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{"created":"2022-01-31T16:37:01.861292+00:00","id":"lit32038","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Skutsch","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 37: 112-129","fulltext":[{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nBesprechungen.\nW. Wundt. TOkerpijebolegte. Eise Dntemchug da* EntvtcklamgsgMets\u00ab\nTOB Sprache, Mythus und Sitte. Erster Band: Die Sprache. Zwei Teile.\nLeipzig, Engelmann. 1900. XV 627 und X 644 S.\nB\u00fccher, die im Strom der Tagesliteratur untergehen k\u00f6nnten oder vor denen es zu warnen gilt, mufs man gleich Anzeigen; ein Werk Wilhelm Wundts ist allgemeiner Beachtung in den Kreisen der Psychologen und dar\u00fcber hinaus so sicher, dafs eine Anzeige auch nach einigen Jahren zurecht kommtl, um so mehr, wenn sie von jemand stammt, der auf psychologischem Gebiet nicht heimisch sich \u00fcber Wundts Werk nur sehr subjektive Gedanken vom Standpunkt einer angrenzenden Spezialwissenschaft aus machen kann.\nFreilich auch Wundt hat diese Grenze \u00fcberschritten. Man darf ja den grofsen Plan seines neuen Werkes, von dem die 1200 Seiten der vorliegenden B\u00e4nde nur das erste Drittel ausmachen, heut als bekannt vorans-setzen. \u201eV\u00f6lkerpsychologie\u201c ist wohl das von Lazabus und Steinthal gepr\u00e4gte Wort, hat aber im \u00dcbergang auf das WuNDische Werk einen merkw\u00fcrdigen Bedeutungswandel durchgemacht. Jene beiden haben zwar nicht ausschliefslich, aber doch vorzugsweise unter V\u00f6lkerpsychologie die Psychologie der sogenannten Volksseele verstanden, ihr die Aufgabe zugewiesen, die einem ganzen Volk gemeinsame psychische Beanlagung zn erforschen. In anderem Sinne setzt Wundt der Individual- die V\u00f6lkerpsychologie entgegen; sie soll die im Zusammenleben der Menschen sich ergebenden psychischen Ph\u00e4nomene behandeln. Vielleicht w\u00fcrde man eine derartige Wissenschaft besser als Gesellschaftspsychologie bezeichnen, schon aus einem rein praktischen Grunde: man wird ja k\u00fcnftig st\u00e4ndig dar\u00fcber im Ungewissen sein, wo V\u00f6lkerpsychologie im STKiNTHALschen, wo im WuNDTschen Sinne gemeint ist. Dann aber scheint mir der Plnral\n1 Nachdem nun mein Manuskript noch ein halbes Jahr in der Druckerei gelegen hat, geht mir gleichzeitig mit der Korrektur die neue Auflage von Band I, Teil 1 zu. Ich hoffe, dafs es mir gelungen ist, durch einige Zus\u00e4tze und \u00c4nderungen meine Besprechung der Neuauflage anzupassen, nach der ich auch durchweg zitiert habe. Zugleich m\u00f6chte ich meiner Frende dar\u00fcber Ausdruck geben, dafs es Wundt gelungen ist, soviel Interesse und Teilnahme auch f\u00fcr die Sprachpsychologie zu erwecken.","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n113\nV\u00f6lker in jenem Namen doch genau gefafst nur die SrKiNTHALSche Auffassung zuzulassen, w\u00e4hrend ich umgekehrt Wundts Einwand S. 2 nicht gelten lassen kann, dafs \u201eGesellschaft\u201c zweideutig sei; einmal von Wundt in seinem Sinne angewendet w\u00f6rde der Terminus \u201eGesellschaftspsychologie\u201c jene schwankende Auffassung ausgeschlossen haben, die dem Terminus V\u00f6lkerpsychologie trotz Wundts Autorit\u00e4t nun f\u00fcr alle Zeit anhaften wird.\nFassen wir sie aber im WuNDTSchen Sinne, so wird man gegen die Begrenzung, die ihr Wundt gibt, schwerlich allzuviel einwenden k\u00f6nnen. Er schaltet n\u00e4mlich aus ihr alle diejenigen Erscheinungen aus, die zwar das gesellschaftliche Dasein des Menschen zu ihrer Grundlage haben, selbst aber durch das pers\u00f6nliche Eingreifen einzelner zustande kommen. Demnach f\u00e4llt der WuNDTSchen V\u00f6lkerpsychologie die Betrachtung derjenigen geistigen Erzeugnisse zu, deren Zur\u00fcckf\u00fchrung auf einzelne Individuen im ganzen oder im einzelnen ausgeschlossen ist und die dementsprechend allgemein g\u00fcltige Entwicklungsgesetze erkennen lassen. Man k\u00f6nnte vielleicht einwenden, dafs diese Begrenzung insofern etwas willk\u00fcrlich ist, als sie z. B. der Poesie den Vorzug nimmt vom V\u00f6lkerpsychologen behandelt zu werden, die man doch, mag das einzelne Werk immerhin ein Erzeugnis einzelner sein, gern auch einmal unter diesem Gesichtspunkt behandelt s\u00e4he. Und wenn Wundt der V\u00f6lkerpsychologie die drei Gebiete der \u00dfprache, des Mythus (mit den Anf\u00e4ngen der Religion), der Sitte (mit den Urspr\u00fcngen und allgemeinen Entwicklungsformen der Kultur) zuweist \u2014\u25a0 und in seinem Sinne ja gewifs mit Recht zuweist \u2014, so wird man hier vielleicht die umgekehrte Frage aufwerfen d\u00fcrfen, ob sich denn f\u00fcr diese Gebiete, insbesondere aber das des Mythus und der Sitte, der Einflufs einzelner Individuen so leicht und v\u00f6llig ausschalten lasse. Mit den kurzen Bemerkungen Wundts in der 2. Auflage S. 13ff. scheint mir diese Frage nicht erledigt. Dafs sprachliche Erscheinungen von kleinsten Zentren ausgehen k\u00f6nnen, ist eine Tatsache, die ich weiterhin zu ber\u00fchren haben werde. \u00c4hnliche konkrete F\u00e4lle f\u00fcr Mythus und Sitte anzuf\u00fchren ist hier nicht der Ort. Aber eine allgemeinere Betrachtung wird nicht unangebracht sein. Nach allgemeiner Annahme sind die Faktoren im Sprachleben zu allen Zeiten die gleichen gewesen. Sollte man nicht dasselbe auf den beiden anderen v\u00f6lkerpsychologischen Gebieten, Mythus und Sitte, erwarten ? Wer aber kann leugnen, dafs auf diesen Gebieten in historischer Zeit einzelnen Individuen erhebliche Rollen zugefallen sind?\nIndessen sind diese Fragen f\u00fcr den Sprachforscher schon allzu trans-szendent, und man wird jedenfalls abwarten m\u00fcssen, wie Wundt selber sich mit ihnen im zweiten und dritten Teile seines Werkes abfindet; hier werden ja dann auch einzelne andere S\u00e4tze der Einleitung ihre Rechtfertigung finden, die vorl\u00e4ufig ohne n\u00e4here Begr\u00fcndung hingestellt nicht ohne weiteres zwingend wirken, wie die Parallelisierung jener v\u00f6lkerpsychologischen Dreiteilung Sprache, Mythus, Sitte mit der individualpsychologischen Dreiteilung Vorstellen, Gef\u00fchl, Wollen. Der Referent mufs um so mehr von einer Kritik dieser Dinge absehen, als er auch bei einer Beschr\u00e4nkung auf \u25a0den vorliegenden ersten Teil sich absolut keine Nachpr\u00fcfung oder Beur-ZeiUchrift f\u00fcr Psychologie 87.\t8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nBesprechungen.\nteilung der psychologischen Theorien Wcedts erlauben darf; da man diese als bekannt voraussetzen kann, l\u00e4fst sich die Mangelhaftigkeit meines Referats nach dieser Seite vielleicht verschmerzen.\nGerade von meinem einseitig sprachlichen Standpunkte aus nun mois ich Wubdts Untemehmungskraft die h\u00f6chste Anerkennung zollen. Es ist ja wohl fast beispiellos, dafs jemand im siebenten Dezennium seines Lebens ein v\u00f6llig neues Wissenschaftsgebiet betritt. Und das ist hier geschehen; Wundt hat sich mit aller Energie auf dem weiten Gebiet der Linguistik zu orientieren versucht. Dabei konnte es sich nicht darum handeln, zu eigentlich selbst\u00e4ndiger Arbeit auf diesem Gebiete vorzudringen, sondern es mufste der Sprachstoff und seine Beurteilung im wesentlichen aus Kompendien wie Bbdokanns und Fa. M\u00fclles\u00ab Grundrissen gesch\u00f6pft werden. Es ist also nur nat\u00fcrlich, dafs Wlndt hier nicht ganz mit derselben Freiheit und Sicherheit schaltet, wie da, wo es sich um selbst erarbeitetes psychologisches Material handelt. Infolgedessen sind schon in Einzelheiten mehr Irrt\u00fcmer untergelaufen als in den Berichtigungen und Nachtr\u00e4gen am Ende des zweiten Bandes (zum Teil auf Bbuomahns Anregung hin) gebessert sind. Um ein paar nicht ganz geringf\u00fcgige Einzelheiten zu erw\u00e4hnen: wenn lateinisch scalpo und sculpo als Lautvariationen einer Wurzel mit verschiedenen ,Lautmetaphern* hingestellt werden (II 182), so mufs der Philologe Einspruch erheben, weil sculpo erst sekund\u00e4r durch Einfl\u00fcsse des Akzents im Lateinischen aus scalpo hervorgegangen ist (H\u00fclseh, Philologue 66, 388); h\u00f6chst bedenklich sind Etymologien lateinischer Pr\u00e4positionen, wie sie II 210 vorgetragen werden, aber