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{"created":"2022-01-31T16:29:53.102012+00:00","id":"lit32071","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Borschke, A.","role":"author"},{"name":"L. Hescheles","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 387-398","fulltext":[{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus dem physiologischen Institute der Universit\u00e4t in Wien.)\nUeber Bewegungsnachbilder.\nVon\nA. Borschke und L. Hescheles, stud. med.\n(Mit 3 Fig.)\nW\u00e4hrend das Studium der Naehbilderscheinungen auf dem Gebiete des Licht- und Farbensinnes seit Jahren eitrigst betrieben wurde, die Zahl der dar\u00fcber verfassten Arbeiten grofs und unsere Kenntnifs der betreffenden Ph\u00e4nomene, was ihre descriptive Seite anlangt, eine ziemlich weit vorgeschrittene ist, ist die Kenntnifs der analogen Erscheinungen im Bereiche der optischen Bewegungsempfindungen weniger weit ausgebildet. Dies erkl\u00e4rt sich aus dem Umstande, dafs erst einer verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig sp\u00e4ten Zeit die Einsicht Vorbehalten war, dafs die Perception von Licht- und Farbenempfindungen nicht die einzige Leistung des zweiten Himnerven sei, sondern dafs auch die optische Empfindung von Bewegungen, die als eine specifische Empfindung aufzufassen ist, durch den Sehnerv vermittelt werde; das eingehende Studium dieser und der entsprechenden Nachbilder nach dem Erl\u00f6schen des ausl\u00f6senden Reizes wurde erst ziemlich sp\u00e4t in Angriff genommen , und darum ist unsere Kenntnifs und theoretische Deutung derselben von einem befriedigenden Abschlufs noch weit entfernt.\nSchon Purkinje, der gleichzeitig mit Goethe das Studium subjectiver Gesichtserscheinungen systematisch betreiben lehrte, hatte, ohne den Gegenstand einem genaueren Studium zu unterziehen, gelegentlich die Beobachtung gemacht, dafs, wie bei Licht- und Farben-, ebenso auch bei Bewegungseindr\u00fccken die Art der Empfindung unter Umst\u00e4nden in ihr Gegentheil umschl\u00e4gt, d. h. wie wir heute sagen, ein negatives Nachbild zur\u00fcck-\n25*","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nA. Borschke w. L. Hescheks.\nl\u00e4fst. Er fand\u201edafs, wenn man eine Zeitlang eine vor\u00fcbergehende Reihe formell individualisirter Gegenst\u00e4nde, z. B. einen langen Zug von Reitern, vor\u00fcberziehende Wellen, die Speichen eines nicht zu schnell sich umdrehenden Rades ansieht, eine den reellen Bewegungen der Gegenst\u00e4nde \u00e4hnliche Scheinbewegung im Gesichtsfelde zur\u00fcckbleibe, die auf dem durch temporelle Eingew\u00f6hnung erworbenen Bewegungsbestreben der Augenmuskeln beruhe.\u201c Plateau, der sich eingehend mit dem Studium der Nachbilder besch\u00e4ftigte und ein allgemeines Gesetz ihres Ablaufes aufstellen zu k\u00f6nnen glaubte, erhob Purkinjes Beobachtung zum wissenschaftlichen Versuch. Er zeichnete eine ARCHiMEDEs\u2019sche Spirale auf eine weifse Scheibe, liefs sie unter dauernder Fixation des Centrums rotiren und konnte nach pl\u00f6tzlichem Einhalten der Rotation beobachten, dafs die Spirale, deren Windungen sich fr\u00fcher zu erweitern schienen, nun gegen das Centrum zu schrumpfte.