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{"created":"2022-01-31T16:28:29.053585+00:00","id":"lit32072","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Bois-Reymond, R. Du ","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 399-402","fulltext":[{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von der subjectiven Projection.\nVon\nDr. R. du Bois-Reymond,\nPrivatdocent in Berlin.\nBei den meisten S\u00e4ugethieren stehen die Augen nicht wie beim Menschen parallel nach vom gerichtet, sondern mehr oder weniger seitlich, mit divergenten Blickaxen. Das binoculare Sehen spielt deshalb bei diesen Thieren eine geringe Rolle. Dagegen m\u00fcssen sich diese Thiere, namentlich die, deren Blickaxen in gestrecktem Winkel nach aufsen divergiren, im Raume nach den beiden vollst\u00e4ndig von einander verschiedenen Ansichten ihrer beiden Augen orientiren, etwa wie ein Schiff, das nach den Angaben zweier nach beiden Seiten auslugender Dootsen gesteuert w\u00fcrde.\nIn dem Wunsche, mir von diesem Vorg\u00e4nge eine deutliche Anschauung zu verschaffen und gewissermaafsen die Welt durch eine \u201eThierbrille\u201c zu sehen, fertigte ich mir eine Vorrichtung, die die Blickaxen der Augen nach beiden Seiten ablenken sollte. Sie bestand einfach aus einer vierkantigen R\u00f6hre von schwarzer Pappe, die quer vor beiden Augen befestigt wurde, ln die den Augen zugekehrte Seitenwand waren zwei Guckl\u00f6cher geschnitten und mit einem vorstehenden Rande versehen, der sich an den Rand der Augenh\u00f6hlen anlegte und st\u00f6rendes Aufsenlicht ab-schlofs. Im Inneren der R\u00f6hre war vor jedem der beiden Guckl\u00f6cher ein St\u00fcckchen senkrecht und unter 45\u00b0 zur Axe der R\u00f6hre stehendes Spiegelglas angebracht. Die beiden Spiegel warfen also die beiden Bilder der vor den Enden der Pappr\u00f6hre befindlichen Gegenst\u00e4nde je in ein Auge des Tr\u00e4gers der \u201eThierbrille\u201c.\nObschon auf diese Weise der beabsichtigte Zweck erreicht wurde, mit jedem Auge eine Ansicht der seitlich vom K\u00f6rper gelegenen Gegenst\u00e4nde zu erhalten, blieb die weitere Absicht, auf diesem Wege der Weltanschauung der Thiere n\u00e4her zu kommen, wie sich leicht h\u00e4tte voraussehen lassen, unerf\u00fcllt. Denn w\u00e4hrend das Thier bei der Wahrnehmung seines seitlichen Gesichtsfeldes die wahrgenommenen Gegenst\u00e4nde ohne Zweifel auch subjectiv dahin versetzt, wo sie sich wirklich befinden, projicirt der Mensch das vom Spiegel der Thierbrille auf-","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nB. du Bois-Reymond.\ngenommene seitliche Gesichtsfeld in der Richtung seiner nat\u00fcrlichen Blickaxe hinter den Spiegel. Wenn man die Thierbrille aufsetzt, nimmt man also die links vom Kopfe befindlichen Gegenst\u00e4nde gerade vor dem linken Auge, die rechts vom Kopfe befindlichen Gegenst\u00e4nde gerade vor dem rechten Auge wahr. Die beiden verschiedenen Bilder k\u00f6nnen aber nicht, wie sonst die Blickfelder beider Augen, vereinigt werden, sondern es entsteht ein Wettstreit zwischen ihnen. In diesem Wettstreite siegt im Allgemeinen das besser beleuchtete Gesichtsfeld. Es empfiehlt sich daher bei diesem Versuch m\u00f6glichst einen Standpunkt einzunehmen, der auf beiden Seiten ungef\u00e4hr gleich helle Blickfelder gew\u00e4hrt. Ist der Beobachter, etwa durch den Gebrauch des Mikroskops, daran gew\u00f6hnt das Gesichtsfeld eines Auges ru vernachl\u00e4ssigen, so ist es dagegen vortheilhaft, wenn die Seite dieses Auges eine etwas hellere