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{"created":"2022-01-31T16:36:44.161756+00:00","id":"lit32039","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Runze, Georg","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 37: 129-143","fulltext":[{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n129\nbtt, von der ich aber absichtlich erst Kenntnis genommen habe, als mein eigenes Urteil bereits fertig war. Nur kurz hingewiesen sei auf die Schrift \u25bcon L. 8\u00fcttsrlis: Das Wesen der sprachlichen Gebilde (Heidelberg 1902), die anf fast 200 Seiten eine eingehende Kritik Wundts vom indogermani-stischen Standpunkt aus enth\u00e4lt, und sich in manchem mit dem Vorstehenden ber\u00fchrt. Aber etwas n\u00e4her m\u00f6ge man mir auf Delbr\u00fccks Kritik (Grundfragen der Sprachforschung mit R\u00fccksicht auf W. Wchdts Sprachpsychologie er\u00f6rtert, Strafsburg 1901, 180 S.) und Wdkdts Replik (Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, Leipzig 1901, 110 S.) einzugehen erlauben, die aus bestimmten Gr\u00fcnden besondere Beachtung verdienen. Delbr\u00fcck gibt n\u00e4mlich zum Begtnn eine Vergleichung der HRBBABTSchen und WcrtDTSchen Psychologie, die bei aller K\u00fcrze ausgezeichnet orientiert und der der kompetenteste Beurteiler, Wckdt selbst S. 20ff., das beste Zeugnis ausstellt. Wckdts eigene Schrift aber ist schon darum besonders wichtig, weil er hier deutlicher als irgendwo in dem grofsen Werke selbst ausgesprochen hat, dale der eigentliche Zweck dieses letzteren in erster Reih\u00ab gar nicht der ist, dem Sprachforscher praktische Dienste zu leisten. Nicht die Psychologie sollte hier in den Dienet der Grammatik treten, sondern umgekehrt: wie es Wundt einmal in einem seiner Essays formuliert hat, sollte die Grammatik hier als eine Art Experimentalpsychologie dienen, sollten ihr die psychologischen Gesetze abgefragt werden.\nMit um so mehr Spannung wird man dem zweiten Teil der Volkerpsychologie, der den Mythus behandeln soll, entgegensehen. Denn innerhalb der Sprachwissenschaft oder wenigstens innerhalb der Indogermanistik fand Wcndt eine ausgebildete und zuverl\u00e4ssige, zudem bereits sich in Pauls Buch einer vortrefflichen und anerkannten Darstellung erfreuende Prinzipienlehre vor; hier ist es m\u00f6glich, reife Fr\u00fcchte f\u00fcr die Psychologie zu ernten. Aber wo ist heute der Mythologe, der die Prinzipien des anderen gelten l\u00e4fst? wird nicht also die V\u00f6lkerpsychologie hier was sie ernten will auch grofsenteils selbst pflanzen m\u00fcssen? und \u2014 bei allem Respekt vor dieser Wissenschaft und ihrem ausgezeichneten Neubegr\u00fcnder sei's gefragt \u2014 wird sie\u2019s k\u00f6nnen? wird sie uns Prinzipien zeigen, denen die Mytho-logen eintr\u00e4chtig zu folgen geneigt sein werden? M\u00f6ge uns der zweite Band der V\u00f6lkerpsychologie recht balde Licht geben!\nSk\u00fctsoh (Breslau).\nWilliam James. The Yarletlei of Bellglou Experience, i Stndy ln Human\nlatnre. New York, London und Bombay, Longmans, Green und Co.\n1802. 527 S.\nDafs der ber\u00fchmte Vertreter der Psychologie an der Harvard University in Boston in einigen seiner sp\u00e4teren Essays Ansichten ge\u00e4ufsert hat, die dem Standpunkt, den er in seiner zweib\u00e4ndigen Psychologie eingenommen hatte, nicht ganz zu entsprechen schienen \u2014 Ansichten, welche namentlich die religi\u00f6sen und ethischen Vorstellungen betreffen, war schon seit Jahren bemerkt worden. Der Glaube an das Ideal zwar Hypothese, aber das Wertvollste f\u00fcr den Menschen; das Leben nicht des Heiligen, Bondern des reuigen S\u00fcnders das vollkommenste Mittel zur Erschlielsung\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 37.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nBesprechungen.\nder Wahrheit ; auch die sichersten Schl\u00fcsse, die auf allt\u00e4gliche Tatsachen der Erfahrung gegr\u00fcndet werden, im wesentlichen Hypothesen; dem Indeterminismus das Zugest\u00e4ndnis, nicht blofs dafs dem Willen stets mehreres m\u00f6glich ist und dafs das endg\u00fcltige Gutwerden der Welt mufs geglaubt werden d\u00fcrfen, so dafs wir so handeln sollen, als ob der k\u00fcnftige und zweifelhafte Erfolg als gewifs geglaubt werden k\u00f6nne, sondern dafs wir nach alledem auch annehmen m\u00fcssen, der Wille sei wirklich frei. Wenn der Fromme glaubt, dafs die wirkliche Welt unserer Erfahrung nur ein Sinnbild und Gleichnis eines ewigen, \u00fcberweltlichen Seins ist, so erlebt er eine Gewifsheit, die dem Vertrauen des Denkers auf die G\u00fcltigkeit des Kausalit\u00e4tsgesetzes mindestens gleichwertig ist. Das Leben ein Kampf, dem Glauben der Sieg; seine Wurzel das Sehnen des Gem\u00fctes nach dem Geist, der der Natur zugrunde liegt und der, in lebendigem Kontakt mit der Menschenseele stehend, zwar ewig, aber nicht zeitlos ist, vielmehr als Weltseele das All durchdringt und vielleicht selber aus unserem Glauben St\u00e4rkung und Steigerung erf\u00e4hrt. Der Vorzug des Glaubens vor dem Wissen ist, dafs in jenem die Best\u00e4tigung nicht erst von der k\u00fcnftigen Erfahrung abh\u00e4ngig ist, sondern unmittelbar in ihm selbst liegt. Wenn es nicht so w\u00e4re, die Hypothesen des Glaubens auf gleicher Linie l\u00e4gen mit denen des Wissens, so w\u00fcrde kein Mensch glauben, dem einmal das Forschen als Mittel, den Zweifel zu tilgen, aufgegangen ist. Da die einzig sichere Tatsache ist, dafs wir das Bewufstsein haben, welches wir eben haben, so ist innerhalb dieses Bewufstseins das Wertvollere vom minder Wertvollen leicht dadurch zu unterscheiden, dafs jenes vollere und dauerndere Befriedigung gew\u00e4hrt. Wissen befriedigt, aber da im Naturerkennen fast alles zweifelhaft bleibt, weil das, was wir wissen m\u00f6chten, uns fremd ist, und wir nur \u00fcber unsere eigenen Zust\u00e4nde wissen, so ist bez\u00fcglich des Jenseits der Vorstellungsgrenze wissenschaftlich nicht zu entscheiden, ob ein oder viele TJrwesen, ob Monismus oder Pluralismus des R\u00e4tsels L\u00f6sung bedeute. Der Glaube hingegen ist der eigentliche Wirklichkeitssinn par excellence, diejenige Funktion des Geistes, mittels deren wir Realit\u00e4ten wirklich erkennen. Eigentlich gibt es viele Welten: die Welt des Bauern ist eine andere als die des Gelehrten, die des Mathematikers ist anders als die des Historikers ; im Grunde hat jedes Individuum seine Welt f\u00fcr sich. Aber zweifelausschliefsende Realit\u00e4t kommt nur einer solchen Weltauffassung zu, in welcher die Voraussetzung, an die alles Wissenwollen ankn\u00fcpft, das Sein des Bewufstseins, unabh\u00e4ngig von