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{"created":"2022-01-31T16:29:27.398439+00:00","id":"lit32051","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schuppe, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 35: 454-479","fulltext":[{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nMeine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\nEine Antwort auf Ziehens \u201eErkenntnistheoretische Auseinandersetzungen\u201c\nin Band 33 dieser Zeitschrift S. 91 ff.\nVon\nWilhelm Schuppe in Greifswald.\nZiehen hat ganz recht darin, dafs meine Erkenntnistheorie sich auf dem Boden der Logik entwickelt hat. Alles Erkennen ist Denken. Und hat die Wissenschaft vom Denken die Aufgabe, eine Gesetzm\u00e4fsigkeit dieses Tuns oder Geschehens festzustellen, so habe ich mich genug bem\u00fcht, zu zeigen, dafs Gesetze des Denkens nicht willk\u00fcrlich befolgt oder nicht befolgt werden k\u00f6nnen und dafs die gemeinten S\u00e4tze den Charakter des Gesetzes nur dadurch und nur darin haben, dafs sie das wahre Denken sind oder sein sollen. Also: Was ist Wahrheit? Und wenn die Wahrheit darin gefunden wird, dafs \u201eWirkliches\u201c Inhalt des Denkens ist, so werden Wahrheit und Wirklichkeit Korrelatbegriffe. Dann ist die Logik eo ipso Erkenntnistheorie und Logik oder erkenntnistheoretische Logik.\nMit welchen Mitteln nun k\u00f6nnte der Begriff der Wahrheit und Wirklichkeit oder des wahren Denkens, d. i. des Denkens von Wirklichem, gepr\u00fcft werden? Es w\u00e4re der gr\u00f6fste Unsinn von der Welt, a priori deduzieren zu wollen, was das Denken ist (\u2014 das Deduzieren w\u00e4re ja eben selbst Denken und was das prius sein sollte, w\u00e4re nicht erfindlich \u2014), und somit ist es ebenso ausgeschlossen a priori den Begriff des wahren Denkens zu konstruieren. Wir kennen das Denken und wahres und falsches Denken aus der Erfahrung. Dieses Denken vor aller philosophischen Reflexion kann auf die Frage, was es eigentlich sei, keine Auskunft geben, aber es reicht zur richtigen Subsumtion hin. Niemand wird Essen und Trinken als Denkakte anf\u00fchren. Wir reflektieren also auf viele und verschiedene Gedanken oder","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\t455\nDenkakte unser selbst und anderer Menschen, und nun heifst die Aufgabe Analyse.\nDiese macht nicht nur die Bestandteile, sondern auch ihren Zusammenhang sichtbar und zeigt als thats\u00e4chliche Grundvoraussetzung, dafs widersprechende Meinungen nicht zugleich wahr sein k\u00f6nnen, also eine von ihnen nicht wirkliches Sein zu ihrem Inhalte hat.\nDas wirkliche Sein ist ein l\u00fcckenloses in sich \u00fcbereinstimmendes Ganzes, weshalb der Widerspruch der Anzeiger eines Irrtums ist, und diese Reflexion ergibt ferner, dafs die Unertr\u00e4glichkeit des Widerspruchs nicht nur eine in allem unserem Denken beobachtbare Tatsache ist, sondern auch dafs sie selbst notwendig ist, weil wir selbst \u00fcberhaupt nicht sein, weil es Bewufstsein \u00fcberhaupt nicht geben k\u00f6nnte, wenn wir diese Meinung nicht haben d\u00fcrften. Sehen wir ganz von dieser Notwendigkeit, d. i. Gesetzm\u00e4fsigkeit, welche die Data zu einem Ganzen verbindet, ab, so wird Bewufstsein undenkbar. Dann w\u00e4re auch der Erdboden zu unseren F\u00fcfsen unsicher und nichts st\u00fcnde im Wege, dafs er pl\u00f6tzlich verschw\u00e4nde, auch unser Leib mit allen Teilen pl\u00f6tzlich in nichts zerr\u00f6nne ; Dinge mit Eigenschaften g\u00e4be es nicht.\nUnd wenn nun die Reflexion auf unsere eigenen und anderer Menschen wirkliche und vermeintliche Erkenntnisse diese Meinung stets in ihnen als selbstverst\u00e4ndliche Voraussetzung vorfindet, so ist es nur nat\u00fcrlich, dafs sie auch diese Meinung selbst von dem notwendigen oder gesetzlichen Zusammenhang, der das viele Mannigfaltige zu Einheiten und diese alle zu einer Einheit verbindet, dem notwendigen Zusammenh\u00e4nge einordnet. Der Schlufs ist einfach/ Dafs nicht das Rote, weil es rot ist, und nicht das Harte, weil es hart ist, nicht nur die unmittelbaren Sinnesempfindungen, weil sie unmittelbare Sinnesempfindungen sind, solche Einordnung in einen gesetzlichen Zusammenhang verlangen, ist leicht zu schliefsen, und so springt schnell das Ergebnis hervor, dafs das alles, blofs weil es Inhalt von Bewufstsein ist, diese Einordnung verlangt. Und dieses \u201eblofs weil es Inhalt von Bewufstsein ist\u201c ist v\u00f6llig gleichbedeutend mit : diese Meinung geh\u00f6rt eben zum Bewmfstsein und es kann kein Bewufstsein geben, welches nicht in dieser Meinung alles, was ihm gegeben ist, verkn\u00fcpfte, gleichviel welcher Art der gegebene Inhalt sein mag.\t.","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nWilhelm Schuppe.\nAlso die Reflexion rechnet das Kausalprinzip in dem dargelegten Sinne zu dem Bewufstsein \u00fcberhaupt, womit aber nicht gesagt ist, dafs das Subjekt des Denkens dasselbe aus sich selbst in einem Denkakte geschaffen habe und dann wie einen Apparat auf das Gegebene anwende. Vielmehr habe ich gelehrt* dafs die Reflexion auf die eigenen Erkenntnisse diesen Gedanken wie eine selbstverst\u00e4ndliche Voraussetzung in diesen vorfinde, und dann zu der Erkenntnis gelange, dafs er unentbehrlich und die Grundlage aller Erkenntnis sei und deshalb mit dem Bewufstsein selbst als solchem verkn\u00fcpft sei. Deshalb hat er objektive Geltung, nicht blofs f\u00fcr Menschen, sondern f\u00fcr alle bewufsten Wesen, die sich jemand noch erdenken mag, und ist von den Wahrnehmungen der Zukunft unabh\u00e4ngig. Wo und wann auch immer die Wahrnehmung Widerspr\u00fcche zu bieten scheinen mag oder scheinen wird, da sind entweder die Wahrnehmungen falsch (Sinnenschein, der sicherlich noch seine Erkl\u00e4rung finden wird), oder die Gesetze, welchen die Wahrnehmungen widersprechen ; sie werden ihre Berichtigung finden.\nBlofse Beziehungen sind f\u00fcr sich allein nichts ; aber sie sind etwas ganz Wirkliches und zwar sehr Wichtiges als die Beziehungen unter Etwas, die der Identit\u00e4t und Verschiedenheit, und die der notwendigen Koexistenz oder Sukzession. Und wenn man nicht die allgemeinste Vorstellung von solchen Etwas mitdenkt, so ist die blofse Kausalit\u00e4t gar kein vollziehbarer Gedanke. Sie ist ein Gedanke, aber eben eine Abstraktion, welche immer auf die Etwas, welche in solchen Beziehungen stehen, hinweist. Diese Beziehungen k\u00f6nnen wir auch logische Bestimmtheiten und jene Etwas Objekt nennen, nat\u00fcrlich Objekt des Denkens, da wir ja die Gedanken Kausalit\u00e4t und Identit\u00e4t dem Denken selbst zugerechnet haben. Ob dem Denken selbst noch etwas anderes zuzurechnen ist oder ob es noch in etwas anderem besteht? Ich weifs nichts, und so mufs ich gestehen, dafs nach meiner Analyse das Denken ohne Objekte nichts ist. Nichts denken ist \u00fcberhaupt nicht denken. Es ist kein Widerspruch, dafs das Denken mit seinen Objekten etwas wohl von ihnen Unterscheidbares ist (die Beziehungen), ohne Objekte aber gar nichts.\nUnd wenn es nun etwas von seinen Objekten Unterscheid-bares ist, die Beziehungen der Identit\u00e4t und Kausalit\u00e4t, welche wir den Objekten als etwas ihnen selbst Zukommendes und An-","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n457\nhaftendes beilegen oder an ihnen vorfinden, so ist es doch immer\netwas in dem Bewufstseinsinhalte oder m. a. W. etwas, dessen\nwir uns als Bestimmtheit der Objekte bewufst sind, und so ist\nes doch nur,eine Umgestaltung des Ausdruckes ohne jegliche\n\u00c4nderung des Sinnes, wenn ich sage : das Denken ist Bewufst-\nsein von diesen (logischen) Bestimmtheiten der Objekte, und, da\ndiese Bestimmtheiten der Objekte nicht bewufst sein k\u00f6nnten*\nwenn die Objekte selbst nicht bewufst w\u00e4ren, so ist das Denken\nzun\u00e4chst Bewufstsein, nat\u00fcrlich nicht ohne, sondern mit solchem\nInhalt Es ist schon das Werk der Analyse, diese beiden\nMomente, das Bewufstsein selbst und seinen Inhalt, d. i. alles,\nwas bewufst ist, wohin nicht nur alle Empfindungen, sondern\nauch alle Erinnerungs- und Phantasiebilder, alle abstrakten Be-\u2022 \u00bb *\ngriffe, alles \u00dcberlegen und Betrachten und Schliefsen, alle Gef\u00fchle und Strebungen geh\u00f6ren, zu unterscheiden. Und es ist ferner das Werk der Analyse, dafs wir in diesem ganzen Be-wufstseinsinhalt die sog. Prinzipien der Identit\u00e4t und Kausalit\u00e4t von ihren Objekten unterscheiden, und die hinzukommende Reflexion