auch die Zusammengeh\u00f6rigkeit von sapio sapa sebum ist sehr zweifelhaft (II 517), wie die von caelum und cavus (II 459). Dergleichen k\u00f6nnte ich noch manches anf\u00fchren und f\u00fcrchte eigentlich nicht, dafs das als kleinliche M\u00e4kelei angesehen werden k\u00f6nnte; man sieht, da ich nur Beispiele aus einer Sprache angef\u00fchrt habe, wie leicht solche Einzelheiten selbst das Urteil im ganzen beeinflussen k\u00f6nnen. Bedenklicher wird es freilich, wenn den als Quelle dienenden Handb\u00fcchern umfassende Theorien entnommen werden, ohne ihnen das Fragezeichen zuzusetzen, zu dem ein linguistisch geschulter Beobachter Anlafs h\u00e4tte. Wiederholt polemisiert Wundt gegen den Ansatz von Wurzel W\u00f6rtern f\u00fcr das Indogermanische und mag sich dazu durch gewisse augenblickliche Moden der Indogermanistik berechtigt scheinen. So heilst es namentlich I 696 f. : \u201eF\u00fcr den Standpunkt der Wortanalyse reduziert sich der Begriff der Wurzel, wenn wir von allen an ihn gekn\u00fcpften geschichtlich unerweisbaren und psychologisch unwahrscheinlichen Hypothesen absehen, auf die Tatsache, dafs es Lautkomplexe gibt, die unver\u00e4ndert durch eine Keihe von W\u00f6rtern verfolgt werden k\u00f6nnen. Dieser reine Konstitutionsbegriff ist nat\u00fcrlich sehr wohl mit der Voraussetzung vereinbar, dafs isolierte Wurzeln \u00fcberhaupt niemals in der Sprache vorhanden waren . .. Die Annahme einer .Wurzelp\u00e9riode' der Sprache ist daher ein Phantasiegebilde, das weder in den Erscheinungen der wirklichen Sprache eine St\u00fctze findet, noch mit dem, was uns sonst die nat\u00fcrliche psychologische Entwicklung des Menschen lehrt, in Einklang zu bringen ist\u201c usw. Aber mir scheint \u00fcber gewisse hier anscheinend als phantastisch verurteilte Dinge unter Linguisten \u00fcberhaupt kein ernst-","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n115\nhafter Streit sein zu k\u00f6nnen. Wie n\u00e4mlich G. Curtius erkannt hat, dafs die Flexionslosigkeit des ersten Gliedes in alten Kompositis (z. B. griech. \u00e0xp\u00f4-\u00efrolii, lat. igni-fer ubw.) sich nur durch die Annahme erkl\u00e4ren l\u00e4fst, dafs die Master solcher Bildungsweise in eine flexionslose Zeit des Indogermanischen zurflckgehen, so scheint mir die aufserordentliche H\u00e4ufigkeit jener ein- und zweisilbigen Bildungen, die die grammatische Analyse als Wurzeln bezeichnet, gerade wieder in Kompositis sich nur durch' die entsprechende Annahme zu erkl\u00e4ren, dafs die Urbilder solcher Komposita in einer Zeit entstanden sind, die im wesentlichen nur solch ein- und zweisilbige Bildungen zur Verf\u00fcgung hatte. Eine fr\u00fchere Periode der Sprachwissenschaft mochte sich bei der Behauptung beruhigen, in Zusammensetzungen wie skr. veda-vid ,Veda kennend', griech. x,i\u00e7-vty Handw\u00e4scher (d. h. Waschbecken), lat. auri-fcx .Goldarbeiter' oder skr. havi-rada .Opfer geniefsend', griech. ^a\u00dfSo-go^os ,8tab tragend1, lat. igni-ferum sei f\u00fcr das zweite Glied eine sonst nicht vorkommende besonders leichte Form des sog. nomen agentis gew\u00e4hlt, um das ohnehin lange Kompositum nicht noch mehr zu beschweren; heute scheint jedem ernsthaften Sprachforscher solches Zweckbewufstsein in der Sprache, wie das Wundt wiederholt beredt ausf\u00fchrt, undenkbar und es bleibt sonach eben nur m\u00f6glich anzunehmen, dafs eine aufserhalb der Komposition mehr und mehr verschwindende primitive d. h. keinerlei Zerlegung mehr erlaubende Wortformation sich in der Zusammensetzung dauerhafter, ja fortpflanzungsf\u00e4hig bewiesen hat, weil anerkanntermafsen Komposita analogische Nachbildungen leichter zulassen als Simplicia. Dann bleibt aber eben doch kein Zweifel, dafs eine gewisse Periode des Indogermanischen sich vorzugsweise oder sogar mit einer gewissen Ausschliefslichkeit jener ein- und zweisilbigen Worte bedient hat, die weiterer Analyse widerstehen wie die Elemente der Chemie. Und so ist die ,Wurzelperiode' nicht reine Phantasie, sondern ein etwas, das noch heute greifbar in unsere ausgebildeten indogermanischen Sprachen hereinragt und eine gewisse Zeit lang ungetr\u00fcbten Bestand gehabt haben mufs.. Und dieses greifbare Etwas soll auf einer Stufe stehen \u201emit der Annahme eines goldenen Zeitalters, einer vollkommenen Urreligion und anderen Vorstellungen\u201c, die man \u201ein das Grab vorwissenschaftlicher Mythenbildungen versenken\u201c darf? Dafs diese \u201eWurzeln\u201c Erzeugnisse einer wunderbaren dem wirklichen Weltlauf voraufgehenden Sch\u00f6pfung sind, folgt aus alledem nat\u00fcrlich nicht; selbstverst\u00e4ndlich mufs sich ihre Entstehung aus denselben Faktoren erkl\u00e4ren lassen wie alles sprachliche Werden. Freilich werden trotzdem sich die meisten Sprachforscher auf den Standpunkt stellen, dafs die ,Wurzeln\u2018 ein gegebener letzter Tatbestand sind, der nnBerer grammatischen Analyse f\u00fcr jetzt wenigstens ein gebieterisches Haiti zuruft.\nWenn Bich hier Wundt durch eine gewisse Zur\u00fcckhaltung der von ihm benutzten Kompendien zu einer allzu schroffen Negation hat f\u00fchren lassen, so haben sie ihm ferner manches gar nicht an die Hand gegeben, was f\u00fcr eine psychologische Sprachbetrachtung von grofser Wichtigkeit ist. Als die auff\u00e4lligste L\u00fccke dieser Art, um so bedauerlicher, als sie hier ja nicht wie in Pauls .Prinzipien der Sprachgeschichte' durch eigene\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nBestechungen.\nForschungen bis zu einem gewissen Grad kompensiert werden konnte, sehe ich Wundts Unbekanntschaft mit den in vielen Punkten geradezu bahnbrechenden Untersuchungen des Abb\u00e9 Rousselot Ober den Lautwandel an (Les modifications phon\u00e9tiques du langage, Paris 1891; vgl. auch seine im Erscheinen begriffene Phon\u00e9tique exp\u00e9rimentale). Sie n\u00f6tigen z. B. hinter einen Satz wie I 378: \u201eSelten wird die Sprache eines Menschen in zwei zeitlich weit auseinander liegenden Perioden seines Lebens genau den gleichen Lautcharakter besitzen\u201c ein starkes Fragezeichen zu setzen. Nach Rousselot ist der lautliche Bestand der Sprache bei dem Individuum, nachdem das Alter der Spracherlernung vor\u00fcber ist, unter normalen Verh\u00e4ltnissen (also wenn das Individuum nicht bewufst und absichtlich andere Lautformen annimmt, Fremdworte auszusprechen versucht u. dgl.), v\u00f6llig stabil; wenigstens hat er bei seiner Mutter, die er 10 Jahre hindurch aufs genaueste beobachtete, keinerlei Variation entdecken k\u00f6nnen und andererseits die Sprachen der Greise untereinander so ausgeglichen gefunden wie die der Kinder, w\u00e4hrend er mit Recht schliefst: une \u00e9volution se continuant aurait amen\u00e9 infailliblement des divergences (les mod. S. 163 ff.). Nicht minder scheinen im Hinblick auf Ro\u00fcsselots peinlich genaue Beobachtungen korrekturbed\u00fcrftig Wundts Ausf\u00fchrungen I S. 403 ff., die ihn unter anderem zu dem Satze f\u00fchren, dafs (stetige) \u201eLaut\u00e4nderungen sich mit Sicherheit erst in verh\u00e4ltnism\u00e4fsig grofsen Zeitabst\u00e4nden feststellen lassen\u201c. Rousselot ist auf den sehr sinnreichen Gedanken verfallen, die Vertreter des von ihm untersuchten Patois genau nach ihren Geburtsdaten zu scheiden und den Lautstand der einzelnen so sich ergebenden Generationen einander gegen\u00fcberzustellen. Wenn sich nun hier zeigt, dafs 4 bis 9 Jahre auseinander liegende Generationen eine in deutlichen Zwischenstufen sich vollziehende Entwicklung von mouilliertem l zu j durchmachen (les mod. S. 200fl.), so ist das zweifellos ja eine stetige Laut\u00e4nderung im WuNDTschen Sinne, aber gewifs kein \u201everh\u00e4ltnism\u00e4fsig grofser Zeitabstand\u201c. Auf Grund solcher Feststellungen \u00fcber die Schnelligkeit des Lautwandels, den er sich zudem in einem abgeschlossenen Tale vollziehen sah, hat Rousselot auch schon ausgesprochen, dafs seine Ursachen, wenigstens in vielen F\u00e4llen, keine \u00e4ufseren sein d\u00fcrften. Und wenn Wundt I 475 die \u201eLaut\u00e4nderungen\u201c mit Ver\u00e4nderungen des physischen und psychischen Habitus in Verbindung setzt, die sich aus drei Ursachen vollziehen sollen, Einflufs der \u00e4ufseren Naturumgebung, Vermischung von V\u00f6lkern und Rassen, Einflufs der Kultur, so leuchtet allerdings ein, dafs in Cellefrouin in der Charente sich in zehn Jahren keines von den dreien ge\u00e4ndert haben kann. Dies einige Belege daf\u00fcr, wie allein schon die Kenntnis der RoussELOTschen Arbeiten zu mancher abweichenden Formulierung gef\u00fchrt haben w\u00fcrde.