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{"created":"2022-01-31T16:30:52.331742+00:00","id":"lit32073","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Burckhardt, Rud. ","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 403-406","fulltext":[{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\nJules Souey. le syst\u00e8me nerveux central, structure et fonctions. Histoire critique des th\u00e9ories et des doctrines. Paris, Carr\u00e9 et Naud, 1899. 1867 S, 4\u00b0. 50 Frcs.\nBeim Studium der immensen neueren Literatur \u00fcber das Nervensystem bat sich mehr als auf anderen Gebieten das Bed\u00fcrfnifs nach Zusammenfassung und Ordnung geltend gemacht. Diesem Bed\u00fcrfnifs sind denn auch f\u00fcr den einen und anderen Theil der Nervenanatomie die Autoren entgegengekommen und Lehrb\u00fccher wuchsen aus dem Boden, wie Pilze. Aber auch die besten derselben brachen mit der Tradition und ihre historischen Einleitungen beschr\u00e4nkten sich auf Rudimente von Chrono-logieen. Ein Buch zu schaffen, worin die gesammte Nervenlehre im Zusammenhang mit der Biologie \u00fcberhaupt, ja in ihren Voraussetzungen mit den psychologischen Grundlagen der Kulturgeschichte dargestellt ist, das blieb einem einsamen Gelehrten Vorbehalten, der durch fr\u00fchere Studien auf dem Gebiet der Geschichte der Physiologie und Psychologie gr\u00fcndlich vorbereitet, durch keine praktischen Verpflichtungen gebunden und mit einer dem Gegenstand entsprechenden Arbeitskraft ausger\u00fcstet war, Jules Souey, dem Professor der Geschichte unserer Disciplinen an der Sorbonne.\nDas Werk Souey\u2019s reicht in seiner Bedeutung weit \u00fcber den engen Rahmen unserer Fachwissenschaften hinaus. Es ist ein werth volles Symptom f\u00fcr eine Wendung in der Behandlung biologischer Probleme \u00fcberhaupt, die eintreten mufste, die Wendung zur Geschichte. Was war vorangegangen? Auf dem Gebiete der Nervenforschung hat das Mikroskop und die F\u00e4rbetechnik nicht die an anderen Objecten erzielten Erfolge gehabt. Golgi\u2019s Entdeckung einer specifischen F\u00e4rbung f\u00fcr die Elemente des Nervensystems war f\u00fcnfzehn Jahre lang unbeachtet geblieben und begann erst Aufsehen zu erregen zu einer Zeit, da gleichzeitig Ehelich\u2019s Methylenblau auf den Plan trat. Eine fieberhafte Aufregung unter den Neurologen: Monat um Monat f\u00f6rdert die neue Technik l\u00e4ngst erhoffte Thatsachen zu Tage, alles \u201eversilbert\u201c, die Zeitschriften schwellen an und der Niederschlag des ganzen G\u00e4hrungsprocesses wird in Lehrb\u00fccher \u00fcberdestillirt. Und wie die Mode kam, so ging sie wieder. Rasch wurde es unheimlich still und nur wenige Beharrliche begn\u00fcgen sich nicht mit der Umsetzung ihrer Forschungsenergie in Hausbedarf. Unsere Anschauungen \u00fcber die Anatomie des Nervensystems hatten sich radical umgestaltet. Seine Elemente waren durchsichtig geworden und jetzt trat die Aufgabe heran, auf Grund dieser Elemente die Auffassung von Bau und Functionen des Nervensystems umzugestalten. Viel Anerkennenswerthes ist von allen Seiten, namentlich von Pathologen und Anatomen nach dieser Hinsicht gethan worden und doch * 26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nBesprechungen.\nfehlte das eine, das erst das Zeichen der Wissenschaftlichkeit ist, das Be-wufstsein des Zusammenhanges unserer Vorstellungen mit denen vorangegangener Zeiten, denen eine Technik gel\u00e4ufiger war, als uns Modernen, n\u00e4mlich das Denken. Es fehlte das Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr die ganze Begriffswelt, aus der die neurologische Sprache entstanden, und ffir ihren Zusammenhang mit Philosophie und Theologie \u2014 kurz f\u00fcr die geschichtliche Bedingtheit unseres Forschungsgebietes. An diesem Punkte setzt So\u00fcby ein mit seinem einzigartigen Werk.