l\u00e4fst sie als Grundbedingung nicht dieses oder jenes, um seiner Besonderheit willen, sondern alles Bewufstseins-inhaltes zum Denken oder Bewufstsein selbst rechnen. Bewufstsein ohne Inhalt ist nichts. Aber sobald erst bewufste Empfindungen, Gedanken^ Gef\u00fchle, Strebungen dasind, ist es sehr leicht in der Abstraktion von diesen seinen Inhalten zu unterscheiden, von ihnen gefordert, in ihnen mitgesetzt. Nehme ich eins von den beiden, Bewufstsein und sein Inhalt, weg, so ist auch das andere verschwunden, setze ich eins von beiden, so ist auch das andere mitgesetzt. Hier ist, wie ich zur grellen Verbildlichung schon gesagt habe 2 \u2014 1 = 0. Mein Gegner k\u00f6nnte es freilich eine deductio ad absurdum nennen. Wenn sich aus meinen Voraussetzungen ergibt, dafs 2 \u2014 1 = 0 ist, so m\u00fcssen sie falsch sein. Aber Bewufstsein und sein Inhalt sind keine Summe. Zur zwei geh\u00f6rt, dafs ich eins und eins zusammenfasse und diese eins m\u00fcssen, um z\u00e4hlbar zu sein, gleichartig sein oder von seiten eines ihnen Gemeinsamen aufgefafst und benannt sein. Aber gerade dies ist beim Bewufstsein und seinem Inhalte nicht der Fall; sie sind nicht nebeneinander oder nacheinander, sondern in concreto ein Ganzes und keiner der Teile kann ohne den anderen konkrete Existenz haben, deshalb nenne ich sie auch ausdr\u00fccklich Abstraktionen oder abstrakte Momente.","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nWilhelm Schuppe.\nBewufstsein und sein Inhalt ist die Definition des Seins. Es ist so. Wer um jeden Preis eine \u201eErkl\u00e4rung\u201c haben will, wird sie im Transzendenten suchen m\u00fcssen, wo sie ja schon gesucht worden ist, aber mir ist dieses sch\u00f6ne Land verschlossen ; ich begn\u00fcge mich mit der Feststellung des Tatbestandes und kann mich gar nicht genug dar\u00fcber wundern, dafs man sich \u00fcber die Anspr\u00fcche, welche an eine \u201eErkl\u00e4rung\u201c zu machen sind, so wenig Rechenschaft gibt. Es gen\u00fcge also, dafs keiner der beiden Bestandteile f\u00fcr sich allein existieren oder auch nur gedacht werden kann, weshalb sie ein urspi'\u00fcngliches Ganzes sind.\nEinst war ich sehr stolz darauf, das erkenntnistheoretische Problem dadurch gel\u00f6st zu haben, dafs ein erkl\u00e4rungsbed\u00fcrftiges Aneinandergeraten von Bewufstsein und Inhalt \u00fcberhaupt gar nicht stattfinde, dafs nur f\u00fcr die Besonderheiten der wechselnden Qualit\u00e4ten eine Gesetzm\u00e4fsigkeit zu finden ist, wie aber \u00fcberhaupt Bewufstsein einen Inhalt haben k\u00f6nne, nicht gefragt werden k\u00f6nne, dafs \u201eErgreifen\u201c und \u00e4hnliche Ausdr\u00fccke nur Bilder seien und eine Vermittlung gar nicht stattfinden k\u00f6nne, und nun mufs ich es erleben, dafs mir Ziehen nachsagt, meine Erkenntnistheorie lehre, dafs das Subjekt die Objekte \u201eergriffe\u201c und dadurch zu seinem Bewufstseinsinhalt mache !1\nDie Schwierigkeiten im Begriffe des Bewufstseins sind mir wohl bekannt (s. Grundz\u00fcge der Ethik und Rechtsphilosophie S. 137), aber sie k\u00f6nnen, auch wenn sie ungel\u00f6st bleiben, nicht bewirken, dafs jemand sich einredet, er w\u00fcfste nicht, dafs er existiert, er h\u00e4tte wirklich kein Bewufstsein und d\u00e4chte auch nicht. Es w\u00e4re ein vollendeter Widersprach, wie wenn jemand mit ernster Miene versicherte : ich bin nicht. Das Bewufstsein mit seinem Inhalte bleibt unersch\u00fctterliche Erfahrungstatsache. Ich glaube nur konsequenter Empirist zu sein.\nAber nun ergibt sich die Frage: was ist Erfahrung?\nWarum mufs ich mich, darf ich mich nur an die Erfahrung halten? Sie setzt ein Gegebenes, welches ich erfahre, voraus. Was heifst \u201egegeben\u201c?'2\nIch mufs nun, um diese Fragen zu beantworten, von dem Ich, obwohl es bestritten ist und obwohl ich in obigem noch\n1\tGrundriJfe der Erkenntnistheorie u. Log., S. 22 f. Erkenntnistheore tische Log., S. 27 u. 64 f.\n2\tGrundrifs S. 77 f.","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n459\nnichts zu seiner Rettung gesagt habe, Gebrauch machen. Also vorl\u00e4ufig sei es vorausgesetzt als derjenige, dem etwas gegeben ist, der es empf\u00e4ngt, annimmt und so eine Erfahrung macht. Der Gegensatz ist belehrend ; er ist bekanntlich dasjenige, was einer selbst als sein Eigenes hat, oder was er aus sich schafft, hervorbringt, erdenkt. Und da w\u00e4re die Frage, wie denn \u00fcberhaupt dergleichen m\u00f6glich ist, sowohl dafs jemand etwas als sein urspr\u00fcngliches Eigen hat oder rein aus sich schafft oder hervorbringt, als auch, dafs jemandem etwas von aufsen gegeben, in ihn hineinspediert wdrd, mit dem Erfolg, dafs es nun von ihm, als seine Erfahrung, gewufst wird. Die Antwort h\u00e4ngt allein davon ab, was man sich bei dem Ich, als dem Subjekt des Empfangens und Erfahrens einerseits, und dem Besitzer eines urspr\u00fcnglich Eigenen oder dem Subjekt des aus sich selbst Heraus- oder Hervorbringens andererseits denkt. Wie verschieden das Ich abgegrenzt w7erden kann und auch wirklich abgegrenzt wird, habe ich in den \u201eGrundz\u00fcgen der Ethik d. R.\u201c im Interesse der ethischen Theorie erw\u00e4hnt. Hier mufs es zur Kl\u00e4rung der Begriffe Empirismus, Erfahrung und Gegebenes und ihres Gegensatzes aufs neue ber\u00fchrt werden.\nWer von sich selbst sprechend seinen Leib mit seinen Sinneswerkzeugen in seiner ganzen r\u00e4umlichen und zeitlichen Bestimmtheit und alle seine Grunds\u00e4tze und Grundgef\u00fchle, verquickt mit allen seinen Erlebnissen, denkt, kann keinen Zweifel dar\u00fcber haben, wie ihm etwas gegeben sein kann. Er sieht und h\u00f6rt, und weifs auch, dafs er von allem diesem Gesehenen und Geh\u00f6rten keine Vorstellung haben, nichts wissen w\u00fcrde, wenn er es nicht gesehen und geh\u00f6rt h\u00e4tte. Er rechnet das Sehen und H\u00f6ren selbst zu sich, die geh\u00f6rten und gesehenen Dinge aber nicht. Die Unklarheit dieser Rechnung geht uns an dieser Stelle nichts an. Genug, dafs das Subjekt diese Dinge nicht zu sich rechnet aus dem bekannten Grunde, weil es unz\u00e4hligemal in ganz ver\u00e4nderter Umgebung dasselbe geblieben ist. Aber gewisse Grundgef\u00fchle und Grunds\u00e4tze (die logischen) \u2014 in welchen jeder recht eigentlich sich selbst findet \u2014 rechnet er zu sich, und wenn er aus ihnen Folgerungen zieht, so glaubte er nicht, dafs ihm das Gefolgerte erst durch Erfahrung gegeben w\u00e4re. Gilt f\u00fcr Gegebenes vor allem die sinnlich wahrnehmbare W eit, so ist zu verstehen, dafs rot und gr\u00fcn, kalt und warm nicht direkt um ihrer Natur willen nur gegeben sein k\u00f6nnten,","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460\nWilhelm Schuppe\nsondern dafs diese durch den bekannten Wechsel sich am handgreiflichsten als nicht zum Ich selbst geh\u00f6rig erweisen. Ich weifs, dafs ich gestern anderes gesehen, geh\u00f6rt und getastet habe, als heute, und kann mir denken, dafs ich, derselbe, morgen wieder ganz anderes wahrnehmen werde. Freilich, wenn die Wahrnehmungen alle nicht zum Ich geh\u00f6ren, so w\u00e4re das Ich selbst, ohne sie gedacht, auch nur eine Abstraktion und wie dem abstrakten Ich etwas gegeben werden k\u00f6nne, w\u00e4re ein R\u00e4tsel. Aber es ist leicht, auf die Gesetzlichkeit in ihrem Wandel hinzuweisen, und dafs doch eins von den vielen immer anwesend ist und sein mufs. Dann wird das Ich doch als konkret wirkliches gedacht und der erw\u00e4hnte Wechsel scheint nur zu zeigen, dafs keines von ihnen gerade durch seine besondere Natur zum Ich geh\u00f6re. So kann ihm etwas gegeben, wie bekanntlich auch genommen werden. Dieser Gedanke weckt viele andere, aber wir haben es hier ja nur mit den Grenzen des Ich um der Erfahrung und des Gegebenen willen zu tun. Sehen wir von dieser Konkretheit des erfahrenden Ich ab, so ist es, auch wenn ich nicht blofs den Koinzidenz- und Einheitspunkt darunter verstehe, sondern auch die Normen des Denkens zu ihm rechne, doch ein Abstraktum. Denn wirklich gedacht kann doch nur werden, w.enn ein Objekt daist. Aber die Reflexion des konkreten Ich kann in sich vieles unterscheiden und das Verh\u00e4ltnis unter den Unterschiedenen erkennen lassen. Sie zeigt das Moment des Bewufstseins in Abstraktion von seinem Inhalte und l\u00e4fst erkennen, dafs es ohne solchen eine reine Undenkbarkeit wird. Also zwar nur das ganze, das erfahrende Ich kann diese Erkenntnis machen, aber diese Erkenntnis lautet: es geh\u00f6rt zu meinem Wesen, dem des Ich oder des Bewufstseins, dafs es einen Inhalt haben mufs, nicht weil ich ihn bei geh\u00f6riger Anstrengung in dem abstrakten Ich-Moment entdecken k\u00f6nnte \u2014 das w\u00e4re Unsinn \u2014, sondern weil das Ich- oder Bewufstseins-moment sofort verschwindet, wenn ich von dem Inhalt abstrahiere.