\nNach diesen und den vorausgegangenen Proben wird man den Rat an Nicht-Sprachforscher begreiflich finden, nicht \u00fcberall allzu fest auf die sprachwissenschaftlichen Grundlagen des WuNDTschen Werkes zu bauen; als solche sind Pauls meisterhafte Prinzipien der Sprachgeschichte weitaus lebhafter zu empfehlen. Der Vorzug Wundts wird darin zu suchen sein, dafs er, \u00fcber Pauls Herbartianismus hinausschreitend, die Linguistik mit modernster Psychologie zu verkn\u00fcpfen Bucht. Dafs hier Belehrung f\u00fcr die","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Besprich ungen.\n117\nSprachforscher in reichem Mafae zu gewinnen ware, ist nicht zweifelhaft; die Grammatiker sind gerade im Psychologischen sehr geneigt, sich mit einem kleinen eisernen Bestand technischer Ausdr\u00fccke zu behelfen, der dem Psychologen wohl ebenso eingerostet Vorkommen mag wie gelegentlich dem Grammatiker die grammatischen Wendungen der Psychologen. Ja der Grammatiker kann sogar von sich aus einige Punkte bezeichnen, wo ihm selbst die psychologische Fundamentierung seiner Wissenschaft als verbreiterungs- und vertiefungsbed\u00fcrftig erscheint. So hat man von linguistischer Seite langst die Psychologen auf die Lehre von der Analogiebildung als ein psychologischer Durcharbeitung harrendes Feld hingewiesen. Insbesondere ware nichts erw\u00fcnschter als Gesetze f\u00fcr die Kichtung der Analogiebildungen zu finden. Warum, um ein einfaches Beispiel zu w\u00e4hlen, wird im deutschen Pr\u00e4teritum ich ward, wir wurden der Ablaut analogisch zugunsten des Plurals ausgeglichen: ich wurde, ohne dafs dar\u00fcber die altere Form ich ward unterginge, wahrend bei ich sang, wir sungen die Ausgleichung den umgekehrten Weg geht und der \u00fcber die Neubildung wir sangen vollkommen vergessene alte Plural nur im Sprichwort ,Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen' eine Art d\u00fcrftiges Austragst\u00fcberl findet? Hat das Substantiv Sang dabei eine Rolle gespielt? Aber warum hat dann das Partizip gesungen nicht eine st\u00e4rkere Gegenwirkung ausge\u00fcbt? Oder, um einen Fall etwas anderer Art herzusetzen, wenn die lateinische Distributivzahl sent je sechs', lautgesetzlich aus sex-ni entstanden, die Endung hergibt f\u00fcr eine Reihe weiterer Distributive : sepl\u00ebni nov\u00eani d\u00e9ni cent\u00ebni mill\u00eani, was hat denn gerade die Sechs bef\u00e4higt, der Ausgangspunkt f\u00fcr eine solche F\u00fclle von Analogiebildungen zu werden? Auf Bolche Fragen hoffte ich bei Wundt eine prinzipielle Antwort zu finden. So dankbar nun jeder Grammatiker Wundt f\u00fcr die aufkl\u00e4rende Kritik sein wird, die er I 443 ff. an der Zur\u00fcckf\u00fchrung der Analogiebildung auf Assoziationen \u00fcbt \u2014 wobei sich herausstellt, wie wenig klar im ganzen der Begriff Assoziation in seiner grammatischen Verwendung ist \u2014, so kann ich doch nicht verhohlen, dafs ich auf Fragen wie die vorhin gestellte eine Antwort auch bei Wundt vergeblich gesucht habe. Gerade hieT, wo der Fortschritt so erw\u00fcnscht gewesen w\u00e4re, ist er wie noch einige-male sonst nicht gemacht, ja kaum versucht. \u00dcberhaupt, glaube ich, wird gerade f\u00fcr die ihn unmittelbar angehenden Probleme der Grammatiker neue Wege kaum gezeigt finden ; er wird sich freuen, den psychologischen Grund der sprachlichen Ph\u00e4nomene an nicht wenigen Stellen gr\u00fcndlich durchgegraben zu finden \u2014 mehr vielleicht aber noch, dafs er in seiner Methode nirgendwo umzulernen braucht; Wundts Werk ist im ganzen eine Apologie der bei gr\u00fcndlichen Grammatikern heute herrschenden Anschauungen \u00fcber das Wesen der Sprache, aber kein Buch, das einen Grammatiker wie Paul zu wesentlichen. Umgestaltungen seiner ,Prinzipien' n\u00f6tigte. Selbstverst\u00e4ndlich werden Psycholog und Grammatiker Wundts Werk mit Nutzen lesen, aber den wirklichen Vorteil davon doch erst gewinnen, wenn sie zuvor das PAuusche Buch sich zu eigen gemacht haben. Auf den luftigen H\u00f6hen WuNDTscher Spekulation geht dem Grammatiker manchmal der Atem aus, w\u00e4hrend er bei Paul die ihm gem\u00e4fse mit Tatsachen ges\u00e4ttigte Atmosph\u00e4re hat.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nBesprechungen.\nDoch genug der allgemeinen Er\u00f6rterungen ; mag lieber jetzt versucht werden, dem Faden der WtnjDTBchen Darstellung folgend, einige Knotenpunkte herauszuheben, bei denen die grammatischen Interessen des Rezensenten ihn, sei es zustimmend, sei es zweifelnd, l\u00e4nger feBtgehalten haben. Das letzte Problem, auf das ein Werk wie das WuitDTsche hinausgeht, ist, wie sich das hier schon kaiserlich an der \u00dcberschrift des neunten und letzten Kapitels zeigt, das vom Ursprung der Sprache. Auf dies Ende zielt schon der Anfang hin; denn wenn das erste Kapitel (I 37\u2014135) die Ausdrucksbewegungen behandelt, so sucht das letzte die Artikulationsbewegungen als Ausdrucksbewegungen darzustellen. Der n\u00e4chste Ausdruck eines psychischen Vorgangs w\u00e4re also nicht der Laut selbst gewesen, sondern dieser h\u00e4tte sich erst indirekt, gewissermalsen \u00fcber die Artikulationsbewegung hinweg, mit dem psychischen Vorgang assoziiert; die Voraussetzung f\u00fcr die Lautsprache w\u00e4re eine Geb\u00e4rdensprache. \u00dcber Geb\u00e4rdensprache und Geb\u00e4rdensprachen handelt daher sodann das zweite Kapitel (S. 136\u2014247) aufs eingehendste, w\u00e4hrend das dritte (Die Sprachlaute S. 248\u2014359) damit anhebt, dafs die Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen betrachtet werden. W\u00e4hrend die Darstellung im allgemeinen hier weit \u00fcber das hinausgreift, was in einer auf rein grammatische Zwecke gerichteten Behandlung dieser Dinge vonn\u00f6ten w\u00e4re, enth\u00e4lt sie im einzelnen nicht Weniges, was f\u00fcr den Grammatiker vom unmittelbarsten Interesse ist. Ich mache z. B. aufmerksam auf die merkw\u00fcrdigen Parallelen, die die Geb\u00e4rdensprache f\u00fcr den Bedeutungswandel der gesprochenen Sprache (S. 169 ff.), sowie f\u00fcr primitive Syntax (S. 198, 208 fl.) bietet. Eine Kleinigkeit, die ich korrigieren m\u00f6chte, betriflt die lateinischen Zahlzeichen V und X, in denen W\u00fcndt (S. 188) das Bild der Hand und der beiden mit den Handwurzeln aneinander gelegten H\u00e4nde sieht. Wer die Geschichte des griechisch-lateinischen Alphabets kennt, weifs, dafs hier nichts weniger als ein Symbol vorliegt; X ist die griechische Aspirata, V die Halbierung derselben.\nEtwas erheblichere Erw\u00e4gungen sind mir im weiteren Verlauf des dritten Kapitels erwachsen, das nach jenem oben bezeichneten Anfang sich den Sprachlauten des Kindes und in engem Zusammenhang damit den Natur lau ten in der Sprache und ihren Umbildungen sowie den Lautnachahmungen beim Sprechen zuwendet. Ganz vortrefflich sind hier die (obzwar nicht durchaus neuen) Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Spontaneit\u00e4t der Kindersprache. Wundt schl\u00e4gt sie mit Recht sehr gering an; im wesentlichen ist die kindliche Sprache ein Erzeugnis der Umgebung des Kindes, an dem das Kind selbst in der Hauptsache nur passiv, rezeptiv mitwirkt (S. 301). Und hier f\u00e4llt die vortreffliche und, wie ich glaube, auch neue Bemerkung, dafs diese passive Mitwirkung sich in dem starken Hervortreten der labialen (demn\u00e4chst der dentalen) Laute in der Kindersprache \u00e4ufsert; das Kind ahmt vorzugsweise diese nach, weil sie (anders als die gutturalen) nicht blofs geh\u00f6rt, sondern auch gesehen werden (vgl. S. 304). Dagegen habe ich manchen Anlafs zu Dissens, wenn die Ausbildung der individuellen und im Zusammenhang damit der verschiedenen nationalen Sprachentwicklung in Frage kommt. Wundt leitet (S. 293) die Verschiedenheiten in Lautartikulation und Tonmodulation bei dem Deutschen, Eng-","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n119\nUnder, Franzosen, Italiener u. s. f. nicht blofs von den Anforderungen her, \u201edie der Lautcharakter der Sprache an die Sprachorgane stellt, sondern bis zu einem gewissen Grade auch von Rassenverschiedenheiten in der physischen Bildung der Sprachwerkzeuge\u201c. Das sollen die bekannten Erfahrungen Ober die Aneignung fremder Sprachen lehren, \u201enach denen selbst bei vollkommener \u00dcbung in der Regel noch die Artikulationsweise der Muttersprache ihren Einflufs aus\u00fcbt.