Open Access
{"created":"2022-01-31T14:09:28.938773+00:00","id":"lit32304","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Grosse, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 434-436","fulltext":[{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nLiteraturbericht.\nStellung ist eben hinter jenen Detailbeschreibungen fast verloren gegangen, so dafs neben dem eigentlich sympathisirenden Mitleid auch die nat\u00fcrliche oder krankhaft \u00fcbertriebene Abneigung gegen Wahrnehmung fremden Leides, die schon von Hume als unvollst\u00e4ndige Sympathie abgetrennt worden war, behandelt wird, ferner allerlei r\u00fchrselige Herbst- und D\u00e4mmerstimmung, die nur mit einer speciellen Ablaufsweise des Mitleides eine gewisse Stimmungsverwandtschaft besitzt, dann auch Selbstbemitleidung, endlich jedwede Stellungnahme zu fremdem Leide, welche nicht gerade, wie die Grausamkeit, am fremden Schmerz selbst Genufs findet, also z. B. die Freude, dafs man selbst nicht so schlecht daran sei. Mit der mangelnden Analyse des eigentlichen Mitleides bleiben aber nat\u00fcrlich auch die gegenseitigen Beziehungen solcher Abarten wenig aufgekl\u00e4rt. Der Gegenstand unserer Sympathie wird insbesondere durch den Satz allzusehr eingeschr\u00e4nkt, dafs wir nur mit solchem Leide Mitleid haben k\u00f6nnten, das wir f\u00fcr uns selbst f\u00fcrchteten. Im letzten Capitel wird u. A. gegen\u00fcber den Ver\u00e4chtern des Mitleides die Anerziehung eines richtigen Maafses von Mitleid den P\u00e4dagogen empfohlen, wobei nat\u00fcrlich nicht an einen quantitativen Maafsstab gedacht werden darf. Ueberall blickt eine menschenfreundliche, selbst f\u00fcr Mitleid reich empf\u00e4ngliche Pers\u00f6nlichkeit des Verf.\u2019s hindurch, und finden sich im Einzelnen viele treffliche Bemerkungen.\nWibth (Leipzig).\nYbj\u00f6 Hirn. The Origins of \u00e0rt. \u2014 A Psychological and Sociological Inquiry. \u2014\nLondon, Macmillan and Co., 1900. 331 S. 10 sh.\nWie ist die Menschheit dazu gekommen, so viel Kraft und Eifer der Kunst zu widmen, \u201eeiner Th\u00e4tigkeit, die fast g\u00e4nzlich ohne einen praktischen Zweck sein kann?M \u2014 (S. 15) Die L\u00f6sung dieses \u201esociologischen und psychologischen R\u00e4thsels\u201c ist die Hauptaufgabe des Buches. H. richtet daher seine Untersuchung vor Allem auf die Natur des \u201eKunsttriebes\u201c (art-impulse), den er mit Recht nicht als ein Privilegium einzelner Individuen, sondern als ein Gemeingut unseres ganzen Geschlechts ansieht. Zun\u00e4chst kritisirt er einige fr\u00fchere Ansichten \u00fcber das Wesen dieses Triebes. Der durch Schiller, Spencer und Groos vertretenen \u201eSpieltheorie\u201c; die er dabei noch am ausf\u00fchrlichsten bespricht, gesteht er zwar zu, dafs \u201esie w'ohl das negative Kriterium der Kunst erkl\u00e4ren m\u00f6ge ; sie sei aber nicht im Stande uns irgend einen positiven Aufschlufs \u00fcber die Natur der Kunst zu geben.\u201c (S. 29). \u2014 In Wirklichkeit ist jene Theorie freilich doch nicht so unvollkommen, als H. glaubt. Schiller und Groos wenigstens charakterisiren das \u201ek\u00fcnstlerische Spiel\u201c durchaus nicht nur negativ als eine \u00e4ufserlich zwecklose Th\u00e4tigkeit, sondern zugleich sehr positiv als die freieste und vollste Beth\u00e4tigung der Pers\u00f6nlichkeit. \u201eDer Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.