\u00ae Oppel construirte zum Studium desselben Ph\u00e4nomens einen eigenen Apparat, den er Antirrheoskop nannte: f\u00fcnf nebeneinander liegende Walzen, die mit weifsem Papier \u00fcberzogen waren und je eine schwarzgezeichnete Spirale trugen; alle drehten sich gleichsinnig und gleich rasch, nur die mittlere lief rascher.8 Im Nachbild zeigten die Spiralen alle das Plateau\u2019sehe Ph\u00e4nomen, die mittlere in rascherem Tempo als die anderen, womit die Aufmerksamkeit auf eine bis dahin unber\u00fccksichtigt gebliebene Eigenschaft des Nachbildes gelenkt wurde, seine Geschwindigkeit. Bei Oppel finden wir auch bereits die Angabe, die auch wir und alle anderen Beobachter, Helmholtz ausgenommen* *, best\u00e4tigen, dafs zum Gelingen diesbez\u00fcglicher Versuche festes Fixiren nothwendig sei, gr\u00f6fsere Augenbewegungen st\u00f6rend wirken. Sp\u00e4ter nahm Dvorak die Plateau-0ppel\u2019schen Versuche wieder auf, um den Nachweis zu f\u00fchren, dafs die Scheinbewegungen als locale Netzhautvorg\u00e4nge zu betrachten seien. Er legte auf eine grofse, weifse Scheibe mit einer Spirale eine kleinere, concentrische mit einer entgegengesetzt laufenden und endlich eine noch kleinere dritte, ebenfalls concentrische Scheibe mit einer der ersten gleichsinnigen\n1 J. Purkinje. Beitr\u00e4ge zur Kenntnifs des Schwindels aus heauto-gno8tischen Daten. Medicinische Jahrb\u00fccher des \u00f6stm\\ Staates 6. 1820.\n5 M\u00e9moires de l'Acad\u00e9mie de Bruxelles 8.\n* Poggendorff's Annalen 80, 287.\n4 H. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, 2. Aufl., S. 701.","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Heber Bewegungsnachbilder.\n389\nSpirale auf, rotirte und sah nachher auf einem Schirm das Nachbild der Spirale in drei, theils schwellende, theils schrumpfende Ringe getheilt.1 Der Ansicht Dvorak\u2019s hinsichtlich der Lokalisation schlofs sich G. Zehfuss an2 3 * * * *, der auch eine Hypothese f\u00fcr die Entstehungsweise der Nachbilder aufstellte und ferner hervorhob, dafs man nach dem Anschauen einer Bewegung im geschlossenen Auge \u201eeine chaotische Masse von schwachen Lichtfunken sehe, deren Bewegungsrichtung der urspr\u00fcnglichen entgegengesetzt ist\u201c. Es hafte somit die Erscheinung an der Netzhaut u. zw., wie aus weiteren Versuchen hervorgeht, nur an der von der Bewegung erregten Stelle, \u00fcber deren Rahmen sie nicht hinausgehe.\nDen Ausgangspunkt unserer Untersuchungen, die eine m\u00f6glichst exacte Beschreibung des Ph\u00e4nomens und insbesondere das Studium der Nachbildgeschwindigkeit zum Ziele hatten, bildeten die Arbeiten E. B\u00fcdde\u2019s8 und Sigm. ExnerV; des letzteren Versuchsanordnung, der bei seinen Studien \u00fcber Bewegungsnachbilder sich theils rotirender Scheiben, theils \u00e4quidistanter Liniensysteme bediente, die auf die Trommel des LuDwiG\u2019schen Kymographion oder auf einen breiten, \u00fcber zwei Walzen laufenden Papierstreifen ohne Ende gezeichnet waren, kam mit entsprechenden Modificationen auch bei unseren Experimenten in Anwendung.\nVon vornhinein konnte die scheinbare Geschwindigkeit des negativen Bewegungsnachbildes als abh\u00e4ngig vermuthet werden\n1.\tvon der Geschwindigkeit des Vorbildes,\n2.\tvon der Zahl der eine Netzhautstelle in der Zeiteinheit treffenden Contouren,\n3.\tvon deren Deutlichkeit,\n4.\tvon der Dauer der Vorbilder.\n1 Dvorak. Ueber die Nachbilder von Reizver\u00e4nderungen. Sitzungs-berichte der k. Akademie der Wissenschaften in Wien 61.\n*\tG. Zehfuss. Ueber Bewegungsnachbilder. Annalen der Physik und Chemie, hrsg. v. G. Wiede mann, N. F. 0, 672\u2014676.\n3 E. Budde. Ueber metakinetische Scheinbewegungen und Ober die\nWahrnehmung der Bewegungen. Archiv f. Anatomie u. Physiologie, Physiol.\nAbth., hrsg. v. E. Du Bois-Heymond. 