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{"created":"2022-01-31T16:31:51.156275+00:00","id":"lit32070","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Storch, E.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 361-386","fulltext":[{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"lieber\ndie Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\nVon\nDr. E. Stobch.\nBetrachte ich einen Lichtpunkt A und unmittelbar darauf einen anderen B, von derselben Helligkeit und Farbe, so werden in beiden F\u00e4llen genau die gleichen Netzhautelemente in der gleichen St\u00e4rke gereizt Trotzdem ist in beiden Wahrnehmungen ein r\u00e4umlicher Unterschied: den Punkt A sehe ich in einer anderen Richtung, an einer anderen Stelle im Raum, als den Punkt B.\nBetaste ich erst die rechte Ecke einer Stuhllehne und unmittelbar darauf die v\u00f6llig gleich geformte linke, so ist wiederum die Erregung der tastenden Sinneselemente in beiden F\u00e4llen absolut gleich; in den Wahrnehmungen aber besteht auch hier ein r\u00e4umlicher Unterschied: die linke Ecke liegt in einer anderen Richtung als die rechte.\nW\u00e4re in dem optischen Beispiel in A erst ein weifses und dann ein blaues Licht erschienen, so w\u00fcrde kein Physiologe daran gezweifelt haben, dafs der Verschiedenheit der sinnlichen Wahrnehmungen eine Verschiedenheit der auf den Reiz erfolgenden Netzhautver\u00e4nderung entspricht, und diesen selben Schlufs w\u00fcrde man hinsichtlich der Tastfl\u00e4che gezogen haben, falls in dem zweiten Beispiel sich die eine Ecke rauh, die andere glatt angef\u00fchlt h\u00e4tte.\nUnd sicher ist man zu diesem Schl\u00fcsse berechtigt, ob man sich mit vollem Bewufstsein zu der Lehre vom psychophysischen Parallelismus bekennt oder nicht; denn solange Menschen gedacht haben, haben sie immer nur von psychisch Verschiedenem auf physische Verschiedenheiten geschlossen.\nTrotzdem ist die Annahme, dafs der Wahrnehmung eines blauen Lichtes ein anderer Vorgang in der Netzhaut entspricht,","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nE. Storch.\nals der eines gelben, bis zum heutigen Tage eine unerwiesene Hypothese, und d\u00fcrfte es auch noch f\u00fcr absehbare Zeiten bleiben.\nVor Aller Augen liegt aber diese von unserer Vernunft unabweisbar geforderte k\u00f6rperliche Verschiedenheit, sobald es sich um die r\u00e4umlichen Verschiedenheiten der Wahrnehmungen handelt.\nBetrachte ich erst den Punkt A und dann den Punkt B, so treten meine Augenmuskeln oder auch die Muskeln meines ganzen K\u00f6rpers in Th\u00e4tigkeit, und es ist darum wohl der M\u00fche werth zu untersuchen, ob sich das r\u00e4umliche Moment, welches mit all unseren Wahrnehmungen aufs Engste verkn\u00fcpft ist, nicht in letzter Linie zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4fst auf unsere Muskelth\u00e4tigkeit\nIn gr\u00f6fserer Ausf\u00fchrlichkeit habe ich diesen Gedanken in einer kleinen Abhandlung1 entwickelt. Hier kann ich den Gedankengang nur andeuten.\nDas neugeborene Kind verharrt in den ersten Tagen und Wochen seines Lebens in einer ganz bestimmten Ruhelage, die es nur auf Sinnesreize verl\u00e4fst. Die Gliedmafsen sind an den Leib gezogen, die F\u00e4ustchen geballt Streckt man bei einem solchen Kinde z. B. den kleinen Finger, so schl\u00e4gt es ihn maschinenm\u00e4fsig wieder ein, sobald man ihn losl\u00e4fst. Kurz zu jedem Reize, den inan durch passive Bewegungen auf die Sinneselemente der Sehnen und Gelenke aus\u00fcbt, geh\u00f6rt eine ganz bestimmte Reflexbewegung.\nBewegt man ihm den Kopf hin und her, so sieht man lange bevor an eine Fixation zu denken ist, wie die Augen hinter der passiven Kopfdrehung Zur\u00fcckbleiben; d. h. zu jeder einzelnen Reizung des Bogengangapparates geh\u00f6rt reflectorisch eine ganz bestimmte Augenbewegung.\nNicht durchaus so regelm\u00e4fsig, so automatenhaft, aber immer noch deutlich genug l\u00e4fst sich beobachten, dafs der Ber\u00fchrung einer bestimmten Stelle der Haut eine eigene Reflexbewegung kleinerer oder gr\u00f6fserer Muskelgebiete folgt. Und wrir brauchen nur an juckende Reize zu denken, um uns dar\u00fcber klar zu werden, dafs auch beim Erwachsenen, die Reizung gewisser Sinneselemente specifische Bewegungen reflectorisch ausl\u00f6st\nWir k\u00f6nnen den Zeitpunkt nicht genauer angeben, zu welchem das Kind aus seinem Reflexleben erwacht; aber eines\n1 Muskelfunction und Bewufstsein. Wiesbaden, F. J. Bergmann, 1901.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Heber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n365\nst\u00e4rken aber i1} i2, %.......\", so w\u00fcrde die Formel i, mt -f- \u00a3>\n+ h m3 . , . . das periferische Correlat aller r\u00e4umlichen und quantitativen El\u00e9mente in einer Wahrnehmung darstellen. W\u00fcrde in dieser Formel ein allen i gemeinsamer Factor n wachsen, so w\u00fcrde die Quantit\u00e4t der Empfindung zunehmen.\nn (% m1 -{- % nh H\u201c h nh \u2666 \u2022 *)\nQuantit\u00e4t und Raum aber ist an unseren Wahrnehmungen alles, was die Objecte zu einander in Beziehung setzt. In Beziehung setzen aber heilst erst Denken, wahrnehmen, Bewufstsein haben, und so ist Quantit\u00e4t und Raum, die psychische Repr\u00e4sentation unserer Muskelfunction, das Material all unserer Bewufst-seinsth\u00e4tigkeit. Alles Vorstellen, alle Begriffe sind in letzter Linie auf Raum- und Quantit\u00e4tsgr\u00f6fsen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Von dem rein Sinnlichen tritt nichts in unsere Denkth\u00e4tigkeit ein ; es ist nur vorhanden im Augenblicke der Wahrnehmung. Und wenn der Physiker \u00fcber Farben, Ger\u00e4usche oder sonst welche Thatsachen sinnlicher Erfahrung nachdenkt, so kann er das nur indem er f\u00fcr sie Raum- und Quantit\u00e4tsgr\u00f6fsen setzt, denn die rein sinnlichen Empfindungen an sich sind durchaus beziehungslos.\nAuch hier mufs ich mich mit diesem Hinweise begn\u00fcgen, dafs alle Beziehungen in unserem Wahrnehmen und Denken, also auch alle Beziehungen, welche die Objecte zu einander besitzen, nichts aber auch gar nichts weiter sind als die psychische Repr\u00e4sentation unserer Muskelth\u00e4tigkeit.\nUnd doch kennen wir unter den Objecten unserer Wahrnehmung Beziehungen, die freilich im Denkprocesse keine Rolle spielen, die aber ebenso bestimmt und eindeutig geordnet erscheinen, wie die Massen im Raum. Ich meine die Wahrnehmung der acustischen Objecte, und unter diesen wieder greife ich diejenigen heraus, welche musikalische Verwendung finden.\nWas die musikalischen T\u00f6ne in eine eindeutige Reihe ordnet ist ihre H\u00f6he oder Tiefe. In Bezug auf einen beliebigen musikalischen Ton ist irgend ein anderer h\u00f6her oder tiefer.\nEs ist ein \u00e4hnliches Verh\u00e4ltnis wie wir es bei den quantitativen Beziehungen irgend einer specifischen Sinnesempfindung haben. In Bezug auf irgend eine Lichtempfindung ist irgend eine andere dunkler oder heller.\nAber es besteht zwischen der Wahrnehmung der Tonh\u00f6he und der der Helligkeiten doch ein gewaltiger Unterschied. Es","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nE. Storch.\nden Satz aufstellen : Der Baum ist die psychische Repr\u00e4sentation unserer Bewegungen.