den s\u00e4mtlichen individuellen Selbstbewufstsein, anerkannt wird (also etwa in der Weise der FECHNERSchen \u201eTagesansicht\u201c, im Unterschiede von der \u201eNachtansicht\u201c, nach welch letzterer die Welt farblos, kalt, stumm, tot w\u00e4re, falls kein menschliches und tierisches Bewufstsein mehr w\u00e4re). Das Verh\u00e4ltnis von Gehirn und Seele kann demnach nicht ein derartiges sein, wie es etwa Dubois - Reymond in den \u201eGrenzen des Naturerkennens\u201c statuierte, dafs erst mit einem bestimmten Entwicklungsstadium der Organismen, mit dem Auflodern eines geeigneten zerebralen Substrats das Bewufstsein erwacht, das Gehirn also das Denken hervorbringt; vielmehr ist der Geist einfach da, und er wartet nur auf die Gelegenheit, da er einschiefsen k\u00f6nne in sein geeignetes Strombett. Das Gehirn ist das transmissive Organ,","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n131\nwelches den \u00dcbergang des Allbewufstseins vom Ich zum Ich nach dem Prinzip der Individuation vermittelt. Das Geistige ist nicht Begleiterscheinung des Gehirn- und Nervenlebens, sondern eher umgekehrt; \u201ees ist der Geist, der sich den K\u00f6rper schafft\u201c, k\u00f6nnte man in richtiger Charakteristik sagen.\n\u00bb\nWas im vorstehenden in K\u00fcrze und in freier Wiedergabe zusammengestellt ist, d\u00fcrfte etwa dem wesentlichen Inhalt der seit 1896 erschienenen jAME8schen Essays (\u00dcber den Willen zum Glauben; \u00fcber die Unsterblichkeit des Menschen u. a.) entsprechen.\nDas Unterscheidende (I) gegen\u00fcber der allgemein bekannten Darstellung der Psychologie (II) hat Junes Baumann in seinem Buch \u201eDeutsche und auiserdeutsche Philosophie der letzten Jahrzehnte\u201c, 1903, S. 488, so charakterisiert: \u201eKorrelation von Hirn und Geist ist Annahme von I und H. ln I geht er vom Hirn aus, Geist als Hypothese offen lassend, in II geht er vom Geist aus, ohne gleiche Resultate wie in I zu bekommen.\u201c Baumann bestreitet aber gerade das Gemeinschaftliche, die Korrelation von Him und Geist. Apriorische Satze k\u00f6nnen nicht aus K\u00f6rperlichem stammen, ebensowenig die logischen M\u00f6glichkeiten, \u00fcber die James reichlich verf\u00fcge. Zwar Bei der Geist, auch der gesamte Inhalt des Pers\u00f6nlichen im Ich, k\u00f6rperlich bedingt, aber wichtige formale Begriffe stamm'en nicht aus dem K\u00f6rper. Das erstgenannte behaupte I mit Recht, das zweite werde in II dahin \u00fcbertrieben, dafs die blofse logische M\u00f6glichkeit gen\u00fcge, als ware Verifikation \u201eblofs Gef\u00fchlsannahme der Wissenschaft\u201c, wahrend sie doch eine \u201elangsame Errungenschaft im Kampf der Meinungen\u201c sei. Diese vielen Meinungen habe Jambs in I darwinistisch gefafst, in II seien sie von Gott in uns gelegt, Gott \u00fcberdies bald als Weltseele gefafst, bald biblisch sch\u00f6pferisch, wenngleich, abgesehen von den inneren Anregungen, ohne Wunderwirkung. Dafs James dabei in II auf Verifikation durch \u00e4ufsere Erfahrung ganz verzichte, wie Baumann meint, ist nicht ganz korrekt geurteilt; er sagt nur, dafs die Methode, sich mit sinnlicher Verifizierung zufrieden zu geben, einseitigem Klughoitsstandpunkt entspreche, dafs hingegen der geistige Daseinskampf, in dem die zweckmafsigsten Vorstellungen \u00fcberleben, mehr verlangt: das instinktive Gef\u00fchl, der sittliche Wille, die Rezeptivitat f\u00fcr jegliche Art von intuitiver Evidenz, diese Instanzen weisen auf ein umfassenderes Gebiet geistiger Variet\u00e4ten, mittels deren dem Vernunftwesen der Zugang in das befriedigende und befreiende Bewufstaein wahrer \u00dcberzeugungen er\u00f6ffnet werde. Richtig ist, dafs James zwischen dem problematischen Glauben (an die hypothetische Wahrheit f\u00fcr den Intellekt) und dem religi\u00f6s - gegebenen Glauben \u2014 man k\u00f6nnte sagen: zwischen belief und faith \u2014 nicht scharf unterscheidet. Auch die Andeutungen \u00fcber die Genesis der individuellen Psychologie des JaMESschen Denkens sind zutreffend: sein Vater war Swedenborgianer, mit Carlyle verbindet ihn pers\u00f6nliche und Rassensympathie, mit Emerson \u00fcberdies das amerikanische Milieu; ebendaher stammt auch seine anerkennende Beurteilung der Christian Science mit ihrem in die Tat umgeBetzten, praktisch -hygienisch verwerteten Berkeleyanismus. Aber James ist so vielseitig angeregt, dafs man mindestens auch auf Kant, Schslling, Lowe,\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nBesprechungen.\nSpencer, auf die religi\u00f6se Mystik und die buddhistisch-asketischen Ideale des modernen Pessimismus, an dessen Stelle wie an die seines Gegenteils er den \u201eMeliorismus\u201c setzen will, zur\u00fcckgreifen m\u00fcfste, um die Entstehungsweise seiner gegenw\u00e4rtigen Gedankenwelt zu erkl\u00e4ren. Wo ihn, wie bei seinen exakten Untersuchungen der fr\u00fcheren Periode, das Mittel der Beobachtung und des Experiments \u00fcberwiegend fesselte, da konnte er seinem modern - amerikanischen Vielseitigkeitsstreben das Gegengewicht halten; wo er \u00fcber das instinktiv funktionierende Innenleben kontempliert, da standen dem Einstr\u00f6men divergierendster Motive keine Schranken im Wege. So konnte die Meinung aufkommen, James habe sich dem Spiritismus zugewandt; teils mag sein mildes Urteil \u00fcber die Heilmetaphysik der Mrs. Eddy, teils seine schier animistiscli anmutende Gleichbewertung des Pluralismus mit dem Monismus dazu Anlafs gegeben haben, obwohl schon Maimon vom Kantischen \u201eDing an sich\u201c sowie Schleiermacher in seiner Dialektik ganz dasselbe gesagt hatten und durch die HERBARTSche und MiLLsche Philosophie \u2014 ganz abgesehen von der Monadologie \u2014 diese Idee l\u00e4ngst zum Gemeingut geworden war.