\nEinen gr\u00fcndlichen Kenner der antiken Biologie mufste die Aehnlich-keit moderner Theorieen mit alten und l\u00e4ngst vergessenen, schlagen; aber nicht minder die neuen Thatsachen, welche einen Einblick in das Nervensystem gew\u00e4hrten. \u201eDie Geschichte der Lehren und Theorieen von der Structur und den Functionen des Nervensystems aller Lebewesen ist die Naturgeschichte des menschlichen Geistes. Das vergleichende Studium der Sinnesorgane und der nerv\u00f6sen Centren bleibt die erhabenste Quelle f\u00fcr unsere Vorstellung der Welt als eines Hirnph\u00e4nomens\u201c. Diese Naturgeschichte sucht unser Werk zu geben und verr\u00e4th uns schon durch diesen Standpunkt, dafs wir es mit einem Autor zu thun haben, der ebenso wohl durch den Positivismus, wie durch Schopenhauer hindurchgegangen ist. Beides ohne Schaden, denn der \u00fcberreiche Stoff setzt der allzu prononcirten Betonung eines speculativen Standpunktes ganz nat\u00fcrliche Grenzen.\nDas erste F\u00fcnftel von Soury\u2019s Werk ist den antiken Erfahrungen und Theorieen \u00fcber das Nervensystem gewidmet. Seine Darlegungen gehen aus von der antiken Psychologie, deren empirisches Substrat Soury pr\u00fcft und die mit den modernen Philosophen im Einzelnen zu vergleichen ihm besonderen Reiz gew\u00e4hren mufste. Naturgem\u00e4fs kommt ein besonders grofser Raum den aristotelischen Anschauungen zu (S. 110 \u2014249). Mit einer Sicherheit, die nur aus eigenstem Quellenstudium zu holen ist, hat es hier Soury verstanden, alle Fehler zu vermeiden, die sonst in der herrschenden Beurtheilung von Aristoteles Biologie stereotyp \u2022wiederkehren. So uh y, im Anschlufs an Lewes, weifs die Schriften de partibus und de generatione animalium zu sch\u00e4tzen und zu verwerthen, im Gegensatz zum traditionellen Glauben der Biologen, dafs nur die historia animalium classisch sei, w\u00e4hrend sie doch gerade das untergeordnetste der drei Werke ist. Der ganze Kampf um den Sitz der Seele, der die psychologische Forschung des Alterthums beherrschte, wdrd uns im Zusammenhang mit den \u00fcbrigen Anschauungen jener Periode ausf\u00fchrlich dargelegt. F\u00fcgen wir bei, dafs dieser Theil, sowie die folgenden von einer Lrmi\u00c9\u2019schen Belesenheit und Exactit\u00e4t zeugt und mit philologischer Genauigkeit alle Quellen wiedergiebt, die dem Leser wichtig sein k\u00f6nnten.\n\u201eGalen war Teleologe und empfand religi\u00f6s, bei jedem Anlasse hebt er Weisheit und Walten der G\u00f6tter hervor, er findet im Weltregiment eine Vorsehung. Er hat nichts von der k\u00fchlen und ruhigen Ueberlegung Plato\u2019s, Aristoteles\u2019, oder Theophrasts, auch wo er sie anruft und von ihrem Denken zu leben glaubt. Ein gewiegter Arzt, ein beispielloser Experimentator, von \u00fcberm\u00e4fsig polemischem Geschmack, einem geradezu intoleranten Doctrinarismus, ein temperament- und ger\u00e4uschvoller Rhetor, so hatte ei mehr das Zeug zu einem Professor, als zu einem Gelehrten und Philosophen\u201c. \u2022.","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechim gen.\n405\n\u201eF\u00fcr ihn war die ganze Welt eine weite B\u00fchne, auf der der g\u00f6ttliche Impresario sich ein Schauspiel vorf\u00fchrte, das er mit bewundernswerther Kunst aufs Letzte vorbereitet hatte. Man h\u00e4tte glauben sollen, Galen stecke best\u00e4ndig hinter den Coulissen dieser B\u00fchne.