\u201c Aber Verschiedenheit der Artikulationsweise und physische Organverschiedenheit k\u00f6nnen unm\u00f6glich so ohne weiteres gleichgesetzt werden. Physiologen und Anatomen haben mir gesagt, dafs Rassenverschiedenheiten im Bau der Sprachorgane, bis jetzt wenigstens, kaum nachzuweisen sind. Was kann demgegen\u00fcber eine Tabelle besagen, wie sie Wundt aus Pbeybk und Moobb d. h. aus lautphysiologisch und grammatisch nicht geschulten Beobachtern exzerpiert? Der eine hat die Lallsylben eines deutschen, der andere die eines englischen S\u00e4uglings zusammengestellt. Wundt l\u00e4fst einiges daraus weg, was ihm minder charakteristisch scheint und glaubt im Reste Rassenunterschiede zu erkennen. Auch ganz abgesehen von der Unzul\u00e4nglichkeit der PaETKBSchen und Mooimschen Beobachtungen an sich \u2014 wenn der Engl\u00e4nder good notiert, sieht man recht, was alles ein nicht fachm\u00e4fsiger Beobachter in das Kinderlallen hineinh\u00f6ren kann \u2014, scheinen mir doch zwei solch vereinzelte F\u00e4lle l\u00e4ngst nicht ausreichend f\u00fcr so weitgreifende Schl\u00fcsse, wie sie Wundt zieht; ich glaube, er ist hier wie vereinzelt auch sonst in den Fehler verfallen, auf zu schmalem Fundament zu bauen. Soll aber auf solche Einzelheiten wirklich Gewicht gelegt werden, so scheinen mir die beiden folgenden, die mir gelegentlich bekannt geworden sind, eine andere und zugleich deutlichere Sprache zu reden. Ein dreij\u00e4hriges Kind kehrt von einem mehrw\u00f6chentlichen Aufenthalt in K\u00f6nigsberg nach Breslau zur\u00fcck mit der spezifisch K\u00f6nigsbergischen Mundstellung und mit den entsprechenden Eigent\u00fcmlichkeiten der Aussprache. Ein Breslauer Geistlicher wird nach Oldenburg versetzt und ihm dort sein j\u00fcngstes Kind geboren. Nachdem bei diesem die Jahre der Spracherlernung vor\u00fcber sind, kehrt die Familie nach Breslau zur\u00fcck ; aber auch jetzt noch, nachdem die Kinder l\u00e4ngst herangewachsen sind, sprechen die anderen Schtein, Schtork etc., das j\u00fcngste allein S-tein, S-tock. Diese beiden Geschichtchen best\u00e4tigen nur, was jedem Linguisten heute gel\u00e4ufig ist: Verschiedenheiten der Aussprache beruhen nicht auf anatomischen Organverschiedenheiten, sondern anf Verschiedenheiten der Indifferenzlage oder Operationsbasis, d. h. der aof Ein\u00fcbung beruhenden Stellung der Sprachorgane zueinander (im Ruhezustand). So erkl\u00e4rt es sich, dafs \u201esich das Kind, sobald es in die Periode der eigentlichen Sprache (Spracherlernung) eingetreten ist, leicht ein v\u00f6llig fremdes LautsyBtem aneignen kann, dessen Bew\u00e4ltigung dem Erwachsenen weit schwerer f\u00e4llt\u201c (Wundt S. 295) \u2014 bei diesem hat sich eben durch fortdauernde \u00dcbung bereits eine bestimmte Operationsbasis fixiert, die aufzugeben ihm schwer wird. Und andererseits beweist eben die Leichtigkeit, mit der das Kind sich irgendeine andere Indifferenzlage als die der Eltern zu eigen machen kann, dafs hier von Vererbung vorl\u00e4ufig nicht geredet werden darf. Ja selbst beim Erwachsenen kann man noch auf sehr einfachem Wege dartun, dafs nur die Indifferenzlage die Verschiedenheit","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nBesprechungen.\nder Aussprache bedingt. Als besonders schwer gilt die Aassprache des Englischen. Aber kaum eine fremde Indifferenzlage ist leichter nachzuahmen als die englische: einfaches Vorschieben des Unterkiefers genagt. Wer sich daran einmal gew\u00f6hnt hat, verf\u00fcgt sofort \u00fcber eine im wesentlichen tadelfreie englische Aussprache \u2014 und wieder zeigt sich, dais Gew\u00f6hnung in diesen Dingen alles tut, Vererbung nichts.\nAuch die anschliefsenden Abschnitte \u00fcber Naturlaute und Lautnachahmungen (S. 307\u2014317 und 317\u2014369) k\u00f6nnen nicht durchweg Zustimmung finden. \u201eReste reiner Naturlaute\u201c heilst es im Anfang \u201esind die prim\u00e4ren Interjektionen\u201c. Das Latein habe mehr solche Reste und anscheinend in h\u00e4ufigerem Gebrauch als die modernen Kultursprachen. Aber in der nnn folgenden Liste lateinischer Interjektionen mufs viel gestrichen werden: euoe ist griechisch; en tritt erst in c\u00e4sarischer Zeit far altes em ein, das, wie wir jetzt sicher wissen, der Imperativ von emere ,nehmen* ist; ecce ist etymologisch noch unklar, aber doch offenbar schon nach Ausweis seiner Bedeutung nicht zu den \u201eNaturlauten\u201c geh\u00f6rig; tu ist mir ganz unbekannt; au ist nicht, wie Wundt durch das Deutsche verleitet sagt, ein Ausruf des Schmerzes, sondern vielmehr der Verwunderung oder Best\u00fcrzung und \u2014 was f\u00fcr uns noch wichtiger \u2014 es erscheint in der ganzen \u00e4lteren Literatur nur im Munde von Frauen. Dies letztere Faktum scheint mir gerade so bezeichnend f\u00fcr die Konventionalit\u00e4t dieser \u201eGef\u00fchlslaute\u201c wie das bekannte Herabsinken voller Worte wie hercle, pol, Donnerwetter etc. zu Interjektionen. Auch ist es durchaus nicht zutreffend, dafs der \u201eZuruf, der . .. eventuell die Aufmerksamkeit eines anderen auf den n\u00e4mlichen Eindruck lenken soll, in hohen und hellen, der verhaltene Schmerz in tiefen und dumpfen Vokalt\u00f6nen der Interjektionen\u201c sich \u00e4ufsere (Wundt 8. 362); man denke nur an den zur Vorsicht mahnenden Zuruf unserer Kutscher h\u00f6 und andererseits lateinisch ei! Hiernach scheint es mir um unseren Einblick in diese \u201eNaturlaute\u201c recht schlecht zu stehen und jedenfalls die von Wundt f\u00fcr die Lautsymbolik daraus gezogenen Folgerungen wenig verbindlich. \u00dcberhaupt aber zweifle ich nicht, dafs der ganze Abschnitt Uber Lautnachahmungen den Sprachforschern zu ganz besonderen Bedenken Anlafs geben wird. Wundt unterscheidet S. 317f. Schallnachahmungen (wie kr\u00e4chzen, kreischen) und Lautbilder (wo es sich um Nachahmung eines nicht an den Geh\u00f6rssinn appellierenden Eindrucks handelt wie bei flimmern, luitschein u. a.). Hier ist man allerdings, wie er selbst hervorhebt, sehr in Gefahr, eine nachtr\u00e4gliche Gef\u00fchlsf\u00e4rbung des Wortes durch seine Bedeutung als eine urspr\u00fcngliche Eigenschaft seiner Laute anzusehen. So bei hart, s\u00fc\u00df, bitter; Liebe, Zorn, Ha\u00df. Ich muls gestehen, dafs diese letzte auf der Hand liegende Bef\u00fcrchtung mir den Mut nimmt, an mehr als einen Zufall zu glauben, wenn in Bezeichnungen der Zunge vielfach ein lingualer oder dentaler, in Bezeichnungen des Mundes und mit ihm zusammenh\u00e4ngender T\u00e4tigkeiten (sogar lat. mutus wird hierher gerechnet) ein Labial erscheint (8. 333 f.). Aber vollends in eine Richtung, die der modernen Grammatik mehr und mehr fremd geworden ist, f\u00fchrt es, wenn S. 345 f. etwa im labialen Laut etwas f\u00fcr die erste Person (lat. me), im dentalen (lat. tu) etwas f\u00fcr die zweite Person besonders Charakteristisches gesucht wird. Eb soll wahrscheinlich sein, dafs eine","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n121\nAssociation \u201edes bei verschlossenen Lippen hervorgebrachten Tones mit der Vorstellung des eigenen Innern\u201c den labialen Laut als nat\u00fcrliche Lautmetapher erzeugt habe, und der dentale Laut soll \u201eals hinweisende Zungengeb\u00e4rde\u201c gedeutet werden k\u00f6nnen. In der modernen Grammatik finde ich \u00e4hnliche Anschauungen nirgends vertreten \u2014 wohl aber bei Niomius Fiotmus, der bei Gbldi\u00fcs X 4 frappant \u00e4hnliches \u00fcber lat. not und vos vortr\u00e4gt, nur dais hier nat\u00fcrlich gerade in der Lippenbewegung des v die auf die andere Person hinweisende Geb\u00e4rde enthalten sein soll. \u00c4hnliche Lautsymbolik findet Wuhdt auch im Verh\u00e4ltnis der Demonstrativs, die hier und dort bezeichnen, im Verh\u00e4ltnis des Aktivs zum Passiv und so fort. Die Beispielreihen stammen vielfach aus Sprachen, wo jede M\u00f6glichkeit einer Kontrolle der Aussprache ausgeschlossen ist Aber selbst wenn man genau nach dem Schriftbild spricht, hat Wundt doch z. B. auf S. 345 eine ganz h\u00fcbsche Anzahl Beispiele gegen sich. Das einzelne zu kritisieren, w\u00fcrde wenig Zweck haben; es ist die ganze Anschauungsart, die hier den Grammatiker vom Psychologen trennt, die Anschauungsart, die sich nicht in ein paar Worten darlegen, sondern nur aus langer Aus\u00fcbung der Wissenschaft gewinnen l\u00e4fst.