Open Access
{"created":"2022-01-31T16:33:22.862129+00:00","id":"lit32016","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Giessler, Carl Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 39: 294-313","fulltext":[{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nDas Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung der Ich-Kontroverse.\nVon\nDr. Cabl Max Giessleb1 in Erfurt.\nInhalt.\n1. Das Wiedergewinnen der dem Ich bekannten Inhalte als Grundtendenz der tr\u00e4umenden Seele. 2. Verdichtung, Verbildlichung und Endophasie als spezielle Mittel der Vermehrung der psychischen Energie. 3. Das Regulierungsgef\u00fchl im Denkorgan als Kern des Ichgef\u00fchls. 4. Einf\u00fcgung des als Ich Empfundenen in eine Situation bzw. Konstruktion des Traumleibes. 5. Der materielle und formelle Inhalt des Traum-Ich. 6. Das Unter-bewufste und Traumbewufste als Stufen der Wiedergewinnung des Ich. 7. Das \u00dcberindividuelle im Traume. 8. Kritische Beleuchtung der Bemerkungen Ziehens \u00fcber die Auffassung des Ich durch Avenabi\u00fcs und Schuppe.\n1. Jedes Individuum hat das Bestreben, denjenigen Zustand \u00e4ufserer Anpassung und innerer Gestaltung sich zu erhalten, welcher f\u00fcr seine Existenz der zutr\u00e4glichste ist, und welcher daher auch seinem Charakter am meisten entspricht, und es sucht diesen seinen Gleichgewichtszustand, sein gewohntes Niveau wiederzugewinnen, sobald es aus demselben verdr\u00e4ngt wird. F\u00fcr uns Menschen erfordert' dieser Gleichgewichtszustand nicht allein ein gesundes Funktionieren unserer K\u00f6rperorgane, sondern auch\n1 Von demselben Verfasser: Aus den Tiefen des Traumlebens. Halle 1890. Die physiologischen Beziehungen der Traum Vorg\u00e4nge. Halle 1896. Die Grundtatsachen des Traumzustandes. Allgemeine Zeitschrift fflr Psychiatrie Bd. 58.\t1901. Analogien zwischen Zust\u00e4nden von Geistes-\nkrankheit und den Tr\u00e4umen normaler Personen. Ebenda Bd. 59. 1902.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 295\nein gesundes Seelenleben, wozu auch eine geordnete Denkt\u00e4tigkeit geh\u00f6rt. Das Denken, das Operieren mit Vorstellungen als den seelischen Residuen fr\u00fcherer Erlebnisse erleichtert dem Menschen den Kampf ums Dasein, denn es macht eine nochmalige Kenntnisnahme von ihm bereits bekannten Dingen, eine Wiederholung von bereits gewonnenen Erfahrungen \u00fcberfl\u00fcssig und bietet somit auch einen Ersatz f\u00fcr Aktionen, welche als Vorversuche neuen Aktionen vorausgehen m\u00fcfsten. Im Schlafzustande bedarf das Individuum des Denkens nicht mehr. Doch selbst in diesem Zustande h\u00f6rt die Seele nicht auf zu funktionieren, wenn auch nur in schwacher Ann\u00e4herung an die Gepflogenheiten des wachen Lebens. Zu solcher Annahme werden wir durch R\u00fcckschl\u00fcsse gen\u00f6tigt, welche in den eigentlichen Traumvorg\u00e4ngen ihren Ausgangspunkt nehmen. Oft n\u00e4mlich sind wir uns zu Beginn eines Traumes sogleich einer bestimmten Situation ganz und voll bewufst : Gewohnte Umgebungen tauchen sogleich mit genauer Wiedergabe ihrer Einzelheiten vor unserem geistigen Auge auf, gewohnte Ereignisse vollziehen sich, oder wir glauben uns in gewohnter Verrichtung begriffen. Hierzu kommt bisweilen noch das Gef\u00fchl, dafs wir soeben etwas durchlebt haben, und dafs der Traum die Fortsetzung einer Begebenheit bildet, deren erster Teil sich bereits vorher abspielte. Ja sogar schon vor dem Erscheinen der Traumbilder haben wir manchmal ein sporadisches Aufblitzen von etwas Gegenst\u00e4ndlichem. Alles dies w\u00fcrde nicht m\u00f6glich sein, wenn nicht schon im Unterbewufsten die Dispositionen, auf welchen die Vorstellungskreise des Traumes beruhen, bereits angeregt und bis zu einem gewissen Grade nach den Mustern vom Tage her zusammengeordnet worden w\u00e4ren, und wenn diese Komplexe von Vorstellungsdispositionen nicht schon entsprechende Eindr\u00fccke hinterlassen h\u00e4tten, d. h. wenn sie nicht bereits bis zu einem gewissen Grade psychisch aufgefafst worden w\u00e4ren, allerdings in einem Bewulstsein, welches das Niveau des Traumbewufstseins nicht erreicht. Also bereits im Unterbewufsten mufs eine gewisse Vorarbeit geleistet worden sein, gleichsam eine latente Denkarbeit, auf welche nachher das in Bildern sich spiegelnde Denken des Traumes bezug nimmt. Die von der organisierenden T\u00e4tigkeit automatisch geleistete Vorarbeit kann so bedeutend werden, dafs das auf Grund der nachher im Traume zur Geltung gelangenden objektivierenden Tendenz sich entz\u00fcndende Bewulstsein nur als","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nCarl Maas Qiet\u00e7icr.\nein Epiph\u00e4nomen erscheint. Namentlich in denjenigen F\u00e4llen, in welchen dem Auftauchen des Traumbildes eine Art D\u00e4mmerzustand, gleichsam eine Traumd\u00e4mmerung, vorhergeht, w\u00e4hrend dessen eine allm\u00e4hliche Erstarkung des Bewufstseins stattfindet, erreicht der Effekt der organisierenden T\u00e4tigkeit einen h\u00f6heren Grad. Die Gruppierung der Dispositionen, auf welchen die Vorstellungen basieren, ist dann besonders weit vorgeschritten. \u2014 Auch w\u00e4hrend des eigentlichen Traumes sucht das Seelische noch weiterhin seine St\u00fctze darin, dafs es f\u00fcr seine Traumgem\u00e4lde vorherrschend Eindr\u00fccke von den Tagen vorher verwendet, und zwar solche, welche verm\u00f6ge ihrer gr\u00f6fseren Energie geeignet sind, die relativ h\u00f6here Form des Traumbewufstseins wach zu halten. Hierher geh\u00f6ren die gewohnten Vorstellungskreise des wachen Lebens und die an den Tagen vorher aufgefrischten, ferner die affektiv betonten und die durch bestehende physiologische Reize energischer angeregten. Das Seelische ist bestrebt, recht viel Bekanntes und Erprobtes wiederzufinden. In diesem Sinne erfolgen bisweilen selbst schon nach stattgehabt\u00ab-Festsetzung der Traumsituation nachtr\u00e4glich Verschiebungen und \u00dcberf\u00fchrungen von falsch angebahnten Konstellationen in gewohnte. Wie sehr die Seele darauf ausgeht, sich an Erprobtes zu halten, zeigt sich u. a. in den Forcierungen auf sprachlichem Gebiete. Dieselben verraten sich in dem Haschen nach dem Gebrauche klangvoller Wortverbindungen und bedeutungsvoll klingender Redensarten. Der Tr\u00e4umende gebraucht sie, weil ihnen eine innigere Beziehung zur Wirklichkeit und darum gr\u00f6fsere Zuverl\u00e4ssigkeit inne zu wohnen scheint (vgl. mein \u201eTraumleben\u201c, S. 188ff.).