\nNach alledem konnte man wohl gespannt sein, was die Gifford-Vorlesungen \u00fcber die Variet\u00e4ten der religi\u00f6sen Erfahrung bringen w\u00fcrden. Die Erwartungen werden einerseits reichlich erf\u00fcllt: der klare Stil, die lebhafte, frische Darstellung, der Reichtum des Materials, das ebenso unbefangene wie weise vermittelnde Beurteilungsverfahren, vor allem die Umspannung der zwei sonst divergierenden Motive, deren Vereinbarkeit geradezu zu einem Postulat der neueren Religionsphilosophie geworden ist: des gef\u00fchlsm\u00e4fsig-mystischen und des praktisch-ethischen \u2014 diese Eigenschaften machen das Buch zu einer anregenden, n\u00fctzlichen und befriedigenden Lekt\u00fcre, und seine \u00dcbertragung ins Deutsche ist dringend zu w\u00fcnschen. Aber andererseits wird der auf exakte Erforschung der religionspsychologischen Probleme gerichtete strengere Denker entt\u00e4uscht sein. Die greifbaren Resultate sind gering, und weder neu, noch unanfechtbar. Schon der Titel verr\u00e4t das eklektische Bestreben, durch F\u00fclle des Materials strengen Problemformulierungen auszuweichen. Von einer durchgreifenden Untersuchung der verschiedenen Urformen des religi\u00f6sen Kultus und Mythos, sei sie historischer und pr\u00e4historischer, sei sie psychologischer, kinderpsychologischer und pathologischer Art, merkt man wenig; nur der gute Wille blickt hie und da hindurch, und wer nach Materialien f\u00fcr eine Geschichte der pathologischen Erscheinungen der religi\u00f6sen \u00c4sthetik und Gef\u00fchlsmystik sucht, der wird hier eine ergiebige Quelle finden; er wird \u25a0wenigstens erfahren, wo er finden kann. Aber Variet\u00e4ten beschreiben, ohne das Gesetz ihrer Entwicklung m\u00f6glichst vollst\u00e4ndig aufzudecken, kann den Forscher nicht befriedigen. Wenn ich die historischen und gegenw\u00e4rtigen Variet\u00e4ten des religi\u00f6sen F\u00fchlens, Denkens, Mollens richtig wiedergeben und richtig beurteilen will \u2014 und das mufs doch von einer religionspsychologischen Gesamtarbeit, die als Study of human nature gelten will, verlangt werden \u2014, so mufs ich durch eine kritische Abw\u00e4gung der m\u00f6glichen Theorien feststellen, wiefern es im Begriff der Religion als realen psychischen Ph\u00e4nomens mehr oder weniger notwendig gegeben sei, dafs sie nicht blofse Art des Vorstellens oder gef\u00fchlsm\u00e4fsige Begleitung","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n133\nder Willensakte, sondern etwas anderes sei. Ich mufs das Gesetz der Vorstellungsbildung kennen, dais da, wo das Objekt nieht durch sinnliche Verifikation nachgepr\u00fcft werden kann, weder der \u00e4sthetische Geschmack und die Willenaafiektion allein entscheidet, noch die Summierung des Tatsachenmaterials und die beliebige Auswahl aus demselben; denn auch bei der Kombinierung beider Elemente miteinander bewege ich mich stete im Zirkel; sondern dale vor allem auf den Sprachgebrauch und die Art, wie aus unklaren Gef\u00fchlen bestimmtere, aber einseitig metaphorische, den Keim des Widerspruchs in sich tragende Wortbilder ausgelost werden, zu achten ist und so in das vage Gebiet gef\u00fchls- und willensm\u00e4ftiger Regungen der bestimmend-ordnende, wiewohl immerhin selbst einseitig bestimmte Gedanke hinein getragen wird, so daft wir, zumal auf dem so variablen Felde religi\u00f6ser Erfahrungen, schon bei den elementarsten Urteilsbildungen in dem Dilemma uns bewegen, entweder durch bildliche Farbenf\u00fclle ungenau, oder durch farblose Abstraktion unwirklich zu verfahren. lTnd doch k\u00f6nnen wir mit den jeweiligen Mitteln der Sprache und Literatur zu einem befriedigenden Abschlufs gelangen, wenn wir uns nur bewuftt sind, dafs auch die problemformulierende Kunst, die F\u00e4higkeit der Sprache, als Ausdrucksmittel zur Formulierung des Problems zu dienen, selbst sprachlich begrenzt ist, also nicht wesentlich weiter reicht als ihre Zu-l\u00e4nglichkeit, zur L\u00f6sung der Probleme zu verhelfen. Wir haben dann eben das nnsrige getan. Hat das James? Kennt er den, einem Alexander Bain wohlbekannten, von Max M\u00f6ller und Karl Abel viel besprochenen Gegensinn der Worte? Weifs er, daft die Frage, ob dem Frommen an sich der pers\u00f6nliche Gott alles oder nichts, ob die Religion von gr\u00f6fttem Umfang oder von reichstem Inhalt, ob der Glaube aktives Zpyavov Xrinnxov oder passives Beseeltwerden, ob das Vorstellungsbild im religi\u00f6sen Gef\u00fchl wesentlich oder unwesentlich, das sittliche Ziel im religi\u00f6sen Vorstellungsideal notwendig oder zuf\u00e4llig sei \u2014, daft alle solche Fragen weder bloft theoretische noch bloft praktische sind, daft sie auf psychologischem Wege allein wie auf p\u00e4dagogisch - ethischem allein nicht gel\u00f6st werden k\u00f6nnen? Als psychologische Fragen kennt er sie; die erkenntnistheoretische Seite derselben streift er oft; ihre Bedingtheit durch die sittliche Selbstbestimmung und durch das Belieben des individuellen Geschmacks ist ihm nicht fremd (er spricht nur von der privaten, nicht von der kirchlichen Religiosit\u00e4t): aber den Hauptpunkt, das ausschlaggebende Kriterium im Zweifelsfalle, die Variabilit\u00e4t und zur Selbstregulierung zwingende Disposition der Sprache, das auf der Sprachpsychologie basierende Ethos der Wahrheitspflicht, den Gebrauch der W\u00f6rter gewissenhaft abzuw\u00e4gen und den Sprachgewohnheiten der Zeitgenossen, welche ihren Denkgewohnheiten Ausdruck geben, gerecht zu werden: von dieser Aufgabe hat er sich keine Rechenschaft gegeben. So geht er, trotz anerkennenswerten Eingehens auf deutsche Denker und Religionstypen, an den beiden wichtigsten Erscheinungen der Gegenwart achtlos vor\u00fcber: dem positiven Einfiuft der RrrscHL-HABNACxschen Kombination zwischen den Idealen der praktischsittlichen Weltbeherrschung (Reich-Gottes-Idee) und einer zugleich vereinfachten und verinnerlichten Religionsstimmung (Gotteskindschaftsidee) ; \u2014 und dem negativen Einflufe der NiETzscHEschen Weltstimmung mit ihrer","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nBesprechungen.\nAblehnung der asketischen Ideale und ihrer Verneinung eines letzten Weltzwecks wie eines letzten Welturhebers. Dafs in theologicis die deutsche Wissenschaft der englischen seit langem um mehrere Jahrzehnte vorauf ist, kann man ohne Selbst\u00fcberhebung sagen, wenn man blofs die Geschichte der Pentateuchkritik (man denke an die Amtsenthebung des trefflichen Robertson Smith !), sowie die Geschichte der Leben Jesu - Literatur ins Auge fafst. Doch das mag aufser Spiel bleiben. Aber haben nicht gerade in der Aufschliefsung der pr\u00e4historischen und \u00fcberhaupt primitiven Religionsmotive englische Forscher wie Lubbock und Tylor Hervorragendstes geleistet? Eine Frage wie die nach den Variet\u00e4ten der Religion kann unter Anwendung der dort gebotenen Mittel gegenw\u00e4rtig mit voller Sch\u00e4rfe er\u00f6rtert werden; nicht durch vage Klassifikation, sondern durch genetische Problemstellung. Wie verhalten sich urspr\u00fcnglich und dauernd zueinander die Motive der Furcht- und des Wunsches, des Traumlebens und der wachen Phantasiet\u00e4tigkeit, der intellektuellen Fragen nach einer wesentlichen \u201eSeele\u201c und nach einer letzten Kausalit\u00e4t, des moralischen Vergeltungsbed\u00fcrfnisses und der selbstischen Rache, des Gewissens und der Vollkommenheitssehnsucht im \u00e4sthetischen, logischen, sittlichen Sinne? K\u00f6nnen demgegen\u00fcber