\nDas vierte Kapitel (S. 360\u2014629) behandelt Dinge, die seit der Neugestaltung der Indogermanistik vor einem Vierteljahrhundert bei methodischen und prinzipiellen Er\u00f6rterungen immer in erster Reihe gestanden haben, das Walten der sog. Lautgesetze und ihr Verh\u00e4ltnis zur Analogiebildung. Was die Lautgesetze angeht, so ist ja bekannt, wie die anfangs heftig bestrittene Ansicht, dafs sie ausnahmslos sind, in praxi heute durchgesetzt ist; dem aufmerksamen Beobachter mag allerdings vielleicht nicht entgehen, wie es sich hier bisweilen mehr um die Praxis der Wissenschaft als um die Praxis des Lebens handelt. Als Forderung an die grammatische Methode ist die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze unbedingt festzuhalten; aber das Durcheinander sprachlicher Beeinflussung, dem in Zeiten starken Verkehrs jeder unterliegt, sorgt daf\u00fcr, dafs in den lebenden Sprachen die Ausnahmslosigkeit nicht immer so klar in Erscheinung tritt wie es der Theoretiker w\u00fcnschen m\u00f6chte. Immerhin bleibt auch da, wie z. B. Roussxlot durch genaueste Beobachtung gezeigt hat, die Konsequenz der Lauterscheinungen vielfach noch ganz wunderbar, und eine der wichtigsten Fragen an den V\u00f6lkerpsychologen w\u00e4re, wie wir diese Konsequenz im einzelnen Individuum und ihre Erstreckung \u00fcber eine ganze Sprachgemeinschaft erkl\u00e4ren sollen. Mit dieser Frage ist nat\u00fcrlich die andere gleichfalls bisher unbeantwortete aufs engste verkn\u00fcpft, wie man sich \u00fcberhaupt die Entstehung lautlicher Ver\u00e4nderungen zu erkl\u00e4ren hat. Ro\u00fcsszlots Beobachtungen machen hier wenigstens eine auch von anderen \u00f6fters ausgesprochene Annahme wahrscheinlich, dafs solche \u00c4nderungen sich von einem relativ eng begrenzten Zentrum wie eine Art \u00dcberschwemmung oder Epidemie verbreiten. Damit ist nat\u00fcrlich der Akt der Urzeugung eines solchen Lautwandels auch nicht weiter aufgebellt; immerhin mufs man auch hier bedauern, dafs Wuhdt Rousselot nicht kennt und daher von Fortpflanzung der in eng umschriebenem Kreise entstandenen Lautver\u00e4nderungen nicht recht etwas wissen will. F\u00fcr die weiteren angedeuteten Fragen aber finde ich bei Wuhdt keinen be-","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nBesprechungen.\nfriedigenderen I.\u00f6sungs versuch als bei fr\u00fcheren; ich darf zur Kritik wenigstens einiger Punkte auf das eingangs \u00fcber Rousselot Gesagte verweisen. Nur einmal versucht W\u00fcndt einen neuen Weg zu zeigen \u2014 da, wo er beschleunigte Artikulation f\u00fcr einen grofsen Teil des Lautwandels, insbesondere auch der deutschen Lautverschiebung verantwortlich machen will (z. B. S. 505). Man unterscheidet nun allerdings heute z. B. in der lateinischen Grammatik Lento- nnd Allegroformen und erkl\u00e4rt so namentlich die Erscheinung der Vokalsynkope: solidus valide sind Formen der langsameren, soldus valde solche der schnelleren Redeweise. Dafs aber eine Beschleunigung des Tempos auch die Verwandlung von Tenues in Spiranten, von Medien in Tenues und so fort erkl\u00e4ren k\u00f6nne, ist, wie ich denke, eine Hypothese, die erst noch unter Beweis gestellt werden m\u00fcfste. Indefs auch wenn wir sie ohne weiteres zugeben wollten, so bleibt doch ein kardinaler Unterschied zwischen jener Annahme der Latinisten und der W\u00fcNDTschen : gelegentlich wird eine Beschleunigung des Sprechtempos unbestreitbar bei jedem Individuum eintreten; was aber sollte eine ganze Sprachgemeinschaft veranlaTst haben, pl\u00f6tzlich durchweg zu einem schnelleren Artikulationsterapo \u00fcberzugehen? Die Frage ist also nicht beantwortet, sondern nur verschoben. Denn als gen\u00fcgende Antwort kann ich es auch nicht anBehen, wenn Wundt raschem Umschwung der Kultur die Schuld gibt. Nicht nur dafs auch dies nur eine Hypothese ist, wir haben schon oben gesehen, wie Roussklots Erfahrungen in Cellefrouin durchaus widersprechen.\nEtwas \u00fcberraschend ist es dann f\u00fcr den Grammatiker in das Kapitel vom Lautwandel die sog. Analogiebildungen und Volksetymologien unter dem Titel \u201eassoziative Fernwirkungen der Laute\u201c (S. 431 ff.) und \u201eLaut- und BegriffBassoziationen bei Wortentlehnungen\u201c (8. 459 ff.) einbegriffen zu finden. Die Analogiebildungen wird bisher wohl jeder Grammatiker zn einem guten Teil der Formenlehre zugeschrieben, den Rest jedenfalls nicht als eigentlich lautliche Wandlungen gefafst haben. Denn wenn diese letzteren, wie vorhin gesagt, mindestens theoretisch als ausnahmslos angesehen werden m\u00fcssen, so ist f\u00fcr die Ver\u00e4nderungen im Lautstand durch analogische Neubildung, wenigstens f\u00fcr jetzt, so wenig irgendeine Regel zu erkennen wie f\u00fcr die Analogiebildungen \u00fcberhaupt. Die wichtige Rolle aber, die der Analogie bei der Neubildung und Nachbildung grammatischer Formen zukommt, wird bei Wundt, soviel ich sehen kann, nur gelegentlich ber\u00fchrt, nicht aber ihrer Bedeutung entsprechend im Zusammenhang behandelt. Jetzt werden F\u00e4lle wie die Nachbildung von ital. fumeccio .Diebstahl' nach ladroneccio, franz\u00f6s. rougeole .R\u00f6teln' nach v\u00e9role .Pocken' unter dem Lautwandel abgehandelt, mit dem sie in ihrem Wesen gar nichts zu schaffen haben. Aber wenn man auch nur an den Eintritt von sangen f\u00fcr mngen nach Analogie des Singulars ich sang denkt (s. oben) \u2014 darf man denn hier von einer lautlichen Erscheinung reden ? l\u00e4fst sich psychologisch sicherstellen, dafs die Analogie hier nur das w des bereits vorhandenen Plurals sungcn in a abge\u00e4ndert hat? oder kann man nicht mit mindestens demselben Rechte annehmen, dafs ivir sangen auf Grund des Singulars ich sang v\u00f6llig neugebildet ist? Ich halte das letztere sogar f\u00fcr das Wahrscheinlichere, wenn ich an F\u00e4lle denke wie etwa die Neubildung der lat.","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n123\nPr\u00e4sentien prostrare contrire ans den Perfekten prostravi contrivi. Denn wer wird in jenen blofs Umbildungen aus den alten prostemere conterere sehen m\u00f6gen? Ich k\u00f6nnte \u00e4hnliche Bedenken auch in bezug auf die Behandlung der Volksetymologie erheben, aber es ist mir erw\u00fcnschter nochmals hervorheben zu k\u00f6nnen, dais die psychologische Behandlung zwar nichts grammatisch Neues bringt, aber die Dinge allerdings auf eine erheblich andere und breitere Basis stellt als das bisherige k\u00fcmmerliche Operieren mit Assoziationen im HzRBABTSchen Sinne.