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{"created":"2022-01-31T16:34:34.848925+00:00","id":"lit31973","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lohmann, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 40: 187-195","fulltext":[{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"187\n\u00dcber den Wettstreit der Sehfelder und seine Bedeutung f\u00fcr das plastische Sehen.\nVon\nDr. W. Lohmann\n(Assistent an der kgl. Universit\u00e4ts-Augenklinik in M\u00fcnchen.)\nGew\u00f6hnlich findet man das als Wettstreit der Sehfelder bekannte Ph\u00e4nomen so definiert: die stereoskopische Vereinigung zweier ungleichartiger Sehfelder ruft ein Schwanken der Aufmerksamkeit hervor, so dafs bald dieses bald jenes Sehfeld ins Bewufstsein tritt ; es findet sich in allen den F\u00e4llen, wo die Eindr\u00fccke beider Sehfelder so geeigenschaftet sind, dafs sie eine Vereinigung zur Form der Anschauung k\u00f6rperlicher Objekte nicht zulassen (von Helmholtz). Wheatstone machte als erster auf den Wettstreit der Sehfelder aufmerksam, von dessen Art und Weise man sich leicht \u00fcberzeugen kann, wenn man etwa folgende Figuren (sie sind Panums Monographie : \u00fcber das Sehen mit zwei Augen entlehnt) mit einem BREWSTERsehen Linsen-Stereoskop betrachtet.1\nFig. 1.\nGeorg Hirth (Aufgaben der Kunstphysiologie) meint, diese Schwankungen k\u00f6nne er nur als auffallende, extreme Ph\u00e4nomene\n1 In folgendem soll nur von dem Wettstreit der Konturen, nicht aber von dem der Farben und den Erscheinungen des stereoskopischen Glanzes die Rede sein.","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nW. Lohntunn.\neines ganz regelm\u00e4fsigen Vorganges erklicken. \u201eSorgf\u00e4ltige Beobachtung,\u201c so f\u00e4hrt Hiuth fort \u201emufs, wie ich glaube, zu der \u00dcberzeugung f\u00fchren, dafs der Wettstreit ein fortw\u00e4hrender ist.\u201c\nDa ich einige Beobachtungen gemacht zu haben glaube, die den Wettstreit der Sehfelder nicht nur in den Ausnahmef\u00e4llen des Versuchs erkl\u00e4ren, wo im Stereoskop zwei v\u00f6llig verschiedene Gesichtsfelder zur Vereinigung gebracht werden, sondern die auch zeigen, dafs im gew\u00f6hnlichen Leben fortw\u00e4hrend jener Wettstreit statthat; und da ferner diese Beobachtungen eine neue Ansicht \u00fcber die Ursache des k\u00f6rperlichen Sehens meines Erachtens nach geben, so m\u00f6chte ich sie im folgenden kurz mit teilen.\nFixiere ich in einem Abstand von etwa 2 m einen Punkt der mir gegen\u00fcberliegenden Wand (etwa die Blume eines Tapetenmusters) mit einem Auge so, dafs auf den blinden Fleck desselben Auges ein kleines Bild f\u00e4llt, das ich also demgem\u00e4fs nicht wahr-nehme, und \u00f6ffne nun das andere Auge, ohne mich zu bewegen, und ohne den fixierten Punkt einen Augenblick nur zu verlassen, so sehe ich zun\u00e4chst das Bild auf der Wand erscheinen. Jedoch nicht f\u00fcr lange ; nach einer Weile verschwindet es und es kommt wieder. Es findet also ein Wettstreit der Sehfelder statt; zun\u00e4chst tritt jenes in das Bewufstsein, in welchem das Bild nicht an der Stelle des blinden Flecks sich befindet und sodann das andere.\nIm Vorhinein will ich bemerken, dafs zu allen Versuchen nicht nur eine gewisse \u00dcbung, sondern vor allem Geduld uner-l\u00e4fslich sind f\u00fcr die Beobachtung dieser Erscheinung. Dies liegt einmal an der Schwierigkeit \u201eunsere Aufmerksamkeit zu einer genaueren Analyse der Erscheinungen des indirekten Sehens festzuhalten\u201c (von Helmholtz), und sodann an der Schwierigkeit, unsere Augen im Fixieren st\u00e4t zu halten. Die Ursache davon, dafs wir die Augen niemals l\u00e4ngere Zeit unbewegt lassen, deutet Helmholtz so, dafs er meint, unserer Psyche wohne ein eigent\u00fcmlicher Bewegungstrieb inne, der das Auge antreibe, die Stelle des deutlichsten Sehens, sobald sie den eben fixierten Punkt begriffen hat, einem benachbarten Punkt zuzuwenden. Auch konnte du Bois-Reymond (Zeitschr. f\u00fcr Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. 