als selbst\u00e4ndige Motive gelten die Ahnenverehrung und der Heroenkult, der Glaube an die animi (spirits) der Verstorbenen, die Personifikation von Naturkr\u00e4ften, der Euhemerismus als unreflektierte Apotheose und als politische Willk\u00fcr, \u2014 die Feuererzeugung, das Echo, das Folklore, der Priesterbetrug und die Neigung zum L\u00fcgen bei dem den Aberglauben ausn\u00fctzenden Zauberer? Vieles von der einschl\u00e4gigen Literatur ist James bekannt; aber eine scharfe Problemformulierung hat er verabs\u00e4umt, geschweige dafs er das, wie mir scheint, nahezu wichtigste Problem der Religionsphilosophie, das doch f\u00fcr den Religionspsychologen doppelt wichtig sein m\u00fcfste, auch nur erw\u00e4hnte: den Einflufs der Sprache auf die Religion, und zwar innerhalb s\u00e4mtlicher der eben genannten wirklichen und scheinbaren, einfachen und zusammengesetzten Ursachen der Religionsbildung. Dafs seit Hobbes und Locke manche Denker auf diese F\u00e4hrte geraten sind, zu fragen, ob nicht alle Religion nicht blofs der Mythos, volkst\u00fcmliche Bildersprache, gleichsam ein Schatten sei, den die metaphorische Redeweise auf den Gedanken wirft \u2014 habe ich schon in einer 1889 erschienenen Monographie \u00fcber Sprache und Religion durch eine kurze Zusammenstellung am Schlufs gezeigt.1 Aber gen\u00fcgte nicht Max M\u00fcllers Origin of religion, um die Notwendigkeit einleuchtend zu machen, zu fragen, inwieweit Sprache und Religion wurzelhaft eins sind? Selbst ablehnende Religionsforscher wie Otto Gruppe (Griechische Kulte und Mythen, I., 1887) kennen und er\u00f6rtern ausf\u00fchrlich die Kuhn - M\u00fcLLERSche Hypothese der linguistischen (noministischen) Religionserkl\u00e4rung.\nUm nun dem Leser eine Orientierung \u00fcber die Hauptergebnisse des jAMESSchen Buches zu geben und zu zeigen, wie es zwar der wissenschaftlichen Forderung nicht gen\u00fcgt, wohl aber an Erbaulichkeit des Inhalts wie an Eleganz des Essaystils mit Carlyle und Emerson wohl den Vergleich\n1 Vgl. auch Religionsphilosophie, 1901. Studien zur vergl Religionswissenschaft II, 1894.","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n135\naufnehmen kann, obwohl ihn von jenem ein gewisser unruhiger Eklektizismus, von diesem der Mangel an originalen Gesichtspunkten, die sowohl groft als anch neu w\u00e4ren, ung\u00fcnstig unterscheidet, so lasse ich einige charakteristische Stellen in m\u00f6glichst wortgetreuer \u00dcbersetzung folgen.\nDas allen Variet\u00e4ten der Religion Gemeinsame ist nach James folgendes :\n1.\tDie sichtbare Welt wird nur als ein Teil eines \u00fcberwiegend geistigen Weltalls aufgefafst, welches auch jenem erst seine Bedeutung verleiht.\n2.\tDen Zweck des menschlichen Daseins sieht der Fromme in der harmonischen Beziehung zu (oder Vereinigung mit) jener Idealwelt. 3. Diese Beziehung kommt namentlich in der Du-Anrede des Gebets zum Ausdruck, emer inneren Gemeinschaft mit dem Universalgeist, der entweder mehr pers\u00f6nlich (als Gott) oder mehr abstrakt (als Gesetz) vorgestellt wird ; die betende Erhebung der Seele in das \u00dcbersinnliche ist wirkliche Arbeitsleistung, und zwar einesteils Selbstdisposition zur Aufnahme einer in unseren Geist einstr\u00f6menden Willenskraft, andererseits Hervorbringung von psychischer und materieller Wirkung auf die Welt der Erscheinungen. 4. Als Gesamtertrag solcher inneren Vorg\u00e4nge in der Menschenseele werden positive Wirkungen versp\u00fcrt, die in ihrer Neuheit und ihrem Wert als von uns unabh\u00e4ngige Gaben empfunden werden: gesteigertes Interesse am Dasein, welches sich teils in gef\u00fchlsm\u00e4fsiger Form als lyrische Seelenstimmung, bis zur Verz\u00fcckung, teils in willensm\u00e4fsiger als Impuls zum Handeln, bis zur heroischen Aufopferung, geltend macht. 5. Die dauernde Begleiterscheinung dieser erh\u00f6hten Seelenzust\u00e4nde ist einerseits das Be-wufstsein der Sicherheit, der Friede des Gem\u00fcts, andererseits, in Beziehung zu den Mitgesch\u00f6pfen, ein \u00dcberwiegen der sympathischen, liebenden Gef\u00fchle 'S. 485 f.).\nIn dieser jAMESschen Schilderung des An-sich-religi\u00f6sen liegt etwas von dem, was Epik\u00fcb, Home, Feubrbach \u2014 die drei gr\u00f6fsten Religionspsychologen \u2014 sowie etwas von dem, was Kant, Scbleiebmacheb, Heoel, Goethe und Hbbbabt als das Wesen der Religion hingestellt haben. Indessen Dankbarkeit und Ehrfurcht gegen\u00fcber dem Unbekannten, was die beiden letztgenannten betonen, werden nicht erw\u00e4hnt; die Du-Anrede, deren Kant in Beiner Pflichtapotheose sich bedient, die er hingegen aus seiner Gottesverehrung eliminiert, wird von manchen als nicht wesentlich erachtet; dafs die unsichtbare G\u00f6tterwelt zun\u00e4chst als Wunschprodukt auftritt, wird \u00fcbergangen. Statt nun zu er\u00f6rtern, welche Kriterien wir haben, um das Recht, gerade jene Momente als charakteristisch f\u00fcr \u201eReligion\u201c auszuw\u00e4hlen, \u2022oder wiefern dem Stimmungselement solcher Religion ein bestimmter Vorstellungsgehalt notwendig beigemischt sei, d. h. ob und warum da, wo das nicht der Fall, wir den Namen \u201eReligion\u201c nicht anVcnden d\u00fcrfen, z. B. in der urbuddhistischen Sehnsucht nach dem Nirw\u00e4na mit Verachtung nicht nur der G\u00f6tter sondern jeglicher bestimmten Vorstellung vom Jenseits, \u2014 statt dessen beschr\u00e4nkt sich James im wesentlichen auf folgende ausf\u00fchrliche Nachweisungen: 1. die Tatsache, dafs in den frommen Zust\u00e4nden eine Unterscheidung zwischen der Welt des Unsichtbaren und der sinnlichen Natur vorausgesetzt wird. 2. Die Vorherrschaft der instinktiven Seelenfunktionen, der Mystik gegen\u00fcber der selbstbewu\u00dften Urteilsform vern\u00fcnftiger Intellektualit\u00e4t (an Kn. v. Hartmann,","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nIksprcchunyr n\nEm\u00e4rson , M aeteblinck erinnernd). 3. Dm Verh\u00e4ltnis der Religion xnr Moral; die Religion will Gl\u00fcck, Seligkeit, Frieden, Leben, \u2014 die Moral, als deren kompetente Auslegung die Stoa und die \u201eEthische Kultur\u201c besonders erw\u00e4hnt werden, will Rechtschaffenheit des Charakters, Gutbandeln, Vollkommenheit, aber wahre Vollkommenheit werde gerade, obwohl ungesncht, durch die Religion erzielt. 4. Manches, was vom moralischen und medizinischen Standpunkt als abnorm und krankhaft erscheint, ist vom religi\u00f6sen Standpunkt normal und Vorbedingung moralischer Gesundheit.