\n2. Zu den speziellen Mitteln, die seelische Energie k\u00fcnstlich zu vermehren, geh\u00f6rt f\u00fcr das Unbewufste die sog. Verdichtung. Die Analyse vieler Tr\u00e4ume zeigt n\u00e4mlich Ann\u00e4herungen oder sogar Vereinigungen und Verschmelzungen von Elementen, welche zu den energiereichsten der den Tr\u00e4umen zugrunde liegenden Vorstellungskreise geh\u00f6ren, der Assoziationszentren, wie wir sie genannt haben, d. h. derjenigen Vorstellungen, welche als St\u00fctzen, gleichsam als Pole der einzelnen Vorstellungskreise fungieren.1 Und eine genauere Untersuchung l\u00e4fst erkennen,\n1 Freud r\u00e4umt der Verdichtung ein noch gr\u00f6fseres Wirkungsfeld ein. Vgl. Freud, \u00dcber den Traum. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. VIII. 1901.","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 297\ndafs die Verdichtung sich mit Vorliebe auf \u00e4hnliche Vorstellungen erstreckt oder auf solche, welche \u00e4hnlichen Vorstellungskreisen angeh\u00f6ren. Solche \u00e4hnliche Vorstellungen werden h\u00e4ufig zur Deckung gebracht, wobei ein \u00dcbertragen von Elementen der einen auf die andere stattfindet. Auch energiereiche, nicht \u00e4hnliche Assoziationszentren werden in der genannten Weise zusammengef\u00fchrt. Hierdurch entsteht eine gewisse Verworrenheit innerhalb der Traumgem\u00e4lde, dies um so mehr, wenn diese Zentren nicht demselben Assoziationskreise, sondern verschiedenen, namentlich heterogenen entstammen, eben weil sie einen Teil der ihnen assoziierten Vorstellungen in das Traumgem\u00e4lde mit hineinzuziehen pflegen, welcher dann gegen die \u00fcbrigen Teile derselben kontrastiert. (Genaueres \u00fcber die Assoziationsverh\u00e4lt-nis6e des Traumes in meinem \u201eTraumleben\u201c Kap. 8 u. 9.) Im allgemeinen bildet das Unterbewufste die Werkst\u00e4tte f\u00fcr Verdichtungen, w\u00e4hrend im eigentlichen Traume die gr\u00f6fsere Energie der Vorstellungen der Vereinigung bzw. Verschmelzung heterogener Elemente hinderlich ist. \u2014 Im eigentlichen Traume gelangen zwei weitere automatische Vorg\u00e4nge zur Geltung, welche ebenfalls im Sinne der Energievermehrung wirken, die Verbildlichung und das innere Sprechen. Die Gewohnheit der Seele, Farben und anschau bare K\u00f6rperformen beim Vorstellen zu Hilfe zu nehmen, geh\u00f6rt aller Wahrscheinlichkeit nach in die Periode des Urmenschen, in jene Zeit, wo der Mensch zur Bildung komplizierterer Vorstellungen vorw\u00e4rts schritt. Durch diese Verkn\u00fcpfung wurde es dem Urmenschen erst m\u00f6g\u00fcch, solche Vorstellungen festzuhalten und voneinander zu unterscheiden. Und durch die gemeinsame Bezugnahme auf den Gesichtssinn konnten die verschiedenartigsten Vorstellungen und Empfindungen erst einheitlich zueinander in Beziehung gesetzt werden. Noch heutzutage finden wir Personen, bei denen jenes nunmehr l\u00e4stige Begleiten des Vorstellens durch farbige Gebilde und durch Bilder von K\u00f6rpern verschiedenster Gestaltung sich als Atavismus erhalten hat. Aber auch der normale Mensch wird bei genauer Beobachtung finden, dafs sich ihm beim Denken und Reden fortw\u00e4hrend abgerissene Teile von Bildern gesehener Gegenst\u00e4nde, Situationen, Ereignisse und Handlungen aufdr\u00e4ngen, welche jedoch von \u00e4ufseren Reizen \u00fcbert\u00f6nt werden. Im Traumzustand kommt diese automatische T\u00e4tigkeit der Verbildlichung viel leichter zur Entwicklung. Ja, das Traumbewufstsein findet","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nVarl Max Gi&suler.\nan diesen Bildern seine wesentlichste St\u00fctze und weniger zugleich an f\u00fchlbaren Organempfindungen wie im Wachen. Ere\u00bb durch die Verbildlichung erlangt das Vorstellen gr\u00f6fsere Festigkeit und Kontinuit\u00e4t. Eine seltenere Rolle spielt bez\u00fcglich der Energievermehrung das \u00dcbergreifen der mobil werdenden Vorstellungsdispositionen in das Sprachliche, das endophasische Ph\u00e4nomen. Wir finden, dafs mitunter zu Beginn eines Traumes in uns ein Wort oder ein in Worte gefafster Gedanke mobil werden, welche uns veranlassen, eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Ereignis als in der Entstehung, Entwicklung oder im Abschlufs begriffen vorauszusetzen, nach dieser Richtung hin zu suchen und das Erscheinende zu apperzipieren. Das \u201einnere Wort\u201c wirkt also in solchen F\u00e4llen im Sinne der Befestigung und Verst\u00e4rkung der jeweilig angebahnten Vorstellungskreise. In den meisten F\u00e4llen ordnet sich allerdings im Traume der sprachliche Mechanismus dem Gedankenmechanismus nicht ein. Daher der viele sprachliche Unsinn! (Vgl. meine \u201eTraumphysiologie\u201c, S. 28 ff.)\n3. Als seelische Residuen der Anpassungen des Individuums enthalten die Vorstellungen aufser den sensiblen Elementen auch motorische. Und man mufs annehmen, dafs schon beim Wiederaufleben der Dispositionen jenes Anpassen zwischen Sensorischem und Motorischem beginnt, welches bei \u00e4ufseren Anschauungen zur h\u00f6chsten Entwicklung gelangt. Dafs so auch im Unter-bewufsten bei Anregung der sensorischen auch die motorischen Dispositionen wirklich mitaufleben, ergibt sich aus der Tatsache, dafs gleich zu Beginn vieler Tr\u00e4ume auch die r\u00e4umliche Gruppierung den gewohnten Verh\u00e4ltnissen des wachen Lebens entspricht Demnach findet bereits im Unterbewufsten des Schlafzustandes ein Anpassen zwischen sensorischen und motorischen Dispositionen statt, allerdings wahrscheinlich nur ansatzweise. In vielen F\u00e4llen bleibt es unvollkommen, und der Traum zeigt nachtr\u00e4glich diese Unvollkommenheiten. Auf diese Weise bestehen also schon vor Beginn des Traumes entsprechend der Zahl der ihm zugrunde liegenden Vorstellungskreise eine Anzahl unabh\u00e4ngig voneinander auftauchender Anpassungsfelder, deren Inhalte allm\u00e4hlich durch die organisierende Funktion zusammengefafst werden.