2) nachweisen, dafs beim Blick durch das Stereoskop immer kleinste Bewegungen des Auges nachweisbar sind. \u2014 In diesen beiden Umst\u00e4nden sind, wie gesagt, Schwierigkeiten gegeben, die zun\u00e4chst durch \u00dcbung und Geduld \u00fcberwunden werden m\u00fcssen, damit","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Uber den Wettstreit der Sehfelder und seine Bedeutung etc.\n189\njener Versuch, den ich eben mitteilte, gelingt. Folgender Versuch gelingt schon leichter:\nMan Betze sich so in einiger Entfernung (etwa 1\u20142 m) von seinem Fenster, dafs die senkrechte Leiste der Fenstermauer mit verdecktem linken bzw. rechten Auge ein Fenster eines etwa Strafsenbreite entfernten Hauses dem einen Auge verdeckt, dem anderen frei gibt. Nun fixiere man einen Punkt im Rahmen der Fenstermauer, etwa ein Thermometer, ohne seine Aufmerksamkeit vom daneben gelegenen bewufsten Fenster des gegen\u00fcberliegenden Hauses zu lenken. Man wird alsbald ein Gehen und Kommen jenes Fensters bemerken.\nAllerdings darf man nicht bei der Versuchsanordnung das betreffende Fenster selbst fixieren, sondern einen daneben gelegenen Punkt. Denn im Schwanken, im Wettstreit der Sehfelder ist zwischen fixiertem Punkt und Peripherie ein bedeutender Unterschied festzustellen.\nBehufs Entscheidung der Frage : besteht zwischen peripherem Gesichtsfeld und Fixationspunkt ein Unterschied im Verhalten des Wettstreits? stellte ich folgenden Versuch an.\nIch befestigte zur Seite einer etwa 30 cm langen, 4 cm im Durchmesser z\u00e4hlenden Pappr\u00f6hre ein weifses Kartenblatt in einer Entfernung von 25 cm vom Auge. Nun blickte ich mit dem einen Auge dureh die R\u00f6hre und mit dem anderen auf das Kartenblatt; es w\u00e4hrte nicht lange und ich hatte die Empfindung als ob die R\u00f6hre, durch die ich schaute, mitten durch das Kartenblatt ginge. Durch die R\u00f6hre betrachtete ich den Giebel des R\u00fcckgeb\u00e4udes eines meinem Fenster gegen\u00fcber liegenden Hauses. Dort kr\u00f6nt den First des verj\u00fcngten Dachstuhls eine Muschel; unten im Giebel befindet sich das medaillonartige Relief eines Augustinerm\u00f6nchs. \u2014 Nun legte ich auf das Kartenblatt einen Bleistift und zwar so, dafs, w\u00e4hrend ich selbst die Muschel des Giebels unentwegt fixierte, er das M\u00f6nchmedaillon bedeckte. Bald konnte ich im peripheren Sehen den M\u00f6nch, bald den Bleistift wahmehmen.\nNicht aber, wenn ich den M\u00f6nch fixierte und auf ihn den Bleistift legte. Ich sah beide; zwar trat in schwankenderWeise ein St\u00e4rkerwerden bald der Konturen des Bleistiftes und bald des M\u00f6nchs hervor, aber immer sah ich beide durcheinander, ohne dafs das eine Bild, wie im peripheren Sehen, dem anderen gewichen w\u00e4re.","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nIV. Lolimann.