\nUnd mit den Denknormen geht es ebenso. In ihnen, wenn ich sie f\u00fcr sich allein zu denken versuche, ist selbstverst\u00e4ndlich nichts, was ich denken k\u00f6nnte, enthalten. Ich kann durch dasselbe Experiment erkennen, dafs ein Inhalt, aber nur in vager Allgemeinheit ein Inhalt dazu geh\u00f6rt; aber in den abstrakten Denknormen finde ich ihn nicht. Welcher Art er sein mufs, geht aus ihnen selbst nicht hervor. Die Logik behilft sich mit","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\t461\nBuchstabensymbolen. Und wenn ich solche Anzeiger von irgend etwas, was identifiziert, unterschieden oder kausal verkn\u00fcpft wird, nicht mit denken d\u00fcrfte, w\u00e4ren auch Identit\u00e4t und Kausalit\u00e4t nicht mehr denkbar. Die besondere Art dieser Etwas oder dieser Bestimmtheiten, in welchen wir uns finden, ist f\u00fcr den blofsen abstrakten Begriff des Denkens und den ganz all-gemeinen Begriff von etwas als seinem Inhalte, etwas Neues, nicht in ihm enthalten, also gegeben.\nMache ich (ich meine nat\u00fcrlich dieses konkrete erfahrende Ich) die Abstraktion des reinen Ich, d. i. des Ich ohne jede Spur eines Bewufstseinsinhaltes, so zeigt sich, dafs dieses Ich, das ganz leere, unm\u00f6glich von sich wissen k\u00f6nnte, und insofern ich es nicht ohne Inhalt denken kann, geh\u00f6rt er (nat\u00fcrlich in vagster Allgemeinheit) zum Ich. Insofern ich aber, wenn ich nicht als dieses konkrete Ich diese Reflexionen und Abstraktionen anstellte, gar nichts davon wissen k\u00f6nnte, also auch aus jenem abstraktesten Abstraktum nicht schliefsen k\u00f6nnte, dafs es solche konkrete Iche gebe und geben m\u00fcfste, ja sogar von solchen keine Ahnung h\u00e4tte, kann ich sagen, dafs jeder sich selbst erf\u00e4hrt, sich selbst gegeben ist. Und ebenso finde ich mein Denken durch Reflexion nat\u00fcrlich auf meine konkreten Gedanken (ich habe es mir nicht erdacht, ohne dasselbe w\u00e4re ich gar nicht), und erst recht finde ich mich als diesen bestimmten Leib in Raum und Zeit mit allen durch ihn vermittelten Wahrnehmungen. Bo ist begreiflich, dafs und warum wir auf die Erfahrung angewiesen sind. Dieser Empirismus ist v\u00f6llig erwiesen. Doch haben wir zur Erg\u00e4nzung die Frage zu beantworten: wie in aller Welt kann, wenn die Sache so einfach ist, jemand darauf verfallen sein, dafs es noch andere Erkenntnis gebe und worin ist sie gefunden worden, k\u00f6nnte sie gefunden werden? Nach \u00e4ltester und noch nie verlassener Meinung ist diejenige Erkenntnis oder dasjenige Denken wahr, welches 'Wirkliches zu seinem Inhalte hat. Wir w\u00e4ren somit auf den Begriff des Wirklichen verwiesen. Eine Definition davon l\u00e4fst sich nicht geben; nur der \u00fcberlieferte Gegensatz des blofsen Scheines l\u00e4fst sich kl\u00e4ren, wie es die Erk.-Logik S. 644ff. und der Grundrifs S. 168 versucht haben. Erst die M\u00f6glichkeit tr\u00fcgerischen Scheines hat zu dem Begriffe des Wahren und Wirklichen gef\u00fchrt.\nIch habe die Kriterien des Wahren und Falschen oben schon","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"462\nWilhelm Schuppe.\nandeutungsweise genannt. Das Kausalit\u00e4tsprinzip leistet diesen Dienst nat\u00fcrlich nur in der Fassung, die ich ihm gegeben habe.\nWie man dazu gekommen ist, Nichtgegebenes f\u00fcr Wirkliches zu halten, ist leicht zu sehen. Das Bed\u00fcrfnis der einheitlichen Weltauffassung hat die Phantasie in Bewegung gesetzt; die Unvollst\u00e4ndigkeit des Erfahrungsmaterials, die M\u00e4ngel der Reflexion und die Unklarheit der Begriffe haben es verschuldet. Der Fehler ist ganz offenbar : Bei den berechtigten Hypothesen in den Wissenschaften wird ein Etwas gesetzt, welches nach schon anerkanntem Naturgesetz eine Erscheinung erkl\u00e4ren kann. So wurden die Unregelm\u00e4fsigkeiten in der Bewegung des Uranus durch die Annahme eines Planeten jenseits desselben (des Neptun) erkl\u00e4rt, der ja auch dann gefunden worden ist. Hier aber bei den Hypothesen, welche f\u00fcr wissenschaftlich wertlos erkl\u00e4rt werden, wird nicht nur das Etwas, sondern auch das Gesetz seines Wirkens erhypothesiert.\nEinem seinem Begriffe nach unwahrnehmbaren Etwas wird zugemutet, die Rolle der Ursache zu \u00fcbernehmen, oder die und die Wirksamkeit auszu\u00fcben. Ein solches Nichts ist die Substanz oder das Substrat mit der erdichteten F\u00e4higkeit die Eigenschaften an sich zu tragen oder an sich haften zu lassen, und ebenso die Seele (das Beiwort immateriell macht die Sache nicht besser) mit der ebenso erdichteten F\u00e4higkeit, Bewufstsein, Denken und F\u00fchlen zu tragen oder in oder aus sich entstehen zu lassen, auch den Stoff auf sich wirken zu lassen und auf den Stoff zu wirken.\nDer Begriff der Seele und mifsdeutete Erfahrungen liefsen die Empfindungen mit ihren Inhalten zu innerseelischen Existenzen machen, welche handgreiflich der alt\u00fcberlieferten Anforderung an das Wirkliche, von den individuellen Bewufstseinen unabh\u00e4ngig zu sein, nicht entsprechen. Also mufste wiederum ein aufserseelisches Etwas gesetzt werden mit der Bestimmung, dafs diese innerseelischen Dinge und Vorg\u00e4nge ein Korrelat zu ihm seien \u2014 alles derselbe Fehler \u2014. Also nicht nur das Etwas wird erhypothesiert, was in dem Falle, dafs es nach einem schon anerkannten Naturgesetz eine Erscheinung erkl\u00e4rt, durchaus nicht mifsbilligenswert ist -\u2014 sondern auch das Gesetz bzw. das Wirken ist Dichtung. Diese Wissenschaft kann bekanntlich \u201edie Tr\u00e4ume eines Geistersehers erl\u00e4utern\u201c. Das habe ich in meinen logischen Schriften genug auseinandergesetzt.","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n463\nEs ist also nicht ein Dogma, nicht subjektive Laune, nur Erfahrungen anerkennen zu wollen, sondern der Empirismus als Erkenntnistheorie ist bewiesen. Diesen Beweis habe ich deshalb unternommen, weil er zugleich die unentbehrliche Aufkl\u00e4rung \u00fcber den Begriff: der Erfahrung gibt Wenn diese letztere fehlt, so ist es ein reines Dogma \u2014 nicht mehr wert, als alle anderen \u2014 dafs nur die Empfindungsinhalte im engeren Sinne, z. B. rot und gr\u00fcn, hart und weich, warm und kalt, Wirkliches seien und dafs alles andere, was nicht dieser Art ist, schleunigst als Dichtung wegzuwerfen sei.\nDer Begriff: der Erfahrung hat sein Wesen in dem des Gegebenen, wie ich es oben gelehrt habe. Es mufs etwas Positives, Inhalt oder Objekt des Denkens sein, das der Begriff der Identit\u00e4t und Verschiedenheit und der Kausalbeziehung aus sich nicht hervorbringen kann. Der Begriff des Gegebenen ist ohne den seines Gegensatzes absolut unverst\u00e4ndlich. Der Gegensatz war, je nach Zusammenhang der Gedanken und der Natur der Sache, um die es sich handelt, das Eigene zu eben demselben Ich, welches Empf\u00e4nger des Gegebenen ist, Geh\u00f6rige und es selbst Ausmachende. Man kann behaupten, dafs aus letzterem allein keine Erkenntnis hervorgehen kann, aber man kann dabei nicht zugleich behaupten, dafs solches gar nicht existiert. Jedenfallsw\u00e4re das nicht mehr Empirismus.\n\u2022 \u2022\nMeine obige \u00dcberlegung scheint mir entschieden zu haben, dafs Gegebenes auch solches sein kann, was weder Farbe noch Ton noch Geruch noch Geschmack, noch Temperatur noch Tastbares ist. Wer das bestreitet, mufs die Gef\u00fchle der Lust und Unlust, die doch weder rot noch gr\u00fcn etc. sind, f\u00fcr Nichtwirkliches, f\u00fcr metaphysische Dichtung halten, und da auch die Beziehungen, welche ja auch Ziehen in seiner psychophysiologischen Erkenntnistheorie statuiert, die erkannte Identit\u00e4t oder Verschiedenheit zweier Sinnesempfindungen nicht selbst Sinnesempfindungen, rot oder gr\u00fcn, sind, so m\u00fcfsten auch diese zu den metaphysischen Dichtungen geh\u00f6ren, wogegen ich \u00fcberzeugt bin, dafs sie in der Reflexion auf alle unsere Gedanken angetroffen und als Grundbedingung alles Denkens erkannt werden. Und Ziehen kennt ja ferner auch bewufste Empfindungen, also auch Bewufstsein, denn was k\u00f6nnte Bewufstsein anders sein, als bewufste Empfindungen und bewufste Identit\u00e4ten und Verschieden-heiten und Kausalbeziehungen? Das Bewufstsein oder die Be-","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"464\nWilhelm Schuppe.