\n1. Als Beleg f\u00fcr den ersten Punkt diene folgende Stelle: \u201eVersuchen wir das religi\u00f6se Leben so allgemein wie m\u00f6glich zu definieren, so ist es der Glaube, dafs eine unsichtbare Weltordnung existiert und dafs unser h\u00f6chstes Gut in der harmonischen Anpassung an dieselbe liegt; dieser Glaube und diese Anpassung geben der Seele den religi\u00f6sen Charakter.\u201c Aber der Glaube an Unwahrnehmbares ist nicht blofs religi\u00f6s. \u201eAll unser Verhalten, das moralische, praktische, psychische so gut wie das religi\u00f6se, r\u00fchrt her von den Objekten unseres Bewufstseins, d. h. von Dingen, an deren Dasein wir glauben, ob sie nun wirklich oder blofs gedacht sind.\u201c ln beiden F\u00e4llen veranlassen sie eine Reaktion des Subjekts auf das verursachende Objekt; \u201eund die Reaktion, welche von gedachten Dingen herr\u00fchrt, ist bekanntlich oft ebenso stark wie die von sinnlich wahrnehmbaren herrflhrende. Sie kann sogar st\u00e4rker sein. Die Erinnerung an eine Beschimpfung kann uns mehr \u00e4rgern als die dazumal erlebte. Wir sch\u00e4men uns unserer Vergehen oft mehr nachtr\u00e4glich als im Moment des Begehens, und im ganzen gr\u00fcndet sich unser intellektuelles und sittliches Leben darauf, dafs sinnliche Wahrnehmungen auf unser Handeln schw\u00e4cher wirken als der Gedanke an fernerliegende Tatsachen.\u201c [Sind das aber etwa \u201eunsichtbare\u201c Tatsachen, wie James glauben machen m\u00f6chte?] \u201eDie effektiven Gegenst\u00e4nde der Religion, die Gottheiten, welche sie anbeten lehrt, sind den Gl\u00e4ubigen meist lediglich in der Idee bekannt.\u201c\nIn den heutigen \u201eKirchen ohne Gott\u201c, den \u201eethischen Gesellschaften\u201c, glaubt man an das SitteDgesetz als letzten Gegenstand ; eine Anbetung des Abstrakt-g\u00f6ttlichen. In vielen Seelen nimmt \u201edie Wissenschaft\u201c die Stelle der Religion ein. Sittengesetz und Naturgesetz ist hier das G\u00f6ttliche, Unsichtbare, das man als seiendes Tats\u00e4chliche verehren m\u00fcsse (S. 53\u201458). James erinnert dabei an die physikalisch-rationalistische Deutung der griechischen Mythologie; in der Personifikation der Naturerscheinungen dokumentierte sich der Sinn f\u00fcr das unsichtbare Gesetz (nat\u00fcrlicher wie moralischer Wirkungsa^t), wobei die anthropomorphe Einkleidung nur akzidenzielle Bedeutung hat.\n2. Gegen\u00fcber der rationalistischen Auffassung hebt James (S. 73 ff.) folgendes hervor: \u201eUnbestimmte Eindr\u00fccke, Unentscheidbares \u2014 hat keinen Platz im rationalistischen System\u201c, dem Philosophie ihre Fortschritte und Heilkunde ihre Erfolge verdankt. Was wir glauben, sagt man, m\u00fcsse klar bestimmbar und vern\u00fcnftig begr\u00fcndbar sein. Zu solcher Begr\u00fcndung geh\u00f6ren vier Momente : bestimmte abstrakte Grunds\u00e4tze, sichere Tatsachen der Empfipdung, darauf gebaute bestimmte Hypothesen, daraus entwickelte","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Beeprechungrn.\n187\nb\u00fcndige Sehlufefolgert\u00efngen, \u201eNichtsdestoweniger ist dieser rationelle Teil des seelischen Innenlebens das verh\u00e4ltnism\u00e4fsig Oberfl\u00e4chlichere an demselben.\u201c Er bat Vorz\u00fcge, kann in deutlichen Worten formuliert, verstandes-mifeig bewiesen werden, aber seine Wirksamkeit scheitert an dem Widersprach unserer instinktiven Regungen. Wenn du \u00fcberhaupt Eingebungen hast, so stammen sie aus einer tieferen Schicht deiner Natur als aus der geschw\u00e4tzigen Sph\u00e4re des Rationellen. Dein unbewufstes Leben, deine Impulse, dein Glaube, deine Bed\u00fcrfnisse, deine Eingebungen bilden den Unterbau; zum Bewufstsein kommt dir nur das Gewicht des darauf gegr\u00fcndeten Ergebnisses; und etwas in dir weife bestimmt, dafs dieses Ergebnis wahrer sein mufs als jedes wortklaubende rationalistische Geschw\u00e4tz, das ihm widerspricht, \u2014 mag es sich noch so gescheit geben. Die Inferiorit\u00e4t dieses Standpunktes ist ebenso zweifellos, ob er f\u00fcr oder wider die Religion pl\u00e4diert; das erhellt aus der Geschichte der sogenannten Gottesbeweise. Wir glauben eben heute nicht mehr an den Gott, wie ihn jene Argumente formulierten, an den \u201enur aufserweltlichen Erfinder von Wundern, di\u00e8 seinen Ruhm offenbaren sollen, in dessen Verherrlichung unsere Vorahnen ihre Befriedigung fanden\u201c. [So urteilen regelm\u00e4fsig die Nichtkenner dieser Geschichte; es steckt nicht nur viel Tiefsinn, sondern eine staunenswerte Vereinigung von Psychologie und Logik, von Naturwissenschaft und Metaphysik in jenen Beweisen; vgl. C. Fobtlage, Darstellung und Kritik der Beweise f\u00fcr das Dasein Gottes, 1840, wo gerade die Immanenzvorstellungen eingehend ber\u00fccksichtigt werden und vieles, was die heutige Naturwissenschaft von Fechser bis Mach zugunsten der teleologischen Naturbetrachtung hervorhebt, vorweggenommen ist, u. a. auch Schopenhauers Schrift \u201e\u00fcber den Willen in der Natur\u201c, die sonst bis dahin so gut wie unbekannt geblieben war, eingehend gew\u00fcrdigt wird]. \u201eSo genau wir dies auch wissen, durch Worte k\u00f6nnen wir es weder uns noch andern klar machen.\u201c Wie sehr Hegel \u00fcber den \u201estummen H\u00e4ndedruck\u201c im 8til der ScHLEiERMACHERschen Gef\u00fchlstheorie spottete, erw\u00e4hnt Jambs freilich nicht. Was Ton und Wort im Verein (seitens \u00e4sthetisch und philosophisch Gebildeter) nicht klar zu machen verm\u00f6gen, das wird, auch problematisch, nicht blofs unklar, sondern dem Verdacht der Illusion ausgesetzt bleiben. Luthers Wertlegen auf \u201edas Wort\u201c entspricht der Wahrheit, dafs Religion darstellbar sei; Goethbs Erg\u00e4nzung: \u201eIm Anfang war die Tat\u201c, \u201eName ist Schall und Rauch\u201c, wehrt nur den unlebendigen Wortglauben [nebst dem Wortklauben] ab; die religi\u00f6se Rede verlangt, um wirksam zu sein, sch\u00f6pferische Kraft: der Dichter mufs sich mit dem Philosophen verbinden, wie ja die Sprache von Hause aus dichterisch, nicht blofs logisch und praktisch ist. \u2014 James hingegen meint: \u201eDas Wesen des Wahren liefern lediglich die Impulse des Glaubens; das in Worten formulierende Philosophieren bewegt sich nur in gleifsenden, prahlerischen Formeln.\u201c (Gegen\u00fcber dieser contradictio in adjecto [Formeln prunken nicht] ist auf A. Busse, Philosophie des Metaphorischen, 1894, zu verweisen.) \u201eDas Wesentliche in uns ist die unmittelbare Gewifsheit, ohne Beweis ; die wissenschaftliche Begr\u00fcndung durch Beweisf\u00fchrung ist etwas \u00c4ufserliches. Instinkt leitet, Intelligenz folgt nur. Deine kritischen Beweisgr\u00fcnde, m\u00f6gen sie noch so b\u00fcndig sein, werden sich vergeblich abm\u00fchen","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nBesprechungen.