\nMan mufs sieh h\u00fcten, bei der Variation dieses Versuches ein nahegelegenes Objekt zu w\u00e4hlen, welches der Psyche interessanteres bietet als das entfernte. Denn dann wird im Moment, wenn das nahe Objekt sich in der Flut des Wettstreites befindet, akkommodiert und konvergiert, und es ger\u00e4t dabei unmerklich der gew\u00e4hlte fixierte Punkt auf eine neben der Macula gelegene Retinalpartie,\nDafs im fixierten Punkt zwei verschiedene, den einzelnen Augen unter gewissen Bedingungen dargebotene Objekte sich \u00fcbrigens durchdringen und unter- und durcheinander erscheinen, ist eine Tatsache, die schon dem alten Mikroskopiker Hook im 17, Jahrhundert bekannt war. Herr Prosektor Dr. B\u00f6hm machte mich darauf aufmerksam, dafs, wenn man in die H\u00f6he des Objekttisches eines Mikroskops ein weifses Blatt bringt und dieses mit dem freien rechten Auge betrachtet, w\u00e4hrend man mit dem linken Auge in den Tubus des Mikroskops schaut, man mit dem Bleistift auf dem Papier die Konturen des im Mikroskop gesehenen Objektes umfahren kann.\nWie nun aber sollen wir die Tatsache, dafs der Wettstreit der Sehfelder im Punkte des deutlichsten Sehens nur angedeutet stattfindet, erkl\u00e4ren?\nIch m\u00f6chte auf die klinisch bekannte Tatsache hinweisen, dafs bei Hemianopsie, die durch eine Affektion des Okzipitallappens hervorgerufen ist, der Fixationspunkt nicht wie das \u00fcbrige halbe Gesichtsfeld mit in den Ausfall hinein begriffen ist Von Monakow kam auf Grund seiner Experimente zu der Ansicht, dafs die Makulafasem im Gegensatz zu den peripheren Netzhautganglienzellenfasern im corpus geniculatum externum sich gegen mehrere Zellen dieser Gruppe auf splitterten, so dafs von dort an zur Hirnrinde eine weit gr\u00f6fsere, fast eben so grofse Leitung f\u00fcr die Macula wie f\u00fcr die peripheren Ganglienzellen sich f\u00e4nde. Da nun in allen Versuchen der Wettstreit der Sehfelder nicht ein augenblicklicher ist, sondern ein allm\u00e4hlicher; da er in einem Teil des betreffenden Sehfeldes schon beendet ist, wenn er im anderen anhebt, so ist also die Stelle des deutlichsten Sehens stets im Bewufstsein vertreten. Wenn auch ihre Eindr\u00fccke schw\u00e4cher und licht\u00e4rmer werden als die des in der Flut des Wettstreites sich befindenden Sehfeldes, so werden sie doch nie v\u00f6llig verschwinden. \u2014 F\u00fcr die anatomische und pathologische Auffassung der Makulaverbindung","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Wettstreit der Sehfelder und seine Bedeutung etc. 191\nzum Grofshirn w\u00fcrde der eben mitgeteilte Versuch die physiologische Tatsache erbringen.\nEhe ich diese Beobachtungen f\u00fcr eine Auffassung der Ursachen des plastischen Sehens verwenden m\u00f6chte, sei es mir gestattet, noch ein paar Beobachtungen mitzuteilen, die f\u00fcr das k\u00f6rperliche Sehen und f\u00fcr das Sehen im Stereoskop mir besonders interessant zu sein scheinen.\nIch sitze im Wald und fixiere die Mitte eines Baumschaftes, der f\u00fcr mein rechtes Auge einen dahinter stehenden Baumstamm zur H\u00e4lfte frei l\u00e4fst, f\u00fcr mein linkes Auge jedoch verdeckt. Nach einer Weile tritt (bei gleich bleibender Fixation) der zweite Baum hinter dem fixierten hervor und verschwindet.\nWenn ich mit dem BaEWSTEEschen Linsenstereoskop in folgender Figur einen Punkt der Linie a scharf fixiere und dabei\nFig. 2.\ndem Abstand der Linien a und b meine Aufmerksamkeit schenke, so kann ich im stereoskopischen Bilde der abgeschnittenen Pyramide ein Auseinanderweichen und Sichn\u00e4hern beider Linien beobachten.