\nwufstheit von rot und seiner Verschiedenheit von gr\u00fcn steht doch nicht neben diesen als auch eine wahrnehmbare F\u00e4rbung, und nach Ziehen selbst geh\u00f6rt sie doch nicht zu den metaphysischen Dichtungen. Und wenn ich nun Bewufstsein, welches keines Ich*, d. i. niemandes Bewufstsein, ist, nicht kenne, also mit diesem Bewufstsein immer auch ein Ich, dessen es ist, denken mufs, so wird der Umstand allein, dafs dieses Ich selbst, so wenig wie die Bewufstheit von rot oder hart oder warm, als eine F\u00e4rbung dgl. empfunden wird, nicht als Beweis daf\u00fcr, dafs es nichts ist, gelten k\u00f6nnen. Ich kann mir kein Bewufstsein ohne Ich denken und sage ja auch ausdr\u00fccklich, dafs ich diese beiden W\u00f6rter promiscue brauche. Ich ohne Bewufstsein und Bewufstsein ohne Ich sind mir gleich sehr undenkbar. Da nun Ziehen Bewufstsein zugibt, so mufs er sieh unter Ich noch etwas ganz anderes denken, als ich. Ich habe, was Ziehen selbst hervorhebt, vielfach den Leser gebeten, sich bei dem Ich, von welchem ich spreche, das ihm bekannte Ich zu denken, von welchem er selbst t\u00e4glich so oft zu sprechen nicht umhin kann, und von welchem auch Ziehen spricht, und ich kann mir nicht denken, dafs Ziehen, so oft er in seinem Aufsatze dieses W\u00d6rtchen braucht z. B. S. 95: \u201eSobald ich mein Ich mir gegenst\u00e4ndlich mache, finde ich nichts, als zahlreiche Vorstellungen etc.V sich dabei absolut nichts denke. Er w\u00fcrde das sinnlose W\u00f6rtchen lieber auslassen. Aber seine theoretische Erkl\u00e4rung, n\u00e4mlich eine Zahl durch besondere Eigent\u00fcmlichkeit ausgezeichneter Vorstellungen, denkt er dabei nicht, denn diese l\u00e4fst sich, wenn er . und andere das W\u00f6rtchen Ich brauchen, nicht substituieren. Er denkt, so glaube ich zu sehen, wirklich dasselbe dabei, wie ich, nur t\u00e4uscht er sich \u00fcber das, was ich dabei denke, wie :seine Polemik zeigt. Ich denke mir bei dem Ich das ganze konkrete Ich, wie es sich aus seinem ganzen Leben kennt,1 w\u00e4hrend Ziehen meinen Satz, dafs das leere Ich sich absolut nicht selbst denken k\u00f6nne, wie einen Widerspruch mit mir selbst .anf\u00fchrt, woraus doch hervorgeht, dafs er, wenn ich an den von ihm angef\u00fchrten Stellen vom Ich spreche, mich das leere Ich, losgel\u00f6st oder abgesondert von seinen Empfindungen und Vorstellungen, meinen l\u00e4fst, was ein grofser Irrtum ist. Und wenn nun Ziehen S. 95 sagt \u201eund wenn ich mein Ich mir gegenst\u00e4ndlich\n1 Gmndrifs S. 17 unten 18.","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n465\nmache etc.\u201c, so bemerke ich nicht nur zu meiner Freude, dafs Ziehen die M\u00f6glichkeit des Sich-sich-selbst-gegenst\u00e4ndlich-machens zugibt, sondern entnehme auch daraus, dafs er dabei unter sich, d. i. dem Ich als Objekt, eben wie ich auch, das ganze konkrete Ich versteht. Auch zweifle ich keinen Augenblick, dafs Ziehen, wenn er sich zeigen soll, mit den Worten \u201edas bin ich\u201c niemals auf den Leib eines anderen, sondern auf den eigenen zeigen wird. Deshalb erlaube ich mir auch seine Beobachtung: Sobald ich mein Ich mir gegenst\u00e4ndlich mache, finde ich nichts als zahlreiche Vorstellungen\u201c dahin zu erg\u00e4nzen: finde ich nichts als meine Vorstellungen oder zahlreiche Vorstellungen von mir.\nEs ist ein Vorurteil, dafs nur die Empfindungsinhalte, z. B. rot, warm, weich, und etwa noch Lust und Unlust Gegebenes also Wirkliches seien, dafs also das Ich, da es nicht auch eine solche Empfindung neben den anderen ist, nicht zum erkenntnistheoretischen Fundamentalbestande geh\u00f6re, nichts Gegebenes, sondern etwas Abgeleitetes sei. Die Voraussetzung dieser con-clusio ist mit nichten erwiesen. Ziehen braucht erst nicht zu versichern, dafs er das Ich nicht auch als einen solchen Empfindungsinhalt neben den anderen in sich vorgefunden hat; es ist aus seinem Begriffe einleuchtend, dafs es nichts den bekannten Empfindungsinhalten Gleiches sein kann. Denn nach der Nominal-definition ist es eben der Inhaber dieser Empfindungen und Vorstellungen und der kann doch nicht selbst wieder eine Empfindung und Vorstellung sein. Aber mit diesem unbez weif eibaren Beweise h\u00e4tte mein Gegner sich selbst widerlegt. Er h\u00e4tte einmal bewiesen, dafs dieses Ich nicht eine Empfindung und Vorstellung, wie alle anderen, sein kann, aber er h\u00e4tte zugleich den Gedanken eines Inhabers der Empfindungen und Vorstellungen zugestanden.\nWas ich mir gar nicht denken kann ist dies, dafs Empfindungen und Vorstellungen subjektlos sozusagen frei in der Luft schweben, dafs es (S. 93) Empfindungen gibt, die niemand empfindet, Vorstellungen, die niemand vorstellt, Gef\u00fchle, z. B. Zahnschmerz, die niemand f\u00fchlt und dafs sie trotzdem bewufst seien. S. 57 wird ausdr\u00fccklich bestritten, dafs Empfindungen und Vorstellungen nur als Bewufstseinsinhalt existieren k\u00f6nnen. Ich kann dabei Ziehens Behauptung, ebenda, dafs die Erkenntnistheorie \u201eichlos beginnen d. h. von einem ichlosen Fundamentalbestand ausgehen m\u00fcsse\u201c, verstehen, aber in einem\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 35.\t30","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466\nWilhelm Schuppe.\nanderen Sinne. Vielleicht hat sich Ziehen dadurch t\u00e4uschen lassen, dafs in den Spezialwissenschaften immer von einem objektiven Tatbestand, dem Sicht- und H\u00f6r- und Tastbaren und dem Vorstellbaren die Rede ist, und dafs dabei die Erw\u00e4hnung des Ich, welches dies alles empfindet und vorstellt, ganz \u00fcberfl\u00fcssig w\u00e4re, aus dem einfachen Grunde, weil es dabei ganz gleichg\u00fcltig ist, weil diese Daten alle notwendig in bestimmter ihnen selbst angeh\u00f6riger Gesetzlichkeit auftreten. Ebenso verh\u00e4lt es sich mit dem von Ziehen verlangten erkenntnistheoretischen < Fundamentalbestand ; da ist, was wir suchen, die eine und selbe Erkenntnis f\u00fcr alle, gleichviel welches Ichindividuum einen Teil und welchen von ihr gewonnen hat. Da ist es dasselbe, wovon Erkenntnis ausgeht und wie sie zustande kommt, n\u00e4mlich die Empfindungen, die Vorstellungen und die Synthesen des Verstandes. Von dem Ich, welches gerade diese oder jene Vorstellung hat, braucht da gar nicht die Rede zu sein. Was Sinnesphysiologie \u00fcber die Wahrnehmungen und was Psychologie \u00fcber die Vorstellungen und ihre Assoziationen und was Logik \u00fcber den Verstand zu lehren vermag, ist f\u00fcr alle dasselbe. Aber daraus folgt nicht, dafs die Empfindungen und Vorstellungen subjektlos existieren k\u00f6nnten und dafs es kein Ich gibt und geben k\u00f6nne ; es wird in anderem Betracht recht wichtig. Schon was es alles gibt, \u2019wirklich gibt, ist durchaus davon abh\u00e4ngig, dafs wir selbst sagen k\u00f6nnen oder glaubw\u00fcrdige Menschen kennen, welche sagen k\u00f6nnen : das habe ich gesehen, ich bin mir dessen bewufst. Ziehen selbst beruft sich ja oben darauf, was er bei seiner Suche nach seinem Ich gefunden und nicht gefunden habe! Wenn jeder ohne sein Ich als den Erfahrenden in Anspruch zu nehmen nur zu behaupten braucht, was es alles gibt und nicht gibt, so sind wir beim \u00e4ltesten Dogmatismus angekommen.