\nBeim Erscheinen des Bewufstseins hebt Bich ein Teil des unterbewufst Angepafsten als anschauliches Bild, gleichsam als Kernbild des zum Bewufstsein Kommenden ab, in anderen F\u00e4llen","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 299\nein noch nicht genau lokalisierter Reiz ohne ein entsprechendes Bild, sie werden zu Erzeugern des Nicht-Ich, richtiger des Gegen-Ich, denen das Regulierungsgef\u00fchl im Denkorgan, welches vom Tr\u00e4umenden als ein ihm bekanntes Gef\u00fchl empfunden wird, als Kern des Ich gegen\u00fcbertritt. Im Unterbewufsten ist dieses Gef\u00fchl der Verarbeitung seelischer Inhalte noch nicht explizite vorhanden, obwohl, wie wir sahen, bereits eine Art von Empfindung f\u00fcr das Vorhandensein gewisser dem Individuum bekannter Inhalte vorhanden sein mufs. Eine \u201eEntbindung\u201c des Ich vollzieht sich erst dann, sobald das Nervensystem die F\u00e4higkeit gewinnt, mit Hilfe des Bewusstseins einerseits die Regulierungsempfindungen, andererseits die Empfindungen f\u00fcr die zu regulierenden Faktoren, n\u00e4mlich f\u00fcr Reize und Vorstellungen, aus dem Gesamtempfindungsbereiche gleichsam herauszul\u00f6sen, d. h. sie als Besonderheiten zu unterscheiden. Auf die erstgenannten Empfindungen gr\u00fcndet sich das Ichgef\u00fchl, auf letztere das Gef\u00fchl f\u00fcr eine objektive Traumwelt. Wir sehen also auch hieraus, dafs das Ich ohne das Be-wufstsein nicht m\u00f6glich ist, und dafs mit dem Erscheinen des Bewufstseins auch das Ich alsbald hervortreten mufs. Wie sklavisch im Traume das Ich vom Gegenich aus wach gehalten wird, konnte ich deutlich in einem meiner Tr\u00e4ume beobachten, w\u00e4hrend dessen einer meiner Arme, welcher sich zuf\u00e4llig aufser-halb der Bettdecke befand, von der im Zimmer herrschenden K\u00e4lte getroffen wurde. Mir tr\u00e4umte, ich vern\u00e4hme die Stimmen von Verstorbenen im Zimmer neben mir und in der Zwischenwand, von Geistern, welche mir Vorw\u00fcrfe machten. Dabei hatte ich die Empfindung, als ob mir di\u00e8 entsprechenden Vorstellungen fortgesetzt durch den unbedeckten Arm zugef\u00fchrt w\u00fcrden. Offenbar wirkte hier der K\u00e4ltereiz auf die Bewegungen in meinem Denkorgan, er hielt meine vorstellende T\u00e4tigkeit f\u00fchlbar wach und beeinflufste als Erstarrungsreiz auch die F\u00e4rbung der herangezogenen Gedanken.\n4. Mit dem Auftreten des Ichgef\u00fchls beginnt sogleich die Einreihung des als Ich Empfundenen in eine Situation bzw. die Konstruktion des Traumleibes.\nZu der automatischen Vorarbeit des Unterbewufsten kommt jetzt die Apperzeptionsarbeit als neuer Faktor hinzu. Sie bewirkt eine mehr oder weniger geschickte Vereinbarung unter den Elementen der unterbewufsten Anpassungsfelder, indem sie","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nCarl Max Gia&ler,\ndarauf ausgeht, dabei vorherrschend solche Elemente miteinander zu verbinden, welche sich gegenseitig nicht hemmen, sondern nebeneinander bestehen k\u00f6nnen, also solche, welche mit dem Einheitsgef\u00fchl des Individuums zusaramenstimmen, und welche sich zu m\u00f6glichst verst\u00e4ndigen Traumbildern zusammenf\u00fcgen lassen. So z. B. kann der K\u00f6rper jeweilig nur mit einer bestimmten Anzahl von r\u00e4umlichen Elementen in Beziehung stehen. Der Tr\u00e4umende kann sich zu ein und derselben Zeit nur in ein und demselben Raume befinden usw. Bez\u00fcglich der Konstruktion verst\u00e4ndiger Traumbilder bleibt allerdings die Apperzeptionsarbeit im Traumzustande auf einer niedrigeren Stufe zur\u00fcck, sie kommt gegen das Automatische noch zu wenig auf. \u2014 Mit dem Auftreten des Ichgef\u00fchls h\u00e4ngt zweitens auch der Beginn der Konstruktion des Traumleibes zusammen. Urspr\u00fcnglich besteht jenes Regulierungsgef\u00fchl im Denkorgan, ohne dafs das Gef\u00fchl f\u00fcr das k\u00f6rperliche Ich sogleich zum Durchbruch gelangt, d. h. der Tr\u00e4umende hat anfangs noch keine Empfindung bzw. Anschauung von der Lage und Gr\u00f6fse seines K\u00f6rpers. Dies findet sich erst allm\u00e4hlich.\nWie wenig \u00fcberhaupt das Ichgef\u00fchl im Traume durch die K\u00f6rperempfindungen mitbedingt ist, erkennt man aus der schwankenden Auffassung, welche der Tr\u00e4umende von seinem Leibe besitzt. Die Intensit\u00e4tsskala der Empfindungen des Traumleibes zeigt eine nur geringe Ausdehnung, die Empfindungskapazit\u00e4t des letzteren ist eine beschr\u00e4nkte. Denn erstens liegt die Reizschwelle im Traume h\u00f6her als im Wachen. Andererseits f\u00fcgt der Traumleib seinem Empfindungsgehalt nur Empfindungen von nicht zu hoher Intensit\u00e4t ein. Ist die Intensit\u00e4t eine zu geringe, so werden die Reizzust\u00e4nde \u00fcberhaupt nicht zu physiologischen Grundlagen f\u00fcr Empfindungen, sondern nur f\u00fcr Vorstellungen, welche in der Erzeugung bestimmter Traumfiguren sich eine entsprechende \u00e4ufsere Basis schaffen. Bemerkenswert sind die obere und untere Grenze des Kapazit\u00e4tsbereiches f\u00fcr Empfindungen, d. h. diejenigen beiden Stellen der Intensit\u00e4tsskala f\u00fcr Reizzust\u00e4nde, wo der Reiz sich in der N\u00e4he der Perzeptions- und Apperzeptionsschwelle befindet. Hat der Reiz die Perzeptionsschwelle erreicht oder befindet er sich in der N\u00e4he derselben, so besitzt die Beziehung zwischen Reiz und Empfindung bzw. Vorstellung noch nicht den n\u00f6tigen Grad von Festigkeit. Infolgedessen finden falsche Identifizierungen der","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Dax Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 301\nQualit\u00e4t des Reizzustandes und f\u00e4lschliche Verschiebungen bei der Lokalisierung der dem Reize wirklich zugrunde liegenden organischen Erregungsbasis statt. Diese Identifizierungen schwanken innerhalb des Bereiches je einer Empfindungsgattung, n\u00e4mlich der Gattung der optischen oder akustischen oder Hautreizqualit\u00e4ten oder der Qualit\u00e4ten des Geruchs und Geschmacks. \u00c4hnlich treten bei bestehenden Gemeinempfindungen Empfindungskomponenten in den Vordergrund, deren Qualit\u00e4t von der Qualit\u00e4t der Gesamtempfindung abweicht, indem die entsprechenden Vorstellungen statt auf die Gesamterregung nur auf Partialerregungen Bezug nehmen. Gelingt es andererseits einer Empfindung, die Apperzeptionsschwelle zu erreichen und somit das organische Bereich f\u00fcr umfangreichere seelische Gewebe zu affizieren, so erh\u00e4lt diese Empfindung einen unnat\u00fcrlichen Zuwachs, sie wird gleichsam zur \u00dcberempfindung, und die entsprechenden Beziehungsvorstellungen und Gef\u00fchle zeigen, dafs eine Irradiation des Reizzustandes stattgefunden hat. Wir konnten dementsprechend 3 S\u00e4tze aufstellen: Bei der Perzeption von Reizen finden im allgemeinen Qualit\u00e4tsver\u00e4nderungen und Dislokalisationen statt. Die Apperzeption einer Empfindung ist im allgemeinen mit Intensit\u00e4tserh\u00f6hungen und Irradiationen verbunden. Gef\u00fchle werden durch Apperzeption zu Affekten potenziert. (Vgl. meine Traumphysiologie\u201c, S. 8\u201415). \u00dcbersteigt eine herrschende intensive Tast- oder innere Empfindung oder das gleichzeitige Bestehen zweier Organgef\u00fchle die Adaptionsf\u00e4higkeit des Traumleibes, d. h. liegt der Reizzustand wesentlich oberhalb der Apperzeptionsschwelle, so wird nur ein Teil der entsprechenden Empfindung bzw. nur eins der beiden Organgef\u00fchle auf den Traumleib bezogen, der andere Bestandteil dagegen auf ein Sekund\u00e4r-Ich \u00fcbertragen. Wir haben die Selbst-diremption.