\nden Glauben dessen zu ersch\u00fcttern, der eines lebendigen Gottes Gegenwart f\u00fchlt.\u201c\n3. \u201eKeine und schlichte Moral gehorcht dem von ihr erkannten und anerkannten Sittengesetz mit dem schwersten und k\u00e4ltesten Herzen und wird nie aufh\u00f6ren, es als ein l\u00e4stiges Joch zu empfinden. Die Religion hingegen f\u00fchlt den Dienst des H\u00f6chsten nie als Joch\u201c, falls sie in \u201estarker und voller Entwicklung\u201c auftritt. (Kant und noch mehr Hebbart w\u00fcrden etwa umgekehrt sagen ; wenn weiter nichts pro aut contra geltend zu machen w\u00e4re, so w\u00e4re die ganze Frage lediglich Geschmacksache.) \u201eStumpfe Unterw\u00fcrfigkeit bleibt weit dahinten, und eine Stimmung des Wohlseins, eine volle Skala von heiterer Sorglosigkeit bis zu begeisterter Freude, wird ihren Platz einnehmen.\u201c Dort das mifsfarbene Gewand stoischer Resignation, hier die leidenschaftliche Gl\u00fcckseligkeit des christlichen Heiligen. (Das Leidenschaftslose ist vielleicht das Gemeinsame bei Stoikern, Epiku-r\u00e4ern und echten Christen!) Dort und hier ein ganz verschiedenes Weltall; wenn man von einem zum andern \u00fcbergeht, so ist eine \u201eKrisis\u201c \u00fcberwunden (vgl. Schopenhauer, W. a. W. u. V. II. B. Schlufs.) \u201eEin Leben ist m\u00e4nnlich, stoisch, moralisch, philosophisch, wenn es von pers\u00f6nlichen Schwankungen unabh\u00e4ngig, auf objektive, Energie und vielleicht pers\u00f6nliche schmerzvolle Entsagung fordernde Ziele gerichtet ist.\u201c Der Krieg verlangt \u201eFreiwillige\u201c ; der sittliche Dienst des H\u00f6chsten ist eine Art \u201ekosmischer Patriotismus\u201c. Selbst physisch Kranke k\u00f6nnen freiwillige moralische Kampfeskraft bet\u00e4tigen, willensstark ihre Aufmerksamkeit von der eigenen Zukunft abwenden, ja gleichg\u00fcltig gegen die Gegenwart einem rein objektiven Interesse sich opfern. Teilnahme f\u00fcr andere, Beobachtung angenehmer Umgangsformen, Schweigen \u00fcber eigenes Leid, Hingabe an das philosophische Lebensideal, Pflichttreue, Geduld, selbst Ergebung und Vertrauen m\u00f6gen diesen \u201ehochherzigen Freiwilligen\u201c zieren; er ist \u201ekein jammernder Sklave\u201c. \u201eUnd doch fehlt ihm etwas, was der Mensch der anderen Klasse, der Christ par excellence, der mystische und asketische Heilige im \u00dcberflufs hat.\u201c Auch dieser verachtet die \u201emurrende Krankenstubenhaltung\u201c, auch er ist unempfindlich gegen k\u00f6rperliches Leiden, gegen unvergleichlich schweres vielleicht. Aber sein Trotzbieten ist weniger Willensanstrengung als G.ef\u00fchlsprodukt. \u201eDer Moralist mufs den Atem anhalten, seine Muskel straff ziehen; und solange die \u00e4sthetische Anspannung vorh\u00e4lt, geht alles gut, Moral gen\u00fcgt. Aber eines Tages bricht sie zusammen, selbst beim st\u00e4hlernsten Manne, wenn der Organismus den Dienst versagt und Sorge das Gem\u00fct heimsucht: wrer an dem Bewufstsein unheilbaren Nichtverm\u00f6gens krankt, dem ein neues Wollen einzufl\u00f6fsen ist das Unm\u00f6glichste. Wonach er lechzt, das ist Tr\u00f6stung in seiner Machtlosigkeit; er will f\u00fchlen, dafs der Geist des Weltalls seiner gedenkt und ihn sch\u00fctzt, so mifsraten und hinf\u00e4llig er sich auch f\u00fchle. Vor dem h\u00f6chsten Richterstuhl sind wir alle solche hilflos Gescheiterten ; die Gesundesten nicht verschieden von den Wahnsinnigen und Gef\u00e4ngnisinsassen, und der Tod wirft endlich die Robustesten nieder.\u201c Alles war eitel, die Moral nur ein Notbehelf, ein Pflaster, das die Wunde verdeckt, ohne sie zu heilen, das Gut handeln ein unzul\u00e4nglicher Ersatz f\u00fcr das Gut sein. Da kommt die Religion und nimmt unser Schicksal in ihre Hand. An","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n139\nStelle der auf das Recht pochenden Selbstbehauptung tritt die \u201eBereit: Willigkeit, den Mund zu schliefsen und wie nichts zu sein in Gottes Fluten und Wasserquellen\u201c. So wird die Todesstunde der Selbstgerechtigkeit zur Stunde unserer geistigen Wiedergeburt; die Spannung schwindet, wohltuende Erschlaffung, tiefes Atmen in ewiger Gegenwart, ohne jegliche Furcht, auch vor etwaigen Dissonanzen der Zukunft, befreit die Seele. Woher diese instinktiven Impulse mit ihrem Gefolge, dem irrationalen Entz\u00fccken? Wir wissen es nicht; es ist eine Gabe, \u2014 des Organismus, wird der Physiolog, \u2014 der g\u00f6ttlichen Gnade, wird der Theolog sagen. Aber dieses Geschenk kann nicht erzwungen, nicht eingefl\u00f6ist werden, so wenig wie die Liebe zu einem bestimmten Weibe dekretiert werden kann. Eine neue Lebensordnung mit erh\u00f6htet; Machtsph\u00e4re hebt an; die \u00e4ufsere Schlacht ist verloren, eine innere Welt tut eich anstelle des w\u00fcsten Tr\u00fcmmerfeldes auf. Diese Ausdehnung an Gem\u00fctsbewegung ist das Definierbare an der Religion, der begeisterten Stimmung eines Verlobungsaktes vergleichbar; die Moral kann da nur ihr Haupt neigen und beistimmen. \u201eDer Kampf ist vor\u00fcber, die Musik des Weltalls klingt in unseren Ohren, und ewiger Besitz breitet sich vor uns aus\u201c (S. 41\u201448).\nDiese Charakteristik der Religion trifft im ganzen das Richtige; aber sie \u00fcberredet durch dichterischen Schwung und weise Wahl der Worte, anstatt zu \u00fcberzeugen durch kritische Analyse des gesamten sprachlich geformten Vorstellungsmaterials, mit dessen Hilfe wir das Problem in Formeln fassen. Den Anh\u00e4nger der \u201eEthischen Kultur\u201c wird James nicht \u00fcberzeugen. Wer in Emerson und Schopenhauer, in Schleiermacher und Hebbart zu Hause ist, der wird freilich viel Verwandtes wiederfinden. \u201eWollen sollen, h\u00f6lzernes Eisen ! Veile non discitur. Operari sequitur esse. Notwendigkeit ist das Reich der Natur, Freiheit ist das Reich der Gnade. Die Gnade kommt wie von aufsen angeflogen. Der stoische Weise ist ein steifer Gliedermann. Wie ganz anders die indischen B\u00fcfser und der Heiland des Christentums\u201c usf. Man vergleiche nur diese ScHOPENHAUBaschen Ausspr\u00fcche und bedenke, dafs er solche Kontraste ganz und gar nicht auf die \u201eReligion\u201c zuspitzt, sondern lediglich von seiner Willensmetaphysik handelt. Andererseits ist das veile non discitur so gut wie das Dei servitus summa libertas gerade stoisches Dogma! Und von der Wiedergeburt redet auch Kant, der die Moral i n der Religion eben ganz anders bewertet. Schopenhauer steht auf dem Standpunkt Augustins und findet gleichwohl, dafs das Religi\u00f6se in Augustins Gedankensystem gerade das Anfechtbare sei. Neuerdings behaupten Hatch, Kalthofp u. a. gar, dafs der Anteil Platons und der Stoa an dem Ideenkreis des Urchristentums ein viel erheblicherer sei, als Schopenhauer und James zugestehen w\u00fcrden. Und was den \u201eNotbehelf\u201c in der Moral betrifft, bo ist das die Definition, welche manche in der Linie Fiukbbachs, Lipsius\u2019, Benders, der Religion zuweisen ; ein selbstgeschaffenes Hilfsmittel, um im Widerstreit zwischen dem freien Selbstgef\u00fchl und dem Verflochtensein in den notwendigen Naturzusammenhang nicht aufgerieben zu werden, oder auch ein provisorischer Quarant\u00e4ne-zustand, der die Wiederkehr der wahren Gesundheit nur vorbereitet, wie Kinderkrankheiten, Bleichsucht, Schwangerschaft Gr\u00f6fseres erwarten lassen, kurz ein Interimszustand als Erziehungsmittel oder auch als patho-","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nBesprechungen.