\nEbenso kann man beim Blick durch das Stereoskop ein Hiu-und Hersichbewegen, eine Parallaxe der Umgebung des fixierten Punktes beobachten, wenn man das Auge unentwegt einen Punkt fixieren l\u00e4fst und dabei aufmerksam deren Umgebung betrachtet. Besonders g\u00fcnstig in dieser Beziehung ist das stereoskopische Bild N 33 in der Schrift von Go. Hikth: das plastische Sehen als Rindenzwang. Fixiere ich hier den Kopf des zu hinterst stehenden M\u00e4dchens, zugleich aufmerksam die hinter dem rechten Arm des M\u00e4dchens befindliche Spange betrachtend, so bemerke ich, wie diese sich teils ellbogenw\u00e4rts bewegt, teils wiederum zur H\u00f6he der Schulter tritt. \u2014 Dais \u00fcbrigens die Anschauung des K\u00f6rperlichen nicht nur durch beid\u00e4ugiges Sehen vermittelt wird, wird einem klar, wenn man ein stereoskopisches Bild durch das Stereoskop betrachtet und dabei kurz abwechselnd bald das linke,","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nTF. Lohinftnii\nbald das rechte Auge schliefst ; die Anschauung des K\u00f6rperlichen geht nicht verloren.\nWenn in fr\u00fchester Jugend der Mensch sich einem k\u00f6rperlichen Gegenst\u00e4nde gegen\u00fcber befindet, so tritt er hin\u00fcber und her\u00fcber und betrachtet ihn von zwei verschiedenen Seiten. Dabei befafst er den Gegenstand mit seinen H\u00e4nden und braucht lange Zeit, bis ihm der Begriff des K\u00f6rperlichen im gegebenen Fall klar wird.\nNicht so der erwachsene Mensch. Er hat in seinem Erinnerungslager eine Menge durch das Tasten erworbene Empfindungen aufgespeichert ; sie werden nur hier und da durch die Tastempfindung aufgefrischt und verbessert. Durch assoziative T\u00e4tigkeit treten sie mit den Gesichtseindr\u00fccken sofort zusammen und vermitteln die Anschauung des K\u00f6rperlichen. Bei der Menge der ihm zu Gebote stehenden Erinnerungsbilder der Gesichtseindr\u00fccke hat der erwachsene Mensch nicht mehr n\u00f6tig, her\u00fcber und hin\u00fcber den Kopf zu neigen ; ihm gen\u00fcgt die Distanz beider Augen 1 als verschiedener Standpunkt, von dem aus die Psyche den Gegenstand von hier und da aus betrachtet. \u2014 Wende ich irgend einem Gegenstand mein Interesse zu, so ist der BewegungB-apparat der Augen so einge\u00fcbt, mir diesem Gegenstand gegen\u00fcber die Stellen des deutlichsten Sehens beider Augen zu bringen. Die Psyche hat also die F\u00e4higkeit, die Augen etwas ihr Auff\u00e4lliges fixieren zu lassen. Die Vermittlung der Eindr\u00fccke des deutlichsten Sehens ist permanent; bei ihnen findet kein Schwanken oder nur ein untergeordnetes statt, das dazu noch durch die Tatsache, dafs die Stelle des deutlichsten Sehen des anderen Auges dasselbe Bild vermittelt, v\u00f6llig ausgeschaltet wird. Und nun findet in der Umgebung dieses fixierten, d. i. mit\n1 Dafs bei den Saugetieren (Pferd, Elephant, Hirsch, Antilope, Gemse) ein scharfes Erkennungsverm\u00f6gen der Tiefenunterschiede vorliegt, ist eine bekannte Tatsache. Dies liegt einmal daran, dafs die Augen dieser Tiere besonders grofs sind (Leuckart), ferner an der gr\u00f6fseren Pupillardistani (R. Berlin), die um ein zwei- bis dreifaches die des Menschen \u00fcbertrifft. Je weiter die Retina sich hinter der Linse befindet, um so gr\u00f6fser wird dss Bild der Gegenst\u00e4nde auf ihr. Wenn also hierdurch bedingt wird, dafs die r\u00e4umliche Entfernung der Gegenst\u00e4nde in den beiden Netzhauten eine bedeutende Zunahme erf\u00e4hrt, wird durch die gr\u00f6fsere Pupillardistanz eine durch den Wettstreit der Sehfelder bedingte ausgedehntere Parallaxe der nicht eingestellten Punkte hervorgerufen.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Uber den Wettstreit der Sehfelder und seine Bedeutung etc.