\n5. Bewufstsein erscheint, sobald der Erregungszustand im Gehirn eine derartige Intensit\u00e4t erlangt hat, dafs das Zentro-motorische regulierend eingreift. Alles psychische Material aber, welches von dieser Regulierungst\u00e4tigkeit erfafst wird, wird dadurch zum Gegenst\u00e4nde des Bewufstseins. Speziell gestaltet sich der Gang des Perzipierens einer Reizbewegung in der Weise, dafs ein Reiz eine entsprechende zun\u00e4chst meist noch unbestimmte Vorstellung erweckt, und dafs mit Hilfe der Empfindung der an der Reizstelle sich vollziehenden motorischen Reaktionen","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nCarl Max Qimkr.\neine Pr\u00e4zisierung jener Vorstellung, d. h. eine speziellere Bezugnahme auf die Reizstelle stattfindet. Jede zum Bewufstsein gelangende Reizbewegung tr\u00e4gt so bereits die Richtung auf Lokalisierung in sich, dadurch n\u00e4mlich, dafs sie eine zentromotorische Reaktion zur Folge hat. Materialistisch ausgedr\u00fcckt k\u00f6nnte man sagen, dafs jede zum Bewufstsein gelangende Reizbewegung ihre Reizstelle mittels des Eindrucks der motorischen Reaktionen daselbst wiederzufinden, sich mit Hilfe derselben mit sich selbst zu identifizieren sucht. (Dies zur Pr\u00e4zisierung der bez\u00fcglichen Stelle in meinem \u201eTraumleben\u201c, S. 107.) Bei den unterbewu\u00dften K\u00f6rperempfindungen fallen diese Integrierungen durch speziellere motorische Empfindungen weg. Statt dessen dienen viele von ihnen als physiologische Substrate f\u00fcr Vorstellungen, f\u00fcr welche dann Erg\u00e4nzungen mit Hilfe des optischen Sinnes oder in Form von Kl\u00e4ngen gesucht werden. Also die Vorstellungsbewegungen bedienen sich anderer Erg\u00e4nzungen je nach der Intensit\u00e4t des Reizes. Auf diese Weise kann ein und derselbe unterbewu\u00dfte Erregungszustand, welcher urspr\u00fcnglich das physiologische Substrat f\u00fcr \u00e4ufsere Erscheinungen innerhalb der Traumsituation bildete, wenn er sp\u00e4ter st\u00e4rker wird, durch nachtr\u00e4gliche bewu\u00dfte Verschmelzung mit spezielleren motorischen Empfindungen das Entstehen von Vorstellungen bewirken, welche sich auf den Leib des Tr\u00e4umenden beziehen und umgekehrt. (Bez\u00fcglich der Verarbeitung der verschiedenen Arten von Reizzust\u00e4nden zu Traumillusionen vergleiche meine \u201eTraumphysiologie\u201c Kap. 1.) Je detaillierter das Motorische beim Erfassen der Traumbilder beteiligt ist, um so lebhafter und naturgetreuer sind die Tr\u00e4ume, auch je heller die Beleuchtung ist, weil im letzteren Falle die motorische Einstellung mehr ins einzelne gehen kann.\nVon den zum Bewufstsein gelangenden K\u00f6rperreizen werden, wie wir sahen, nur diejenigen als zum Traumleibe geh\u00f6rig empfunden, welchen das Zentromotorische sich direkt anzupassen vermag. In \u00e4hnlicher Weise werden auch alle diejenigen Vorstellungsverbindungen, welche dem Denken des Tr\u00e4umenden a\u00df Produkte der bewufsten Verarbeitung angepafst sind, als Gedanken des Ich aufgefafst. Von ihnen unterscheiden sich die Gedanken, welche im Traume als Reden anderer Personen zum Ausdruck gelangen, dadurch, dafs sie unvermittelt aus dem Unterbewufsten hervortreten. Sie besitzen wegen ihres Nichtangepafstseins f\u00fcr den Tr\u00e4umenden meist etwas \u00dcberraschendes.","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Be\u2019euch tun g d. Ich-Kontroverse. 303\nWie die Bestimmung des Traumleibes sich nach dem Charakter der jeweiligen Traumsituation richtet, so ist auch die Formung der Pers\u00f6nlichkeit von den jeweilig zum Bewufstsein kommenden Vorstellungskreisen abh\u00e4ngig. Auf diese Weise erscheinen leicht Ichformen fr\u00fcherer Perioden, z. B. aus der Knaben- und J\u00fcnglingszeit oder aus fr\u00fcheren Lebensstellungen des Tr\u00e4umenden. Wie geringe Festigkeit die Pers\u00f6nlichkeit des Tr\u00e4umenden besitzt, erkennt man daraus, dafs bisweilen Erlebnisse, Eigenschaften, Titel, Funktionen und Stellungen anderer Personen auf das eigene Traumich \u00fcbertragen werden. Oft erscheint man nur als allgemeines, generelles Ich. Dies gibt sich dadurch kund, dafs nur allgemeine Vorstellungen zur Verarbeitung gelangen, keine spezielleren, dem Ich vertrauten.\nDer vom Traumich wiedergewonnene Teil seines Inhalts vom wachen Leben ist ein durchaus beschr\u00e4nkter. Der Tr\u00e4umende verf\u00fcgt vorherrschend nur \u00fcber die Vorstellungen, welche an den Tagen vorher mobil gemacht worden waren und \u00fcber solche, welche zu ihnen in assoziativer Beziehung stehen.\nEbenso unvollkommen wie der materielle Inhalt des Ich im Traume ist auch der formelle.\nMit dem Erscheinen des Ich hat die Seele des Tr\u00e4umenden ihren h\u00f6chsten Regulierungsmechanismus zwar wiedergewonnen, doch sind ihre Regulierungen untergeordnet und weniger durchgreifend. Nicht allein, dafs die h\u00f6heren Regulierungsnormen des Logischen (Kausalit\u00e4t, Entweder-Oder usw.) und die des Moralischen noch zu geringe Kraft besitzen, auch speziellere Ziele, Vorstellungen, welche im Ich das Streben erzeugen, nach irgend einer Richtung hin aktiv einzugreifen, fehlen meistens. Nur der niederen Werte ist das Individuum sich bewufst und strebt dementsprechend nach Selbsterhaltung, nach Genufs und nach dem Fernhalten sch\u00e4dlicher Einfl\u00fcsse. Dirigierende Vorstellungen treten demnach in erster Linie beim Vorhandensein tiefer gehender Inkoordinationen auf, welche die Existenzfrage betreffen, also in affektiven Tr\u00e4umen und bestehen in Antizipationen der gew\u00fcnschten oder gef\u00fcrchteten Ver\u00e4nderungen. Sie \u00fcben einen gewissen Druck auf den Assoziationsvorgang aus, eine Art Attraktion und Repulsion, indem sie das Herandringen solcher Vorstellungen beg\u00fcnstigen, welche als Zwischenglieder zum Ziele hinf\u00fchrend direkt zum Vorg\u00e4nge geh\u00f6ren. Unter dem Einfl\u00fcsse dieser Attraktionen findet auch eine Potenzierung der auftreten-","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nCarl Max QiesnUr\nden motorischen Erregungen statt, im Anschlufs an welche das Eintreten des antizipierten Ereignisses sich vollzieht. Doch kann auch die Repulsion unter Umst\u00e4nden so weit gehen, dafs eine nachteilige Wendung des Traumes durch