\u201c \u2014 Die positive Erkl\u00e4rung, durch welche H. die \u201enegative\u201c Bestimmung seiner Vorg\u00e4nger erg\u00e4nzt, ist auf die \u201eallgemeine Psychologie des Gef\u00fchls\u201c gegr\u00fcndet. Lustgef\u00fchle erhalten und erh\u00f6hen sich in dem Maafse, in dem sie Ausdruck durch Bewegungen finden. Unlustgef\u00fchle dagegen werden durch aetiven Ausdruck abgeschw\u00e4cht und \u00fcberwunden. \u201eDie lebenerhaltende Tendenz, die uns unter einem Lustgef\u00fchl zu Bewegungen f\u00fchrt, welche die Empfindung verst\u00e4rken und klarer","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n435\nzum Bewufstsein bringen, zwingt uns im Schmerze, Erleichterung und Befreiung durch heftige motorische Entladung zu suchen\u201c (S. 42). Dieses unmittelbare emotionale Ausdrucksbed\u00fcrfnifs ist gleichsam der Keim des Kunsttriebes; er w\u00fcrde sich jedoch nicht entwickeln, wenn der Mensch nicht ein sociales Wesen w\u00e4re. Wir f\u00fchlen uns stets als Glieder eines socialen K\u00f6rpers; und wie unsere Empfindung an St\u00e4rke und Deutlichkeit durch die Bewegung unseres individualen K\u00f6rpers gewinnt, so erh\u00e4lt sie noch gr\u00f6fsere Intensit\u00e4t und Klarheit, wenn sich die Bewegung auf den socialen K\u00f6rper ausdehnt, wenn das Gef\u00fchl eines Individuums eine ganze Gruppe ergreift, die seine Ausdrucksbewegungen theilnehmend wiederholt (S. 82). \u201eAls das wirksamste Mittel aber, welches das Individuum bef\u00e4higt, einen emotionalen Zustand, von dem es selbst beherrscht wird, weiteren und immer weiteren Kreisen von Anderen mitzutheilen, \u2014 stellt sich das Kunstwerk dar\u201c (S. 85). Das Kunstwerk ist also das Erzeugnifs und zugleich das Mittel des unmittelbaren emotionalen Ausdrucksbed\u00fcrfnisses; des Strebens nach einer Verst\u00e4rkung oder Erleichterung der individualen Emotion durch die \u201esociale Resonanz.\u201c Dafs die Kunst als eine sociale Erscheinung aufgefafst werden mufs, ist sicherlich eine Wahrheit, allerdings keine ganz neue. Aber wenn H. sagt, dafs \u201eselbst die Production der individuellsten und einsamsten K\u00fcnstler nur durch sociologische Betrachtungen erkl\u00e4rt werden kann\u201c (S. 101); so darf man vielleicht mit noch gr\u00f6fserem Rechte behaupten, dafs selbst die popul\u00e4rste und vulg\u00e4rste Production nicht nur aus sociologischen Betrachtungen erkl\u00e4rt werden kann. Der erste und gewifs nicht unwesentlichste Theil der k\u00fcnstlerischen Production, die eigentliche Sch\u00f6pfung im Gegens\u00e4tze zu der sp\u00e4teren Ausf\u00fchrung liegt durchaus innerhalb der Grenzen des individualen Lebens ; ganz aufserhalb des Bereiches \u201esociolpgiseher Erw\u00e4gungen.\u201c H. hat in der That nicht sowohl die Sch\u00f6pfung als die auf sociale Wirkung berechnete \u201eElaboration\u201c im Auge, wenn er den beruhigenden und befreienden Ein-flufs r\u00fchmt, den die productive Arbeit auf den emotional erregten K\u00fcnstler aus\u00fcbt. \u2014 \u201eNur in ganz directen Beth\u00e4tigungen wie in den einfachsten Ges\u00e4ngen, T\u00e4nzen und Dichtungen\u201c giebt sich der Kunsttrieb unmittelbar als das lebenerhaltende emotionale Ausdrucksbed\u00fcrfnifs zu erkennen. \u201eAber es l\u00e4fst sich nicht verbergen, dafs diese Auffassung, soweit die Malerei, die Sculptur und die h\u00f6heren Formen der Poesie in Betracht kommen, ausschliefslich auf hypothetischer Grundlage ruht\u201c (S. 114). Die Annahme kann jedoch bewiesen werden, indem man zeigt, dafs auch die h\u00f6chsten Manifestationen der Kunst allgemein und wesentlich nach ihrem emotionalen Ausdruckswerthe beurtheilt und gesch\u00e4tzt werden (S. 115). Dieser Beweis ist denn auch versucht worden ; allein um auch nur einiger-maafsen \u00fcberzeugend zu wirken, h\u00e4tte er mit ganz anderem Ernste durchgef\u00fchrt werden m\u00fcssen. Indessen der Satz, der bewiesen werden soll, ist falsch: \u2014 die emotionale Ausdrucksf\u00e4higkeit ist keineswegs die \u201edistinctif quality\u201c eines Kunstwerkes, denn diese theilt die Kunst mit anderen nicht k\u00fcnstlerischen Ausdrucksformen; ihre wesentliche Eigenart besteht vielmehr darin, dafs sie die Emotionen in einer \u00e4sthetischen Form ausdr\u00fcckt. Der \u201eKunsttrieb\u201c ist Nichts weniger als emotionales Ausdrucks-\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nLitera twrbericht.