\nBei dem f\u00fcnften Kapitel {Wortbildung, S. 630ff.) mufs sich der Grammatiker zun\u00e4chst der Gewohnheit entschlagen, die ihn unter Wortbildung die Lehre von den wortbildenden, ableitenden Suffixen verstehen l\u00e4fst. Nicht die Schaffung allgemein g\u00fcltiger Wortformen (Nomina, Verba etc.) durch Suffigierung hat Wundt im Auge oder wenigstens allein im Auge, sondern zun\u00e4chst die psychophysische T\u00e4tigkeit des Individuums beim Hervorbringen eines jeden gesprochenen Wortes, sozusagen die Reproduktion des Lexikons durch das Individuum, sodann die Ur-sch\u00f6pfnng der einzelnen Worte, die Lautverdoppelung und Zusammensetzung. Dagegen \u00fcber Entstehung von Suffixen findet sich weder hier noch sonst zusammenh\u00e4ngender Aufschlu\u00df, obschon der Funkt doch, wie ich glauben m\u00f6chte, auch psychologisch von hohem Interesse ist. Man kann sich nach dem Gesagten denken, dafs den Aphasien und Paraphasien in diesem Kapitel breiter Raum gewidmet ist. An dem WzBNiCKBsehen Schema wird hier, wie es auch von der modernen franz\u00f6sischen neurologischen Schule geschieht, energische Kritik ge\u00fcbt, und leider scheint es um dies, das sich durch Einfachheit und \u00dcbersichtlichkeit gerade auch f\u00fcr den Linguisten so sehr empfahl, geschehen zu sein. Dann folgt jene Besprechung der Wurzeltheorie, die ich schon oben bem\u00e4ngeln mufste; hier sei nur noch hinzugef\u00fcgt, dafs in die Annahme von Wurzeln keineswegs die andere eingeschlossen ist, der Mensch habe einst blofs in Verbalbegriffen gedacht. Genau so prim\u00e4re, nicht weiter zerlegbare Worte wie der zweite Bestandteil von gr. \u00dfovnlr* x\u00e9\u00e7vty, lat. faenisex iudex sind z. B. auch die indogermanischen Worte f\u00fcr Schnee, Rind, Haus, Erde u. a. Ganz besonders wertvoll sind dann wieder die Betrachtungen \u00fcber Wort und Satz, die in sp\u00e4teren Abschnitten weite Ausblicke nach verschiedenen Seiten erm\u00f6glichen: als das Prius gilt Wundt der Satz, aus dem sich erst das Einzel wort aussondert. Wenn diese Anschauung auch nicht neu ist (siehe z. B. Gabelentz, Sprachwissenschaft * S. 88), sie ist wohl noch nie so konsequent durchgef\u00fchrt worden wie hier. Dies \u00e4ufsert sich sogleich in dem Abschnitt \u00fcber Wortzusammensetzung (S. 642 ff.), wo W\u00fcndt mit Nachdruck betont, dafs man bisher die Komposita im allgemeinen viel zu sehr als Synthese aufgefafst hat, w\u00e4hrend mindestens ebenso wichtig die analytische Frage ist, warum gerade diese Wortgef\u00fcge sich als Einheit aus dem Satzganzen ausgesondert haben. Wie diese Auffassung f\u00fcr die Sprachwissenschaft auch praktisch wichtig werden kann, hat die letzte linguistische Untersuchung \u00fcber das Wesen der sog. Wortzusammensetzung gezeigt, auf die daher hier der K\u00fcrze halber verwiesen sein mag (Brugmann, Berichte d. s\u00e4chs. Gesellsch. d. Wissensch. 1900, 390 ff.). Andererseits mufs ich doch auch hier den Gegensatz bedauern, in den sich Wundt zur historischen Grammatik stellt.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nBesprechungen.\nEr behauptet, eie habe sich mit der Feststellung der zwischen den Gliedern des Kompositums bestehenden logischen und grammatischen Verh\u00e4ltnisse begn\u00fcgt, um dann darauf etwa eine Klassifikation der Wortzusammensetzung zu gr\u00fcnden. Das trifft nur f\u00fcr die \u00e4ltere grammatische Literatur \u00fcber die Komposition zu. Denn seit Cubtius mit seiner Ansicht \u00fcber die Entstehung der Stammkomposita durchgedrungen ist (s. o.), kann ja niemand zweifeln, dafs wir in ihnen Reste einer Urzeit mit primitivster Syntax haben, wo z. B. einfache Nebeneinanderstellung zweier Nomina alle die Beziehungen ausdr\u00fccken konnte, f\u00fcr die wir heute nicht nur die Casus, sondern auch Pr\u00e4positionen und weitl\u00e4ufigere Umschreibungen ben\u00f6tigen. Das kann und will niemand heute durch eine logisch ^syntaktische Klassifikation zu ersch\u00f6pfen versuchen, und wenn wirklich jemand in einem Falle wie WinA-oder Wasserm\u00fchle noch von einer Ellipse redet-, wie Wundt S. 649 behauptet, so ist er sich doch wohl bewufst, dafs der Ausdruck die Sache insofern nicht trifft, als die Zeit, die die Musterbilder solcher Komposita schuf, sich \u00fcberhaupt nur in dieser brachylogischen Weise ausdr\u00fccken konnte, w\u00e4hrend man von Ellipse doch wohl nur reden darf, wo die M\u00f6glichkeit vollerer Ausdrucksweise existiert. Wenn aber gem\u00e4fs dem Gesagten nicht nur Wundts Polemik, sondern auch seine positiven Aufstellungen mir im einzelnen manche Korrektur zuzulassen scheinen, so ist es doch besonders schade, dafs er von der CuaTiusschen Erkenntnis nicht f\u00fcr die beiden folgenden Kapitel Gebrauch gemacht hat. F\u00fcr Entwicklung von Flexion, Unterscheidung von Kasus, Herausbildung und Wichtigkeit von Pr\u00e4positionen kann nichts instruktiver sein, als die ganz einzigartigen Zeugnisse der indogermanischen Komposition \u00fcber das Verhalten jener sp\u00e4terhin formal und syntaktisch so reich entwickelten Sprachen zu einer Zeit, wo ihnen alle jene Ausdrucksmittel noch fehlten.\nSo belegt denn Wundt im sechsten Kapitel (Die Wortformen, Band II S. 1\u2014214) den Typus noch mangelnder oder nur spurweise entwickelter Kasusbildung S. 70 nur aus dem Hottentottischen und anderen afrikanischen Sprachen, wo er sich dreist an jene urindogermanische Phase h\u00e4tte halten d\u00fcrfen (\u00e4hnlich S. 58). Im \u00fcbrigen darf man wohl zugestehen, dafs gerade hier die Heranziehung nichtindogermanischen Sprachmaterials Wundts Betrachtungen \u00fcber die Entstehung der Kasus und der Verbalfiexion einen besonderen Wert gerade f\u00fcr den mit kleinerem Gesichtswinkel arbeitenden Indogermanisten verleiht; hier erweckt naturgem\u00e4fs die Verwendung solchen aus dritter und vierter Hand genommenen Materials nicht die gleichen Bedenken wie da, wo es sich um die Feinheiten der Aussprache handelt Hypothetisches l\u00e4uft freilich auch hier nicht wenig unter; manchmal ist in die herangezogenen Tatsachen eine psychologische Entwicklung hineinkonstruiert, die ich durchaus nicht anerkennen kann. Aber ich m\u00f6chte mich nicht auch hier in Einzelheiten verlieren.\nVortreffliches bringt das siebente Kapitel Satzf\u00fcgung (S. 215\u2014419), namentlich in seinen ersten Teilen. Das h\u00e4ngt zusammen mit der Art, wie Wundt das Verh\u00e4ltnis von Satz und Wort fafst (s. o. S. 123), dann aber damit, dafs er zum ersten Male mit voller Energie die einschl\u00e4gigen Erscheinungen rein psychologisch zu verstehen sucht und' die Logik aus den letzten Positionen verdr\u00e4ngt, die sie in der Grammatik hier noch inne hatte. Wundt\n\u2022\u00e2\u00e9a\u00f9ia","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n125\ndefiniert den Satz (S. 240) als \u201eden sprachlichen Ausdruck f\u00fcr die willk\u00fcrliche Gliederung einer Gesamtvorstellung in ihre in logische Beziehungen zueinander gesetzten Bestandteile.\u201c Mir scheint in mancher Hinsicht diese Definition eine wesentliche Verbesserung gegen\u00fcber der PxuLschen (Princ. J 8. 110) zu bedeuten: \u201eDer Satz ist der sprachliche Ausdruck, das Symbol daf\u00fcr, dafs sich die Verbindung mehrerer Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen in der Seele des Sprechenden vollzogen bat, und das Mittel dazu, die n\u00e4mliche Verbindung der n\u00e4mlichen Vorstellungen in der Seele des H\u00f6renden zu erzeugen.\u201c Vor allem sehe ich es als einen Vorzug an, dafs Wundt jeden teleologischen Zusatz wegl\u00e4lst. Selbstgespr\u00e4che, z. B. der Ausruf \u201eDonnerwetter ! habe ich mich geschnitten !J, den jemand auch im einsamen Zimmer ausstofsen kann, u. dgl. verfolgen nicht den Zweck der Mitteilung, haben aber doch Satzform. Und wenn man auch zugeben mag, dafs die ersten sprachlichen \u00c4ufserungen in Satzform alle jenem Zwecke gedient haben, so haben wir doch nicht den ursprachlichen Satz, sondern den Satz im allgemeinen zu definieren. Aber nicht nur darum ist Pauls teleologischer Zusatz bedenklich, sondern auch weil es fraglich scheint, ob die Frage- und Wunschs\u00e4tze, auch wenn sie an einen Angeredeten gerichtet sind, allemal in diesem \u201edie n\u00e4mliche Verbindung der n\u00e4mlichen Vorstellungen\u201c erzeugen. Streichen wir nun bei Paul den teleologischen Zusatz, so scheint doch auch der Best bedenklich ; so hat er selbst schon bemerkt, dafs negative S\u00e4tze sich seiner Definition nur auf Umwegen f\u00fcgen (\u00a7 92). Wundts Definition umfafst alle Satzarten aufs gl\u00fccklichste \u2014 eine Schwierigkeit, die durch ihn nicht definitiv gel\u00f6st ist, scheint mir nur bei den Impersonalien zu liegen. Wieso ist lat. pluit, tonat usw. der \u201esprachliche Ausdruck f\u00fcr die willk\u00fcrliche Gliederung einer Gesammtvorstellung\u201c usw.? Wundt kommt, soweit ich sehe, nachdem er seine Definition des Satzes gegeben hat, auf die Impersonalien nicht zur\u00fcck; ihm scheint also jedenfalls die Frage durch den Abschnitt \u00fcber die Impersonalien S. 218\u2014221 erledigt. Dort versucht er jene Impersonalien auf urspr\u00fcnglich \u201ekonkretere\u201c Ausdr\u00fccke zur\u00fcck-zuf\u00fchren; wie wir f\u00fcr \u00eee\u00bb in \u00e4lterer Zeit vu piv \u00e0 Ztvj erscheinen sehen, so soll das ganze Impersonale \u201eein St\u00fcck Abbreviatursprache\u201c sein, \u201edas unter der Wirkung h\u00e4ufigen Gebrauchs aus einer einst vollst\u00e4ndigeren Satzform hervorging\u201c. Dies l\u00e4lst sich ja nun wohl nicht widerlegen, aber freilich ebensowenig in einer dem Grammatiker gen\u00fcgenden Weise sicherstellen. Jedenfalls aber stimmen gerade die hier genannten und \u00e4hnliche Impersonalien zu Pauls Satzdefinition auch nicht besser.