Verhindern des Ab-fliefsens der Energie nach den physiologischen Grundlagen der antizipierten Vorstellung aufgehalten, abgeschw\u00e4cht oder \u00fcberhaupt verhindert wird. Eine gewisse Direktion kommt auch dann zustande, wenn der Tr\u00e4umende einen logischen Kontrast bemerkt und demgem\u00e4fs mit den Gef\u00fchlen der \u00dcberraschung, des Staunens, der Verlegenheit erf\u00fcllt wird. Er sucht den Kontrast durch Beg\u00fcnstigung bzw. Hervorheben bestimmter Vorstellungen abzuschw\u00e4chen. In der Mehrzahl der F\u00e4lle werden allerdings solche Kontraste gar nicht bemerkt. (\u00dcber Traumlogik vgl. mein \u201eTraumleben\u201c, S. 144\u2014183.) Am meisten gestaltend wirkt der Gedanke des Vergleichens auf \u00c4hnlichkeiten hin. Unter dem Drucke dieses Gedankens werden n\u00e4mlich die zum Vergleichen gelangenden Gebilde, Personen oder Sachen, Zusehens einander immer \u00e4hnlicher. Dirigierende Vorstellungen werden dem Tr\u00e4umenden bisweilen aus dem Unterbewufsten vermittelt in Form von Zwangsvorstellungen, welche gleich zu Beginn des Traumes vorhanden sind, als Assoziationen zu vorangegangenen Tr\u00e4umen oder als Ausdruck eines Wunsches, einer Bef\u00fcrchtung, einer Neugierde, welche den Tr\u00e4umenden bereits im Wachen beherrscht hatten. In manchen F\u00e4llen sind dirigierende Vorstellungen vorhanden, welche das Erscheinen anderer Vorstellungen postulieren. Aber die bez\u00fcglichen sensorischen Ged\u00e4chtnisbilder fehlen, oder die mitbedingenden organischen Funktionssysteme befinden sich in gehemmtem Zustande. Mangeln die Ged\u00e4chtnisbilder, mittels deren die angeregten Vorstellungsgef\u00fchle sich zu Vorstellungen pr\u00e4zisieren k\u00f6nnten, so erscheinen Gegenst\u00e4nde, Personen, W\u00f6rter u. dgl., welche mit den gef\u00fchls-m\u00e4fsig antizipierten nur im Verh\u00e4ltnis der \u00c4hnlichkeit oder Ber\u00fchrung stehen. Besonders f\u00fchlbar aber werden solche Hemmungen, falls gehemmte organische Funktionssysteme bei der Erzeugung von postulierten Vorstellungen beteiligt sind, bei welchen das Motorische eine hervorragende Rolle spielt. Die zustande kommenden Innervationen weichen alsdann von den durch die motorischen Ged\u00e4chtnisbilder vorgezeichneten Mustern des wachen Lebens h\u00e4ufig ab, sie zeigen allerlei Verschiebungen. (Vgl. meine \u201eTraumphysiologie\u201c Kap. 3.) Hierbei ergab sich","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Da* Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 305\ndas Gesetz, dafs die historisch \u00e4lteren Bestandteile der organischen Funktionssysteme fr\u00fcher, intensiver und bestimmter angeregt werden als die Bestandteile neueren Datums.\nJe mehr aber gegen Morgen mit der Ann\u00e4herung an das wache Leben die intellektuellen Stimmungen an Bestimmtheit gewinnen, um so leichter treten die apperzeptiven Verbindungen zutage, welche einen g\u00fcnstigen Druck auf die Gruppierung aus\u00fcben.\n6. Im Unterbewufsten kommt es nur zur Anregung von Vor-stellungsdispositioneh, zur Gruppierung und teilweisen Verdichtung des Angeregten. F\u00fcr das Traumbewufste dagegen ist das Erheben der seelischen Vorg\u00e4nge auf ein dem Tagleben angen\u00e4hertes Niveau der Empfindbarkeit, das Objektivieren mit Hilfe der Sinnest\u00e4tigkeit, soweit diese wiedergewonnen ist, und das Zentralisieren charakteristisch. Diese Unterscheidung ist insofern nicht scharf, als die genannten unterbewufsten Operationen des Seelischen auch im Traumbewufsten weiterhin zur Anwendung gelangen, und weil andererseits auch im Unterbewufsten bereits eine Zentralisierung bis zu einem gewissen Grade stattfindet. Zutreffender w\u00fcrden wir das Unterschiedliche der beiden Be-wufstseinsformen kennzeichnen, wenn wir sagten: Im Unterbewufsten herrscht das Sammeln, im Traumbewufsten kommt noch das Spiegeln hinzu. Im Unterbewufsten existiert bereits, wie wir sahen, ein niederer Grad des Zusammenfassens, des Erfassens bestimmter Situationslagen seitens des Tr\u00e4umenden. Der Beginn des eigentlichen Traumes dagegen ist dadurch gekennzeichnet, dafs eine Einf\u00fcgung des vom Unbewufsten Gelieferten in das Sinnlich-Motorische, vor allem in das Optisch-Motorische erfolgt, womit eine motorische Vereinbarung der angeregten, aber noch voneinander getrennt bestehenden physiologisch - psychologischen Einzelkonstellationen verbunden ist, entsprechend der wiedergewonnenen Einheit des Ich. Wie geschickt die Traumphantasie es versteht, die heterogenen Vorstellungskreise des Unterbewufsten, z. B. bez\u00fcglich ihrer kutan-motorischen Elemente zu vereinbaren, ersah ich u. a. aus einem meiner Tr\u00e4ume, in welchem ich an einer sehr hohen und steilen Bergwand hinabzusteigen meinte, welche ganz glatt wie eine Holzfl\u00e4che und mit einem Netze von Bindfaden \u00fcberzogen war, an dem ich mich mit M\u00fche festhielt. Diesem Traume lagen zwei Tatsachen aus dem wachen Leben zugrunde, n\u00e4mlich erstens die Tatsache,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 39.\t20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"800\nCarl Max Oie\u00bbskr.\ndate ich tags zuvor an dem bergigen Ufer eines Flusses emporgeklettert war, und dafs ich ein d\u00fcnnes, glattes, mit einem Bindfaden verschn\u00fcrtes Paket zur Post bef\u00f6rdert hatte. Beide Vorstellungskreise, f\u00fcr welche kein Ber\u00fchrungspunkt vorhanden war, erfuhren offenbar eine geschickte Vereinbarung mit Hilfe des Zentromotorischen.\nDer Traum repr\u00e4sentiert eine \u00dcbergangsperiode, in welcher das Seelische sich seiner Hauptst\u00fctze, der optischen Verbildlichung bedient, sofern es m\u00f6glichst alle Vorstellungen und Gedanken, welche es verarbeitet, in Bildern spiegelt. Auf diese Weise gelangen auch die Variationen des Gedankenganges in den Ver\u00e4nderungen der Bilder zum Austrag, und auch ungereimte Konstellationen werden gespiegelt. Dieses Streben nach Verbildlichung geht so weit, dafs bisweilen als Repr\u00e4sentant f\u00fcr einen ganzen Vorstellungskreis ein Bild erscheint, welches diesem Vor-stellungskreise als Element angeh\u00f6rt, und dafs auch beim Denken abstrakter Begriffe der Gedanke sieh bisweilen an sinnliche Bilder anzulehnen sucht. Das Traumbewufstsein entz\u00fcndet sich gleichsam an seinen Bildern. Die Verbildlichung verr\u00e4t sich als St\u00fctze des Traumbewufstseins auch darin, dafs bei erh\u00f6hten Denkanstrengungen, zu denen der Tr\u00e4umende w\u00e4hrend seiner Tr\u00e4ume sich veranlagst f\u00fchlt oder bei Erh\u00f6hungen des Traumbewufstseins durch Affekte auch die Beleuchtung der Traumsituation sich hebt, und dafs andererseits die jeweilig verarbeiteten Gesichtsbilder bisweilen eine Vergr\u00f6fserung zeigen. Im Verh\u00e4ltnis zum Traumbewufstsein zeichnet sich das Vollbewufste dadurch aus, dafs es das Zusammenfliefsen, Verkn\u00fcpfen der Vorstellungen bis ins einzelnste reguliert. Es wird a priori auf das Gruppieren des Vorstellungsmaterials mit Hilfe festgewurzelter Normen ein gewisser Druck ausge\u00fcbt. Im Traume nimmt man meist alles so hin, wie es einem gegeben wird. Dies kann so weit gehen, dafs der Tr\u00e4umende sogar nichts Befremdliches darin findet, wenn ein Pferd ihn anredet. Das Traumbewufetsein ist eben vorherrschend ein Ph\u00e4nomen der Spiegelung.