\nund Mittheilungsbed\u00fcrfmfs schlechthin; sondern er richtet sieh mal eine besondere, n\u00e4mlich die \u00e4sthetische, Form des Ausdruckes. Ueferigens ftift, und gesteht H. selbst die Unzul\u00e4nglichkeit seiner Erkl\u00e4rung. \u201eWir k\u00f6nne* einen lyrischen Tanz, oder selbst einen lyrischen Gesang als unmitteUwa Ausbr\u00fcche eines emotionalen Druckes betrachten, der ohne Ableitang den Organismus gef\u00e4hrlich werden w\u00fcrde. Aber wir k\u00f6nnen uns kaum vor stellen, dafs irgend ein Mensch im Stande sein sollte z. \u00a3. ein voll ungebildetes Drama zu erfinden, nur um dadurch in der wirksamsten Weh* das Gef\u00fchl mitzutheilen, von dem er beherrscht ist. Und noch schwierig\u00ab ist es zu verstehen, wie das Bed\u00fcrfnifs nach socialem Ausdrucke, rein n seiner eigenen Befriedigung, so hoch entwickelte Kunstformen wie Malerei und Sculptur h\u00e4tte schaffen k\u00f6nnen.\u201c \u2014 \u201eWir sind daher gezwungen, uns anderw\u00e4rts nach dem Ursprung und der Entwickelung des concretes technischen Mediums umzusehen, dessen sich der K\u00fcnstler f\u00fcr seinen Zweck bedient\u201c (8. 145). H. meint die Entstehung und Entwickelung der k\u00fcnstlerischen Formen \u201eaus den Beziehungen der k\u00fcnstlerischen Th&tigkeit zu den wichtigsten biologischen und sociologischen Aufgaben des Lebens* erkl\u00e4ren zu m\u00fcssen (6.147) ; und er glaubt am Schl\u00fcsse seiner Untersuchung dafs es ihm gelungen sei, \u201eauf diese \u00e4ufseren \u00abUrspr\u00fcnge* (origins) einige der wichtigsten Eigenschaften zur\u00fcckzuf\u00fchren, die wir an einem Kunstwerke sch\u00e4tzen. Auf diesem Wege ist es uns m\u00f6glich zu erkl\u00e4ren, wie verschiedene Vorz\u00fcge der Kunst, wie sie uns bekannt ist, von den primitiven Bed\u00fcrfnissen abgeleitet sein m\u00f6gen, denen sie diente ; wie z. B. die Klarheit (lucidity) der Kunst ihren Ursprung in der Verwendung der Kunst, Belehrung zu vermitteln, haben kann ; wie sich die sinnlichen und anziehenden Eigenschaften aller Kunst aus dem Bed\u00fcrfnisse Gunst zu ge winnen herleiten lassen; wie die Macht der Kunst, den Geist an st\u00e4rken und zu erregen, ein Erbtheil ans den Tagen sein kann, als der K\u00fcnstler berufen war, seine Genossen zur Arbeit oder zum Kampfe zu ermuthigen. Und endlich k\u00f6nnte man geltend machen, dafs eine h\u00f6chst charakteristische Eigenschaft der Kunst, die Einbildung (imagination), die in einem gewissen Sinne Glaube an die Wirklichkeit des Unwirklichen ist (mag sie dem menschlichen Geiste angeboren sein oder nicht), ungeheuer durch die Verwendung der Kunst f\u00fcr die Zwecke der Magie erh\u00f6ht sein mag, die da\u00ab Sichtbare und das Unsichtbare verschmilzt\u201c (S. 305). In Wirklichkeit findet man in den Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Beziehungen der Kunst zu verschiedene* praktischen Zwecken, welche die zweite H\u00e4lfte des Buches f\u00fcllen, Nicht\u00ab von einem solchen Nachweise; wohl aber eine Menge von interessanten und theilweise werthvollen Bemerkungen, die allerdings weniger f\u00fcr die Kunstwissenschaft als f\u00fcr die Biologie und Sociologie Bedeutung haben. Namentlich die Capitel \u00fcber \u201eAnimal Display\u201c und \u201eArt and Sexual Selection\u201c sind lesenswerth. \u2014 Als kunstwissenschaftliche Leistung geh\u00f6rt dieses Buch in die neuerlich h\u00e4ufig werdende Gattung von Arbeiten, welche die Kunst zu begreifen glauben, indem sie um die Kunst herumtasten.\nErnst Grossk (Freiburg i. B.l","page":436}],"identifier":"lit32304","issued":"1902","language":"de","pages":"434-436","startpages":"434","title":"Yrj\u00f6 Hirn: The Origins of Art - A Psychological and Sociological Inquiry. London, Macmillan and Co., 1900. 331 S.","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:09:28.938778+00:00"}