Beleuchtung erh\u00e4lt. Unter diesen Bedingungen sieht also der mit der Thierbrille versehene Mensch, in Folge der subjectiven Projection und der Gew\u00f6hnung an den binocularen Sehact, vor sich ein einfaches Gesichtsfeld, in dem einzelne St\u00fccken der rechts und links vor den Spiegeln befindlichen Aufsenwelt durcheinandergewirrt um seine Aufmerksamkeit zu ringen scheinen. Geht der Beobachter vorw\u00e4rts, so r\u00fccken die beiden unvereinigten wettstreitenden Gesichtsfelder von rechts und links her durch einander hindurch, wobei ein \u00e4usserst verwirrender, ja schwindelerregender Eindruck entsteht.\nDieser Versuch bildet eine geradezu schlagende Demonstration des Princips von der Projection der Sinneseindr\u00fccke.\nEs ist aber nat\u00fcrlich nicht daran zu denken, dafs den Thieren mit divergenten Blickaxen die Aufsenwelt in dieser Form erscheinen k\u00f6nnte, vielmehr ist in dieser Beziehung der Versuch als von vornherein verfehlt zu bezeichnen. Daf\u00fcr aber f\u00fchrte er noch in einer anderen Richtung auf eine nicht unintesersante Erscheinung.\nMan kann diese Erscheinung am besten beobachten, wenn man von der beschriebenen Vorrichtung nur die eine H\u00e4lfte benutzt, indem man ein Auge schliefst, oder auch, wenn man \u00fcberhaupt nur ein St\u00fcck Spiegelglas in passender Stellung vor das eine Auge h\u00e4lt. Es mag im Folgenden angenommen werden, dafs der Beobachter das rechte Auge unbenutzt l\u00e4fst, und sich also ausschliefslich des linken Auges mit dem davor befindlichen Spiegel bedient. Die Blickrichtung ist also nach links abgelenkt","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von der subjectiven Pi-ojection.\n401\nOeht nun der Beobachter vorw\u00e4rts, so sieht er die zu seiner linken Seite befindlichen Gegenst\u00e4nde im Spiegel von schl\u00e4fen-w\u00e4rts nach nasenw\u00e4rts wandern. Hierbei f\u00e4llt auf, dafs alle per-spectivischen Verschr\u00e4nkungen, die im Blickfelde vor sich gehen, deutlich bemerkt werden. Geht man z. B. an einem Fenster vor\u00fcber, so sieht man das Fensterkreuz sich vor der Landschaft vorbeibewegen und gleichsam an alle hervortretenden Punkte der Landschaft einzeln anstofsen. Nimmt man dagegen die Brille ab, und geht mit seitlich gewendetem Kopfe in ganz derselben Weise am Fenster vorbei, so mufs sich zwar das Fensterkreuz im Netzhautbilde in ganz derselben Weise vor der Landschaft verschieben, aber dieser Umstand kommt f\u00fcr die bewufste Wahrnehmung gar nicht zur Geltung.\nMan k\u00f6nnte nun einwenden, es sei zwischen den beiden F\u00e4llen deswegen ein Unterschied, weil die Bewegung des Bildes auf der Netzhaut nicht in beiden F\u00e4llen in gleichem Sinne erfolgt. Denn, wenn man sich mit links gewendetem Kopf vorw\u00e4rts bewegt, wandert das Netzhautbild des Gesichtsfeldes (des linken Auges) von schl\u00e4fenw\u00e4rts nach nasenw\u00e4rts, wenn man dagegen die Thierbrille aufhat und (mit geradeaus gerichtetem Gesicht) vorw\u00e4rts geht, bewegt sich das Bild im Spiegel von schl\u00e4fenw\u00e4rts nach nasenw\u00e4rts, das Netzhautbild also in entgegengesetzter Richtung. Um diesem Mangel abzuhelfen, k\u00f6nnte man den Spiegel durch ein System von Prismen ersetzen, das die Blickrichtung ablenkt, ohne das Bild umzukehren. Es l\u00e4fst sich aber auch auf andere Weise mittelbar zeigen, dafs die Umkehrung der Bewegung f\u00fcr den Unterschied in der Auffassung des Netzhautbildes nicht maafsgebend ist\nSobald man n\u00e4mlich die Thierbrille aufsetzt, bemerkt man, dafs sich beim Neigen des Kopfes das Gesichtsfeld scheinbar mit neigt, so dafs alle Senkrechten schr\u00e4g zu stehen scheinen. Nur bei aufrechter Kopfhaltung, also bei horizontaler Augenaxe und senkrechtem Spiegel, erscheinen die senkrechten Linien des Blickfeldes auch im Spiegel senkrecht. In diesem Falle .