1884.\n*\tS. Exner. Einige Beobachtungen \u00fcber Bewegungsnachbilder. Central-\nblatt f. Physiologie. 1887. \u2014 Derselbe. Ueber optische Bewegungsempfin-\ndungen. Biologisches Centralblatt. 1888.","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nA. Borschke w. L. Heschdes.\nDa vorherzusehen war, dafs eine durch Zahlen ausdr\u00fcckbare Sch\u00e4tzung der Geschwindigkeit des Nachbildes blofs nach dem Augenschein zu unsicher sein werde, mufsten wir darauf bedacht sein, eine genauere Methode f\u00fcr diese Geschwindigkeitsbestimmung ausfindig zu machen. Ankn\u00fcpfend an die Erfahrungen Sigm. Exner\u2019s, nach welchen zwei rechtwinkelig gekreuzte Liniensysteme, die sich senkrecht auf die Richtung der Linien gleichzeitig durch dasselbe Sehfeld bewegen, ein Nachbild liefern, dessen Bewegung in der Diagonalen erfolgt, versuchten wir die Wirkung eines Liniensystems auf die Geschwindigkeit des Nachbildes nach der Richtung zu beurtheilen, um welche das Nachbild von jener Richtung abweicht, die es bei ausschliefslicher Wirkung des anderen Liniensystems als Vorbild haben w\u00fcrde. Zu diesem Zwecke brachten wir hinter einem kreisf\u00f6rmigen Ausschnitt (eines senkrechten Schirmes) von etwa 5 cm Durchmesser zwei getrennte, auf einander senkrecht stehende Stab-systeme an, von denen das eine, aus verticalen St\u00e4ben \u2014 Stricknadeln \u2014 bestehende in horizontaler, das andere aus wagrechten St\u00e4ben Zusammengesetze in senkrechter Richtung fortschritt Die St\u00e4be waren mit ihren Enden an B\u00e4ndern ohne Ende befestigt, die um je zwei senkrecht, beziehungsweise wagrecht gestellte Walzen liefen. Die beiden Stabsysteme lagen hart hinter einander; ihre Geschwindigkeit liefs sich, die des einen unabh\u00e4ngig von der des anderen, mit Hilfe von Kegel-Uebersetzungen1 beliebig variiren ; ein Elektromotor setzte dieselben in Bewegung. Zum Fixiren diente der Kopf einer in der Oeffnung des Schirmes angebrachten Stricknadel. Die St\u00e4be waren von mattschwarzer Farbe, hatten eine Dicke von etwa 1V2 mm und eine Distanz von 5 mm und hoben sich von einem, dahinter befindlichen, mattweifsen Hintergrund deutlich ab, welchen zwei Gl\u00fchlampen von der Seite her derart beleuchteten, dafs die St\u00e4be keinen Schatten auf ihn warfen.\nDie Oeffnung des Schirmes, durch die man die St\u00e4be sah, konnte in jedem Augenblicke durch einen Klappdeckel geschlossen werden, auf dem zur Erleichterung der Nachbildbeobachtung ein Gitter senkrechter und wagrechter Linien gezeichnet war. Blickte man durch den Ausschnitt, so sah man\n1 Vgl. V. Stern. Studien \u00fcber den Muskelton. Pfl\u00fcger'8 Archiv f\u00fcr die ges. Physiologie 82, S. 45. 1900.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Bewegungsnachbilder.\n391\nein Gitter sich rechtwinklig kreuzender St\u00e4be. Es konnten sowohl die verticalen St\u00e4be f\u00fcr sich allein in horizontaler Richtung als auch die horizontalen St\u00e4be in verticaler Richtung bewegt werden. Liefs man beide zu gleicher Zeit laufen, so sah man, je nach der Deutung des gegebenen Netzhauteindruckes, eine scheinbare Verschiebung eines quadratischen Gitters in der Richtung, die der Diagonale des Geschwindigkeitsparallelogrammes entsprach, bei gleicher Geschwindigkeit in beiden Systemen also unter einem Winkel von 45\u00b0; oder man sah gleichzeitig die beiden Stabsysteme in ihrer wirklichen Bewegung, oder nach Art eines rWettstreites der Sehfelder\u201c ein Stabsystem in seiner Bewegung, \u25a0w\u00e4hrend das andere der Aufmerksamkeit mehr oder weniger entzogen war.