\u201c Im Einzelnen geht Soury darauf ein, die Vergr\u00f6berung der Hirnanatomie zu schildern, welche Galen im Vergleich zu den Alexandrinern charakterisirt. Vielleicht ist daneben der Nachweis etwas zu kurz gekommen, wieso Galen der Anatom werden mufste, der der mittelalterlich-christlichen Psychologie diente. W\u00e4hrend dann wiederum die Geschichte der ausgehenden mittelalterlichen Hirnforschung, die ja besonders an das Aufbl\u00fchen der Anatomie in Paris ankn\u00fcpft, zu ausf\u00fchrlicherer Behandlung gelangt, kommt der Beginn der Neuzeit bei Soury entschieden zu kurz. Das geschichtlich wichtige Factum, dafs Achillini, die GALEN\u2019sche Z\u00e4hlung der Nerven durchbrechend und entgegen besserem Wissen der Alexandriner den Riechkolben als Nerven mitz\u00e4hlte, ist nicht erw\u00e4hnt. (Wie S. richtig anf\u00fchrt, war es Theophilus, der ihn zuerst zwar als Riechnerven bezeichnete, aber, um mit Galen nicht in Conflict zu gerathen, mit dem Opticus zusammen als ersten Nerven z\u00e4hlte.)\nWir vermissen ferner eine ausf\u00fchrlichere Behandlung Vesals, Eustachis und Fallopias, die, wenn schon in ihren Grundanschauungen \u00fcber das Nervensystem v\u00f6llig im Banne Galen\u2019s geblieben, doch in ihrer allgemeinen Bedeutung auch der Hirnforschung zur F\u00f6rderung dienten. Speciell das Verdienst der bildlichen Darstellung des Gehirns und ihres Fortschrittes \u2014 man vergleiche nur Berengar von Carpi (den Soury gar nicht erw\u00e4hnt) und Vesal, \u2014 h\u00e4tte als geschichtlich bedeutungsvoll zu Beginn der Neuzeit Stelle finden sollen.\nEinen breiten Spielraum g\u00f6nnt dann Soury der Darstellung von Descartes\u2019, Gassendi\u2019s und Hobbe\u2019s psychologischen Theorieen. Sorgf\u00e4ltige Behandlung findet Willis, \u201edont la grande imagination, l\u2019\u00e9clat du style et la profondeur des pens\u00e9es font songer \u00e0 Shakespeare\u201c. Bei Haller durften wohl die vortrefflichen vergleichend-anatomischen Schriften in den Opera minora Erw\u00e4hnung finden, wie denn \u00fcberhaupt die Geschichte des Problems vom Seelensitz bei Soury so sehr in den Vordergrund tritt, dafs die Entwickelung der Anatomie des Nervensystems vom 16.\u201418. Jahrhundert etwas zu kurz kommt.\nGall und Spurzheim, die ja neuerdings wieder gelesen und gew\u00fcrdigt werden, erscheinen auch Soury als Neuerer, dadurch, dafs sie die Hirn-th\u00e4tigkeit nicht mehr in den Ventrikeln sondern in der Hirnrinde localisiren. Wie sp\u00e4t erst die Kenntnifs Gall\u2019s verloren ging, beweist die von Flourens citirte Stelle: \u201eGall, der das wirkliche Gehirn studirt und es so gut gekannt hat, hat uns seine wirkliche Anatomie erst gegeben.\u201c Hier wird denn auch einmal der Streit zwischen Gall und Cuvier erw\u00e4hnt, der f\u00fcr Letzteren so schm\u00e4hlich abgelaufen ist, ein geschichtliches Ereignifs ersten Ranges und der Controverse C\u00fcvier-Geoeeroy St. Hilaire mindestens ebenb\u00fcrtig. H\u00e4ser weifs allerdings nichts davon. Nun wird aber auch Soury Gall nur theilweise gerecht und wir vermissen hier die Thatsache, dafs Gall vor Allen es war, der eine genetische Betrachtung des Nervensystems durchf\u00fchrte, der das anatomische Problem vom psychologischen insofern trennte, als er in seinen Betrachtungen von den niederen Centren zu den","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nBesprechungen.\nh\u00f6heren hinaufstieg : Sympathische Knoten, Spinalknoten, R\u00fcckenmark, Gehirn, entsprechend der Entwickelung der psychischen Organe in der Thierreihe.