\u00bbwerden sie auf ebenfalls senkrechten, dem Meridian parallelen, Strecken der Netzhaut abgebildet. Es l\u00e4fst sich leicht zeigen, dafs, wenn die Brille durch Senken des Kopfes geneigt wird, die senkrechten Linien des Blickfeldes auf der Netzhaut nicht mehr senkrecht, sondern schr\u00e4g abgebildet werden. Das obere Ende jeder Senkrechten erscheint (f\u00fcr das linke Auge) im Spiegel nasenw\u00e4rts\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 27.\t26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nB. du Boia-Bcymond.\nverschoben, das untere schl\u00e4fenw\u00e4rts. Auf der Netzhaut selbst mufs also beim Neigen des Kopfes das Bild der Senkrechten in der umgekehrten Richtung verschoben werden. Genau die gleiche Drehung des Bildes mufs aber eintreten, wenn man beim gew\u00f6hnlichen Gehen den Kopf seitw\u00e4rts neigt. Um die gleichsinnige Drehung zu erhalten, mufs in dem betrachteten Falle der Kopf nach rechts geneigt werden. Bei dieser seitlichen Kopfneigung, bei der das Netzhautbild genau dieselbe Bewegung macht, wie beim Senken des Kopfes mit aufgesetzter Thierbrille, hat man aber durchaus nicht den Eindruck, als neigten sich die senkrechten Linien des Blickfeldes mit\nEs handelt sich also hier um einen Fall, der dem vorher besprochenen ganz gleich ist, und f\u00fcr den der Einwand betreffend die Richtung der Bewegung des Netzhautbildes nicht zutrifft Die gleiche Drehung des Netzhautbildes erweckt, wenn sie durch Senken des Kopfes bei aufgesetzter Thierbrille erzeugt wird, die Vorstellung, als drehe sich die Aufsenwelt, wenn sie aber durch seitliche Neigung des Kopfes bei freiem Auge hervorgebracht ist, kommt sie \u00fcberhaupt nicht zum Bewufstsein.\nIn letzterem Falle mufs also eine vorhandene Sinnesempfindung vernachl\u00e4fsigt werden, und dies geschieht offenbar deshalb, weil die Erfahrung lehrt, dafs mit bestimmten Bewegungen des Kopfes bestimmte Verschiebungen des Netzhautbildes verbunden sind, denen keine wirkliche Verschiebung der Gegenst\u00e4nde der Aufsenwelt entspricht. Auf diese Weise ist also die bewufste Wahrnehmung des Netzhautbildes abh\u00e4ngig von der Wahrnehmung der gleichzeitigen Bewegung des Kopfes. F\u00fcr den Fall der seitlichen Neigung des Kopfes ist dieser Zusammenhang leicht verst\u00e4ndlich und wohl allgemein bekannt. Die vorher besprochene Beobachtung \u00fcber die Wahrnehmung der per-spectiviscben Verschiebungen weist aber darauf hin, dafs die Auffassung des Netzhautbildes in derselben Weise von der Vorstellung gleichzeitiger Ortsbewegung \u00fcberhaupt abh\u00e4ngig ist. Geht njan mit seitlich gewendetem Kopf, so vernachl\u00e4fsigt man die Verschr\u00e4nkungen, die durch die Ortsbewegung entstehen. Gehen dagegen dieselben Verschiebungen, durch Vermittlung des Spiegels, scheinbar in einer Richtung vor sich, die der gleichzeitigen Ortsbewegung nicht entspricht, so werden sie mit auff\u00e4lliger Deutlichkeit wahrgenommen.\n(Eiwjcgangen am 19. November 1901.)","page":402}],"identifier":"lit32072","issued":"1902","language":"de","pages":"399-402","startpages":"399","title":"Zur Lehre von der subjectiven Projection","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:28:29.053591+00:00"}