\nBei seiner Betrachtung der einzelnen Satzarten kann ich Wundt hier nicht weiter folgen, so manches da zu sagen und bisweilen auch zu bezweifeln w\u00e4re. Am wenigsten hat mich der Abschnitt \u00fcber Khythmus und Akzent (S. 375 bis 402) befriedigt. Nicht als ob nicht auch dieser sehr interessante und anregende Er\u00f6rterungen br\u00e4chte, die gewifs auch dem Nichtpsychologen von Nutzen sein k\u00f6nnen; scheint doch z. B. was \u00fcber die unwillk\u00fcrliche Bhythmisierung 16 gleicher Schl\u00e4ge auf S. 383 ff. beobachtet ist, die Verteilung der Ikten im troch\u00e4ischen Tetrameter erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen. Aber die Bedeutung gerade f\u00fcr die Grammatik liegt nicht ebenso auf der Hand, und man vermilst (um von Irrt\u00fcmern wie S. 393 \u00fcber die Betonungsver \u00e4ndernng des Lateinischen abzusehen) bisweilen die Arbeit mit konkretem","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nBesprechungen.\nsprachlichem Material and die Auseinandersetzung mit allseitig anerkannten Betonungsgesetzen. So ist nach Wacksbnagkds ausgezeichneter Arbeit \u00fcber ein Gesetz der indogermanischen Wortstellung (Indogerm. Forschungen I) nichts gewisser, als dafs im Indogermanischen schw\u00e4chstbetonte W\u00f6rter nach der zweiten Satzstelle streben. Wie vertr\u00e4gt sich damit Wundts Prinzip (S. 350): \u201eWo die Wortstellung frei, nicht durch eine Oberlieferte feste Norm oder durch andere Bedingungen gebunden ist, da folgen sich die W\u00f6rter nach dem Grad der Betonung der Begriffe\u201c? Jene indogermanische feste Norm hat sich doch offenbar vielmehr infolge des Prinzips ergeben das schw\u00e4chstbetonte Wort auf das st\u00e4rkstbetonte folgen zu lassen.\nDas achte Kapitel (S. 420\u2014683) handelt vom Bedeutungswandel. Die Sprachwissenschaft darf sich beim Bedeutungswandel wohl besonders fest darauf verlassen, dafs ihr alle irgendwie wesentlichen Erscheinungen bekannt sind. W\u00fcnschenswert aber ist es, f\u00fcr diese Erscheinungen eine gen\u00fcgende Einteilung und eine ausreichende psychologische Begr\u00fcndung zu erhalten. Die Einteilung ist schwer, weil es aufser rein (oder doch vorwiegend) psychologischen Vorg\u00e4ngen (wie z. B. der Bedeutungsabschw\u00e4chung in furchtbar grofs u. dgl.) und aufser Vorg\u00e4ngen, die im wesentlichen durch Ver\u00e4nderungen am bezeichneten Objekt bedingt sind (wie bei pecunia: pecu ,Vieh\u2018), auch noch wesentlich sprachlich bedingte gibt. So nimmt auf Grund der \u00c4hnlichkeit des Klanges irritieren vielfach die Bedeutung von irref\u00fchren an (eine Art Volksetymologie); so f\u00fchrt ver\u00e4nderte Satzteilung lat. verum dazu zur Partikel zu werden (Wackkrnagkl, Beitr\u00e4ge z. griech. Sprach-kunde, Basel 1897, S. 23); so nimmt lat. iamdudum .schon l\u00e4ngst' die Bedeutung .sofort* an, weil in Wendungen wie iamdudum demittite comva sich durch sog. Kontamination die Ausdrucksweisen iamdudum cornua demitti oportebat und actutum demittite comua oder \u00e4hnlich verschmolzen haben. Auf diese letzte Reihe von Vorg\u00e4ngen hat Won dt teils nur fr\u00fcher (I 464 ff.), teils gar nicht Bezug genommen; der gerade auch psychologisch so interessante Vorgang der Kontamination \u2014 man denke nur an Verschmelzungen wie franz\u00f6s. crcantile aus client\u00e8le und cr\u00e9ance \u2014, dem man von linguistischer Seite immer steigende Aufmerksamkeit schenkt (vgl. Paul* Kap. 8), ist \u00fcberhaupt von Wundt auff\u00e4llig vernachl\u00e4ssigt.\nImmerhin machen diese Vorg\u00e4nge ja nur einen kleinen Teil allen Bedeutungswandels aus. Die \u00fcbrige grofse Masse scheidet Wundt zun\u00e4chst in korrelativen und selbst\u00e4ndigen Bedeutungswandel. Wird ein Lautgebilde A durch eine Komplikation laut\u00e4ndernder Ursachen in zwei andere B und C umgewandelt, so kommt es vor, dafs B und C sich in der Bedeutung gegeneinander differenzieren ; so z. B. sind lat. orno und ordino urspr\u00fcnglich identisch. In diesem Fall spricht Wundt von korrelativem Bedeutungswandel; im Gegensatz zu diesem trete der selbst\u00e4ndige un lautlich unge\u00e4nderten Worte ein. Diese Einteilung scheint mir nicht gl\u00fccklich und in jedem Fall ohne Belang. Keineswegs geht mit der lautlichen Differenzierung allemal eine der Bedeutung zusammen; h\u00e4ufig tritt die erstere ein, ohne die zweite zur Folge zu haben (vgl. z. B. lat. neque nec, solidus soldus, deinde dein usw. usw.). Wo aber beide zusammen vorliegen, ist der Bedeutungswandel doch ein von dem Lautwandel v\u00f6llig unabh\u00e4ngiger Vorgang; er wird durch ihn nicht im mindesten beeinflu\u00fcst,","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n127\nsondern vollzieht sich nach genau denselben Gesetzen wie der \u201eselbst\u00e4ndige\u201c Bedeutungswandel ; er ist auch keineswegs immer gleichzeitig mit der Entstehung der lautlichen Doublets, sondern, vielfach wenigstens, hysterogen.\nNeben diese erste Scheidung stellt Wundt S. 428 ff. als zweite die in regul\u00e4ren und singul\u00e4ren Bedeutungswandel. Der regul\u00e4re soll alle jene Ver\u00e4nderungen der Wortbedeutung in sich schliefsen, welche \u201edurch die innerhalb einer Sprachgemeinschaft allgemeing\u00fcltig auftretenden allm\u00e4hlichen Ver\u00e4nderungen der Apperzeption\u201c erfolgen, der singul\u00e4re alle diejenigen Erscheinungen, \u201edie aus individuellen, an spezielle Raum- und Zeit-bedingungen gebundenen Motiven hervorgehen\u201c (8. 487 und 641). Ich glaube, dafs im ersten Falle gerade wie beim Lautwandel die Wirksamkeit von Individuen oder kleinen Zentren von W\u00fcndt untersch\u00e4tzt ist. In jedem Falle aber ist die Unterscheidung fliefsend, und Wundt gibt das 8. 644 teils ausdr\u00fccklich zu, teils versucht er die Scheidung mit ungen\u00fcgenden Mitteln. Ich bediene mich seit Jahren in meinen Vorlesungen einer Einteilung, die mit der WuNDTSchen zum Teil zusammenf\u00e4llt, aber auf einem greifbaren Prinzip beruht und jedenfalls keine unsicheren F\u00e4lle \u00fcbrig l\u00e4fst. Ich scheide F\u00e4lle, wo die \u00e4ltere und die j\u00fcngere Bedeutung durch ein reales Band Zusammenh\u00e4ngen, und F\u00e4lle, wo dies Band nur durch die Phantasie hergestellt wird (beides wird sich ja wohl in einer den Psychologen gem\u00e4fseren Weise ausdr\u00fccken lassen, ist aber doch, wie ich hoffe, auch so durchaus verst\u00e4ndlich oder wird es jedenfalls durch die folgenden Beispiele). In die erste Klasse geh\u00f6ren die sogenannten Bedeutungserweiterungen und -Verengungen (franz. panier eigentlich Brotkorb', dann ,Korb\u2018 \u00fcberhaupt; umgekehrt b\u00e2timent eigentlich ,Bau werk', dann speziell b\u00e2timent de mer, Schiff), sowie die \u00dcbertragungen auf \u00f6rtlich, zeitlich usw. zusammenh\u00e4ngendes wie Frauenzimmer (eigentlich ywatxiovirtt), Vesper = Abendessen etc. In die zweite Klasse geh\u00f6ren die sogenannten Metaphern, wie Zahn eines Instrumentes, Fu\u00df eines Berges, Bock eines Wagens, Hahn einer Flinte usw. Sollte diese Scheidung sich nicht auch psychologisch durchaus rechtfertigen lassen?