\nJedes der Stabsysteme mufste ein seiner wirklichen Bewegung entgegengesetzt gerichtetes Nachbild erzeugen, und beide Nachbilder sich zu einem neuen combiniren, dessen Richtung in der Diagonale des Geschwindigkeitsparallelo-grammes beider Nachbildcomponenten gelegen ist. Bei unseren Versuchen erstreckten sich alle Variationen, die wir hinsichtlich Geschwindigkeit, Zahl der St\u00e4be, Intensit\u00e4t der Beleuchtung und Dauer der Einwirkung Vornahmen, nat\u00fcrlich blos auf ein Stabsystem, so dafs die Geschwindigkeit des Bewegungsnachbildes, die das zweite lieferte, constant blieb und wir daher aus der Richtung der resultirenden Nachbildbewegung \u00abinen Schlufs auf die relative Geschwindigkeit der variablen Componente ziehen konnten. Diese liefs sich, da die in Betracht kommenden Parallelogramme immer rechtwinklig waren, durch die Formel a ty x ausdr\u00fccken, wo a die constante Geschwindigkeit des Nachbildes des einen Systems, das von allen Variationen ausgeschlossen blieb, bedeutet und x den Winkel bezeichnet, welchen die Richtung der Resultirenden mit der Richtung der con-stanten Componente einschliefst. L\u00e4fst man die St\u00e4be beider Systeme gleichzeitig mit gleicher Geschwindigkeit laufen, so m\u00fcssen auch die Componenten des Nachbildes unter einander gleiche Geschwindigkeit haben, und die resultirende Nachbildrichtung mufs einen Winkel von 45\u00b0 mit der Horizontalen einschliefsen. Dies best\u00e4tigte der Versuch.\nHierbei bot das Nachbild einige interessante Erscheinungen.\nNach einer sehr kurzen und nicht ganz constanten Phase, in der das Nachbild sich gleichsam zu r\u00fchren anfing, sah man","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nA. Borschke u. L. Heschelcs.\nes mit einer Geschwindigkeit einsetzen, die offenbar im weiteren Verlauf allm\u00e4hlich abnahm, um endlich in Ruhe auszuklingen. Der Uebergang in Ruhe erfolgt jedoch nie scharf bestimmbar, so dafs man manchmal im Ungewissen sein kann, ob das Gitter schon stehe oder, dafs man es einen Moment f\u00fcr ruhend h\u00e4lt, und es dann noch eine kurz dauernde Bewegung zu machen scheint. Am ehesten liefse sich wohl das Gleiten und Wallen des Nachbildes mit einem Fliefsen im Strome vergleichen. Aus der vorstehenden Schilderung k\u00f6nnte der Leser vielleicht ver-muthen, es seien im Ablaufe des Ph\u00e4nomens mehrere, wohlgetrennte Phasen zu unterscheiden; eine solche Eintheilung w\u00e4re aber gezwungen, da die erste Phase sehr kurz und nicht immer mit Sicherheit zu constatiren, der Uebergang der einen Phase in die andere oft verschwommen und unbestimmt ist Blickbewegungen w\u00e4hrend der Beobachtung von Vor- oder Nachbild, ungleichm\u00e4fsiger Gang des Apparates, der die Bewegung der St\u00e4be besorgte, st\u00f6rten das Zustandekommen des Nachbildes. Oftmalige Wiederholung dieses Grund Versuches \u00fcberzeugte uns, dafs eine verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig genaue Angabe der Richtung, in der das Nachbild abl\u00e4uft, nur unter Ben\u00fctzung der im ersten Momente auftretenden Bewegungsrichtung zu gewinnen ist Sp\u00e4ter herrscht ein best\u00e4ndiges Schwanken in dem Ph\u00e4nomen, und glauben wir jetzt, deutlich eine Bewegung unter dem Winkel von 45\u00b0 zu sehen, so ist im n\u00e4chsten Augenblick die Richtung bereits um einige Grade ver\u00e4ndert, eine Weile scheint dann die Bewegung sich