\nDas Ich ist durchaus keine ganz leere Vorstellung, wenn man es als den Inhaber der und der Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gef\u00fchle, Strebungen kennt oder m. a. W. sich seiner als des Inhabers bewufst ist. Wer es leugnet, darf auch das Wort \u201emein\u201c nicht brauchen. Denn in dem Possessivpronomen, mein sein, steckt doch ein Ich als der Besitzer. Lind wenn Ziehen sagt: \u201eSobald ich mein Ich mir gegenst\u00e4ndlich mache, finde ich nichts als zahlreiche Vorstellungen\u201c, so habe ich nicht nur aufs neue zu konstatieren, dafs es ihm m\u00f6glich ist, sich sein","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n467\nIch gegenst\u00e4ndlich zu machen, sondern vor allem zu betonen, dafs er ganz genau weifs, dafs es die seinigen sind. Ich halte es f\u00fcr eine vollkommene Widerlegung, wenn ich meinen Lesern glaublich machen und Ziehen selbst zu dem Akte der Selbstbesinnung veranlassen kann, dafs er seine Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken und Gef\u00fchle von denen aller anderen Menschen wohl unterscheidet, speziell die seinigen von den meinigen, da er ja eben selbst den Unterschied zwischen ihnen hervorgehoben hat. Er hat offenbar sein Ich dabei im Unterschiede von dem meinigen gedacht, obgleich er es, ganz wie ich auch, nicht als \u201eein Drittes neben den Empfindungen und Vorstellungen\u201c findet. Das Etwas, welches sich durch Empfindungen, durch seine Vorstellungen bestimmt weifs, kann sich nicht selbst als eine von diesen es bestimmenden Vorstellungen finden, immer nur in ihnen, in jeder von ihnen als ihren Inhaber oder Besitzer oder als den Empfindenden und Vorstellenden. Ich nenne es auch den formalen Einheits- und Koinzidenzpunkt. Ziehen verlangt, dafs dieses Ich, wenn es wirklich etwas sein sollte, noch etwas anderes, als der blofse Inhaber der Vorstellungen sein m\u00fcfste, letzteres nur sozusagen im Nebenamt. Aber das ist unm\u00f6glich, denn wenn wir solches finden k\u00f6nnten, was das Ich noch aufserdem, dafs es seine Vorstellungen hat, ist, so w\u00e4re das sogleich ein Bewufstseinsinhalt, in welchem es sich, als seinen Inhaber, als durch ihn bestimmt f\u00e4nde. Wenn das Ich als ein Drittes neben den Empfindungen gefunden werden sollte, so w\u00e4re sein Begriff aufgehoben, sie k\u00f6nnten gar nicht sein Bewufstseinsinhalt sein, es k\u00f6nnte sie gar nicht als die seinigen haben. Was ich \u2014 wie Ziehen mir vorwirft \u2014 nicht analysiert habe, ist dieser Einheitspunkt, Ich genannt, als Inhaber alles Bewufstseinsinhalts. Ziehen behauptet nun zwar nicht, dafs es kein Ich gebe, aber was er in seiner vermeintlichen Analyse desselben findet, kommt dieser Behauptung gleich. Es soll eine Zahl von in bestimmterWeise ausgezeichneten Vorstellungen sein. Er setzt an Stelle des Ich einen Bewufstseinsinhalt. Soll dieser sich in das Subjekt, welches ihn hat, verwandeln, oder auch als Subjekt fungieren? Dieses Ergebnis seiner Analyse setzt dieses Ich voraus und schliefst es ein. Wenn wir es in Gedanken ganz fernhalten und seinen Begriff als Inhaber der Vorstellungen wegdenken, so ist absolut nicht\nersichtlich, wie jemand dazu kommen konnte, ein Quantum von\n30*","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468\tWilhelm Schuppe.\nEmpfindungen und Vorstellungen ein Ich zu nennen. Es w\u00e4re auch ihr Zusammen nicht verst\u00e4ndlich. Zusammen kann nur heifsen entweder, dafs sie von einem Beobachter in r\u00e4umlicher N\u00e4he erblickt werden, oder dafs sie desselben Subjektes Vorstellungen sind. Und wenn jemand meinen sollte, dafs an Stelle dieser Ichfiktion der einzig wahre Sachverhalt, n\u00e4mlich eine Zahl von ichlosen Vorstellungen zu setzen sei, so ist alles das, was die Menschen von je in allen Sprachen von dem Ich ausgesagt haben, unm\u00f6glich. \u201eIch war infolge dieser Nachricht sehr betr\u00fcbt und beschlofs usw.\u201c heilst \u201eeine, irgend eine\u201c (nicht meine, denn \u201emeine\u201c gibt es ja nicht, wenn mein Ich nichts ist) Menge von Vorstellungen war infolge dieser Nachricht sehr betr\u00fcbt, und beschlofs das und das zu tun\u201c. Ich kann den Sinn dieses Satzes nicht erkennen. Sollte aber jemand den Sinn dahin erkl\u00e4ren, dafs zu dem Best\u00e4nde von Vorstellungen noch die Betr\u00fcbnis \u00fcber die erhaltenen Nachrichten und der Beschlufs, etwas zu tun, hinzutrete, so w\u00fcrde doch dieser Sinn, wenn wirklich von Sinn die Hede sein sollte, verlangen, dafs dasselbe Subjekt, welches die Nachricht erhalten hat, infolge dessen betr\u00fcbt ist.\nUnd sollte endlich jemand meinen, dafs dieses Subjekt das Gehirn eines Menschen sei, so m\u00fcfste er doch erst den Chemiker finden, der eine ichlose Vorstellung als Eigenschaft eines Ganglions im Gehirn nachweist. Es ist freilich sehr leicht, die Empfindung oder Vorstellung eine Funktion dieser materiellen Elemente zu nennen und die Abh\u00e4ngigkeit jener von diesen wird nicht bestritten. Aber dann liegt doch nichts n\u00e4her, als auch das Erfahrungs-Ich selbst zur Gehirnfunktion zu rechnen, und zu meinen, dafs die gedachten Gehirnpartien eben dies fungieren, dafs ein Ich, bei demselben Gehirn dasselbe Ich, sich in allen diesen Empfindungen und Vorstellungen als ihren Inhaber weifs, m. a. W. diese als die seinigen hat. Ohne solches seine Zust\u00e4nde oder, was dasselbe ist, sich in oder mit solchen Zust\u00e4nden oder Bestimmtheiten wissende Subjekt (d. h. Ich) ist \u00fcberhaupt keiner Vorstellung Existenz konstatierbar. Wenn wir jemand beschuldigen, dafs er dies oder jenes denke, so kann er, wenn er es nicht zugibt, nur antworten, dafs er sich eines solchen Gedankens nicht bewufst sei.\nDie Selbstvergessenheit mag in der Praxis zuweilen lobenswert sein, in der Theorie ist sie einfach ein Rechenfehler. Jene Tugend und das Entgegengesetzte, der Egoismus, sind ohne","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\ndieses Ich, bzw. wenn es nur eine Menge von Vorstellungen ist, etwas Undenkbares.\nZiehen ist auch damit nicht zufrieden, dafs ich das Ich ohne seinen Bewufstseinsinhalt eine Abstraktion nenne. \u201eWenn es aber nur eine Abstraktion ist\u201c, sagt er S. 96, \u201eso geh\u00f6rt es nicht zum erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand, so ist es keine Urtatsache und \u201eseine Existenz nicht unbezweifelbar\u201c\u201c. Nun handelt es sich also um die Abstraktion. Auch das Abstrakte hat sicherste wirkliche Existenz. Nur wenn Ziehen unter Tatsache Konkretes versteht, w\u00e4re das leere Ich das, wie ich oben sagte, abstrakte Moment des blofsen Einheits- und Koinzidenzpunktes, keine Urtatsache. Denn es h\u00e4tte eben nicht die Existenz des Konkreten, sondern die des Abstrakten. Aber auch in einer konkreten Urtatsache kann man abstrakte Momente entdecken, und diese sind auch durchaus Wirkliches. Sie sind in dem Konkreten immer enthalten und wenn es nicht so w\u00e4re, so w\u00fcrde ein solches Konkretum auch nicht unter das Abstraktum, welches der Art- und Gattungsbegriff ist, subsumiert werden k\u00f6nnen.1 Und wenn man ein Konkretum zum er-kenntnistheoretischen Fundamentalbestand gerechnet hat, und wenn man jenes in Elemente zerlegen kann, welche jedes f\u00fcr sich gedacht ein Abstraktum sind, so geh\u00f6ren auch diese zum erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand. Die sichtbare r\u00e4umlich ausgedehnte R\u00f6te geh\u00f6rt gewifs zum erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand, aber ich kann sie in Gedanken in die beiden Elemente zerlegen, die R\u00f6te ohne die r\u00e4umliche Ausgedehntheit und die r\u00e4umliche Ausgedehntheit ohne die R\u00f6te und jedes von ihnen ist ein richtiges Abstraktum und geh\u00f6rt doch als in dem konkreten Ganzen enthalten, welches ohne eines von ihnen nicht mehr wahrnehmbar w\u00e4re, zum erkenntnis-theoretischen Fundamentalbestand. So geht\u2019s auch mit dem Ich. Die Abstraktion des Ich soll (S. 97) \u201enoch dazu, eine noch sehr der Erkl\u00e4rung und des Berechtigungsbeweises bed\u00fcrftige\u201c sein. 2 Was dabei noch der Erkl\u00e4rung bed\u00fcrftig ist, gestehe ich nicht zu wissen, und vermute, dafs, wer meine Darlegungen dar\u00fcber gelesen hat und doch noch eine Erkl\u00e4rung verlangt, sich schon\n1\tErk. Log. 204 f., Grundrifs 8. 90\u201492.\n2\tVgl. auch, meinen Aufsatz \u201eBegriff und Grenzen der Psychologie\u201c in der \u201eZenschr. f immanente Philosophie\u201c 1.","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470\nWilhelm Schuppe.\nvorher davon \u00fcberzeugt hat, dafs dieses Ich eigentlich nur eine Zahl von ichlosen Vorstellungen ist, welche durch besondere Eigent\u00fcmlichkeiten den Ich-Charakter, d. i. den Charakter des Subjektes, welches alle anderen Vorstellungen und Gef\u00fchle als die seinigen habe, im Gegensatz zu denjenigen Vorstellungen und Gef\u00fchlen, welche andere Subjekte haben, gewinne. Wie dieses -den Ichcharakter Gewinnen vor sich gehe, m\u00f6chte ich erkl\u00e4rt sehen. Und was die Berechtigung anbetrifft, so k\u00f6nnte sie, wenn die Abstraktion des Ich oder Ichpunktes richtig ist, wenn also keine Verkennung und keine Verwechselung dabei vorgekommen ist, doch nur darin bestehen, dafs diese Abstraktion wissenschaftlich wichtig ist, weshalb sie nicht unterlassen werden darf, w\u00e4hrend sie, wenn nichts Wichtiges aus ihr hervorginge, zwar richtig sein, aber doch nur als Spielerei angesehen werden k\u00f6nnte.