\nBei allen 3 Bewufstseinsformen findet eine Wahl statt, also auch schon in gewisser Beziehung im Unterbewufsten, nur dafs hier die \u201eWahl\u201c lediglich durch die Energie der von den Tagen vorher nach wirkenden MuBter bewerkstelligt wird. Die Wahl ist also hier noch eine physiologische.\nDas Unterbewufste repr\u00e4sentiert den embryonalen Zustand,","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 307\ndas Traurabewufste die Kindheit, dafs Vollbewufste da\u00df Mannesalto des Seelischen. Speziell der Traumzustand zeigt uns das Ichwerden: das Sichherausarbeiten des Seelischen aus dem embryonalen Zustande unpers\u00f6nlicher Empfindungen und un ausgepr\u00e4gter Vorstellungen.\n7. Zuletzt noch ein besonderer Punkt! Wir sahen, dafs im Traumzustande eine Lockerung der leiblichen und seelischen Fesseln stattgefunden hat, welche das wache Leben auferlegt. Jeder festere Zusammenhang fehlt. Das Seelische steht infolgedessen neuen Zusammenschl\u00fcssen offen. Der Zerfall des Seelischen, der R\u00fcckgang desselben auf Stufen, wo es noch inniger mit dem Organischen verflochten war, gibt die M\u00f6glichkeit des Perzi-pierens verborgener K\u00f6rperzust\u00e4nde sowie von Zusammenh\u00e4ngen, welche unerkannt von menschlicher Weisheit im Leben des einzelnen oder der ihm zugeh\u00f6rigen Gemeinschaft eine Rolle spielen. Bez\u00fcglich des ersten Punktes kennt man Beispiele von Tr\u00e4umen, welche prognostische Zeichen f\u00fcr organische Affektionen oder geistige Erkrankungen aufweisen. Und es ist zweitens nicht unm\u00f6glich, dafs sich k\u00fcnftige Ereignisse aus dem Leben des einzelnen oder der Gemeinschaft, welche auf bereits bestehenden Konstellationen beruhen, also im Keim vorhanden sind, tiefer angelegten Naturen im Traume im voraus ank\u00fcndigen. Bei den V\u00f6lkern des Altertums war dies um so eher m\u00f6glich, da hier die Einzelindividuen noch in lebhafterem, offenerem Konnex mit der Gemeinschaft standen, obwohl es nicht ausbleiben konnte, dafs durch \u00fcbertriebene Wertsch\u00e4tzung und Ausnutzung der Tr\u00e4ume neben manchem Richtigen und Brauchbaren auch viele irrt\u00fcmliche Annahmen zutage gef\u00f6rdert wurden. Der Traum zeigt uns die Produkte einer auf breitester Basis arbeitenden Phantasie. Doch nehmen seine Dichtungen am letzten Ende immer auf Tats\u00e4chliches Bezug, so dafs sie auch als prophetische Interpretationen von bereits bestehenden in das Zuk\u00fcnftige \u00fcbergreifenden Beziehungen Geltung zu gewinnen verm\u00f6gen.\n8. Werfen wir zum Schlufs von unseren Traumforschungen aus noch kurz einen Blick auf die gegenw\u00e4rtig bestehende Kontroverse \u00fcber gewisse erkenntnistheoretische Fragen betreffend die Natur des Ich und des Bewufstseins. Ziehen 1 tritt neuerdings\n1 Th. Ziehen , Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen. Diese Zeitschrift. 27. 1902. 33. 1903.\n20*","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nCarl Mas. Gitstkr,\nden bedeutendsten \u00e4lteren Vertretern der Erkenntnistheorie, zun\u00e4chst Avenarius und Schuppe , mit eigenen Anschauungen gegen\u00fcber und sucht den Nachweis zu f\u00fchren, dafs die Auffassungen jener Forscher bestimmten Irrt\u00fcmem unterworfen sind,\nBei Avenarius handelt es sich vorherrschend um Differenzen bez\u00fcglich der Definition des Ich. Er unterscheidet die volle Erfahrung, welche das Ich-Snbjekt und die Umgebung enth\u00e4lt, von der partiellen, bei welcher oft von rIch-Bezeichneten \u201c abstrahiert wird, obwohl es darin eingeschlossen ist. Diese Unterscheidung h\u00e4lt Ziehen f\u00fcr undurchf\u00fchrbar. Er wirft Avenarius vor, dafs derselbe nirgends ein \u201eklar unterscheidendes Merkmal oder eine scharfe Grenzbestimmung\u201c zwischen dem Ich-Bezeichneten und der Umgebung gegeben habe. Nach Avenarius w\u00fcrde die Grenze mitten durch das Ich-Bezeichnete hindurch gehen, denn auch ein Teil des Ich-Bezeichneten gelte als sachhaft und nur das \u201eGedankenhafte\u201c als eigentliches Ich-Bezeichnetes. Der ganze Unterschied sei bei Avenarius nur ein quantitativer, er liefe nur darauf hinaus, dafs in der Erfahrung des Ich weit mehr Erfahrungen eingeschlossen seien als etwa in der Erfahrung \u201eBaum\u201c, \u201eStein\u201c usw.\nIn seiner Kritik der Erkenntnistheorie Schuppes wendet sich Ziehen zun\u00e4chst ebenfalls gegen dessen Auffassung des Ich. Schuppe rechnet das bewufste Ich zum erkenntnistheoretischen Fundamentalbestande. Er r\u00e4umt der Icli-Synthese sogar noch die Priorit\u00e4t vor dem Tatbest\u00e4nde der Empfindungen ein. Ziehen dagegen fafst das Ich als etwas Abgeleitetes : \u201eMan kann positiv verfolgen, wie beim Kinde aus zahlreichen Empfindungen indirekt die Ich-Yorstellung sich entwickelt, aber nirgends tritt eine direkte Ich-Empfindung auf.\u201c Also nach Schuppe gibt es neben unseren Empfindungen und Vorstellungen noch ein Drittes, \u201eein sich selbst gegenst\u00e4ndlich Machen des Ich\u201c. Ziehen dagegen findet im Ich nichts weiter als zahlreiche Vorstellungen, welche in letzter Linie alle auf Empfindungen und deren Gef\u00fchlst\u00f6ne zur\u00fcckgehen: \u201eDie Ich-Yorstellung ist keine Urtatsache, sondern sie hat sich sekund\u00e4r entwickelt igewissermafsen als ein nachtr\u00e4glich ausgeschiedenes Schneckenhaus, das wir nun \u00fcberall mit uns herumtragen).\u201c \u201eEin gleichbleibendes Ich ist ebensowenig gegeben, als eine gleichbleibende Substanz dieses oder jenes Baumes.\u201c\nBeim Wiedererkennen aber und beim Aufbau unserer zu-","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 309\nsammengesetzten Vorstellungen und Urteile ist nicht das Identit\u00e4tsprinzip wirksam, sondern eine Beziehungsvorstellung. Auch ist die Identit\u00e4t ein relativ seltener Spezialfall. Verschiedenheit und \u00c4hnlichkeit, Ver\u00e4nderung und \u00c4hnlichbleiben sind die Hauptf\u00e4lle.