nur in einer Richtung fortzusetzen, um dann neuerdings ins Schwanken zu gerathen. Wir haben den Eindruck, als w\u00fcrden hier zeitweilig die Einzelnachbilder der beiden Stabsysteme getrennt zur Geltung kommen, wenigstens entsprechen die Grenzen dieser Schwankungen n\u00e4herungsweise denselben. Bei unseren folgenden Versuchen, wto es uns auf eine m\u00f6glichst exacte Angabe der Bewegungsrichtung ankam, machten wir es uns daher zur Regel, immer nur die ersten Secunden, in denen das Nachbild deutlich und unzweideutig auftauchte, zur Be-urtheilung der Richtung zu ben\u00fctzen und von den sp\u00e4teren Schwankungen abzusehen. In manchen F\u00e4llen konnte man den Eindruck gewinnen, dafs die Schwankungen immer in dem gleichen Sinne erfolgen und eine Abnahme des anf\u00e4nglichen Winkels bewirken, doch war dies nur ausnahmsweise der Fall, viel h\u00e4ufiger folgten die verschiedensten Richtungen unter bald","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Bewegungsnachb\u00fcder.\n393\ngr\u00f6fseren, bald kleineren Winkeln in buntem Wechsel auf einander Von diesen Schwankungen abgesehen war im Grofsen und Ganzen die Nachbildrichtung nicht viel von 45\u00b0 abweichend.\nEs lag nahe, diese immer nachweisbaren Schwankungen auf die Construction unserer bewegten Liniengruppen zu beziehen, und so dachten wir, dieselben w\u00fcrden m\u00f6glicherweise ausbleiben, wenn wir die Zusammenstellung aus Componenten vermieden und ein rechtwinkliges Gitter unter einer Neigung von 45\u00b0 sich so bewegen liefsen, dafs ein Stabsystem stets vertical blieb. Wir stellten daher die Trommel des HEniNG\u2019schen Kymographion so auf, dafs seine Achse mit der Horizontalen einen Winkel von 45\u00b0 einschlofs, und \u00fcberzogen sie mit Papier, auf welchem Linien gezogen waren, die unsere Stabsysteme nachahmten. Bei Rotation der Trommel, die von dem Uhrwerk des Apparates tadellos besorgt wurde, und nachherigem Anhalten sah man die Nachbildschwankungen mit gleicher Deutlichkeit wie bei der ersten Versuchsanordnung.\nNachdem wir so durch unseren Grundversuch uns \u00fcber den Verlauf des Nachbildes n\u00e4her unterrichtet hatten, wendeten wir uns dem Studium seiner Geschwindigkeit zu.\n1. Inwiefern wird die Geschwindigkeit des Nachbildes von der Geschwindigkeit des Vorbildes beeinflufst?\nUnser Versuch zeigte, dafs die Geschwindigkeit des Nachbildes der des Vorbildes, bis zu einer gewissen Grenze, direct proportional ist. Dies geht daraus hervor, dafs bei Aenderung der Geschwindigkeit in beiden Stabsystemen die Richtung des Nachbildes immer der Diagonale des Geschwindigkeitsparallelo-grammes beider Vorbilder entgegengesetzt war, was nur dann m\u00f6glich ist, wenn die Zunahme der Geschwindigkeit der Nachbild-componenten proportional der Zunahme in den Componenten des Vorbildes erfolgt. So bald wir aber ein Stabsystem so rasch laufen liefsen, dafs sein Eindruck ein verschwommener war, nahm die Geschwindigkeit seines Nachbildes wieder ab. Lief das System der horizontalen St\u00e4be rascher als das der verticalen, so bildete die Richtung des Nachbildes mit der Horizontalen einen Winkel, der gr\u00f6fser war als 45\u00b0. Dieses Verh\u00e4ltnifs \u00e4nderte sich aber bei zu grofser Geschwindigkeit der horizontalen Stabreihe so, dafs die Richtung des Nachbildes der erwarteten nicht mehr entsprach und schliefs-lich horizontal wurde, wenn das System der wagrechten St\u00e4be wegen allzu bedeutender Geschwindigkeit \u00fcberhaupt nicht mehr","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nA. Borschke tt. L. HescheUs.