\nJede Raumvorstellung aber, auch die aller complicirteste l\u00e4fst sich auf das Element der Richtungsvorstellung zur\u00fcckf\u00fchren. Ein Wagen den ioh an mir vor\u00fcberfahren sehe erscheint mir nach einander in verschiedenen Richtungen, ein Buchstabe, ein K\u00f6rper, irgend eine Form, all das ist aufl\u00f6sbar in eine Summe von in verschiedenen Richtungen gelegenen Raumpunkten. Alle Formen die wir an den Objecten wahrnehmen beruhen auf mehr minder verwickelten Richtungscomplexen.\nWenn ich ein Gewicht von 10 Kilo vom Boden erhebe und unmittelbar darauf ein solches von 20 Kilo, so ist die Richtung in welcher ich einen Widerstand durch Muskelkraft \u00fcberwinde in beiden F\u00e4llen dieselbe, die Anstrengung aber, welche ich als Masse objectivire, eine verschiedene. Der gleichen Richtungswahrnehmung wird man die in beiden F\u00e4llen gleiche Combination der th\u00e4tigen Muskeln, der verschiedenen Masse die verschiedene St\u00e4rke ihrer Innervation parallel setzen.\nNehme ich zun\u00e4chst einen Gummiball in die Hand und schliefse diese mit immer gr\u00f6fserer Kraft zur Faust, so bemerke ich die Weichheit des Objectes. Im Gegens\u00e4tze dazu w\u00fcrde ich eine Holzkugel hart empfinden. Im letzteren Falle \u00e4ndert sich trotz zunehmender Innervationst\u00e4rke die Form meiner Hand nicht, es bleiben dieselben Muskelfasern mit der vergleichsweise n\u00e4mlichen Kraft contrahirt, w\u00e4hrend die Gesammtsumme der Innervation steigt.\nDem entsprechend \u00e4ndert sich denn auch das r\u00e4umliche Moment der Wahrnehmung, die Form der Holzkugel, durchaus nicht, wohl aber bemerke ich bei zunehmenden Kraftaufwand ihre H\u00e4rte. Ein Gegenstand ist um so h\u00e4rter, je gr\u00f6fser der Widerstand den er dem Versuche seine Form zu ver\u00e4ndern entgegensetzt\nEs w\u00fcrde hier zu weit f\u00fchren den Beweis zu erbringen, dafs f\u00fcr alle Sinnesgebiete das r\u00e4umliche Moment der Wahrnehmung allein abh\u00e4ngig ist von den Innervationsverh\u00e4ltnissen der in Action tretenden Muskelgruppen, die Quantit\u00e4t der Empfindung bei gleichem Innervationsverh\u00e4ltnifs, aber nur abh\u00e4ngt von der Gesammtsumme der Innervation.\nNenne ich daher die bei einem Wahrnehmungsacte th\u00e4tigen Muskelelemente \u00ab?\u201e, mz . . . ihre zugeh\u00f6rigen Innervations-","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Heber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n365\nst\u00e4rken aber i1} i2, %.......\", so w\u00fcrde die Formel i, mt -f- \u00a3>\n+ h m3 . , . . das periferische Correlat aller r\u00e4umlichen und quantitativen El\u00e9mente in einer Wahrnehmung darstellen. W\u00fcrde in dieser Formel ein allen i gemeinsamer Factor n wachsen, so w\u00fcrde die Quantit\u00e4t der Empfindung zunehmen.\nn (% m1 -{- % nh H\u201c h nh \u2666 \u2022 *)\nQuantit\u00e4t und Raum aber ist an unseren Wahrnehmungen alles, was die Objecte zu einander in Beziehung setzt. In Beziehung setzen aber heilst erst Denken, wahrnehmen, Bewufstsein haben, und so ist Quantit\u00e4t und Raum, die psychische Repr\u00e4sentation unserer Muskelfunction, das Material all unserer Bewufst-seinsth\u00e4tigkeit. Alles Vorstellen, alle Begriffe sind in letzter Linie auf Raum- und Quantit\u00e4tsgr\u00f6fsen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Von dem rein Sinnlichen tritt nichts in unsere Denkth\u00e4tigkeit ein ; es ist nur vorhanden im Augenblicke der Wahrnehmung. Und wenn der Physiker \u00fcber Farben, Ger\u00e4usche oder sonst welche Thatsachen sinnlicher Erfahrung nachdenkt, so kann er das nur indem er f\u00fcr sie Raum- und Quantit\u00e4tsgr\u00f6fsen setzt, denn die rein sinnlichen Empfindungen an sich sind durchaus beziehungslos.\nAuch hier mufs ich mich mit diesem Hinweise begn\u00fcgen, dafs alle Beziehungen in unserem Wahrnehmen und Denken, also auch alle Beziehungen, welche die Objecte zu einander besitzen, nichts aber auch gar nichts weiter sind als die psychische Repr\u00e4sentation unserer Muskelth\u00e4tigkeit.\nUnd doch kennen wir unter den Objecten unserer Wahrnehmung Beziehungen, die freilich im Denkprocesse keine Rolle spielen, die aber ebenso bestimmt und eindeutig geordnet erscheinen, wie die Massen im Raum. Ich meine die Wahrnehmung der acustischen Objecte, und unter diesen wieder greife ich diejenigen heraus, welche musikalische Verwendung finden.\nWas die musikalischen T\u00f6ne in eine eindeutige Reihe ordnet ist ihre H\u00f6he oder Tiefe. In Bezug auf einen beliebigen musikalischen Ton ist irgend ein anderer h\u00f6her oder tiefer.\nEs ist ein \u00e4hnliches Verh\u00e4ltnis wie wir es bei den quantitativen Beziehungen irgend einer specifischen Sinnesempfindung haben. In Bezug auf irgend eine Lichtempfindung ist irgend eine andere dunkler oder heller.\nAber es besteht zwischen der Wahrnehmung der Tonh\u00f6he und der der Helligkeiten doch ein gewaltiger Unterschied. Es","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nE. Storch.\nist ganz unm\u00f6glich sich einen bestimmten Helligkeitsunterschied vorzustellen, man kann ihn nur wahmehmen, und ganz unm\u00f6glich ist es diesen Unterschied der Quantit\u00e4t wiederzuerkennen, wenn ich von einer anderen Lichtquelle als Vergleichsobject ausgehe. Niemand vermag aus sich selbst heraus zu sagen, ob die Ver\u00e4nderung der Lichtempfindung die gleiche ist, wenn die Leuchtkraft einer Lichtquelle von 1 auf 2, und wenn sie von 2 auf 4 steigt.\nDagegen vermag ich mir sehr wohl einen bestimmten H\u00f6henunterschied vorzustellen und erkenne denselben auch m\u00fchelos in jeder H\u00f6henlage wieder.\nDadurch erhalten die Beziehungen der musikalischen T\u00f6ne eine gewisse Aehnlichkeit mit den im Raum g\u00fcltigen Gesetzen. Wie ich mir an jeder beliebigen Stelle im Raum einen Winkel von bestimmter Gr\u00f6fse denken kann, so ist auch zu jedem beliebigen Ton ein anderer vorstellbar, der zu ihm in einem bestimmten H\u00f6henverh\u00e4ltnifs steht. Das Intervall eines halben oder ganzen Tones, der Quinte oder Octave ist ganz unabh\u00e4ngig von der Tonh\u00f6he, wie der Richtungsunterschied, der Winkel den zwei Linien mit einander bilden ganz unabh\u00e4ngig besteht von der Lage desselben im Raum. Ist aber die eine beider Richtungen gegeben, so ist es auch die andere, ebenso wie bei Festlegung des Grundtones die Octave ebenfalls bestimmt ist.\nDie Uebereinstimmung geht noch weiter. Habe ich in einem Kreise einen Radius als Schenkel eines Centriwinkels von der Gr\u00f6fse a bestimmt, so giebt es zwei Radien, welche diesen Richtungsunterschied mit ihm einschliefsen ; denn ich kann mir den Winkel a entstanden denken durch Drehung des Radius aus seiner urspr\u00fcnglichen Lage entweder in der einen, oder der entgegengesetzten Richtung. Ebenso kann ich von einem beliebigen Grundtone entweder zur n\u00e4chst h\u00f6heren oder n\u00e4chst tieferen Octave gelangen.\nSehe ich irgend eine Form, so fasse ich sie simultan auf als Complex von Richtungen, und sehe ich dieselbe Form, z. B. einen Buchstaben schreiben, so nehme ich sie wahr als successive Folge verschiedener Richtungen. Ohne Weiteres erkenne ich die Identit\u00e4t beider Richtungscomplexe.