\nlogische Erscheinung. Und merkw\u00fcrdig ist, dafs James selbst dts psychopathische Element der Religion so stark betont, dafs man zweifelhaft wird, ob dies mit seiner sonst so anziehenden Schilderung des \u00e4sthetischen und eud\u00e4monologisehen Charakters derselben noch vereinbar ist.\n4. \u201eWenige von uns sind g\u00e4nzlich von Krankheit, ja Geisteskrankheit frei; aber die Krankheiten f\u00fchren unerwartet zur Gesundung, ln der psychopathischen Verfassung haben wir die Beweglichkeit des Gem\u00fcts, die das sine qua non des sittlichen Empfindungsverm\u00f6gens ist, \u2014 die Spannung und Neigung zur Emphase, die das Wesentliche der praktisch moralischen Kraft ist. Die Liebe zum Mystischen f\u00fchrt unsere Interessen \u00fcber die H\u00f6henlage der sinnlichen Welt hinaus.\u201c \u201eWenn es Inspiration aus einer h\u00f6heren Welt gibt, so ist wohl m\u00f6glich, dafs das neurotische Temperament die Hauptbedingung zu der erforderlichen Aufnahmef\u00e4higkeit liefert\u201c (S. 25). \u201eNennen wir die Richtung, die alles gut findet, healthy-mindedness, so gibt es deren eine unwillk\u00fcrliche Art (sich unmittelbar gl\u00fccklich zu f\u00fchlen) und eine willk\u00fcrlich-abstrakte systematische Art\u201c (alles als gnt zu beurteilen). Wir treffen im zweiten Falle eine Auswahl und stempeln auch das B\u00f6se als gut. Im ersten Falle aber ist das Gl\u00fccksgef\u00fcbl blind; diese Unempfindlichkeit ist die instinktive Schutzwaffe der Selbsterhaltung. Der tats\u00e4chlich gl\u00fcckliche Mensch kann nicht an ein \u00dcbel glauben; auch B\u00f6ses gibt es f\u00fcr ihn nicht. Er mag anderen pervers erscheinen (wie der tr\u00fcbselige Pessimist, der umgekehrt nicht an Gutes glauben zu k\u00f6nnen vorgibt); er selbst ist \u00fcberzeugt, dafs was andere b\u00f6se nennen, nur auf Rechnung ihres Werturteils bez\u00fcglich der Ph\u00e4nomenal weit zu stehen kommt (S. 87).\nDie seelische Hygiene, neuerdings systematisch ausgestaltet, basiert auf dem Optimismus, w\u00e4hrend der Pessimismus schw\u00e4cht und krank macht Und dafs \u201eGedanken reale Dinge\u201c sind, kann man den Vertretern der Christian Science zugeben. \u201eStrotzen deine Gedanken von Gesundheit, Jugend, Kraft, Erfolg, so werden diese Eigenschaften unvermerkt auch in deinem \u00e4ufseren Leben zutage treten\u201c (S. 107). Die erfolgreiche Methode der Psychotherapie ist Suggestion ; wie bei aller geistigen Erziehung der suggestive Einflufs mafsgebend ist, denn Suggestion ist die Macht des Gedankens ... in seiner Wirksamkeit f\u00fcr Glauben und Lebensf\u00fchrung (S. 112). Aber die Seelenheilung durch Religion ist nicht jedermanns Ding. Diagnose und Elektrizit\u00e4t ist f\u00fcr alle; die M\u00f6glichkeit hingegen, Krankheit durch Religion zu heilen, Heiterkeit, Gl\u00fcck und sittlichen Halt wiederzugeben, wird nur bei einigen zur Wirklichkeit (S. 122).\nOb es vielleicht die durch eine falsche Dogmatik, Pr\u00e4destinationslehre, H\u00f6llenfurcht, unn\u00fctze Selbstqu\u00e4lerei mit Gedanken von S\u00fcnde und Reue und \u00e4hnliches mifsbildeten Naturen sind, die durch diese Art von methodischem Gesunddenken, wie es die Christian Science will, wirklich gesunden k\u00f6nnen? Ist sie doch auf amerikanischem Boden erwachsen; der Widerwille gegen das Pr\u00e4destinationsdogma batte Mrs. Eddy urspr\u00fcnglich auf die F\u00e4hrte gebracht. Es wird so der Teufel durch Beelzebub aus-getrieben, der Methodismus \u2014 \u201eist es gleich Wahnsinn\u201c \u2014 durch eine neue Methode, w\u00e4hrend freundlicher seelsorgerischer Zuspruch in der","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n141\nWeise wie unsere Heilanstalten die Kunst des Arztes durch die des Geistlichen erg\u00e4nzen, in voller Freiheit die Religion wirken l\u00e4fst. James scheint auf \u00c4hnliches zu deuten; er sagt 8. 128ff. etwa folgendes: Bisher galt im Christentum das Bereuen der S\u00fcnde als der kritische Wendepunkt; jetzt, da man auf healthy-mindedneas dringt, bedarf es in anderem 8inne des LoskommenB von der S\u00fcnde; nicht Seufzen und Qu\u00e4lerei \u00fcber das Vergangene ist n\u00f6tig, sondern den Gedanken an S\u00fcnde, Schuld und Strafe gilt es zu verscheuchen, durch neue Gesundheit zu ersetzen.\nWir wissen dies seit Luther; Gustav Frjsytag erz\u00e4hlt, was f\u00fcr ein Entz\u00fccken Lotheb empfand, als Melanchthon auf die positive Etymologie von tiei\u00e4vota hinwies: Gr\u00fcndung einer neuen Lebensauffassung. Paul Fleming sagt: \u201eLafs alles unbereut.\u201c Spinoza, Larochefoucauld, Nietzsche halten Reue, \u00c4rger, selbst Mitleid f\u00fcr sch\u00e4dliche, weil depressive Affekte; Nietzsches Meinung, dafs Jesus die Absicht gehabt habe, die Mitmenschen, denen er irrig ein \u00dcbermafs von S\u00fcndenbewufstsein zutraute (w\u00e4hrend er es nur introjizierte), vor allem von dem Druck dieser Vorstellung zu befreien, \u2014 findet sich fast w\u00f6rtlich schon bei dem frommen Novalis: \u201eDen ganzen Wahn von S\u00fcnde und Schuld\u201c habe Christus hinwegnehmen wollen. Wenn R. Wagner sagt: Erl\u00f6sung dem Erl\u00f6ser, so k\u00f6nnte man hier sagen: Erl\u00f6sung von der Erl\u00f6sungsbed\u00fcrftigkeit ! Das ist wenigstens das Greifbare an den \u201eGesundbetern\u201c; man soll die Gedanken von S\u00fcnde und \u00dcbel ganz fallen lassen, nur an Gott, das Gute, das Ideal, die Gesundheit denken und so den optimistischen Vorstellungen den Sieg im \u201eKampf der inneren Teile\u201c (Roux) erleichtern. Statt dieser Idee nachzugehen, mischt James in h\u00f6chst bedenklicher Weise Richtiges mit Falschem, wenn er erkl\u00e4rt: \u201eDie katholische Handhabung der Beichte und Absolution ist fast nur methodische F\u00f6rderung der Seelengesundheit Die S\u00fcndenTechnung wird periodisch durchstrichen und ausgel\u00f6scht, so dafs eine neue Seite, wo keine Schulden stehen, angefangen werden kann. Jeder Katholik kann uns sagen, wie rein und neu und frei er sich nach dem Reinigungsprozefs f\u00fchlt. Martin Luther geh\u00f6rte nicht zu den eigentlich gesunden Typen, und er verachtete die priesterliche S\u00fcndenabsolution.