\ndeutlich unterschieden werden konnte. Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dafs man die geschilderte Bewegung der Stabsysteme im Vorbilde auch in der Form sehen kann, dafs sich anscheinend Quadrate in einer geneigten Richtung bewegen. Das Nachbild entspricht dann nat\u00fcrlich dieser scheinbaren Richtung.\n2. Inwiefern wird die Geschwindigkeit des Nachbildes von der Zahl und Deutlichkeit der St\u00e4be beeinflufst?\nWir entfernten zun\u00e4chst aus der Reihe der senkrechten, in horizontaler Richtung fortschreitenden St\u00e4be jeden zweiten Stab, so dafs die Distanz jetzt n\u00e4herungsweise doppelt so grofs war wie fr\u00fcher. Die Geschwindigkeit der senkrechten und wagrechten St\u00e4be blieb vorl\u00e4ufig die gleiche. Wurde jetzt das Vorbild beobachtet, der Klappschirm gesenkt und das Nachbild studirt, so zeigte sich, dafs, abgesehen von den Schwankungen, die jedes Nachbild bot, der Winkel, den seine Bewegungsrichtung mit der Horizontalen einschlofs, unverkennbar gr\u00f6fser war als bei gleicher Zahl der St\u00e4be. Zu seiner Sch\u00e4tzung brachten wir an unserer Klappvorrichtung einen beweglichen Zeiger an, der \u00fcber einer Gradeintheilung spielte, und den wir, so genau wie m\u00f6glich, in die Richtung des Nachbildes einzustellen suchten. Aus einer grofsen Anzahl von Beobachtungen ergab sich uns ein Winkel von 50\u201455\u00b0. Da sich die beiden Stabsysteme senkrecht auf einander gleich schnell bewegten, erschien die Verschiebung des Gitters im Vorbilde unter 45\u00b0. Durch Erh\u00f6hung der Geschwindigkeit der weit abstehenden St\u00e4be auf weniger als das Doppelte konnte im Nachbilde ein Winkel von 45\u00b0 erzielt werden. Wir f\u00fcgten nun die herausgenommenen verticalen St\u00e4be wieder ein, entfernten jetzt jeden zweiten von den horizontalen, in senkrechter Richtung fortschreitenden St\u00e4ben und machten die Geschwindigkeit der Stabsysteme wieder gleich. In diesem Falle erfolgte die Bewegung des Nachbildes unter einem Winkel von etwa 40\u00b0; durch entsprechende Vergr\u00f6fserung der Geschwindigkeit der weitgestellten St\u00e4be erzielten wir wieder einen Winkel von 45\u00b0. Um die besprochene Erscheinung noch eclatanter zu gestalten, machten wir den Abstand z. B. der senkrechten St\u00e4be viermal so grofs wie den der wagrechten. Bei gleicher Geschwindigkeit in senkrechter und wagrechter Richtung nahm das Nachbild einen bedeutend steileren Weg als in den bisherigen Versuchen und hatte etwa eine Neigung von 65\u201470\u00b0. Vergr\u00f6fserung der Geschwindigkeit der weiter gestellten St\u00e4be gab dem Bewegungs-","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Bewegungsnachbilder.\n395\nnachbild wieder eine Richtung von 45\u00b0. Die Resultate waren nat\u00fcrlich analog, wenn nicht die senkrechten, sondern die wag-rechten St\u00e4be sich in dem vierfachen Abstand befanden.\nDiese Ergebnisse bewiesen, dafs in unserer Versuchsanordnung die Richtung und damit im Allgemeinen die Geschwindigkeit jedes Bewegungsnachbildes mit der Zahl der Reize in der Zeiteinheit zunimmt.\n3.\tInwiefern wird die Geschwindigkeit des Nachbildes von der Deutlichkeit des Vorbildes beeinflufst?