik\u201c erreicht werden soll \u2014 denn dies ist das letzte Ziel seiner Arbeit.\nWenn ich \u00fcber diese im Folgenden berichten will, so mufs ich voraus-schicken, dafs die \u00e4ufserst knappe und konzise Darstellung des Verf.s ein","page":108}],"identifier":"lit31961","issued":"1906","language":"de","pages":"102-108","startpages":"102","title":"Wilhelm Wundt: Grundz\u00fcge der physiologischen Psychologie. 5. v\u00f6llig umgearb. Aufl. Leipzig, Engelmann. I. 553 S. II. 686 S. III. 796 S. 1902 u. 1903","type":"Journal Article","volume":"40"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:36:46.352180+00:00"}