\nH\u00f6re ich den Zusammenklang c e y und dann c e und g in der Aufeinanderfolge einer Melodie, so erkenne ich unschwer die Identit\u00e4t der Intervalle.","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n367\nDie Beziehungen zwischen den musikalischen T\u00f6nen haben also eine deutliche Aehnlichkeit mit den quantitativen und r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen im Reiche der k\u00f6rperlichen Objecte, so dafs der Gedanke nahe liegt auch sie als psychische Spiegelung unserer Muskelth\u00e4tigkeit aufzufassen.\nWie unser logisches Denken auf r\u00e4umlichen und quantitativen Verh\u00e4ltnissen basirt, so unser musikalisches auf der Tonh\u00f6he und der Intervallvorstellung, und w\u00e4re die eben ausgesprochene Vermuthung richtig, so w\u00fcrde unsere gesammte geistige Th\u00e4tig-keit, auch die nicht verstandesm\u00e4fsige, musikalische, sich zur\u00fcckf\u00fchren lassen auf die psychische Repr\u00e4sentation unserer Muskelaction. Unser Bewufstsein w\u00e4re das Combinations verm\u00f6gen dieser Erinnerungsbilder unserer Bewegungen.\nDafs all unsere Kenntnifs acustischer Ph\u00e4nomene und musikalischer Verh\u00e4ltnisse auf der Wahrnehmung basirt, ist selbstverst\u00e4ndlich, und wir werden, um unser Problem zu l\u00f6sen, uns an die ersten Geh\u00f6rseindr\u00fccke halten m\u00fcssen, welche das neugeborene Kind empf\u00e4ngt, an die Zeit der reflectorischen Bewegungen.\nDas erste Lebenszeichen, mit welchem das neugeborene Kind die Welt begr\u00fcfst, ist ein lebhaftes Geschrei, also eine Muskelth\u00e4tigkeit. Das wirklich schallerzeugende Organ hierbei ist der Kehlkopf, und wenn wir an unserer Annahme festhalten, dafs die Muskelcontractionen wenigstens in dem ersten Abschnitte unseres Lebens einen cerebralen Vorgang ausl\u00f6sen, der in engste Association mit der cerebralen Spur eines bestimmten Sinnesreizes tritt, so wird sich auch die Wahrnehmung dieses Geschreis, eines jeden Lautes \u00fcberhaupt zusammensetzen aus zwei psychischen Componenten. Die eine repr\u00e4sentirt die psychische Bewerthung der Ver\u00e4nderung des Geh\u00f6rorganes, die zweite die der den Laut erzeugenden Kehlkopfbewegung. Die Association zwischen diesen beiden Bewufstseinselementen m\u00fcssen wir uns wieder als so eng vorstellen, dafs jede Erregung unseres acustischen Organes unweigerlich ein ganz specifisches motorisches Erinnerungsbild anschwingen l\u00e4fst. Ohne dieses w\u00e4ren die einzelnen T\u00f6ne ohne jede Beziehung, sie w\u00e4ren einfach verschieden, so wie die Empfindungen blau und schwarz und wohlriechend unvermittelt und beziehungslos neben einander stehen.\nDafs diese motorischen Erinnerungsbilder thats\u00e4chlich vorhanden sind, beweist die Erfahrung, dafs ich jede Tonfolge zu","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nE. Storch.\nsingen vermag. In der Vorstellung des Tonverh\u00e4ltnisses c c\\ oder des Tones c1 nach c, mufs also alles liegen was zur Erzeugung des Tones c1 geh\u00f6rt. Es mufs die Vorstellung c1 that-s\u00e4chlich alles enthalten, was zur spinalen Innervation des Kehlkopfes geh\u00f6rt, oder wie ich auch sagen k\u00f6nnte, die Vorstellung c1 mufs eine Art seelischer Photographie dieser Innervation sein.\nDie Beziehungen nun, welche zwischen den musikalischen T\u00f6nen bestehen, sind uns unmittelbar gegeben, in ihnen denken wir wenn wir eine Melodie vor unserm geistigen Ohr vor\u00fcberziehen lassen, mit ihnen operirt der Componist. Diese Beziehungen aber verm\u00f6gen wir uns auch unabh\u00e4ngig von ihrem Material abstract zu denken, und wenn wir das thun, wenn wir sie also nicht naiv sondern verstandesm\u00e4fsig zergliedern, m\u00fcssen wir sie uns r\u00e4umlich vorstellen. Da das thats\u00e4chlich in grofeer Vollkommenheit m\u00f6glich ist, wie z. B. die HELMHOLTz\u2019sche Lehre von den Tonempfindungen zeigt, m\u00fcssen wir annehmen, daft alle musikalischen Beziehungen in unseren Raumvorstellungen schon enthalten ist, dafs abgesehen von dem eigenen acustischen Material diese Beziehungen einen Specialfall der Summe aller r\u00e4umlichen Beziehungen bilden. Sind aber letztere auf die Combination unserer Muskelth\u00e4tigkeit zur\u00fcckzuf\u00fchren, so gilt na\u00fcrtlich auch dasselbe von den musikalischen Tonverh\u00e4ltnissen.\nUnsere Theorie aber, der zu Folge die musikalischen Beziehungen als psychische Bewerthung der durch die Kehlkopfbewegungen erzeugten cerebralen Ver\u00e4nderungen aufzufassen sind, gestattet uns diese n\u00e4mlichen Beziehungen auch auf anderem Wege abzuleiten.\nStatt n\u00e4mlich diese Beziehungen selbst verstandesm\u00e4fsig, d. h. r\u00e4umlich auszulegen, k\u00f6nnen wir auch ihr peripheres Substrat, die Muskelth\u00e4tigkeit des Kehlkopfes, zum Ausgangspunkte unserer Betrachtung machen und untersuchen, wie sich die auf sie zur\u00fcckzuf\u00fchrenden r\u00e4umlichen Vorstellungen gestalten m\u00fcssen. Das heifst, wir machen die Annahme, dafs wir unsere Kehlkopfbewegungen r\u00e4umlich auffassen, dafs wir also, ebenso, wie wenn wir den rechten Arm heben wollen, auch von jeder Kehlkopfinnervation wohl eine r\u00e4umliche Vorstellung, aber keine akustische bes\u00e4fsen.\nIst es wichtig, dafs jedem r\u00e4umlichen Elemente, jeder Richtungsvorstellung, ein peripheres Substrat von der Formel\ni\\ Wj -f- i2 ni2 -f- i& tw8 . . .","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher die Wahrnehmung musikalischer Tonverhaltnisse.\n369\nzu Grunde liegt, d. h. eine bestimmte Innervation gewisser Muskelelemente, so leuchtet ein, dafs unser Raum so viel Richtungen besitzt, als es verschiedene Innervationsmechanismen giebt, <L h. unendlich viele.\nF\u00fcr unsera Kehlkopf aber kommen nicht unendlich viele, sondern nur drei Innervationsmechanismen in Betracht. Er hebt und senkt sich, er dreht sich um eine fronto-horizontale Axe, und die Stimmb\u00e4nder entfernen oder n\u00e4hern sich einander. Jedem dieser Bewegungsmechanismen entspricht eine einzige Formel\nn (\u00bb, \u00bb,\t0*\nin welcher sich nur der gemeinsame Factor n, die Gesammt-innervation \u00e4ndern kann.\nDie psychische Repr\u00e4sentation dieser drei Mechanismen kann nat\u00fcrlich nur drei verschiedene r\u00e4umliche Elemente, drei Richtungen liefern, die ich mit 1. 2 und 3 bezeichne, und wie wir bei der Lautbildung diese drei Mechanismen\nni\t(h1 mix + h1\t+\tV m8X\t\u2022\t\u2022\t\u2022),\nn2 Wj2 + i22 m22\t. .\t.)\nund\tns\t(i,8 ro,8 + j28 m28\t-f\tis8 w88\t.\t.\t.)\nin mannigfaltigster Weise combiniren, so combiniren wir auch beim musikalischen Denken ihre psychischen Werthe in jeder nur m\u00f6glichen Weise. Bleiben wir bei unserer Fiction, dafs sie r\u00e4umlich bewerthet werden, so heilst das, dafs unser r\u00e4umliches Denken, wofern es ausschliefslich auf den motorischen Erinnerungsbildern der Kehlkopfbewegungen beruht, sich v\u00f6llig ersch\u00f6pft in der Combinatorik dreier verschiedener Richtungen.\nDie m\u00f6glichen Combinationen sind also folgende:\n1.\t2 und 1. 2. 3\n1.\t3\t1.\t3.\t2\n2.\t3\t2.\t1.\t3\n2.\t1\t2.\t3.\t1\n3.\t1\t3.\t1.\t2\n3.\t2\t3.\t2.\t1.\nDie Combination zweier Richtungen ergiebt offenbar einen Richtungsunterschied, einen Winkel von bestimmter Gr\u00f6fse, und wenn ich die Richtung 1 als Ausgangsrichtung w\u00e4hle, wie ich ja in unserem wirklichen Raume auch stets eine bestimmte Richtung, die gerade nach vorn, f\u00fcr die Orientirung verwende,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 27.