\n193\ngr\u00f6fster Aufmerksamkeit betrachteten Punktes ein Wettstreit der beiden Sehfelder statt, der die Erscheinungen der Parallaxe (negative P., wenn es sich um Gegenst\u00e4nde vor dem fixierten Punkt, positive P., wenn es sich um Gegenst\u00e4nde hinter dem fixierten Bild handelt) hervorruft. Sie treten zu dem Eindruck der Stelle des deutlichsten Sehens kommentierend hinzu und vermitteln den Eindruck des K\u00f6rperlichen. Die durch den Wettstreit der Sehfelder bedingte Parallaxe ist eine pendelnde; und nur sie, nicht aber die progrediente, die sich bei der Bewegung unseres K\u00f6rpers einstellt, bedingt die Anschauung des K\u00f6rperhaften.\nDer DovKsche Funkenversuch scheint mir recht im Einklang mit dieser eben vorgetragenen Theorie zu stehen. Wie Dove zeigte, kommen wir auch zur Anschauung des K\u00f6rperlichen eines beid\u00e4ugigen Gesichtseindruckes, wenn wir ihn bei elektrischer Funkenbeleuchtung, d. i. im Bruchteil einer Sekunde, erblicken. Wir wenden im Geist nach stattgehabtem Eindruck einem Punkte des geschauten Bildes unsere Aufmerksamkeit zu, und durch Bewufstseinst\u00e4tigkeit wird bald die durch dieses, bald durch jenes Auge vermittelte Umgebung des Punktes hinzugesellt; wir kommen zur Anschauung des K\u00f6rperlichen.\nNat\u00fcrlich gibt es aufser dem Wettstreit noch andere Kriterien, die f\u00fcr das plastische Sehen und die Tiefenempfindung in Betracht kommen, so namentlich die Innervationsgef\u00fchle der \u00e4ufseren Muskeln und der Akkommodation, die Femqualit\u00e4ten des Lichtes und, wie oben hervorgehoben, die durch Erfahrung erworbenen, teils dem Gesichtssinn, teils den anderen Sinnen entlehnten Erinnerungsbilder der einzelnen Gegenst\u00e4nde. Den gew\u00f6hnlich unbewufst erfolgenden Wettstreit der Sehfelder und die durch ihn bedingte scheinbare Parallaxe der Gegenst\u00e4nde vor und hinter dem fixierten Punkt m\u00f6chte ich als die Hauptbedingung des k\u00f6rperlichen Sehens auffassen.\nDafs der Wettstreit der Sehfelder zentralen Ursachen seine Entstehung verdankt, ist klar; denn w\u00e4re er ein Erm\u00fcdungsph\u00e4nomen der Netzhaut, wie k\u00e4me es dann, dafs in regelm\u00e4fsiger Folge, wenn das eine Sehfeld auf der Flut des Streites sich befindet, das andere in der Ebbe steht?\nZur Erkl\u00e4rung des Zusammenkommens des Wettstreits der Sehfelder hat Hikth schon an den Versuch von v. Helmholtz erinnert, dafs ein vom Auge zum Hinterhauptlappen geleiteter\nKeilschrift f\u00fcr Psychologie 40.\t13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nVI\u2019. Lohmann\nStrom die Empfindung dunkel, ein in umgekehrter Richtung ver laufender jedoch die Empfindung hell hervorruft, und auf die M\u00f6glichkeit verwiesen, dafs der Wettstreit der Sehfelder eine Funktion der im Optikus verlaufenden zentrifugalen Nerven fasern sei.\nAls Wheatstone auf Grund seiner \u00dcberlegung und Beoli achtung, dais das dem einen Auge sich bietende Bild nicht v\u00f6llig mit dem anderen sich decke, das erste Stereoskop erfand stand er im bewufsten Gegensatz zu der hergebrachten Annahm\u00ab der Identit\u00e4t der einzelnen Netzhautpunkte. Bb\u00fccke versucht\u00ab durch seine Theorie \u00fcber das k\u00f6rperliche Sehen die Lehre von der Identit\u00e4t der Netzhautpunkte zu retten. Er meinte, beide Augen w\u00e4ren in fortw\u00e4hrender Bewegung und ihre Konvergenz schwanke so hin und her, dafs die jeweiligen Bilder einer Ebene auf kongruente Netzhautpartien fielen. Die Schwankungen der Blickrichtungen f\u00e4nden statt, ohne dafs sie empfunden w\u00fcrden durch dieses Schwanken w\u00fcrde also bewirkt, dafs alle Punkit einmal durch den Wechsel der Scharfeinstellung auf identische Punkte der Netzhaut gebracht w\u00fcrden.\nAuf andere Weise lehnte Pan\u00fcm an die Identit\u00e4tslehre au. indem er nicht von identischen Punkten sprach, sondern meinte, dafs jedem Punkt der einen Netzhaut ein Empfindungskreis der anderen entspr\u00e4che.