\nIch verzichte auf diesen Beweis. Aber auf Ziehens Frage, S, 94, ob das Kind im ersten Lebensjahre schon eine Vorstellung oder Empfindung von seinem Ich habe, mufs ich noch kurz ein-gehen. Ziehen begn\u00fcgt sich damit, dafs die Antwort doch jedenfalls zweifelhaft sein k\u00f6nne. Aber ich will auch eine verneinende Antwort zugeben und behaupte, dafs meine Theorie davon gar nicht ber\u00fchrt wird. Es ist bekannt, dafs das individuelle Bewufstsein in der Zeit entsteht und mit ihm das individuelle Ich. Zwar ist schon oft betont worden, dafs dieses Entstehen nicht begreiflich sei. Denn alle, welche es zu demonstrieren vermeinen, geben doch immer nur Bedingungen an, z. B. dafs \u00e4ufsere Beize die Sinnesorgane treffen, welche erf\u00fcllt sein m\u00fcssen, wenn Bewufstsein entstehen soll, und niemand kann die Bestandteile, aus welchen Bewufstsein nach bekannten Naturgesetzen aus ihnen durch eine Vereinigung oder ein Zusammenrinnen entst\u00fcnde, angeben. Aber die Tatsache ist doch immer zuzugeben, dafs Bewufstsein in der Zeit entsteht und dann ist es gleichg\u00fcltig, in welchen Zeitpunkt wir seine Entstehung setzen, ob schon in die ersten Wochen oder Monate oder vielleicht erst in das zweite Jahr. Es w\u00fcrde f\u00fcr mich gar nichts verschlagen, wenn festgestellt w\u00fcrde, dafs es lebendige Menschenleiber ohne Bewufstsein gebe. Erkenntnis w\u00e4re f\u00fcr sie nicht da und somit auch sie nicht f\u00fcr die Erkenntnistheorie, d. h. f\u00fcr die Theorie von ihrem Erkennen. Doch Ziehens Frage regt noch andere wichtige Gedanken an. Sie verweist uns 3a","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n471\nauf die Entwicklung, als wollte er sagen: das Bewufstsein kann nickt zum erkenntnistheoretischen Fundamentalhestand geh\u00f6ren, denn es entwickelt sich ja erst in der Zeit, vielleicht erst im zweiten Jahre. Und da tritt die psychologische Frage der Entwicklung hervor, nicht nur in betreff des Bewufstseins selbst, sondern auch alles seines Inhaltes. Diese Frage ist deshalb so schwer, weil wir selbstverst\u00e4ndlich allesamt von unserem seelischen Leben in der ersten Kinderzeit nichts wissen und uns demgem\u00e4fs ebenso schwer, wenn wir Kinder beobachten, in sie oder in ihren inneren Zustand versetzen k\u00f6nnen. Aber wie schwer sie auch sein mag, wir m\u00fcssen ihr doch n\u00e4her treten und uns wenigstens dies klar machen, dafs mit dem Begriff der Entwicklung ein Ausgangspunkt gesetzt ist, welcher entweder ganz oder doch nahezu als Nullpunkt zu bezeichnen ist. Und wenn jemand das Ich deshalb, weil es nicht schon im ersten Lebensjahre vorhanden ist, nicht zum erkenntnistheoretischen Fundamentalbestande rechnen will, so tritt die Frage hervor, welche ich anfangs gar nicht stellen zu sollen glaubte, was sollen wir uns eigentlich unter den Worten \u201eerkenntnistheoretischer Fundamentalbestand\u201c denken? Etwa diejenigen Erkenntnisse oder Erkenntniselemente, welche zeitlich zuerst auftreten? Das blofse \u201eAuftreten\u201c ohne jede Ortsbestimmung ist schon zu unklar. Denn dafs sie etwa im Gehirn des kleinen Kindes sich aufhalten, ist doch Hypothese und zwar eine ganz unglaubliche. Dafs sein Gehirn der Besitzer derselben w\u00e4re, ist ebenso unm\u00f6glich \u2014 wir sprachen schon oben davon \u2014 wenn wir nicht sogleich mit dem Gehirn das Ich denken, welches, wie ja auch das ganze Bewufstsein seine Funktion w\u00e4re.\nDann w\u00e4re ja meiner erkenntnistheoretischen Forderung Gen\u00fcge geschehen. Soll das aber nicht so sein, so fehlt auch zur ersten Entstehung von Erkenntnis der unentbehrliche Anhalt, das Wo bzw. der Besitzer. Denn unaufh\u00f6rlich entsteht \u2014 wer weifs, wie lange schon \u2014 Erkenntnis, und so w\u00e4re \u201edie erste\u201c nur fixierbar durch den Ort bzw. den Besitzer, und auch f\u00fcr die zweite und dritte und alle folgenden fehlt die wichtigste Bestimmung, wenn wir nicht wissen, wo oder als wessen Erkenntnis die folgenden Erkenntnisse sich der ersten anschliefsen m\u00fcssen. Der Leib ist erst dann zur Fixierung brauchbar, wenn wir ihn als- zentralen Bewufstseinsinhalt denken oder m. a. W. als den Leib, als welchen ein Ich sich weifs. Dann und in.diesem","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472\nWilhelm Schuppe..\nSinne erst sind sie ja identisch. Dafs dieses Ich nur eine Zahl eigent\u00fcmlich ausgezeichneter ichloser Vorstellungen ist, k\u00f6nnte \u00fcber diese Schwierigkeit nicht hinweghelfen, denn sie best\u00fcnde erstens noch f\u00fcr alle Vorstellungen vorher, ehe diese Zahl sich augesammelt, sage und schreibe : \u201eortlos angesammelthat\u201c. und zweitens ist f\u00fcr mich nicht zu begreifen, wie sie selbst, diese Zahl solcher Vorstellungen sich mit einem bestimmten Leibe in dem Sinne \u201edas bin ich\u201c zu identifizieren vermag.\nIchlosigkeit der Empfindungen hebt eigentlich auch den Begriff der Empfindung auf; man m\u00fcfste statt dessen immer nur das, was ich als den Empfindungsinhalt bezeichne, nennen, die Anwesenheit von rot, warm, hart an einem bestimmten Orte. Dabei m\u00fcfste auch der Sinn des Wortes Gegebenes schwinden, wor\u00fcber oben schon\nDie zweifelnde Frage, ob ein einj\u00e4hriges Kind schon Be-wufstsein oder, ein bewufstes Ich habe, welche Frage mit der: ob es eine Empfindung oder Vorstellung von seinem Ich habe, identifiziert, wird, mufs unsere Aufmerksamkeit noch auf anderes lenken. Die Frage, ob es eine Empfindung oder Vorstellung von seinem Ich habe, l\u00e4fst zwei Irrt\u00fcmer vermuten. Erstens den, dafs nach der Meinung des Fragers eine Empfindung oder Vorstellung vom eigenen Ich eine Empfindung oder Vorstellung aufser und neben den anderen sein m\u00fcsse, welche einen Inhalt habe, wie die anderen auch, nur eben keinen von dieser Art, sondern zu seinem Inhalt das blofse reine Ich, also ohne die Empfindungen und Vorstellungen desselben habe. Nach meiner Darstellung der Sache findet und weifs es sich immer nur mit und in diesen und ist sonst f\u00fcr sich allein nichts, und ich mufs gestehen, dafs ich immer geglaubt habe und noch glaube, mich dabei streng an die Erfahrung zu halten. Der zweite Irrtum w\u00e4re der, bei \u201eder Empfindung oder Vorstellung von seinem Ich\u201c nur an die ganz klaren als Objekt der Aufmerksamkeit im hellsten Punkt des Bewufstseins stehenden Vorstellungen zu denken. Ganz unabh\u00e4ngig von dieser und jeder Erkenntnistheorie ist die Meinung, dafs die ersten seelischen Regungen in dem Kinde sehr unklar sind, verschwommen, nicht scharf abgegrenzt gegen anderes als anderes, und dafs wir dennoch aus den wahrnehmbaren Reaktionen auf gewisse Bewufstseinsinhalte sehliefse.n d\u00fcrfen. Was im bestimmten Augenblick nicht klar und scharf im hellsten Punkt des Bewufstseins stand, sondern","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\t473\nnur schwach beleuchtet im Hintergr\u00fcnde, kann doch in der Erinnerung zur Geltung kommen und wird als mitwahrgenommen gerechnet. Und auch solches, was in einem gedachten Augenblicke wirklich gar nicht im Bewusstsein anwesend war, was man mit bestem Gewissen als nicht gesehen, nicht geh\u00f6rt behauptet, kann doch unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden als wohl gesehen und geh\u00f6rt erkannt werden. Das geht nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen so. Und woran man gerade gar nicht denkt, weil ganz anderes die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, gilt doch als gewufst, weil es nur eines Am lasses bedarf, um es sogleich in den hellsten Punkt des Bewufst-seins treten zu lassen. Wenn man einer Beobachtung ganz hingegeben an sich selbst gar nicht denkt, so w\u00e4re es doch falsch zu sagen, dafs man in dieser Zeit gar nicht als ein Ich existiert h\u00e4tte und dafs diese Empfindungen unbewufste gewesen w\u00e4ren. Wer seine Angaben, weil sie unglaubw\u00fcrdig scheinen, bestritten sieht, wird sogleich, sagen \u201eaber ich habe es doch gesehen, d. h. ich bin mir dessen doch bewufst, es gesehen und aufmerksam beobachtet zu haben. Am verwunderlichsten schien mir immer und scheint mir noch die Geltendmachung der Tatsache, dafs die Ich Vorstellung keineswegs alle Empfindungs- und Vorstellungserlebnisse begleitet. Aus ihr geht keineswegs hervor, dafs, wenn wir nicht bei allem Empfinden und Vorstellen immerfort mitd\u00e4chten, \u201eich empfinde dies, ich stelle dies vor\u201c, diese Empfindungen und Vorstellungen auch nicht- unserem Ich als die seinigen angeh\u00f6ren, sondern subjektlos existieren. Wenn man etwas weifs, so wei-fs man es auch in den Zeiten, in welchen man gerade nicht daran denkt. Genug, dafs dieses Gewufste, sobald der Zusammenhang der Gedanken und die Gelegenheit es verlangt, ganz sicher im hellsten Punkte des Bewufstseins stehen wird. So weifs auch jeder von sich und seinen Vorstellungen, und sich dabei fortw\u00e4hrend gegenw\u00e4rtig zu halten, dafs er dieses vorstelle, ist allzu \u00fcberfl\u00fcssig; es ist zu selbstverst\u00e4ndlich.