\t24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nE. Storch.\nso erhalte ich im Ganzen vier Combinatipnen und ihre Umkehrungen.\nI\t= 1. 2, (2. 1)\tIII = 1. 2. 3, (3. 2.\t1)\nII\t= 1. 3, (3. 1)\tIV = 1. a 2, (2. 3.\t1)\nDie Beziehungen, welche zwischen den Gr\u00f6fsen unseres fingirten Raumes bestehen, lassen sich also auf vier bezw. acht gegen eine Ausgangsrichtung gemessenene Winkel zur\u00fcckf\u00fchren.\nI = 1. 2 =\t(2. 1 = \u2014 -=4 ofj)\nII = 1. 3 = ^ a2 (3. 1 ==-40,)\nIII\t= 1. 2. 3 =\t-4\t(a3)\t(3. 2. 1) = \u2014 -4 (o.)\nIV\t= 1. 3. 2 =\t-4\t(a4)\t(3. 2. 1) = \u2014 -4 (a4)\nDa nun bei jeder lautlichen Aeufserung s\u00e4mmtliche drei Mechanismen des Kehlkopfes in Function treten, so werden auch mit jeder Tonwahmehmung ihre psychischen Correlate, die Com-binationen miterregt. Ganz \u00e4hnlich, wie bei der Wahrnehmung irgend eines r\u00e4umlichen Objectes in einer Richtung, diese nur einen Sinn hat in Bezug auf alle \u00fcbrigen Richtungen, auf den gesammten Raum, so wird auch die Vorstellung einer Richtung in unserem fingirten \u201ephonetischen Raume\u201c nur durch ihre Beziehung zu den \u00fcbrigen phonetischen Richtungen, durch das Anschwingen der Combinationen m\u00f6glich sein.\nNehme ich in diesem phonetischen Raume einen Ton, also ein Object, in einer der drei Richtungen wahr, so geschieht das unweigerlich in Beziehung zu den beiden anderen. Ohne diese Beziehung w\u00e4re ja der Begriff der Richtung illusorisch.\nWenn es nun m\u00f6glich w\u00e4re die Gr\u00f6fse der Winkel , a,, a8 und ai zu bestimmen, so w\u00fcrde ich alle Beziehungen im phonetischen Raume genau kennen, und diese Beziehungen m\u00fcfsten, wenn unsere Theorie richtig ist, die n\u00e4mlichen sein, welche die musikalischen T\u00f6ne zu einander haben. Denn nach unserer Theorie sind ja diese Beziehungen nichts anderes als die psychische Spiegelung der phonetischen Kehlkopfbewegungen.\nSei die Ausgangsrichtung 1 peripherisch durch die Hebung und Senkung des Kehlkopfes, durch die Formel:\nni (*i1 m\\1 + h1 nh1 . . .) = M1\nrepr\u00e4sentirt, so ist klar, dafs die zweite Richtung, welche der Drehung um eine transverso - frontale Axe entspricht, durch vollkommen verschiedene Muskelelemente ausgef\u00fchrt wird, und dafs","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n371\nebenso wie zwischen den beiden Mechanismen keinerlei Ueber-g\u00e4nge bestehen, auch ihre psychischen Spiegelbilder ganz unvermittelt neben einander stehen. Entspricht die zweite Richtung M% der Formel n2 (m^. . .), so wird eine Vergr\u00f6fserung von n2 der positiven Richtung Mx, eine Verringerung der negativen oder entgegengesetzten \u2014 M2 zugeh\u00f6ren, und ebenso h\u00e4ngt -f- Mx und \u2014 Mt von der Zu- oder Abnahme des Factors n! ab.\nDa nun diese beiden Richtungen absolut keine Beziehungen zu einander haben, ebensowenig wie ihre physischen Correlate, d. h. da der Unterschied -f-\tM2 psychisch nicht anders\nbewerthet werden kann als + \u2014 M2, oder \u2014 -j- M2 und \u2014 Mt \u2014 M2, so kann ich diesen Bedingungen nur dadurch gerecht werden, dafs ich Richtung 2. senkrecht auf 1. annehme.\nFolglich ist -4 1.2 = \u00d6! = 90 = ^\nFig. 1.\nFig. 2.\nDie Richtung 3. werde durch die Formel:\nw8 (i/ mx* + ta8 m2* . . .) = Jf8 symbolisirt und es ist zun\u00e4chst ohne Weiteres klar, dafs 1.2 = ax unm\u00f6glich gleich 1. 3 = a2 sein kann. Denn Ungleiches mit Gleichem in derselben Weise combinirt mufs Ungleiches ergeben.\nEs ist also z. B. unrichtig die Richtung (3) wie in Figur 1 als Halbirungslinie des Winkels czl zu zeichnen, denn dann w\u00e4re 3. 1 = 3. 2.\nAndererseits ist aber der Richtungsunterschied 1. 3 psychisch ebensowenig bewerthet wie der Richtungsunterschied 2. 3, sie m\u00fcssen also ihrem absoluten Werthe nach gleich sein; aber die\nRichtung 3 in Bezug auf 1 mufs eine andere sein, als in Bezug\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nE. Storch.\nauf 2. In Figur 2 werde sie in ihrem Verh\u00e4ltnifs zu 1 durch 3 (l), zu 2 durch 3 (2) dargestellt, so dafs\n4 1.3(1) = \u00df, \u00bb 4 2.3(2)\nst, mithin\n4 8(1). 3(2) = 4 1.2 = \u00abi =\nAufser der Combination 1. 3 =* a2 existirt aber auch noch 3. 1 = \u2014\t, wie ich es in Figur 3 durch die Linie 3' dar-\ngestellt habe, und wir haben uns zu fragen, was uns zur psychischen Bewerthung der drei Winkel 1. 3, 3. 3', 3'. 1 gegeben ist Nun wissen wir von jedem dieser Winkel genau das n\u00e4m-\ntc\nliehe Negative, keiner darf gleich 450 ==\u00bb -j- oder ein Vielfaches\ndavon betragen. Weitere Bedingungen f\u00fcr die Gr\u00f6fsenbestimmung liegen nicht vor; die drei Combinationen m\u00fcssen demnach psychisch auch gleich bewerthet werden; also:\n4 1.3 = 3.3' = 3'. 1 = o. =\t= 120\u00b0.1\n*\t3\nFig. 4.\nWir haben die Beziehungen zwischen den Richtungen des phonetischen Raumes kennen gelernt und k\u00f6nnen nunmehr die\n1 Man gelangt auch durch folgende Ueberlegung zu dem gleichen Resultat. 3 mufs zur Ausgangsrichtung eine andere psychische Gr\u00f6fse geben als 2. Die beiden Richtungen 1 und 3 aber k\u00f6nnen nur einen einzigen Richtungsunterschied ergeben, einen einzigen Winkel, der auf 1 bezogen zwei verschiedene Lagen haben kann; der absolute Werth dieses Winkels ist nat\u00fcrlich derselbe, wenn ich 1 auf 3 als Ausgangsrichtung beziehe, so dafs, wenn ich alle m\u00f6glichen Lagen von ora zu 1 und 3 darstelle, auf der einen Seite von 1 4 \u201c\u00e4\u00bb auf der anderen \u2014\u00ab2 liegen mufs; ebenso aber auch auf beiden Seiten von 3. Dafs das bei einer beliebigen Gr\u00f6fse von \u00aba in der Ebene nicht der Fall ist, liegt offenbar daran, dafs ich bei dieser Darstellung nicht die beiden Richtungen 1 und 3 in ihren m\u00f6glichen Be\u00ab","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tonverhaltnisse.\n373\nm\u00f6glichen vier (acht) Combinationen in Bezug auf die Ausgangsrichtung bestimmen.\n+ I = 1.2 = \u00ab! = 90\u00b0 =\n2 7t\n4 \u2019\nT O 1\t2 TT\t, 2tC\n\u2014 I \u2014 2. l---------------r- \u2014 \u00ab +\n4 \u2019\n+ II _ 1.3 = a, = 120\u00b0 =\n2 71\n\"IT*\nno 1\t2 TT\t| TT\n= 3.1\t\u00df\tt\n+ HI = 1.2.3 = \u00ab,+\u00ab, = 210\u00bb - -?\u00a3- +\n-m - 3.2.1 --(\u25a0\u00a5\u25a0 +\u0178) --V-+ f\n+ IV = 1.3.2 -\t= 210\u00bb - ^\n-IV = 2.3.1 - -\t+ *\u00a3-) = -2* +\nFigur 4 veranschaulicht diese Beziehungen und zeigt, dafs die Combinationen III und IV in eins zusammenfallen.\nMit jeder Wahrnehmung in diesem Raume klingen also unweigerlich diese Combinationen an. Halte ich unsere Fiction aufrecht, so heilst das, dafs jedes in diesem Raume wahrgenommene Object (jeder Ton) neben seiner eigenen, der Ausgangsrichtung, sechs andere Richtungsvorstellungen ins Rewufst-sein erhebt\nNun stellt zwar der phonetische Raum, wie ihn Figur 4 wiedergiebt, die Beziehungen zwischen den psychischen Spiegelbildern der Kehlkopfbewegungen vollst\u00e4ndig dar, aber der Kehlkopf ist, wenn schon ein sehr wichtiger Theil des lautbildenden Organes, so doch immer nur ein Theil. Die gesammte Muskulatur\nZiehungen darstelle, sondern auch in Beziehung zu den unendlich vielen Richtungen der Ebene. Die Eigenschaften der Ebene d\u00fcrfen also, als nicht in unserer Voraussetzung gelegen, die Bedingung nicht st\u00f6ren, dafs 1 und 3 nur einen einzigen Richtungsunterschied ergeben, sondern m\u00fcssen hiermit in Einklang gebracht werden. Das ist, wie man sieht, aufser in Figur 1 nur noch in Figur 3 geschehen.","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nE. Storch.