\nDurch Ziehens Angriffe angeregt hat sich nun Schuppe 1 wieder zu einer Verteidigung seiner Lehre veranlafst gesehen. Er macht zun\u00e4chst darauf aufmerksam, dafs auch die blofsen Beziehungen, welche wir durch Abstraktion gefunden haben, etwas \u201eganz Wirkliches\u201c sind. So die Beziehungen unter etwas, die der Identit\u00e4t, Verschiedenheit, Koexistenz und Sukzession. Auch das Ich besitzt, selbst wenn man es nur als Abstraktion fafst, Wirklichkeit. Ziehen setzt an die Stelle des Ich einen Bewufstseinsinhalt, eine Anzahl ichloser, in bestimmter Weise ausgezeichneter Vorstellungen. Dann aber w\u00e4re nicht erkl\u00e4rlich, wie diese Zahl solcher Vorstellungen sich mit einem bestimmten Leibe in dem Sinne \u201edas bin ich\u201c zu identifizieren vermag. Alle Vorstellungen sind von der Ichvorstellung begleitet, jedoch steht letztere meist nicht klar und scharf im hellsten Punkte des Be-wufstseins. \u201eWenn ein Kind das W\u00f6rtchen Ich gebrauchen lernt, so mufs es dasjenige, was es bedeutet, schon vorher in sich kennen gelernt haben. Dieser Ichpunkt ist in jeder Empfindung, wenn auch nur ansatzweise, in schw\u00e4chster Potenz, mehr als Gef\u00fchl vorhanden, noch ehe die Abstraktion desselben aus vielen ihn enthaltenden Empfindungen gelungen war.\u201c Durch die Koinzidenz vieler Empfindungen in dem Ichpunkte hebt sich dieser letztere immer st\u00e4rker und lebhafter im Gegensatz zu allem Bewufstseinsinhalt hervor. Man kann daher nicht behaupten, dafs die Empfindungen und Vorstellungen urspr\u00fcnglich ichlos existieren, und dafs dann eine Zahl von ihnen das Ich w\u00e4ren oder es aus sich entwickelten.\nNach Schuppe ist das Bewufstsein von der positiven Bestimmtheit die Voraussetzung, durch welche eben erst Unterscheidbarkeit bzw. Verneinung von anderem m\u00f6glich wird.\nWie stellen wir uns nun auf Grund unserer Traumstudien zu den soeben charakterisierten Ansichten der Erkenntnistheoretiker ?\nWir fanden, dafs h\u00e4ufig unser Ich im Traume urspr\u00fcnglich lediglich aus dem Gef\u00fchle f\u00fcr die Bewegungen in unserem Denk-\n1 W. ScHcrPE, Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich. Diese Zeitschrift. 35. 1904.","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nCarl Max Qiensler.\norgane besteht. Es denkt in uns. Das sp\u00fcren wir, ohne dafi wir sogleich bestimmte Vorstellungen und K\u00f6rperempfindungen haben. Erst allm\u00e4hlich gelingt es der Denkbewegung, mobil werdende Vorstellungen zu fixieren, K\u00f6rperreize von bestimmter Intensit\u00e4t zu lokalisieren. Dieses Gef\u00fchl f\u00fcr das Vorhandensein der Denkbewegungen ist offenbar das Dritte, welches nach Schuppe neben den Empfindungen und Vorstellungen existiert. Es ist etwas Besonderes, n\u00e4mlich ein Regulierungsgef\u00fchl, ein formelles Gef\u00fchl, welches mit keinem anderen Gef\u00fchle \u00c4hnlichkeit besitzt. Es bildet den psychischen Reflex der Regulierungen, welche den Inhalt des Ich verarbeiten. Nach Schuppe wird \u201edurch eine besondere Tat die noch nicht zum Gedanken erhobene Nervenaffektion oder Empfindung ins Bewufstsein erhoben\u201c. Diese besondere Tat besteht meiner Ansicht nach darin, dafs jene gef\u00fchlsm\u00e4fsig wahrgenommenen Regulierungen die bisher unpers\u00f6nliche \u201eNervenaffektion oder Empfindung\u201c in ihren Spannungskreis hineinziehen. Dieses Regulierungsgef\u00fchl erstreckt sich auf den gesamten Inhalt des Blickfeldes, es ist f\u00fcr den Blickpunkt am st\u00e4rksten, f\u00fcr die Peripherie des Blickfeldes am schw\u00e4chsten.\nDas Regulierungsgef\u00fchl bildet offenbar den Reduktionsbestandteil des Ich. Es ist das Substantielle des Ich, das Sich-gleichbleibende desselben.\nDemnach hat auch Avenabics augenscheinlich das Richtige geahnt, als er von dem Ichbezeichneten das \u201eGedankenhafte\u201c als eigentliches Ich aussonderte. Er vermochte es nur nicht, diesen Teil des Ichbezeichneten richtig zu charakterisieren. Offenbar meinte auch er jene Regulierungsbewegungen im Denkorgan, welche sich als Ichgef\u00fchl im Bewufstsein offenbaren, und welche je nach der Stufe des Ich nach niederen oder h\u00f6heren Normen sich vollziehen. Diese Denkbewegungen, welche alle m\u00f6glichen seelischen Inhalte ergreifen k\u00f6nnen, sind als solche das Umfassendere gegen\u00fcber jedem bestimmten Denken, welches einen einzelnen Gegenstand verarbeitet. Also auch in dieser Beziehung schwebte Avesaeils wahrscheinlich etwas Richtiges vor, als er den Unterschied im Quantitativen suchte.\nIm Traume tritt das Ich erst dann auf, sobald durch das Erscheinen des Bewufstseins der Prozefs des Regulierens von den zu regulierenden Faktoren, von Vorstellungen und Reizen, gef\u00fchlsm\u00e4fsig unterschieden werden kann. Regulierungen er-","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 311\nfolgen jedoch, wie wir sahen, schon im Unterbewufsten, n\u00e4mlich Zusammenordnungen der Vorstellungsdispositionen zu Komplexen. Obwohl sie sich daher erst nach dem Erscheinen des Bewufst-seins im Gef\u00fchl offenbaren, geh\u00f6ren sie doch zu den Fundamentalbest\u00e4nden des seelischen Lebens, ohne welche ein Hantieren mit Vorstellungen nicht m\u00f6glich ist. Insofern geh\u00f6rt auch das Ich, zwar nicht als Vorstellung, wohl aber als individueller Regulierungsmodus gefafst zu den Fundamentalbest\u00e4nden des seelischen Lebens.\nEine schwierige Frage ist die, ob alle Vorstellungen von der Ich Vorstellung begleitet werden, was Schuppe behauptet. \u00dcberblicken wir nochmals das Fr\u00fchere ! Wir haben zu unterscheiden zwischen dem materiellen Ich - Inhalt als der Summe aller individuellen Erfahrungen und Wertungen und dem formellen Inhalt, d. h. dem der Individualit\u00e4t des Ich charakteristischen Regulierungsmodus. Eine genaue Selbstbeobachtung ergibt nun, dafs die Vorstellung von unserem Inhalt uns nur selten zum Bewufstsein kommt, am klarsten dann, wenn wir uns unseres Wertes oder Unwertes bewufst werden. Ob die Ich-Vorstellung h\u00e4ufiger oder seltener auftritt, h\u00e4ngt vor allem von der Gew\u00f6hnung ab, sowie von dem Charakter und Gesundheitszust\u00e4nde des betreffenden Menschen. Am meisten pr\u00e4sent ist sie bei unmittelbarer Ber\u00fchrung mit Menschen. Je gr\u00f6fser die Verschmelzung des Ich mit seinem jeweiligen Medium, um so seltener tritt sie hervor. Nicht die Ich-Vorstellung begleitet f\u00fcr