\nMit einer \u00fcbersichtlichen Darstellung der \u201eSalp\u00e9tri\u00e8re\u201c und einem Abschnitt \u00fcber die Himlocalisation von Fbitsch und Hitzig schliefet der eigentlich historische Theil des Werkes ab (p. 631) und beginnt die kritische Darstellung der heute bestehenden Hirnforschung, welche die \u00fcbrigen zwei Drittheile des Werkes f\u00fcllt.\nAls grofse Gliederung sind, wenn wir dem Druck des Inhaltsverzeichnisses folgen, sieben Ueberschriften anzunehmen. Himbahnen, Hirnrinde, Hirnlappen, motorische Centren, Theorie der Gem\u00fctsbewegungen, sensorische Centren, Neuronentheorie. Das hierbei angewandte Eintheilungs-princip ist keineswegs durchsichtig ; ebenso wenig die Untergliederung da einzelnen Abschnitte und darin d\u00fcrfte bei dem Umfange des Werkes sein wesentlichster Nachtheil zu erblicken sein. Dieser Mangel an Architectur, der bei der Ungleichheit in der vorliegenden Bearbeitung des Stoffes ebenso verzeihlich, wie der Klarheit hinderlich ist, verbietet denn auch dem Veit am Ende der Abschnitte Zusammenfassungen zu g\u00e9ben. Andererseits treten die Vorz\u00fcge Souey\u2019s innerhalb der einzelnen Abschnitte aufs Deutlichste hervor und erheben ihn zu einem h\u00f6chst werthvollen Berather f\u00fcr Jeden, der sich \u00fcber das eine oder andere Thema m\u00f6glichst vielseitig orientiren will. In Bezug auf Vergleichung der verschiedenen Ansichten moderner Autoren bis ins Einzelne d\u00fcrfte wohl keine andere Anatomie und Physiologie des Nervensystems dasselbe leisten, was die Souby\u2019s und vollends nicht in einem so anziehenden und lesbaren Stil.\nEine Inhaltsangabe des ganzen Bandes findet sich auf 65 eng gedruckten Seiten; schon daraus erhellt, dafs hier eine solche auch nur ann\u00e4hernd wiedergeben zu wollen, ein Ding der Unm\u00f6glichkeit ist. Soury hat nicht, wie so viele, nur zusammengefafst, was man am Ende des 19. Jahrhunderte wufste; mit seiner Einf\u00fchrung des historischen Gesichtspunktes in die Discussion der obwaltenden Theorieen hat er gleichzeitig f\u00fcr die Zukunft gearbeitet und ein Postulat aufgestellt, das seit Langem nicht mehr rar Geltung gekommen war. Das war doppelt n\u00f6thig, bei einem so complicirten Organsystem, aber es war nur m\u00f6glich einem Manne, der sich ebenso gem und geschickt ins letzte empirische Detail der Gegenwart einarbeitete, wie er durch umfassende philosophische und historische Studien berufen war, den Wurzeln alles Denkens \u00fcber Gehirn und Seele nachzusp\u00fcren. Damit beh\u00e4lt auch Soury\u2019s Werk neben seiner praktischen Bedeutung den Werth des Ausdrucks einer selbst\u00e4ndigen, originellen, dabei gr\u00fcndlichen und erstaunlich vielseitigen Forschernatur.\tR\u00fcd. B\u00fcECKHAfiDT (Basel).\nDas Verh\u00e4ltnis der Geschmacksempfindungen zu einander.\nVorl\u00e4ufige Entgegnung.\nVon F. Kiesow, Turin.\nHjalmar Oehrwall. Die Modalit\u00e4t\u00ab- und dualttitsbegriffe in der Mues-physiologie und deren Bedeutung. Skandinav. Archiv f\u00fcr Physiologie 11, 245\u2014272. 1901. (Aus dem physiol. Institut der Universit\u00e4t Upsala.)\nDie vorliegende Arbeit steht in engem Zusammenhang mit dem, der Verf. zum Theil bereits in seinen \u201eUntersuchungen \u00fcber den","page":406}],"identifier":"lit32073","issued":"1902","language":"de","pages":"403-406","startpages":"403","title":"Jules Soury: Le syst\u00e8me nerveux central, structure et fonctions. Histoire critique des th\u00e9ories et des doctrines. Paris, Carr\u00e9 et Naud, 1899. 1867 S","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:30:52.331747+00:00"}