\ndes Halses und der Brust nimmt an der Lauterzeugung Theil, und wir werden nicht fehl gehlen, wenn wir die Summe der von diesen Organen erzeugten Richtungsvorstellungen als unendlich ansehen. Der von ihnen dargestellte phonetische Raum enth\u00e4lt also unendlich viele Richtungen und wir werden ihn also als Ebene auffassen. Jedenfalls sind aber in ihm, die von dem musikalischen Organe Kat Exochen, dem Kehlkopf abzuleitenden Richtungen ganz besonders bevorzugt. Sie spielen etwa dieselbe Rolle, wie im wirklichen Raume die Richtungen, vorn und hinten, rechts und links, oben und unten.\nWie uns im wirklichen Raume die Orientirung von Objecten desto leichter f\u00e4llt, je genauer sie in einer dieser Hauptrichtungen liegen, so wird ein Aehnliches auch mit den Objecten unseres fingirten Raumes (mit den T\u00f6nen) der Fall sein.\nDenke ich mir eine Scheibe von der Gestalt der Figur 4, auf welcher ich im Mittelpunkte stehe, das Gesicht in der Richtung von 1, so wird ein beliebiges Object, das in der Ebene erscheint, desto leichter seiner Lage nach bestimmt werden, je genauer es mit einem der Strahlen I, II, HI zusammenf\u00e4llt, am leichtesten, wenn es auf 1 selber liegt. In Figur 4 sind die Strahlen verschieden dick gezeichnet, 1 am st\u00e4rksten, dann III (\u2014III), II (\u2014 II) und I. Das hat, wie wir gleich sehen werden, seine Berechtigung. Zun\u00e4chst aber ist klar, dafs die Orientirung eines Objectes desto gr\u00f6fsere Schwierigkeiten machen m\u00fcfste, je undeutlicher der Strahl, auf welchem es erscheint, hervortritt, und dafs ich die Objecte auf 1 denen auf III, diese denen auf II und diese endlich denen auf I vorziehen w\u00fcrde.\nH\u00e4tte ich aber die Aufgabe, auf dieser Scheibe herumzugehen, und d\u00fcrfte immer nur auf den gezeichneten Strahlen mich bewegen, so w\u00fcrde ich offenbar auch wieder die deutlichsten (gangbarsten) am meisten betreten.\nStellen wir uns ferner vor, \u00fcber der festen Scheibe von der Form der Figur 4 sei, um den gemeinsamen Mittelpunkt drehbar, eine zweite aus Glas angebracht mit derselben Zeichnung. Dreht sich nun die gl\u00e4serne Scheibe, deren Strahlen ich mit 1', I', II', III' bezeichne, so dafs 1' nach einander auf I, II, HI der festen Scheibe zu liegen kommt, so kommt III' nach einander in die Richtungen ais, /i, cis u. s. w\\ zu liegen, welche durch punktirte Linien angedeutet sind, und man bemerkt, dafs die Combinationen, welche auf die Richtungen 1, 2 und 3 sich zur\u00fcckf\u00fchren lassen,","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Wahrnehmung musikalischer Tonverhaltnisse.\n375\na\u00e4mmtlich gegeben sind durch ein zw\u00f6lffaches Strahlenb\u00fcschel, \u25a0in welchem je zwei einander benachbarte Strahlen sich unter \u25a0einem Winkel von 30\u00b0 schneiden. Auf irgend einem dieser Strahlen mufs ein Object liegen, das sicher und m\u00fchelos in dem phonetischen Raume orientirt werden kann.\nAber die Orientirung ist offenbar nicht f\u00fcr jeden Strahl gleich m\u00fchelos. Liegt ein Object auf der Grundrichtung 1, f\u00e4llt 2. B. 1' der gl\u00e4sernen Scheibe mit 1 zusammen, so ist die psychische Arbeit offenbar sehr leicht Das Object 1' verst\u00e4rkt \u00abinfach die Wahrnehmung der vorhandenen Grundrichtung. Fiele 1' auf III, so w\u00e4re die psychische Arbeit, welche n\u00f6thig ist dieses neue Object auf 1, die Grundrichtung zu beziehen, zwar gr\u00f6fser als im ersten Falle, aber doch noch sehr leicht und sicher. Denn die Richtung III, in welcher das neue Object liegt, ist ja schon mit der Grundrichtung gegeben, es ist in ihr schon enthalten. Ja die Richtung III hat vor I und II einen gewissen Vorzug; sie ist ihnen gegen\u00fcber doppelt bewerthet, da sie den Combinationen 1. 2. 3 und 1. 3. 2 entspricht. Erscheint auf ihr \u00abin Object, so kann ich es also ganz besonders genau orientiren, insofern ich auf zwei Wegen zu ihm gelangen kann, durch die Schritte und cr2 oder a2 und a1. Es ist also eine Art Probe m\u00f6glich.\nEs steht demnach III in engerer Beziehung zu 1 als I und II ; \u00abs ist die Intensit\u00e4t, mit welcher das III einer beliebigen Grundrichtung stets anschwingt, gr\u00f6fser als die des I und II. Man k\u00f6nnte auch sagen, dafs ein Object, das auf HE wahrgenommen wird, die Vorstellung der Grundrichtung mehr verst\u00e4rkt als ein auf I oder II gelegenes.\nOffenbar ist die gr\u00f6fste psychische Anstrengung nothwendig bei einer vollst\u00e4ndigen Umkehr der Grundrichtung, wenn 1' auf \u2014 1 f\u00e4llt; dann f\u00e4llt I' auf \u2014I und \u2014I' auf I, w\u00e4hrend II' und nr gar keine auf der festen Scheibe vorgezeichneten Richtungen finden. Die Richtung \u2014 1 hat daher unter allen zw\u00f6lf m\u00f6glichen Richtungen die geringsten Beziehungen zur Grundrichtung, sie wird im Stande sein, die Vorstellung derselben am meisten zu verdunkeln.\nDiese Bemerkung giebt uns ein Mittel an die Hand, zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die einzelnen zw\u00f6lf Richtungen, je nach dem Grade, in welchem Ihre Wahrnehmung die Vorstellung der Grundrichtung verst\u00e4rkt, zu ordnen sind.","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nE. Storch.\nLiegt n\u00e4mlich 1' auf I, so liegt I' auf \u2014 1, und es ist klarr dafs diese Lage yon I' die Vorstellung oder \u201eKinese\u201c von 1 etwas verwischen mufs.\nLiegt dagegen 1' auf II, so bleibt \u2014 1 frei, w\u00e4hrend F auf III, IT auf \u2014 II und III' auf \u2014 I f\u00e4llt. Ein Object auf II wird demnach die Vorstellung der Grundrichtung 1 mehr verst\u00e4rken als ein solches auf I.\nF\u00e4llt 1' auf cis oder /*, so f\u00e4llt III' oder \u2014 III' auf \u2014 1, so dafs die hierdurch bedingte grofse Intensit\u00e4t, mit welcher \u20141 anschwingt, ung\u00fcnstig auf die Kinese von 1 wirken mufs.\nDeckt sich 1' endlich mit d oder ais, so f\u00e4llt II' (\u2014 II) mit \u2014 1 zusammen, und die ung\u00fcnstige Wirkung auf die Vorstellung der Grundrichtung wird sich bedeutend geringer bemerklich machen als im vorhergehenden Falle.\nDer Intensit\u00e4tszuwachs, welchen die Vorstellung der Grundrichtung, durch die Wahrnehmung eines Objectes auf einer der zw\u00f6lf vorhandenen Richtungen erf\u00e4hrt, nimmt also ab von dem ersten bis zum letzten Gliede folgender Reihe:\n1, III (\u2014 III), II (\u2014 II), I (\u2014 I), d (ais) cis (h) fis.\nDas sind die Beziehungen, welche zwischen den psychischen Correlaten der drei Bewegungsmechanismen des Kehlkopfes, w-enn ich sie r\u00e4umlich auffasse, bestehen.\nIst es wahr, dafs die uns unmittelbar, d. h. nicht vernunft-m\u00e4fsig, gegebenen Beziehungen zwischen den musikalischen T\u00f6nen, ebenfalls auf diese drei Mechanismen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, so mufs die verstandesm\u00e4fsige, d. h. r\u00e4umliche Darstelllung dieser Beziehungen zu dem gleichen Resultat f\u00fchren, wie die eben gegebene Ableitung. F\u00fchren aber umgekehrt beide Ableitungen zu dem gleichen Resultat, so liegt darin ein zwingender Beweis f\u00fcr die Richtigkeit der Theorie.