\nEs liefs sich vermuthen, dafs auch die Intensit\u00e4t der Reize eine entscheidende Rolle f\u00fcr die Richtung des Nachbildes spielen w\u00fcrde, dafs also sch\u00e4rfer vom Hintergr\u00fcnde sich abhebende St\u00e4be die Richtung des Nachbildes mehr beeinflussen w\u00fcrden als weniger deutlich hervortretende. Wir halfen uns in der Weise, dafs wir das eine Stabsystem, und zwTar das der horizontalen St\u00e4be, mit einer grauen Farbe bestrichen; die Geschwindigkeit war in beiden Systemen gleich. Wir verwendeten zu diesem Versuche einen schwarzen Hintergrund; von demselben hoben sich die schwarzen St\u00e4be bedeutend weniger ab als die grauen. Erstere durften nicht vor den grauen St\u00e4ben angebracht werden, da diese sonst als heller Hintergrund wirkten; \u00fcberdies w\u00e4ren die grauen St\u00e4be von den sie kreuzenden schwarzen scheinbar in eine Anzahl von Abschnitten zerlegt worden. Das Bewegungsnachbild verlief in diesem Versuche unter einem Winkel von 70\u201480\u00b0. Es war also die Nachbildgeschwindigkeit der grauen St\u00e4be bedeutend gr\u00f6fser, obwohl beide Systeme sich gleich rasch bewegten. Es ist dies ein Beweis daf\u00fcr, dafs unter sonst gleichen Umst\u00e4nden die Geschwindigkeit des Nachbildes durch die Deutlichkeit des Vorbildes beeinflufst wird.\n4.\tInwiefern wird die Geschwindigkeit des Nachbildes von der Dauer der Beobachtung einer Bewegung beeinflufst?\nZur Entscheidung dieser Frage gingen wir so vor, dafs wir das eine Stabsystem in den einzelnen Versuchen verschieden lange Zeit fr\u00fcher anlaufen liefsen als das andere; die Zahl der St\u00e4be war in beiden Systemen die gleiche, ebenso die Geschwindigkeit. War unsere Vermuthung richtig, so mufste das durch l\u00e4ngere Zeit vorbeibewegte Stabsystem bewirken, dafs das Nachbild entsprechend seiner Richtung rascher lief als in der \u00e4nderen, es mufste somit eine Ab\u00e4nderung der Nachbildrichtung in seinem Sinne erfolgen. In unserer ersten diesbez\u00fcglichen","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nA. Borschkc u. L. Heschdts.\nVersuchsreihe betrug die Gesammtdauer der Beobachtung 30 Se\u00bb cunden, sp\u00e4ter fanden wir es aber zweckm\u00e4fsiger, blofs 15 Sekunden lang zu beobachten. Dieser Theil unserer Untersuchungen, in dem es ganz besonders auf Genauigkeit der Beobachtungen ankam, war mit den gr\u00f6fsten Schwierigkeiten verbunden. Figur 1 und 2 stellen die Resultate der ersten, beziehungsweise zweiten\nl.\nFig. 2.\nVersuchsreihe dar. Zu ihrem Verst\u00e4ndnisse sei hervorgehoben, dafs wir als Abscisse die Zeit auf trugen, w\u00e4hrend der das eine Stabsystem lief, dessen Bewegungsdauer wir variirten, als Ordi* nate die Tangente jener Winkel, unter welchen die Nach-","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Bewegungsnachbilder.\n397\nbildbewegung erfolgte. Das zweite Stabsystem lief in der ersten Versuchsreihe immer 30, in der zweiten immer 15 Secunden, die Geschwindigkeit seines Nachbildes war sonach in jeder Reihe f\u00fcr sich constant, und die Ordinate ist daher direct proportional jener Geschwindigkeitscompenente, die das variable Stabsystem lieferte. Stand das eine Stabsystem w\u00e4hrend der ganzen Dauer der Beobachtung still, so war seine Wirkung nat\u00fcrlich gleich Null, und das Nachbild bewegte sich in der Richtung, die dem Nachbild des zweiten Systems zukam. Je l\u00e4nger wir das eine System laufen liefsen, umsomehr wurde die Richtung des Nachbildes von jener des zweiten abgelenkt, bei gleiehdauemder Einwirkung beider Stabsysteme erreichte diese Ablenkung als Maximum den Winkel von 45\u00b0. Verbindet man nun die beiden Extreme von 0 0 und 45 0 durch eine gerade Linie, so findet