\nUnd woher weifs denn Ziehen, dafs es auch solche Vorstellungen gibt, welche von der Ichvorstellung nicht begleitet sind? Wenn er einen Menschen sieht, so kann er ihm doch nicht ansehen, ob die Ichvorstellung seine Vorstellungen begleitet, Und auch wenn dieser Mensch Urteile ausspricht und dabei das W\u00f6rtchen Ich ausl\u00e4fst, blofs z. B. sagt \u201efurchtbare Hitze\u201c, so","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474\nWilhelm Schuppe.\nkann Ziehen noch gar nicht wissen, ob jener Mann nicht doch heimlich mitgedacht hat: \u201eich finde es furchtbar heifs\u201c. Man spricht ja nicht alles aus, was man denkt. Also dafs wirklich ichlose Vorstellungen erlebt worden sind, k\u00f6nnte man nur aus sich selbst wissen. Wem seine Angabe bezweifelt wird, der w\u00fcrde sagen oder k\u00f6nnte doch nur sagen : aber ich mufs es doch wissen, dafs ich soeben oder einstens einmal etwas vorgestellt habe ohne dabei an mein Ich zu denken. Aber wenn diese Erinnerung so klar und deutlich ist, dafs kein Zweifel dagegen aufkommt, so ist auch zugleich gesetzt, dafs er selbst diese Vorstellung gehabt hat, obwohl die Ich Vorstellung sie damals nicht begleitet hat. Auch was erst die analysierende Reflexion aus einem Gesamtzustande herausfindet, also was bis dahin nicht f\u00fcr sich allein als abstraktes Element gedacht worden war, war doch in dem konkreten Ganzen enthalten, widrigenfalls keine Analyse es herausabstrahieren k\u00f6nnte. Locke schlofs, weil das Kind von dem abstrakten Begriffe der Identit\u00e4t und des Widerspruchs noch nichts weifs, habe es diese Begriffe \u00fcberhaupt nicht. Aber wir k\u00f6nnen sie doch mit ihnen operieren sehen, sie erkennen wieder und unterscheiden und schliefsen, soweit ihnen die Dinge, von denen sie sprechen, klar sind, ganz richtig. Deshalb ist die Macht dieses Gedankens doch in ihnen lebendig, auch wenn er noch nicht in der Abstraktion als etwas f\u00fcr sich gedacht worden ist und demgem\u00e4fs die Worte der logischen Lehre f\u00fcr sie unverst\u00e4ndlich sind.\nSo geht es ja auch mit den Begriffen von Dingen und ihren Eigenschaften. Das Denken beginnt ohne als solches bewufst zu werden und ein Weltbild mit unz\u00e4hligen Dingen und ihren Eigenschaften ist schon da, wenn die logische Reflexion einsetzt, um es zu zergliedern und seine Elemente zu finden, was auch gar nicht anders geht, wie ich in meiner Logik auseinandersetze.\nDas Ich steckt so selbstverst\u00e4ndlich und so tief in allen Empfindungen, sie sozusagen ganz durchdringend, dafs es schon deshalb schwer sein mufs, es als das Subjekt aus ihnen auszusondern. Aber wenn das Kind das W\u00f6rtchen Ich brauchen lernt, so mufs es dasjenige, was es bedeutet, schon vorher in sich kennen gelernt haben, auch als es die Bedeutung des Wortes noch nicht erkannt hatte. Und es ist auch nicht schwer zu denken, dafs dieser Ichpunkt in jeder Empfindung schon, wenn auch nur ansatzweise, nur in der schw\u00e4chsten Potenz, mehr","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n475\nals Gef\u00fchl enthalten war, noch ehe die Abstraktion desselben aus den vielen ihn enthaltenden Empfindungen gelungen war. F\u00fcr den Sensualisten Condillac war die Tatsache, dafs mit der oder den ersten Empfindungen sogleich eine, wenn auch noch dunkle Ahnung des Ich gegeben ist, der Beweis, dafs dieses aus jenen entstehe, nur eine Umwandlung derselben sei. Er erkennt wenigstens die Tatsache an. Aber Ziehen trifft eine Auswahl aus den ichlosen Vorstellungen und meint, dafs diese Vorstellungen von bestimmter Eigent\u00fcmlichkeit eben das Ich seien, wobei also keine Umwandlung anzunehmen n\u00f6tig ist. Ich hebe nur hervor, dafs nach meiner Ansicht ein, wenn auch schwaches unklares Bewufstsein von dem in den vielen Empfindungen und Vorstellungen enthaltenen Ich sehr wohl m\u00f6glich ist, auch wenn es noch nicht als abstraktes Moment ausgesondert und Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit ist.\nUnd wenn nun viele, unendlich viele Empfindungen und Vorstellungen in diesem einen Punkte koinzidieren, w\u00e4hrend sie sich in ihrem Inhalte unterscheiden, so finde ich nichts nat\u00fcrlicher, als dafs dieser Punkt, der so oft immer und immer wieder bewufst wird, auch immer st\u00e4rker und lebhafter sich im Gegensatz zu allem Bewufstseinsinhalt hervorhebt. Je reicher und geordneter sein Inhalt wird, oder m. a. W. je mehr von der wirklichen Welt mit ihren Zusammenh\u00e4ngen sein Inhalt wird, desto mehr weifs es auch sich selbst, \u201ewird das glimmende F\u00fcnkchen zur hellleuchtenden Flamme\u201c. Wenn Ziehen meint S. 95: \u201eMan kann positiv verfolgen, wie bei dem Kinde aus zahlreichen Empfindungen indirekt die Ich vor Stellung sich entwickelt\u201c, so mufs ich gestehen, dafs ich dies nicht positiv verfolgen kann, aber ich behaupte, dafs die Tatsache, welche er vermutlich meint, dafs die Ichvorstellung sich immer mehr entwickelt, je reicher und klarer der Bewufstseinsinhalt wird, von mir in nat\u00fcrlicher Weise erkl\u00e4rt ist.\nDie Verlegenheit, in welche die Frage \u201ewas ist nun eigentlich dieses Ich?\u201c f\u00fchren soll, habe ich durch die Antwort zu beseitigen geglaubt: das Ich ist alles dasjenige, als was es sich findet, und weifs.1 Ich bin gewifs, dafs jeder, der nicht schon mit einem Vorurteil gegen das Ich erf\u00fcllt ist, das Wort \u201eich weifs doch, dafs ich bin\u201c ohne weiteres gleichsetzen wird mit\n1 Grundrifs S. 2.1*","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476\nWilhelm Schuppe.\n\u201eich weifs mich\u201c nnd dann auch nicht nur zugeben, sondern selbst behaupten wird, dafs das Subjekt dieses Wissens (ich) und das Objekt desselben (mich) dasselbe sind. Und daraus allein schon w\u00e4re meine Antwort gerechtfertigt. Das Ich ist alles, als was es sich weifs. Aber sie wird auch ganz reflexionslos und theorielos von jedem gegeben. Ich wreifs mich als diesen Leib, also bin ich dieser Leib. Dadurch schon unterscheiden sich die Iche und dann noch weiter nat\u00fcrlich durch alles, was jeder dieser Ichleiber oder Leib-Iche erlebt hat, seinen ganzen Vorstellungsschatz und ihm entsprechend auch sein Gef\u00fchl und sein Streben. Da kann jeder die Stufen seines Werdeganges unterscheiden und jedes Ich befindet sich in einer fortw\u00e4hrenden Entwicklung. Daraus kann nicht geschlossen werden, dafs diese Empfindungen und Vorstellungen selbst ichlos existieren und dann eine Zahl von ihnen ein Ich w\u00e4ren oder es aus sich entwickelten. Denn niemand k\u00f6nnte es ihnen ansehen, der nicht schon aus seiner eigenen Erfahrung w\u00fcfste, was ein Ich ist.\nIch h\u00e4tte Ziehens Einw\u00e4nden folgend noch viel zu sagen, aber aus dem vielen w\u00e4hle ich nur ganz weniges aus und will nicht meine Meinungen beweisen, sondern nur sagen, was ich wirklich gemeint habe und noch meine.\nIch protestiere gegen Ziehens Darstellungsweise, S. 99, \u201edas Spezifische soll ohne das Generelle undenkbar sein\u201c, als wenn ich mir das zu irgend einem Zwecke erkl\u00fcgelt h\u00e4tte. Ich will dabei gar nichts, sondern sage, was ich vorzufinden meine. Ziehen soll es doch gerade heraussagen, er sei imstande, das blofs Spezifische rot oder dreieckig vorzustellen, ohne etwas von dem gattungsm\u00e4fsigen Moment, Farbe oder ebene Figur mit vorzustellen. Ich bin es nicht imstande und glaube viel eher, dafs er sich t\u00e4uscht und wirklich etwas von dem Generischen dabei mitvorstellt. Sollte er wirklich meinen, er habe schon ein rot gesehen oder vorgestellt, welches nicht Farbe war? Somit wage ich mich nicht in das metaphysische Gebiet hinein, sondern werde durch Erfahrungstatsachen, welche sonst nicht beachtet zu werden pflegen, auf dieses vermeintlicherweise metaphysische Gebiet gef\u00fchrt.\nEs hat mir immer f\u00fcr etwas ganz Selbstverst\u00e4ndliches gegolten, und ich habe es auch oft genug ausgesprochen, dafs die Allgemein Vorstellungen lediglich aus den speziellen Vorstellungen entstammen, dafs diese Erinnerungsbilder der Empfindungen","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n477\nsind, und dafs die Entwicklung der Allgemeinvorstellungen eng an unsere Gehirnt\u00e4tigkeit gebunden ist.