\nModifiziert wurde diese Theorie von Hering. \u201eDas Doppel-auge ist von vorne herein so organisiert, dafs korrespondierende L\u00e4ngsreihen von Elementen bei gleichzeitiger und gleichartiger l\u00e4nger dauernder Erregung ihre Eindr\u00fccke als gerade vertikal\u00ab Linien in einer und derselben frontalen Ebene erscheinen lassen die paarweise Erregung nicht korrespondierender, sog. disparater L\u00e4ngsreihen von Elementen erzeugt hingegen Eindr\u00fccke vor oder hinter jener Ebene. Nasaldisparate Linien vermitteln den Eindruck ferner, temporaldisparate Linien vermitteln den Eindruck n\u00e4her\u201c (Tschebmak).\nHering erkl\u00e4rt das k\u00f6rperliche Sehen so: Befinden sich vor dem fixierten Punkt Gegenst\u00e4nde, so erscheinen sie in gekreuzten, befinden sie sich hinter dem fixierten Punkt, so erscheinen sie in gleichnamigen Doppelbildern. Die Weite der Doppelbilder, deren Sch\u00e4tzung, ohne dafs wir dessen bewu\u00dft werden, vom Muskelgef\u00fchl \u00fcbermittelt wird, gibt uns den Grs 1 der Entfernung vor bzw. hinter dem fixierten Punkt.","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Wettstreit der Sehfelder und seine Bedeutung etc. 195\nBez\u00fcglich der Doppelbilder erlaube ich mir als letztes die Mitteilung folgenden Versuches: Ich betrachte auf einer in einer Entfernung von etwa 3 m mir gegen\u00fcberliegenden Wand einen dort befindlichen Gegenstand, beispielsweise eine Uhr, und halte einen Finger etwa 50 cm so vor meinem Auge, dafs f\u00fcr das rechte Auge die Uhr rechts, f\u00fcr das linke Auge die Uhr links vom Finger sich befindet. Jetzt fixiere ich scharf den Finger; dabei sehe ich zun\u00e4chst die Uhr in Doppelbildern; aber nicht lange. Bald sehe ich sie links, bald rechts des Fingers, und umgekehrt: fixiere ich scharf einen Punkt der Uhr, so sehe ich bald rechts bald links den Finger. Sehr sch\u00f6n kann man den Versuch folgendermafsen variieren: man h\u00e4ngt einen kleinen Ring etwa 30 cm vor einer Wand auf, an welcher sich ein kleines Kreuz auf gleichfarbiger Unterlage befindet. Nun setzt man sich 1 m vor den Ring und zwar so, dafs bei ein\u00e4ugiger Pr\u00fcfung einmal das Kreuz innerhalb des Rahmen des Ringes, das andere Mal aufserhalb sich befindet. Jetzt fixiert man einen Punkt des Ringes: man wird zun\u00e4chst das Kreuz in Doppelbildern sehen; einmal befindet es sich innerhalb, einmal aufserhalb des Ringes. Bald aber gewahrt man ein deutliches Verschwinden und Wiedererscheinen des Kreuzes in abwechselnder Weise.\nDiese letzte Beobachtung w\u00fcrde also die von Hebing f\u00fcr seine Theorie des k\u00f6rperlichen Sehens angenommenen Doppelbilder als durch den Wettstreit der Sehfelder entstandene parallaktische Verschiebungen kennzeichnen; negative Parallaxe w\u00fcrde dem Nasaldisparat, positive Parallaxe w\u00fcrde dem Temporaldisparat entsprechen. Wir h\u00e4tten also mit dieser Beobachtung eine Br\u00fccke von der nativistischen Anschauung, d. i. jener Anschauung, nach welcher der Netzhaut bestimmte Ordnungswerte innewohnen, geschlagen zur empiristischen Auffassungsweise, nach welcher die Beurteilung auch der von den beiden Augen gelieferten Seheindr\u00fccke lediglich zentralen Organen zukommt.\n(Eingegangen am 15. August 1905.)\n13*","page":195}],"identifier":"lit31973","issued":"1906","language":"de","pages":"187-195","startpages":"187","title":"\u00dcber den Wettstreit der Sehfelder und seine Bedeutung f\u00fcr das plastische Sehen","type":"Journal Article","volume":"40"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:34:34.848931+00:00"}