\nZu jedem Tone giebt es einen, der sich durch seine H\u00f6he gerade merklich von zwei anderen unterscheidet, deren einer tiefer, der andere h\u00f6her ist als das Vergleichsobject Gehe ich von einem beliebigen Tone immer zu dem n\u00e4chst h\u00f6heren, so komme ich schliefslich an eine Grenze, an welcher eine Steigerung der H\u00f6henempfindung nicht m\u00f6glich ist, ebenso wie ich, von einer beliebigen Lichtempfindung ausgehend, zu immer intensiveren Lichtern gelangen kann, bis das Maximum erreicht ist. Bewege ich mich in der entgegengesetzten Richtung zu immer tieferen T\u00f6nen, so gelange ich ebenfalls bald zu einer","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n377\nGrenzempfindung, und diese Beziehung l\u00e4fst sich wie jede quantitative Reihe einer Qualit\u00e4t als gerade Linie darstellen, an deren einem Ende das Minimum, am anderen das Maximum steht, oder auch, wenn ich an der Stelle der Vergleichsempfindung den Nullpunkt setze als Gerade, auf welcher vom Nullpunkte aus nach der einen Richtung die positiven, nach der anderen die negativen Werthe wachsen.\nOffenbar aber habe ich auf diese Weise die Beziehungen zwischen den T\u00f6nen nicht ersch\u00f6pft. Von welchem Punkte der Reihe ich ausgehe, wenn ich eine Melodie singen will, ist zwar gleichg\u00fcltig. In dieser Hinsicht hat kein Punkt einen Vorzug vor dem anderen: sobald ich aber einen Punkt als Ausgangsstation festgelegt habe, kommen f\u00fcr unser musikalisches Denken und Empfinden nur noch gewisse Punkte in Betracht und zwar, wenn ich die gleichschwebend temperirte Stimmung unserer Klaviere zu Grunde lege, lauter Punkte, die in gleichen Abst\u00e4nden von einander liegen ; sie entsprechen T\u00f6nen, welche um das Intervall eines halben Tones von einander entfernt sind, also um das 30- bis 40 fache des gerade noch wahrnehmbaren H\u00f6henunterschiedes.\nUnd bei allen V\u00f6lkern, zu allen Zeiten hat man in der Musik das continuirliehe Anschwellen der Tonh\u00f6he abgelehnt, und sich in Tonstufen bewegt, deren kleinste etwa dem Intervall des halben Tones entspricht.\nBezeichne ich, dem allgemeinen Brauche folgend, die T\u00f6ne der temperirten Stimmung mit c, cis, d, dis, e, f, fis, g, gis, a, ais, c1 und so weiter, so entsprechen ihnen auf der geraden Linie Punkte, die alle um ein gleiches St\u00fcck von einander entfernt sind.\nSchlage ich nun nach einander erst c dann cis, c dann d, c dann dis u. s. w. an, so bemerke ich, dafs einige dieser Tonfolgen ganz besonders ins Geh\u00f6r fallen, und zwar in der aufsteigenden Linie c dis, ce, c g, in der absteigenden c1 a, c1 gis, c1 f, vor Allem aber c cl und c1 c.\nGehe ich \u00fcber c1 nach aufw\u00e4rts hinaus, so erkenne ich in den Tonfolgen c dis1, c e1, c g1 sehr deutlich die Aehnlichkeit mit den Intervallen c dis, c e und c g heraus, und nicht anders ist es, wenn ich \u00fcber c nach c, hinuntersteige.\nGanz identisch aber erscheinen mir die Intervalle c dis und c1 dis\\ c e und c1 e1, c g und c1 g1, so dafs sich stets nach einer ganzen Octave die Intervalle in derselben Weise wiederholen.","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nE. Storch.\nWill ich diese Wiederkehr der gleichen Wahrnehmung bei verschiedener Tonh\u00f6he r\u00e4umlich veranschaulichen, so ist das offenbar nur dadurch m\u00f6glich, dafs ich die Punkte, die die T\u00f6ne versinnlichen, nicht auf einer Geraden, sondern auf einer sich in immer weiteren Windungen um einen Mittelpunkt legenden Spirale aufzeichne, und jeden Umlauf mit einer Octave bewerthe. In dem inneren, gr\u00f6fser werdenden Radiusvector ist dann die zunehmende Tonh\u00f6he, in dem Winkel, den zwei Radiusvectoren bilden, die sich bei jedem Umlauf wiederholende Folge der gleichen Intervalle symbolisirt. Lege ich einen Punkt f\u00fcr den Grundton c fest, so w\u00fcrde cu c2 ... ebenso wie e\\ c9 . * . auf der gleichen Richtung liegen, und dasselbe w\u00fcrde von jeder beliebigen andern Octavenfolge gelten. Die zw\u00f6lf Halbt\u00f6ne der Octave aber w\u00fcrden auf einen Umlauf in gleichen Winkelabst\u00e4nden zu liegen kommen, wie Figur 5 zeigt.\nals\n-/-\nCL-\n~JT.\n+J2T\n9\nFig. 5.\nDa nun offenbar der Unterschied der H\u00f6henempfindung f\u00fcr das gleiche Intervall stets derselbe ist, also cl c8 = dis dis1 und so weiter, so mufs ich f\u00fcr jeden Zw\u00f6lftel-Umlauf, d. h. f\u00fcr jeden halben Ton den Radiusvector um ein Zw\u00f6lftel seiner Zunahme beim ganzen Umlauf wachsen lassen. Es leuchtet ein, dafs die Spirale eine sogenannte archimedische ist, deren Polargleichung 0\n= r wiedergegeben werden kann. Ist 6 der Centn-\ndurch","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"U eher die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n379\nwinkel = 0, so ist r, welches die Tonh\u00f6he repr\u00e4sentirt, ebenfalls gleich 0. Einen Ton von dieser H\u00f6he giebt es nicht, da jeder Ton zu jedem anderen in einem bestimmten H\u00f6henverh\u00e4ltnifs eteht Setze ich aber die H\u00f6he des tiefsten musikalischen Tones als Vergleichseinheit gleich 1, so ist & ~ 2n, d. h. der tiefste musikalische Ton ist an das Ende des ersten Umlaufes zu setzen ; dann steht bei 6 \u2014 2 \u2022 2n, am Ende des zweiten Umlaufes, die Octave des tiefsten Tones von der H\u00f6he r = 2, bei 8 = 3 \u2022 2 die dritte Octave von der H\u00f6he 3 und so weiter.\nWir haben schon darauf aufmerksam gemacht, dafs in der aufsteigenden Octave von den zw\u00f6lf auf ^bezogenen melodi\u00f6sen Schritten vier sich besonders auszeichnen: Der Reihe nach\ndie Octave, einem ganzen Umlauf entsprechend = 2n, cc1,\ndie Quint, 7/i2 Uml\u00e4ufe =\t-f\u2014c g,\ndie grofse Terz, 4/,2 Uml\u00e4ufe =\tc e,\n\u00fc\nund die kleine Terz, \u00ae/ls Uml\u00e4ufe =\t, c dis.\nIn der absteigenden Octave waren es:\ndie Octave c1 c,\ndie Unterquint, die Quart der tieferen Octave\ndie grofse Unterterz, die kleine Sext der tieferen Octave\n,\t2 7t\nc1 gts =------g-,\ndie kleine Unterterz, die grofse Sext der tieferen Octave\nAuf die tiefere Octave von c1, auf c als Grundton bezogen heifsen diese Intervalle Quart, kleine und grofse Sext. Sie sind einfach die Umkehr der Quint und der Terzen.\nWenn wir uns nunmehr erinnern, dafs die Beziehungen der musikalischen T\u00f6ne zur\u00fcckgef\u00fchrt werden sollten auf die bei jeder Tonwahrnehmung anklingenden motorischen Erinnerungsbilder des Kehlkopfes, so w\u00e4re nach unserer Fiction des phoneti-","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nE. Storch.\nsehen Raumschemas der Grundton einer Melodie das auf der Hauptrichtung gelegene Object. In der Wahrnehmung dieses Grundtones sowohl wie in seiner Vorstellung, die w\u00e4hrend der Dauer der Melodie wach bleibt, ist enthalten mit abnehmender Deutlichkeit \u2014 als Partial welle der Grund welle \u2014 die Vorstellung der Quint, der grofsen und kleinen Terz, sowie die n\u00e4chst h\u00f6heren Octaven der Umkehrungen dieser Intervalle.