man, dafs bei kurzer Einwirkung des einen Stabsystems die Mehrzahl der f\u00fcr die Nachbildrichtung gefundenen Resultate unterhalb, bei l\u00e4ngerer Einwirkung oberhalb der Geraden hegt. Bei Zunahme der Zeit, innerhalb deren das variable Stabsystem lief, liefse sich also die Zunahme der Geschwindigkeit des Nachbildes durch eine mit der Convexit\u00e4t nach oben gewendete Curve darstellen, wrofern man es \u00fcberhaupt unternehmen wollte, aus den mitgetheilten Daten eine Curve zu construiren. Bei unserer Versuchsanordnung und Beobachtungsweise hatte Beobachtung des einen Stabsystems durch 4 Secunden in der ersten Versuchsreihe, durch 2 bis 3 Secunden in der zweiten auf die Richtung des Nachbildes keinen merklichen Einflufs, was auff\u00e4llt, da unter anderen Umst\u00e4nden schon sehr kurzdauernde Bewegungen Nachbilder hervorzurufen verm\u00f6gen. So fand Sigm. Exneb, dafs bei Beobachtung eines in Drehung befindlichen Rades, wenn man w\u00e4hrend der Fixation rasch nacheinander blinzelt und die Augen immer nur kurze Zeit ge\u00f6ffnet l\u00e4fst, der Eindruck einer Rotation schwdndet und man eine Scheibe vor sich zu haben glaubt, die bei jeder Blinzelbewegung anstatt in der wahren Drehungsrichtung sich fortzubewegen, ruckweise hin- und hergeschleudert wird. Unter diesen Umst\u00e4nden scheint also schon die kurze Zeit, w\u00e4hrend welcher die Augen ge\u00f6ffnet waren, zur Entstehung eines Bewegungsnachbildes ausgereicht zu haben.\n5. Eine der besprochenen Versuchsanordnung \u00e4hnliche schien uns ein Mittel an die Hand zu geben, \u00fcber die Dauer des Nachbildes Aufschlufs zu gewinnen. L\u00e4fst man beide Stabsysteme","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nA. Borschke u. L. Seschdes.\ngleichzeitig anlaufen, das eine aber fr\u00fcher stille stehen als das andere, so mufs nach einer gewissen Zeit sein Einflufs auf die Nachbildrichtung erloschen sein. Diese Zeit mufs der Dauer des Nachbildes entsprechen. Wir beobachteten in diesem Versuche durch 30 Secunden. Figur 3 veranschaulicht die diesbez\u00fcglichen\nFig. 3.\nResultate. Ordinaten sind hier wieder die. Tangenten der Winkel, unter denen das Nachbild ablief, als Abscissen trugen wir diesmal die Anzahl der Secunden auf, w\u00e4hrend welcher das eine Stabsystem bereits ruhig stand. Je gr\u00f6fser diese wurde, umsomehr nahm die demselben zugeh\u00f6rige Componente der Richtung des Bewegungsnachbildes ab, woraus folgt, dafs die Geschwindigkeit des Nachbildes rach abnimmt und, wie die Figur zeigt, nach ca. 15 Secunden erloschen ist. Die Abnahme der Geschwindigkeit erfolgte iibrigs anfangs schneller, da die Zeit, w\u00e4hrend der das eine Stabsysteme Stillstand, noch kurz war, sp\u00e4ter, bei l\u00e4ngerer Ruhe, langsamer, einer Curve entsprechend, deren Convexit\u00e4t der Abscissenachse zugewendet ist. Selbstverst\u00e4ndlich hat die hier angef\u00fchrte Dauer des Bewegungsnachbildes von 15 Secunden nur f\u00fcr die im Versuche gegebenen Verh\u00e4ltnisse G\u00fcltigkeit, da ja bekanntermaafsen unter anderen Umst\u00e4nden die Dauer desselben weit gr\u00f6fser sein kann.\nVergleichende Beobachtungen im directen und indirecten Sehen ergaben hinsichtlich der Dauer des Nachbildes keinen Unterschied.\n(Eingegangen am 31. October 1901.)","page":398}],"identifier":"lit32071","issued":"1902","language":"de","pages":"387-398","startpages":"387","title":"Ueber Bewegungsnachbilder","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:29:53.102018+00:00"}