\nIch mufs es mir leider versagen Wundt nun auch durch die weiteren Spezialisierungen seiner Disposition zu begleiten, obwohl auch hier Stoff genug zu weiteren teils zustimmenden, teils ablehnenden Er\u00f6rterungen vorhanden w\u00e4re. Besonders verdienstlich scheinen mir, um wenigstens dies kurz anzudeuten, die Belehrungen \u00fcber den Wert jener eben von mir selbst im Anschlufs an die herk\u00f6mmliche Einteilung verwendeten Kategorien der Bedeutungsverengung und -erweiterung (S. 464 ff.), sodann die zur Aufkl\u00e4rung sehr geeigneten Abschnitte \u00fcber Metapher (S. 526 ff., 651 ff.). Endlich kommt selbstverst\u00e4ndlich hoher Wert der psychologischen Begr\u00fcndung s\u00e4mtlicher Erscheinungen zu (S. 667fl.). Statt hiervon ein mehreres zu Bagen, m\u00f6chte ich lieber noch mit einem Worte auf eine Frage von allgemeinstem Belange kommen. Wundt schreibt wiederholt dem Bedeutungswandel Gesetzm\u00e4fsigkeit zu (S. 432 ff., 642 u. \u00f6.). Dafs diese Ansicht nicht ganz neu ist, hat er in den Nachtr\u00e4gen S. 620 selbst (unter Verweis auf Bbugmann, Indogerm. Anzeiger V, 17 f.) bemerkt. Nat\u00fcrlich mufs man dann Gesetzm\u00e4fsigkeit hier in ganz anderem Sinne fassen als beim Lautwandel. Der Lautwandel ist, um einen von Reuleaux in die Technik eingef\u00fchrten","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nBesprechungen.\nAusdruck zu \u00fcbertragen, zwanglBuflg; kennen wir 3\u20146 Worte einer Sprache, in denen \u00bb zwischen Vokalen zu r geworden ist, so ist der Induktions-schlufs auf die gleiche Wandlung aller anderen \u00bb zwischen Vokalen gerechtfertigt. Dagegen mag ich z. B. noch so viel lateinische Nomina actionis auf -tio kennen, die zu Ortsbezeichnungen geworden sind (cenatio ambulati\u00ab \u2022tatio usw.), ich w\u00fcrde mich ja mit den Tatsachen in Widerspruch setzen, wenn ich schliefsen wollte, all die Abstrakta auf -tio m\u00fcfsten den gleichen Wandel durchmachen. Hier k\u00f6nnen wir also M\u00f6glichkeiten oder Neigungen (ein Wort, das man fr\u00fcher ebenso gern wie unpassend f\u00fcr lautliche Dinge gebrauchte) feststellen, aber mehr nicht Die \u201eGesetze\u201c bedeuten demnach hier wohl einfach die f\u00fcr den Bedeutungswandel aufgeetellten Kategorien; innerhalb dieser vollzieht er sich, andere Wege kann er nicht einschlagen. Dafs er dabei immer, im letzten Grunde auch bei den Fallen, die ich oben S. 126 als wesentlich sprachlich bedingt bezeichnet\u00ab, durch psychologische Vorg\u00e4nge bestimmt und geleitet wird, bezweifelt von modernen Linguisten doch wohl niemand, und ich weifs also eigentlich nicht, wen Wundts Polemik gegen die Annahme von ,Zufall1 und ,Laune1 8. 432 u. \u00f6. treffen soll. Trotzdem m\u00f6chte ich den Ausdruck ,Gesetzm\u00e4fsig-keit des Bedeutungswandels' widerraten, der zu Unrecht hier eine \u00e4hnlich starre Konsequenz erwarten l\u00e4fst, wie in der Lautgeschichte. Bbugman\u00bb wollte auch wohl nicht auf genau dasselbe hinaus wie Wundt; er hofft, dafs, wenn man s\u00e4mtliche Ausdr\u00fccke \u00e4hnlicher Bedeutung, z. B. die der Totalit\u00e4t, in den indogermanischen Sprachen klassenweise untersuchte, sich da gewisse Analogien in den Ausdrucksweisen f\u00fcr verwandte Vorstellungen ergeben w\u00fcrden. Und so kann man den Unterschied der \u201eGesetzm\u00e4lsig-keit\u201c beim Lautwandel und beim Bedeutungswandel vielleicht gar nicht besser charakterisieren als mit Wundts eigenen Worten (S. 570): \u201ees k\u00f6nnen (beim Bedeutungswandel) immer nur von gegebenen Erscheinnngen ans deren Ursachen aufgesucht, es k\u00f6nnen aber nicht umgekehrt (wie beim Lautwandel) aus gegebenen Ursachen deren Wirkungen abgeleitet werden.\u201c\nVom neunten und letzten Kapitel ,Ursprung der Sprache' (S. 584\u2014614) habe ich schon bei der Besprechung des ersten ein Wort gesagt.\nEin Werk von Bedeutung und Umfang des WuNDTSchen regt so viel Erw\u00e4gungen wieder und neu an, fordert so viel Beifall und so viel Widerspruch heraus, dafs es in einer Besprechung, auch wenn sie noch l\u00e4nger w\u00e4re als die meine, notwendig um vieles zu kurz kommen mufs. Um so mehr als jeder Rezensent sich auch bei Anerkennung der Gesamtleistung im einzelnen doch vorzugsweise auf der negativen Seite zu bewegen pflegt. Auch so wird klar geworden sein, dafs Wundts Buch fortan bei Behandlung der sprachpsychologischen Fragen den Grammatikern so gut wie den Psychologen unentbehrlich ist. M\u00f6ge es nur in letzteren nicht den Glauben erwecken, dafs man dar\u00fcber die eigene Literatur der Grammatiker vernachl\u00e4ssigen k\u00f6nne. Insbesondere Pauls Prinzipien d\u00fcrfen trotz der psychologischen Vorz\u00fcge Wundts aus ihrer zentralen Stellung nicht verdr\u00e4ngt werden.\nIch kann diese Zeilen nicht abschliefsen, ohne mit ein paar Worten der kleinen Bibliothek zu gedenken, die Wundts Werk bereite hervorgerufen","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n129\nbtt, von der ich aber absichtlich erst Kenntnis genommen habe, als mein eigenes Urteil bereits fertig war. Nur kurz hingewiesen sei auf die Schrift \u25bcon L. 8\u00fcttsrlis: Das Wesen der sprachlichen Gebilde (Heidelberg 1902), die anf fast 200 Seiten eine eingehende Kritik Wundts vom indogermani-stischen Standpunkt aus enth\u00e4lt, und sich in manchem mit dem Vorstehenden ber\u00fchrt. Aber etwas n\u00e4her m\u00f6ge man mir auf Delbr\u00fccks Kritik (Grundfragen der Sprachforschung mit R\u00fccksicht auf W. Wchdts Sprachpsychologie er\u00f6rtert, Strafsburg 1901, 180 S.) und Wdkdts Replik (Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, Leipzig 1901, 110 S.) einzugehen erlauben, die aus bestimmten Gr\u00fcnden besondere Beachtung verdienen. Delbr\u00fcck gibt n\u00e4mlich zum Begtnn eine Vergleichung der HRBBABTSchen und WcrtDTSchen Psychologie, die bei aller K\u00fcrze ausgezeichnet orientiert und der der kompetenteste Beurteiler, Wckdt selbst S. 20ff., das beste Zeugnis ausstellt. Wckdts eigene Schrift aber ist schon darum besonders wichtig, weil er hier deutlicher als irgendwo in dem grofsen Werke selbst ausgesprochen hat, dale der eigentliche Zweck dieses letzteren in erster Reih\u00ab gar nicht der ist, dem Sprachforscher praktische Dienste zu leisten. Nicht die Psychologie sollte hier in den Dienet der Grammatik treten, sondern umgekehrt: wie es Wundt einmal in einem seiner Essays formuliert hat, sollte die Grammatik hier als eine Art Experimentalpsychologie dienen, sollten ihr die psychologischen Gesetze abgefragt werden.\nMit um so mehr Spannung wird man dem zweiten Teil der Volkerpsychologie, der den Mythus behandeln soll, entgegensehen. Denn innerhalb der Sprachwissenschaft oder wenigstens innerhalb der Indogermanistik fand Wcndt eine ausgebildete und zuverl\u00e4ssige, zudem bereits sich in Pauls Buch einer vortrefflichen und anerkannten Darstellung erfreuende Prinzipienlehre vor; hier ist es m\u00f6glich, reife Fr\u00fcchte f\u00fcr die Psychologie zu ernten. Aber wo ist heute der Mythologe, der die Prinzipien des anderen gelten l\u00e4fst? wird nicht also die V\u00f6lkerpsychologie hier was sie ernten will auch grofsenteils selbst pflanzen m\u00fcssen? und \u2014 bei allem Respekt vor dieser Wissenschaft und ihrem ausgezeichneten Neubegr\u00fcnder sei's gefragt \u2014 wird sie\u2019s k\u00f6nnen? wird sie uns Prinzipien zeigen, denen die Mytho-logen eintr\u00e4chtig zu folgen geneigt sein werden? M\u00f6ge uns der zweite Band der V\u00f6lkerpsychologie recht balde Licht geben!\nSk\u00fctsoh (Breslau).\nWilliam James. The Yarletlei of Bellglou Experience, i Stndy ln Human\nlatnre. New York, London und Bombay, Longmans, Green und Co.\n1802. 527 S.\nDafs der ber\u00fchmte Vertreter der Psychologie an der Harvard University in Boston in einigen seiner sp\u00e4teren Essays Ansichten ge\u00e4ufsert hat, die dem Standpunkt, den er in seiner zweib\u00e4ndigen Psychologie eingenommen hatte, nicht ganz zu entsprechen schienen \u2014 Ansichten, welche namentlich die religi\u00f6sen und ethischen Vorstellungen betreffen, war schon seit Jahren bemerkt worden. Der Glaube an das Ideal zwar Hypothese, aber das Wertvollste f\u00fcr den Menschen; das Leben nicht des Heiligen, Bondern des reuigen S\u00fcnders das vollkommenste Mittel zur Erschlielsung\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 37.\t9","page":129}],"identifier":"lit32038","issued":"1904","language":"de","pages":"112-129","startpages":"112","title":"W. Wundt: V\u00f6lkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Erster Band: Die Sprache. Zwei Teile. Leipzig, Engelmann. 1900. XV 627 und X 644 S.","type":"Journal Article","volume":"37"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:37:01.861297+00:00"}