gew\u00f6hnlich unsere Handlungen und Gedankeng\u00e4nge, sondern das Ich-Gef\u00fchl, n\u00e4mlich das Gef\u00fchl f\u00fcr die von unserem Ich ausgehenden Regulierungen, und zwar \u00fcberwiegend f\u00fcr die k\u00f6rperlichen. Doch gelangt auch dieses Gef\u00fchl nur diskontinuierlich und momentan zur Wahrnehmung des Individuums. Das Ich-Gef\u00fchl erscheint vornehmlich an allen Ruhepunkten bzw. Wendepunkten des k\u00f6rperlichen und seelischen Funktionierens, so beim Beginn neuer k\u00f6rperlicher Aktionen von anderer Form oder Intensit\u00e4t als die bisherigen und beim Variieren gewohnter, in der Entwicklung begriffener, desgl. beim Verlassen von soeben verarbeiteten Gedankenreihen und beim Anbahnen neuer. Es verliert sich in jeder folgenden Periode wieder bis zu einem gewissen Grade, am l\u00e4ngsten bei beobachtendem, logischem oder k\u00fcnstlerischem Sichversenken, weniger lange w\u00e4hrend des Verlaufes k\u00f6rperlicher Aktionen. Der Ich-Vorstellung ist das Auftauchen wegen des","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nCarl Max Gicsslcr,\nim Seelischen herrschenden Monoideismus erschwert, so dafs sie keine best\u00e4ndige Begleiterscheinung bilden kann, wohl aber ist das Ich-Gef\u00fchl hierzu bef\u00e4higt, weil es als Gef\u00fchl gr\u00f6fsere Koexistenzm\u00f6glichkeit besitzt.\nDa urspr\u00fcnglich alle Empfindungen des tierischen Lebewesens mit affektiver Erregung, d. h. mit einer Erregung des Gesamtindividuums verbunden waren, so war damit eine Basis geschaffen f\u00fcr die Anteilnahme des Gesamtindividuums an jedem objektiven Eindr\u00fccke und somit f\u00fcr das Gef\u00fchl der individuellen Existenz als einer best\u00e4ndigen Begleiterscheinung seelischer Vorg\u00e4nge.\nSchon aus diesem Grunde mufs man daher annehmen, dafs das\n\\\nIch-Gef\u00fchl fortgesetzt im Hintergr\u00fcnde unserer Aktivit\u00e4t schwebt, wenn auch seine Intensit\u00e4t grofsen Schwankungen unterliegt. Beim kleinen Kinde sind die Empfindungen nicht dieselben wie beim Erwachsenen, sondern komplexere Gebilde, die sich entsprechend der Entwicklung des Bewusstseins allm\u00e4hlich mehr und mehr differentiieren, wobei auch das Ich-Gef\u00fchl als Sonderheit auftritt. Letzteres war aber bereits in dem Empfindungskomplex implizite enthalten.\nAus der Konstruktion des Traumleibes sehen wir, dafs dessen Auffassung ganz abh\u00e4ngig ist von dem Regulierungsgef\u00fchl im Denkorgan. Dieses, der Reduktionsbestandteil des Ich, bildet also die Voraussetzung dazu. So mufs man auch beim kleinen Kinde annehmen, dafs die Auffassung seines K\u00f6rpers parallel einherschreitet mit der Entwicklung des Ich-Gef\u00fchls und ohne einen Ansatz zu letzterem nicht zustande kommen kann. Allerdings pr\u00e4zisiert sich das Ichgef\u00fchl erst sp\u00e4ter zu einer bestimmten Ichvorstellung.\nBez\u00fcglich des Identit\u00e4tsprinzips m\u00fcssen wir auf Grund unserer Traumforschungen festeteilen, dafs Schvfpe recht hat, wenn er behauptet, dafs dasselbe schon gewissermafsen \u201evorhistorisch\u201c als wirksam vorausgesetzt werden mufs. Schon die Vorg\u00e4nge in den Vorstadien der Tr\u00e4ume n\u00e4mlich gehen in erster Linie darauf aus, dem Seelis\u00f6hen seine gewohnten Inhalte wiederzuverschaffen, womit es sich mit sich selbst identifiziert. In diesem erweiterten Sinne m\u00fcssen wir den Begriff \u201eIdentit\u00e4tsprinzip\u201c fassen und nicht als Tendenz nach dem Wiedererlangen von absolut Identischem. Es kommt dem Seelischen vor allem darauf an. Bekanntes zu rekapitulieren, die Vorstellungsbewegungen m\u00f6glichst in bekannte Bahnen zu lenken. Die ge-","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung d. Ich-Kontroverse. 313\nSamte unterbewufste T\u00e4tigkeit besteht im Sammeln des Seelischen nach Mnstern vom Tage her. Auch im TraumbewuTsten herrscht dieses Streben noch weiterhin. Hier haben daher die Kategorien der Position und M\u00f6glichkeit fast durchweg die Oberhand \u00fcber die Kategorien der Negation und Unm\u00f6glichkeit. (Vgl. mein \u201eTraumleben\u201c, S. 200.) \u00dcbrigens weisen die im Traume vorkommenden Dislokalisationen, Irradiationen, die vielen unverst\u00e4ndlichen Gebilde und unbestimmten Vorstellungen, alle diese Schwankungen der seelischen Inhalte darauf hin, dafs im Halb-bewufsten des Traumzustandes die Aufnahme des vom Unter-bewufsten Gelieferten noch nicht zur positiven Bestimmtheit durchgedrungen ist. Da dies noch nicht stattgefunden hat, kann eben auch das Negieren im Traume noch keinen Halt gewinnen, weshalb es auch selten vorkommt. Beides haben wir erst im Vollbewufsten des wachen Lebens. Aber auch hier ist das Streben nach positiver Bestimmtheit das Prim\u00e4re. Somit ist die Identifizierung, im erweiterten Sinne gefafst, das eigentlich Herrschende im Seelenleben, der \u201eGrundbafs\u201c, ohne welchen die variierenden \u201eMelodien\u201c der anderen mitspielenden \u201eInstrumente\u201c sich verfl\u00fcchtigen w\u00fcrden.\nIm allgemeinen ist zu bemerken, dafs bei der Behandlung psychologischer Probleme es sich nicht empfiehlt, nur das Gegebene ins Auge zu fassen. Man mufs vielmehr auch tiefer liegende Zusammenh\u00e4nge ber\u00fccksichtigen, auf deren Existenz man durch zwingende R\u00fcckschl\u00fcsse gef\u00fchrt wird. Ziehen wendet zu sehr das Seziermesser an, indem er nur das Erfahrbare gelten lassen will, wenn auch seine Kritik f\u00fcr die Wissenschaft ohne Zweifel von grofsem Segen gewesen ist. Jedenfalls ist die Ich-Empfindung eine Empfindung besonderer Art neben anderen. Sie basiert auf dem zentral-regulatorischem Funktionieren als solchem. Diese Regulierungen geh\u00f6ren als seelisches Funktionsbed\u00fcrfnis zum Fundamentalbestande des Seelischen, und somit auch das Ich, dessen Reduktionsbestandteil nichts weiter ist als das Gef\u00fchl f\u00fcr die Eigenart des individuellen Verarbeitens seelischer Inhalte. Auch w\u00e4re nicht gut denkbar, dafs der \u00dcbergang vom Unterbewufsten zum Bewufsten, vom Nicht-Ich zum Ich ein so schroffer sei, dafs man f\u00fcr das Unterbewufste jeglichen Mangel von Bewufstsein und jegliche Abwesenheit der Grundlagen des Ich annehmen m\u00fcfste.\n(Eingegangen am 13. M\u00e4rz 1905.)","page":313}],"identifier":"lit32016","issued":"1905","language":"de","pages":"294-313","startpages":"294","title":"Das Ich im Traume, nebst einer kritischen Beleuchtung der Ich-Kontroverse","type":"Journal Article","volume":"39"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:33:22.862135+00:00"}