\nFolgt nun auf den Grundton c die Octave c1, so werden absolut keine neuen Richtungsvorstellungen erregt, c1 sagt mir nichts Anderes als c. Und wie wir aus dem Vorhergehenden leicht entnehmen k\u00f6nnen, wird die Vorstellung des Grundtones, der Tonica, in abnehmendem Maafse verst\u00e4rkt durch die Wahrnehmung der Quint (Quart), der grofsen Terz (kleinen Sext) und der kleinen Terz (grofsen Sext). Das sind die harmonischen Intervalle nach ihrem Verwandtschaftsgrad zum Grundtone geordnet. Es folgen die unharmonischen cd, c dis, c fis, von denen letzteres die Vorstellung des Grundtones am meisten abschw\u00e4cht Die hier gegebene Reihenfolge der Verwandtschaft der T\u00f6ne, wie sie sich aus der Fiction des phonetischen Raumes ergiebt, wird nun auf das Gl\u00e4nzendste durch unsere unmittelbaren musikalischen Empfindungen und Erfahrungen best\u00e4tigt\nAufser der Octavenbegleitung kannte man im Alterthum nur die homophone Musik, den melodi\u00f6sen Fortschritt in einfachen T\u00f6nen.\nNach der Octave bevorzugten die Alten als zweites Intervall die Quint, und wenn musikalisch ungeschulte S\u00e4nger eine Melodie mitsingen wollen, singen sie h\u00e4ufig, wenn ihnen die Octavenbegleitung zu hoch ist, in Quinten mit.\nSp\u00e4ter erst hat man die grofse Terz und noch sp\u00e4ter die kleine Terz zu den harmonischen Intervallen gerechnet\nJe nach dem Verwandtschaftsgrade, den das Intervall zum Grundtone bestimmt, verh\u00e4lt es sich n\u00e4mlich mit der M\u00fche, einen Ton zu einem Grundtone zu treffen. Am leichtesten ist die Octave, am schwersten fis oder cis nach c. Freilich ist das durch die Kenntnifs der Tonleitern etwas verdunkelt, tritt aber gerade in den beiden Tonarten unserer Systeme sehr sch\u00f6n zu Tage.\nIn beiden Tonleitern, C-Dur und C-Moll, fehlt fis, welches den Grundton zu sehr verdunkeln w\u00fcrde.\nDie beiden halben T\u00f6ne, welche in der Dur-Tonleiter vor-","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n381\nkommen, e f und h c, liegen an Stellen, wo die Beziehung auf die Tonica eine sehr deutliche ist f ist die Quart von c, h die grofse Terz der Quint, und \u00e4hnlich steht es mit der Moll-Tonleiter. Offenbar hat die Tonfolge c e g etwas bestimmteres als c dis y, auch wird sie in volkst\u00fcmlichen Melodien mehr bevorzugt. Auch Helmholtz r\u00fchmt dem C-Dur-Accord eine gr\u00f6fsere Bestimmtheit und Kernigkeit nach.\nWoher kommt das? Nur im Moll-Accorde wird durch die kleine Terz fis ins Bewufstsein erhoben, so dafs in der That die Grundrichtung etwas verdunkelt werden kann. (Man erinnere sich an den Versuch mit der Glasscheibe.) Die grofse Terz des Dur-Accordes dagegen ruft diese Vorstellung des Gegensatzes zur Grundrichtung nicht hervor.\nWeiter auf die musikalischen Verh\u00e4ltnisse einzugehen, halte ich f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig. Ich glaube gezeigt zu haben, dafs die musikalischen Beziehungen in der That die n\u00e4mlichen sind, wie die des phonetischen Raumes.\nDas Substrat des musikalischen Denkens, das was die T\u00f6ne zu einander in Beziehung setzt, und ein musikalisches Ged\u00e4cht-nifs erst erm\u00f6glicht, sind in der That die Erinnerungsbilder der Kehlkopfbewegungen. Je nachdem ein neuer Ton in einer Melodie die Tonica (Ausgangsrichtung) mehr weniger belebt oder gar verdunkelt, wird der \u00e4sthetische Werth der Tonfolge mehr weniger beruhigend oder verwirrend wirken.\nIn jedem einzelnen Falle wird man sich die \u00e4sthetische Wirkung klar machen k\u00f6nnen an dem Beispiel mit der gl\u00e4sernen Scheibe. Jede neue Lage derselben bedeutet die Wahrnehmung eines neuen Tones, w\u00e4hrend die feste Scheibe die Vorstellung der Tonica, welche w\u00e4hrend der Dauer der Melodie anh\u00e4lt, versinnlichen sollte.\nHandelt es sich um mehrstimmige Musik, so kann man sich durch mehrere gl\u00e4serne Scheiben ein Bild davon machen, in welche Beziehungen die Tonica tritt, wie sie immer in neuen Verh\u00e4ltnissen erscheint\nIst das motorische Erinnerungsbild, welches mit jeder Tonwahrnehmung anklingt = Mt -f- M2 -(- Jf3, also zur\u00fcckzuf\u00fchren auf die Formel\nni (*i1 \u00bb\u00bb,1 \u2014) -f- 7i2 (h2wij2-|-i22m2\u2022...) + m3 (i18ml3-(-i93wi23...),\nso ist klar, dafs das Verh\u00e4ltnis ^ : w2 : wa ganz allein f\u00fcr die","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nE. 8torch.\nBeziehung dieses Tones auf einen anderen in Betracht kommen kann, da die Klammerausdr\u00fccke sich nicht \u00e4ndern k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die Summe nx + w2 -j- n8, die Gesamtinnervation als Quantit\u00e4t, als H\u00f6henempfindung bewerthet wird.\nWerfe ich nun einen Blick auf Figur 4, so sehe ich, dafs der Radiusvector zwar von Halbton zu Halbton um die gleiche Gr\u00f6fse r/i2 w\u00e4chst, dafs also auch nx -f n8 in derselben Weise zunimmt, dafs aber zugleich die Richtungsvorstellung oder Intervallempfindung bei jedem Zuwachs um Vl2 sich \u00e4ndert, bis sie bei der zw\u00f6lften Zunahme wieder dieselbe geworden ist Es besteht also ein Gesetz, derart, dafs die drei Summanden n1, \u00ab3 und n8 nicht gleichm\u00e4fsig zunehmen k\u00f6nnen, sondern nur un-gleichm\u00e4fsig, so dafs das Verh\u00e4ltnifs nx : n2 : ns w\u00e4hrend des Wachsthums der Summe zw\u00f6lf Werthe durchl\u00e4uft. Es ist also wi + w2 + n& eine stetig zunehmende, nx : \u00ab3 : n3 eine periodische Function.\nIn unsere Tonempfindungen \u00fcbersetzt heifst das, dafs zu jeder Tonh\u00f6he, zu jeder Quantit\u00e4t der Tonempfindung eine besondere Intervallvorstellung geh\u00f6rt Der Radiusvector von Figur 4 versinnbildlicht die Quantit\u00e4t der H\u00f6henempfindung, die zw\u00f6lf Strahlen des phonetischen Raumes die Intervallvorstellungen. So haben wir f\u00fcr die T\u00f6ne einer beliebigen Octave folgende Quantit\u00e4tswerthe der H\u00f6henempfindung\nc \u2014 m\te = m 4/12\tgis\t\u2014 m 4\" 8/i*\n\u00e4s = m -f Vi*\tii 3 + h* t\u00a3\ta\t= 9/12\nd = m + 2/12\t'S* II 3 + M\tais\t= m~\\~ 10/r\ndis = m + 8/i2\tg = m+7,s\th\t= \u00bb\u00bb + 11 !i\nwobei m f\u00fcr die tiefste Octave gleich 1 und f\u00fcr die n\u00e4chst h\u00f6heren = 2, 3, 4 . . . zu setzen ist. Das Bildungsgesetz dieser Reihe\n\u00df\nist durch die Polargleichung der archimedischen Spirale r \u2014 - --\njt\ngegeben, wenn 6 der Reihe nach die Werthe 2n, 2jt +\n2 n +\t, 2 7t \u2014}- ^ 7r . . . ertheilt.\no\to\nNach dem sogenannten psychophysischen Grundgesetz entspricht aber der arithmetischen Progression der Empfindungs-gr\u00f6fsen eine geometrische der zugeh\u00f6rigen Reizgr\u00f6fsen.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tonverhaltnisse.\n383\nIst also die Enflpfindungsreihe f\u00fcr die Octaven: 1, 2, 3, 4, d. h. ist c gegen c1 um ebensoviel verschieden wie cl gegen c9 u. s. w., so ist die zugeh\u00f6rige Reizreihe xl, xa, x8, x4 .... und giebt un9 die archimedische Spirale das Bildungsgesetz der Empfindungsreihe, so die geometrische e x *\u00f6 = i?, das der Reizreihe.\nDiese Spirale n\u00e4hert sich in unendlich vielen Windungen dem Mittelpunkte. Setze ich den Radiusvector, welcher der Reiz* gr\u00f6fse des tiefsten Tones entspricht, gleich 1, also e & \u2022 0 = 1, so beginnt von hier aus mit wachsendem 6 der positive Theil der Spirale, deren jeder Punkt einen Tonreiz repr\u00e4sentirt.