\u201c Das Urteil ist total schief und wird durch gelegentliehe Verbeugungen vor Tolstoi, der doch von Luthers gesunder Seele das Heilmittel wider seine asketischen Verschrobenheiten lernen k\u00f6nnte, aber, als slawisierter Germane (seine Mutter war eine Deutsche) nicht lernen will, \u2014 grell illustriert. \u00dcbrigens hat James andererseits f\u00fcr Luthers Person und Fr\u00f6mmigkeit auch sehr anerkennende und sch\u00f6ne Worte. Und von Tolstoi sagt er S. 155: \u201eDie kranke Seele zu heilen findet Tolstoi nur vier Wege (f\u00fcr Leute seiner Ge-sellschaftsstufe) : Tierische Blindheit, die den Honig saugt, ohne den Drachen nad die M\u00e4use zu sehen ; die bewufste Bet\u00e4ubung des Epikur\u00e4ers, die alles mitniinmt, was der Tag bietet; mannhafter Selbstmord; endlich viertens: schw\u00e4chlich und erb\u00e4rmlich am Baum des Lebens h\u00e4ngen bleiben, obwohl man M\u00e4use und Drachen sieht\u201c Auch von den grofsen Erl\u00f6sungsreligionen (Buddhismus und Christentum) urteilt James 8. 166: \u201eDer Mensch mufs hier f\u00fcr ein unwirkliches Leben sterben, bevor er in eia wirkliches hineingeboren werde\u00ab kann\u201c; aber solche allm\u00e4hliche Bekehrung f\u00fchrt selten au ZieL Bumtxn und Tolstoi sind (nach 8. 187) Beispiele daf\u00fcr: \u201esie","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nBesprechungen.\nkonnten nie das werden, was wir healthy-mindedness nennen. Sie hatten zu viel vom bitteren Kelch getrunken, um es je zu vergessen. Aber sie f\u00fchlten in ihrem Innern etwas aufquellen, wodurch dem Tr\u00fcbsinn ein Ziel gesetzt ward.\u201c Und mit Recht betone Tolstoi nach Kr\u00e4ften die positiven Reizmittel zur Gesundheit. Nur sei von seinem bewufsten, freiwilligen Bekehrungswege (den Stabbuck den volitional type nennt) ein anderer, der unbewufste, unfreiwillige, zu unterscheiden, der Typus des seif surrender, d. h. die grundlose Gelassenheit im Stil eines Meister Eckart, vielleicht auch einer Madame de la Mothe Guyau, deren Biographie noch Schopenhauer entz\u00fcckte, w\u00e4hrend wir diesem Quietismus ebensowenig Geschmack abgewinnen k\u00f6nnen, wie der suggestiven Zudringlichkeit einer Mrs. Eddy. (Vgl. S. 204 206 des jAMESschen Werkes.)\nAndererseits unterscheidet James nicht nur graduell verschiedene Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr Gef\u00fchlserregungen (S. 264), sondern als spezifische Typen die Anlage zu sensorischer und die zu motorischer Erregbarkeit (S. 347). Der eine verweilt bei Empfindung und Denken, ist aber zum Handeln selten direkt geneigt ; der andere, immer t\u00e4tig, ist unlustig zum Denken und oft un\u00fcberlegt im Handeln. Aber auch bei dem sensorischen Naturell verschwindet das sonst stets zwischen dem konstanten Hintergr\u00fcnde des Bewufsteins (dem Ich) und dem Objekt des Vordergrundes (der Wahrnehmungswelt) vermittelnde Reagens der motorischen Anpassung nie v\u00f6llig, es sei denn, dafs wir ganz in die Wahrnehmungswelt verloren sind (wobei nicht klar Wird, ob dieses monistische Allgemeingef\u00fchl mehr als ein subjektiver traumartiger oder mehr als ein das Ich in das All resorbierender Realmonismus aufzufassen ist). Vgl. S. 394. Tatsache ist, dafs bei solchem Hingenommensein von der Wahrnehmung das Selbstgef\u00fchl verschwindet; das Ich setzt hier nicht mehr das Nicht-Ich, aber das von Lichtenberg an Stelle des cogito ergo sum gesetzte \u201eEs denkt\u201c (in mir), und das von Baader geltend gemachte cogitor, ergo me cogitans est wirkt doch in solchem Zerfliefsen der Grenzen von Objekt und Subjekt als latente Kraft mit; der Sinneseindruck ist so m\u00e4chtig, dafs hier (umgekehrt wie in Machs Jugenderlebnis) die ganze umgebende Welt wie Eine Empfindung, die nur gerade im leiblichen Ich nicht (wie bei Mach) als enger zusammenh\u00e4ngend erscheint, aufgefafst wird, so dafs hier durch das Nicht-Ich eigentlich das Ich konstituiert wird. Vielleicht sind derartige Zust\u00e4nde geeignet, das Problem des psychophysischen Parallelismus aufzuhellen. Die vollste Gegenw\u00e4rtigkeit der Psyche, in der Gefahr des Todes wie im k\u00fcnstlerischen Anschauen, reduziert den Gegensatz von Welt und Ich, Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt, auf ein formales Minimum; die vermeintliche Grenzscheide, da hier der Nervenreiz Empfindung ausl\u00f6st und dort die Empfindung Hirnvibration verursacht, neutralisiert sich selbst, wenn die ganze Umgebung in Eine aufmerksame Vorstellungst\u00e4tigkeit resorbiert und die ganze Vorstellungsarbeit auf das Festhalten des Einen Weltbildes konzentriert ist. Kein traumverlorener Monismus, sondern strahlende Klarheit des Bewufstseins : Mikrokosmos und Makrokosmos sind zwei Namen f\u00fcr dasselbe. Bei halbbewufstem Gewohnheitsdenken, bei Unwesentliches ausschaltender Reflexion sind sie wirklich verschieden, dort ein fiix\u00e7ov, hier ein uay.oov ; in der vollen Gegenwartsstimmung decken","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n143\nsich ihre Peripherien, and du Problem K\u00f6rper and Geist, Gehirn und Seele, Welt nnd Ich ist dann wirklich nnr noch ein sprachliches.\nJaxks hat manche gute Bemerkung eingeflochten, die als Einzelheit f\u00fcr die exakte Psychologie Wert hat; freilich laufen auch da manche Wider-spr\u00e4che und Oberfl\u00e4chlichkeiten unter. Beides zeigt J. Baumass in dem erw\u00e4hnten Werk, dessen Schlufspartie noch Notiz nehmen konnte von Bern neuerschienenen JAussschen Buch. Manches von dem, tu er kritisiert, ist indessen auf Rechnung des rhetorischen Charakters der Gifford Lections tu setzen. Immerhin bed\u00fcrfen gerade die religionspsychologischen Ausf\u00fchrungen der Korrektur. Und gleichwohl wiederhole ich den Wunsch, dis Buch m\u00f6chte ins Deutsche, \u00fcbersetzt werden.\nGbobo Ruwze (Gr.-Lichterfelde).","page":143}],"identifier":"lit32039","issued":"1904","language":"de","pages":"129-143","startpages":"129","title":"William James: The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature. New York, London und Bombay, Longmans, Green und Co. 1902. 527 S.","type":"Journal Article","volume":"37"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:36:44.161761+00:00"}