\nIch habe schon manchem vorgeworfen, dafs er logische Abstraktionen in reale Wesen verwandle, aber wo ich dies tun\nsoll, ist mir unbekannt, und ebenso absolut unbekannt ist mir,\n\\\nwo mir (wie Ziehen S. l\u00f6l mir nachsagt) die Allgemeinvorstellungen unindividuelle von dem Individuum losgel\u00f6ste Allgemeinvorstellungsgebilde sind. Ich bin mir bewmfst, immer das Gegenteil gelehrt zu haben und Ziehen hat ja selbst oben meine Lehre, dafs es kein Denken, kein Empfinden und Vorstellen gebe, ohne eines Ich Denken, Empfinden und Vorstellen zu sein, bek\u00e4mpft. Oder richtet sich sein Kampf nur gegen das Ich, nicht gegen \u201edas Individuum\u201c? Und meint er denn unter dem Individuum nur das Leibindividuum? Aber ich habe mir das Ich-Individuum auch nie ohne das Leibindividuum gedacht, also habe ich mir auch die Allgemein Vorstellungsgebilde niemals losgel\u00f6st von dem Individuum gedacht.\nEin neues Mifsverst\u00e4ndnis in betreff dieses wichtigen Dinges findet sich B. 105. Worin es eigentlich besteht, kann ich nicht recht sagen; Ziehen mufs bei meinen Worten etwas anderes gedacht haben, als ich. \u201eDie Allgemeinbegriffe sollen mir unabh\u00e4ngig von der Induktion schon in der einzelnen Sinneserfahrung gegeben sein\u201c, w\u00e4hrend , sie doch, nach Ziehen, erst das Ergebnis vieler Sinneserfahrungen sind.\u201c \u201eGegeben\u201c kann nach meiner Ansicht die Allgemeinheit der Elementarspezies nicht sein. Das \u201eGegebene\u201c ist immer r\u00e4umlich-zeitlich vollst\u00e4ndig bestimmt. Aber wenn \u00fcberhaupt Analyse des vielen zugleich Gegebenen und wenn logische Reflexion m\u00f6glich ist, so kann die Analyse die Qualit\u00e4t und die r\u00e4umliche Bestimmtheit unterscheiden und die Reflexion kann dar\u00fcber belehren, dafs jedes der beiden in dem ganzen Gegebenen enthalten war oder ist, f\u00fcr sich allein gedacht aber die Existenz des aus Gegebenem Ausgesonderten hat. In der Abstraktion von Bestimmtheiten, welche zu dem konkreten Ganzen geh\u00f6ren, ist jedes Element Allgemeines, im Sinne des Urteils, dafs es sich durch oder aus sich selbst mit jeder anderen r\u00e4umlichen und zeitlichen Bestimmtheit auch vertr\u00e4gt. Was \u201edie Allgemeinbegriffe\u201c meinen oder ihr Inhalt ist allerdings schon vor der Analyse und vor der Induktion in der einzelnen Sinneserfahrung gegeben, d. h. enthalten, sonst k\u00f6nnte es keine Analyse herausfinden, aber wenn","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\nWilhelm Schuppe.\ndas Moment der Allgemeinheit selbst zum Bewusstsein kommt, so geh\u00f6rt dieses nicht zum Gegebenen. Ich habe es bei der Lehre -von der Abstraktion ausgesprochen : wir w\u00fcrden das abstrakte gattungsm\u00e4fsige Moment (aus psychologischen Gr\u00fcnden) nie herausfinden, also auch in unserer Sprache kein Wort daf\u00fcr finden, wenn es nicht in verschiedener Determination vork\u00e4me, aber auch, wenn es noch nicht begriffsm\u00e4fsig ausgesondert ist, ist es im Gegebenen vorhanden.\nVieles h\u00e4tte ich auf Ziehens kritische Bemerkungen noch zu erwidern, aber ich mufs mich der K\u00fcrze halber auf eins beschr\u00e4nken, das sog. Identit\u00e4tsprinzip, und zwar verlangt dieses noch zum Schlufs ein Wort der Berichtigung, weil Ziehens Beurteilung meiner Ansicht in Zusammenhang steht mit den Mifsverst\u00e4ndnissen, welche meine Iehlehre betrafen.\nZiehen hat mir zwar manchen bildlich gemeinten Ausdruck als eigentlichen aufgefafst, aber im ganzen hat er doch Recht darin, dafs das Identit\u00e4tsprinzip bei mir in meiner Erstlingsschrift eine \u201eetwas mystische Rolle\u201c (S. 127) spielt. Aber nicht erst Ziehen hat es durch seine Darlegung S. 126 derselben entkleidet, sondern schon mein \u201eGrundrifs der Erk. und Log.\u201c hat es getan. Gegen den Begriff der Beelent\u00e4tigkeiten als solcher (des Empfindens, Vorstellens u. dgl) bin ich zuerst aufgetreten \u2014 wenigstens kenne ich bis heut keinen Vorg\u00e4nger \u2014 und nun soll mir \u201edas Auffassen des Eindrucks in seiner positiven Bestimmtheit\u201c, B. 127, als eine von mir statuierte Seelent\u00e4tigkeit gedeutet werden! Gemeint habe ich nichts anderes, als das Bewufstwerden oder Bewufstsein oder die Bewufstheit einer positiven Bestimmtheit. Wenn Ziehen sagt, S. 126, \u201eWir haben einfach empirisch festzustellen: was geschieht tats\u00e4chlich?\u201c so hat er mir aus der Seele gesprochen, und ebenso mit den Worten ebenda \u201edie Empfindung ist doch als solche qualitativ bestimmt und positiv und bewufst\u201c und auf die Frage \u201ewas soll da noch dies Auffassen? Was f\u00fcgt Schuppe im Auffassen des Eindruckes in seiner positiven Bestimmtheit zu der Empfindung hinzu?\u201c antwortete ich \u201enichts\u201c. Was uns unterscheidet ist dies, dafs ich es f\u00fcr n\u00f6tig, mindestens n\u00fctzlich hielt, auf die Bewufstheit find positive Bestimmtheit als solche aufmerksam zu machen, schon um der Negation willen, w\u00e4hrend Ziehen dies nicht f\u00fcr n\u00f6tig, sondern sehr entbehrlich halten mag. Es ist ein Irrtum, dafs ich solche Gespenster sehe, ein Irrtum, welcher eigentlich","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich.\n479\nmeine ganze Erkenntnistheorie aufhebt. Wenn ich von der \u201esozusagen\u201c Fixierung und Aufnahme spreche, so kann dieses \u201esozusagen\u201c doch lehren, dafs ich nicht im eigentlichen Sinne solche Ereignisse behaupte, und die folgenden z. T. von Ziehen selbst zitierten Worte1 \u201eman darf das Fixieren und Auf nehmen nicht als eine subjektive T\u00e4tigkeit denken, sondern nur als das Bewufstsein von dieser positiven Bestimmtheit, durch welche eben erst Unterscheidbarkeit von anderem m\u00f6glich wird. Was man Identit\u00e4tsprinzip nennt, kann zun\u00e4chst nur hierin gefunden werden; es ist also eigentlich als Voraussetzung und Korrelat zu aller Unterscheidung resp. Verneinung dies, dafs es \u00fcberhaupt solche positive Bestimmtheit gibt,\u201c schliefsen doch Ziehens Beschuldigung aus. Seinem Worte S. 127 \u201eIch betrachte das \u201eAuftassen\u201c als einen durch nichts belegten, hypothetischen Akt, der, wie so viele andere Seelent\u00e4tigkeiten, nichts erkl\u00e4rt und nichts zu erkl\u00e4ren hat\u201c, habe ich nur gleich hinzuzuf\u00fcgen : \u201ewas Schuppe weifs, weshalb er auch keinen solchen hypothetischen Akt annimmt.\u201c Dafs Ziehen trotzdem und trotz vieler anderer ebenso deutlich sprechender Stellen diese Beschuldigung doch aufrecht erh\u00e4lt und sich an das Wort \u201eergreifen\u201c h\u00e4lt, obwohl ihm dieses Wort als Bewufstsein des Objekts erkl\u00e4rt worden ist, kann ich mir nur dadurch erkl\u00e4ren, dafs er mich auch durch meine \u201eIch-Hypothese\u201c zur Annahme dieser hypothetischen Seelent\u00e4tigkeit gedr\u00e4ngt sieht. Seine Auffassung meines \u201eErgreifens\u201c ist geradeso unrichtig, wie die meiner \u201eIch-Hypothese\u201c und macht alle M\u00fche, die ich mir in der Erk.-Log. gegeben habe, um dieses Ergreifen zu eliminieren, was mir damals als der Hauptpunkt und als ganz neu erschien, vergeblich. Nachdem ich ein Ich als Urtatsache aufgestellt habe, \u201emufs\u201c dieses die Empfindung erst ergreifen. Ziehen deduziert es und deshalb \u201escheint es ihm auch gar nichts zu helfen\u201c^ dafs ich das gerade G-egenteil behauptet habe. Seine Frage S. 128 \u201ein welchem Sinne ist denn diese Vorstellung des Ergreifens noch zul\u00e4ssig oder gar als Hypothese etc. gerechtfertigt?\u201c beantworte ich kurz : zul\u00e4ssig in dem eben erkl\u00e4rten Sinne, n\u00e4mlich dem des Bewufstseins oder Bewufstwerdens oder der Bewufstheit des Objekts; Hypothese ist sie \u00fcberhaupt nicht.\n1 Grundrifs der Erk. u. Log. S., 39 u. 7.\n(Eingegangen am 31. M\u00e4rz 1904.)","page":479}],"identifier":"lit32051","issued":"1904","language":"de","pages":"454-479","startpages":"454","title":"Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich: Eine Antwort auf Ziehens \"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen\" [, 1903,] in Band 33 dieser Zeitschrift [f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg.,] S. 91ff.","type":"Journal Article","volume":"35"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:29:27.398444+00:00"}