\nF\u00fcr den Reiz des tiefsten Tones habe ich also\n1 = ex- 9 x . 8 = 0\nDa x aber nicht 0 sein kann, weil sonst alle Reizgr\u00f6fsen von der Formel e x \u2022 \u00f6 = 1 w\u00e4ren, so mufs ich 8 = 0 setzen.\nF\u00fcr die Octave dieses tiefsten Tones ist folgerichtig 8 = 2 und wenn ich den Unterschied der Reizgr\u00f6fse des tiefsten Tones und seiner Octave mit 1 bezeichne, so ergiebt sich f\u00fcr diesen Reiz\nR1 = 1 -f-1 = 2 = ex 2n oder\tlog nat 2 = 2 tc \u2022 x\nmithin\nx\nlog nat 2 2 n\nDie Gleichung der Exponentialspirale ex - 0 == R geht also \u00fcber in\nnat 2 \u2022 g!)\n= R\noder\nR = 2 2\u201d\nSetzt man hier f\u00fcr 8 der Reihe nach ,\n0\n2 71 6\n3 71\n-g-, SO\ndafs man f\u00fcr die Octave des tiefsten Tones 2 71, f\u00fcr die n\u00e4chste 4 Tr, 6 71 . . . setzen mufs, so steht der Reihe der H\u00f6henempfindungen folgende der zugeh\u00f6rigen Reizgr\u00f6fsen gegen\u00fcber:\nQuantit\u00e4tsreihe :\n1 V12 > 1 a/i2 \u2022 * * 2, 2Vif . . . 3 . . . 4 .\nReizreihe :\n1, 21/.., 2*'\u00bb ... 2\\ 21 */\u00ab ... 22 . . . 23 . . .\n2","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nE. Starch.\nund ich kann demnach das Verh\u00e4ltnis jedes Intervalles zum Grundtone aus den Verh\u00e4ltnissen der Reizgr\u00f6fsen berechnen. Es wird, da 2m :\tunabh\u00e4ngig von m = 21/\u00ab ist, durch die\nH\u00f6henlage nicht beeinflufst.\nSetze ich also den Grundton 1, so ist die Reizgr\u00f6fse\nder kleinen Terz\t=\t2,/l*\t=\t1,1893,\nder grofsen Terz\t=\t2 *'1*\t=\t1,2589,\nder Quart\t=\t2\u2018/\u00bb\t=\t1,3348,\nder Quint\t= 27/\u2018\u00ab\t=\t1,4983,\nder kleinen Sext\t=\t28/\u2018\u00ab\t=\t1,5874,\nder grofsen Sext\t=\t2,/'*\t=\t1,6818,\nder Octave\t=\t21\t=\t2,0000,\ndes Halbtones\t=\t2,/it\t=\t1,0595.\nUeberlegen wir uns, dafs diese Reizgr\u00f6fsen den bez\u00fcglichen Innervationssummen des Kehlkopfes (n, + w2 + tig) entsprechen, also der Spannung der Stimmb\u00e4nder oder auch deren Schwingungs-zahlen proportional sein m\u00fcssen, so m\u00fcssen diese Zahlen wenigstens bis zu einem gewissen Grade mit den aus den Seitenl\u00e4ngen oder Schwingungszahlen der Tonwellen berechneten \u00fcbereinstimmen, und wir werden eine um so gr\u00f6fsere Uebereinstimmung f\u00fcr die Intervalle vermuthen, bei welchen die Beziehung oder Verwandtschaft mit dem Grundtone am st\u00e4rksten ist. Erinnern wir uns an den phonetischen Raum, so war die Orientirung eines Objectes am leichtesten und sichersten auf der Grundrichtung selbst m\u00f6glich, sodann mit abnehmender Sicherheit auf den Strahlen EH (\u2014 ID), II (\u2014 II) und I (\u2014 I). Eine Abweichung der Stimmung eines Instrumentes von dem hier entwickelten, organisch begr\u00fcndeten Schwingungsverh\u00e4ltnifs, die beim Halbton bei der kleinen und selbst der grofsen Terz noch ertr\u00e4glich w\u00e4re, m\u00fcfste bei der Quart, der Quint und gar der Octave eine sehr beunruhigende Wirkung hervorrufen.\nFolgende Tabelle giebt eine Uebersicht \u00fcber die Verh\u00e4ltnils-zahlen der \u201ereinen\u201c, der gleichschwebend temperirten und meiner \u201ephysiologischen\u201c Stimmung.\n\tRein\tGleichschwebend\tPhysiologisch\nKleine Terz\t1,2000\t1,1902\t1,1893 (\u2014 0,7%)\nGrofse Terz\t1,2500\t1,2589\t1,2589 (+0,6%)\nQuart\t1,3333\t1,3348\t1,3348 (+0,13%)","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n385\n\tRein\tGleichschwebend\tPhysiologisch\t\nQuint\t1,5000\t1,4983\t1,4983\t(- 0,12 %)\nKleine Sext\t1,6000\t1,5874\t1,5874\t(- 0,6 \u00bb/\u201e)\nGrofse Sext\t1,6666\t1,6804\t1,6818\t(+ 0,7 %)\nOctave\t2,0000\t2,0000\t2,0000\t(0 %)\nDie in Klammern beigef\u00fcgten Procentzahlen geben die Abweichung der physiologischen Stimmung gegen die sogenannte reine an und man sieht, dafs in dieser thats\u00e4chlich die Ann\u00e4herung von der kleinen Terz zur grofsen, zur Quint und endlich zur Octave zunimmt\nBei den V\u00f6lkern der mittell\u00e4ndischen Cultur1 hat nun von je her die Ansicht bestanden, dafs die sogenannte reine Stimmung und die aus ihr abgeleiteten Saitenl\u00e4ngen in der That genau einem in unserem Empfinden begr\u00fcndeten Gesetze entspr\u00e4chen, und Helmholtz hat in seinem genialen Werke \u201eDie Lehre von den Tonempfindungen\u201c dieser Anschauung eine scheinbar unersch\u00fctterliche St\u00fctze gegeben. Dafs diese reine Stimmung aber thats\u00e4chlich weniger nat\u00fcrlich ist als die tem-perirte, d\u00fcrfte nach meinen Ausf\u00fchrungen kaum bezweifelt werden. Die Begr\u00fcndung, die Helmholtz seiner Lehre giebt, hier zu kritisiren, w\u00fcrde zu weit f\u00fchren. Ich will nur feststellen, dafs eine objective Stimmung der Instrumente erst m\u00f6glich wurde, nachdem die Zahlenverh\u00e4ltnisse bekannt waren, und m\u00f6chte ferner darauf hinweisen, mit welch ungeheurer suggestiver Wucht die gefundenen einfachen Zahlen 1:2, 2:3, 3 : 4, 4 : 5, 5 : 6 gewirkt haben. Diese Einfachheit nahm man als Sanction der Richtigkeit, und das Gef\u00fchl war bei der verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig grofsen Ann\u00e4herung an die Wahrheit unf\u00e4hig die Vernunft zu corrigiren.\nW\u00e4re die reine Stimmung wirklich die nat\u00fcrliche, es w\u00e4re unfafsbar, warum die heutigen Culturv\u00f6lker bei einer noch nie dagewesenen Beth\u00e4tigung der musikalischen Psyche, darauf und daran sind sie, gegen die gleichschwebend temperirte zu vertauschen.\nEbenso haben die Perser in dem Maafse, wie der fremde Einflufs, der bei ihnen die reine Stimmung eingef\u00fchrt hatte, er-\n1 Aas Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen, 4. Ausgabe, 1877, S. 444 Anm. geht hervor, dafs die \u00e4ltesten auf uns gekommenen Instrumente der Aegypter die zw\u00f6lfstufige Halbtonscala aufweisen.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 27.\n25","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nE. Storch.\nlosch, beim Verfall ihrer mittelalterlichen Cultur, d. h. als die nat\u00fcrlichen Instincte des Volkes zur Geltung gelangten, sich der gleichschwebend temperirten Stimmung wieder zugewandt\nEs ist nat\u00fcrlich kein blinder Zufall, dafs mein r\u00e4umliches Tonschema die Gestalt der Cochlea acustica zeigt Meine Theorie verlangt, dafs die Reizung jedes akustischen Elementes neben der rein qualitativ akustischen Empfindung E ein motorisches Erinnerungsbild M wachruft, so dafs jede Tonwahrnehmung unter dem Schema E M dargestellt werden mufs.\nJedes Element der Schnecke, oder auch eine Anzahl benachbarter steht f\u00fcr eine Ton Wahrnehmung ; da diese Elemente r\u00e4umlich sind, m\u00fcssen sie auch r\u00e4umlich angeordnet sein. Mein Schema ist aber nichts als die r\u00e4umliche Anordnung der Tonwahrnehmung und diese mufs mit der r\u00e4umlichen Anordnung der Schneckenelemente \u00fcbereinstimmen.\nDie weiteren sehr interessanten anatomischen Folgerungen mufs ich hier bei Seite lassen. Nur dafs der Kuppelblindsack in der ersten, von T\u00f6nen freien Windung der archimedischen Spirale sein Gegenst\u00fcck findet, sei zum Schl\u00fcsse bemerkt\n(Eingegangen am 15. September 1901.)","page":386}],"identifier":"lit32070","issued":"1902","language":"de","pages":"361-386","startpages":"361","title":"Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:31:51.156281+00:00"}