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{"created":"2022-01-31T16:27:06.465826+00:00","id":"lit32339","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schiller","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 27: 449-454","fulltext":[{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n449\nschwankend, ein sicherer Maafsstab fehlt bisher. Meist laufen Intellect und Moral einander parallel, doch nicht immer; ersterer unterst\u00fctzt letztere; letztere geht daher als das psychogenetisch sp\u00e4tere Gebilde eher verloren. Eine streng wissenschaftliche Messung des sog. Charakters des Menschen ist zur Zeit unm\u00f6glich, wird es wahrscheinlich immer bleiben.\nDie dritte Frage betrifft die Unterbringung geisteskranker Verbrecher.\nUmpeenbach.\nJ. M. Baldwin. Das sociale und sittliche Leben erkl\u00e4rt durch die seelische Entwickelung. Nach der zweiten englischen Auflage \u00fcbersetzt von Dr. Ruedemann. Durchgesehen und mit einem Vorwort eingeleitet von Dr. Paul Barth. Leipzig, Barth, 1900. 461 S. Mk. 12.\u2014.\nNachdem die erste Auflage des Werkes bereits in dieser Zeitschrift besprochen erscheint, w\u00e4re eine nochmalige Inhaltsangabe \u00fcberfl\u00fcssig, und es sei daher auf das diesbez\u00fcgliche, von P. Barth verfafste Referat (19 (2. u. 3.), 239) hingewiesen.\nDie Herausgabe des BALDWiN\u2019.schen Werkes in musterg\u00fcltiger deutscher Uebersetzung ist jedenfalls ein verdienstliches Unternehmen. In dieser Form ist das Buch auch einem gr\u00f6fseren Kreise von Lesern, die sich mit den Gedanken Baldwin\u2019s vertraut machen wollen, zug\u00e4nglich.\nSaxinger (Linz).\nP. Bergemann. Sociale P\u00e4dagogik auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage und mit H\u00fclfe der inductiven Methode als universalistische oder Kulturp\u00e4dagogik dargestellt. Gera, Hofmann, 1900. 615 S. Geb. 11,60 Mk.\nSocialp\u00e4dagogik, Culturp\u00e4dagogik \u2014 neue Namen, ob auch neue Dinge? Klingt es doch beinahe, als w\u00e4re die bisherige P\u00e4dagogik unsocial und unculturell gewesen, und Bergemann ist wohl im Stillen auch davon \u00fcberzeugt. Denn er stellt sieh die ideale und hohe Aufgabe, das gesammte Leben eines Volkes zu versittlichen, womit doch wohl gesagt sein will, dafs es bisher nicht so gewesen sei, sondern dafs man sich nur einzelnen Theilen oder einzelnen Seiten dieses Lebens zugewandt habe. Er denkt dabei haupts\u00e4chlich daran, dafs die P\u00e4dagogik sich in der Regel nur mit den Unerwachsenen befasse, die Socialp\u00e4dagogik aber auch \u00fcber die Schule hinaus mit den Erwachsenen. Des Pudels Kern liegt aber anderswo. Einmal ist es in unserer socialistischen Literatur aus den Verh\u00e4ltnissen erwachsene Sitte, f\u00fcr die Massen gegen die Besitzenden und Gebildeten einzutreten; dazu lenkte der Einflufs der collectivistisch - positivistischen Philosophie Condovcet\u2019s und Comte\u2019s, sowie ihrer Sch\u00fcler, durch Darwin\u2019s Lehren verst\u00e4rkt, ebenfalls die Geschichte und andere Wissenschaften in die Bahnen der Massenbewegung und des Generischen gegen das Individualistische. Bourreau bestritt bekanntlich, dafs man ein Recht habe, von \u201ef\u00fchrenden Geistern\u201c zu reden, und wollte nur eine f\u00fchrende Massenbewegung anerkennen, deren Erzeugnisse auch eben diese sogen, f\u00fchrenden Geister seien. Bergemann geh\u00f6rt dieser Richtung an; doch zieht er die \u00e4ufsersten Consequenzen nicht. So wird das \u201eGenie\u201c nicht g\u00e4nzlich eliminirt, \u201eaber in allen den St\u00fccken, wo das Genie nicht Genie ist\u201c \u2014 kurz vorher tadelt B. die \u201everschwommene Allgemeinheit\u201c an den Definitionen Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 27.\t29","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nLiteraturbericht.\nder P\u00e4dagogik \u2014 \u201eist es ganz Kind seiner Zeit und seines Volkes, repr\u00e4sen-tirt es dessen Eigenth\u00fcmlichkeiten ebenso wie jeder andere Mensch and teilt die Schw\u00e4chen und Vorz\u00fcge, die Vorurtheile und die Aufgekl\u00e4rtheit seiner Zeitgenossen.\u201c Die \u201eVolksseele\u201c oder die \u201esociale Psyche\u201c spielt zwar eine grofse Rolle, und wir werden versichert, dafs \u201edie Collectivseele oder die sociale Psyche ebenso wirklich ist wie die Einzelseele.\u201c Freilich nur in bildlichem Sinne : \u201ewas f\u00fcr die Einzelseele Hirn und Nervensystem, das sind f\u00fcr die Collectivseele, f\u00fcr die sociale Psyche die nat\u00fcrlichen Lebensbedingungen.\u201c Nun, jeder Vergleich hinkt, dieser aber gleich auf zwei Beinen. Bald darauf erfahren wir, \u201edafs die Volksseele von den individualen Seelen variirend und modi\u00e4cirend beeinflufst wird\u201c und schliefslich erhalten wir sogar das Zugest\u00e4ndnifs : \u201eund jedenfalls bedarf die sociale Psyche \u00fcberhaupt einiger Individuen\u201c \u2014 dies sind eben die f\u00fchrenden Geister, \u2014 \u201eum sich sammeln und selbstbewufst und energisch auf bestimmte Ziele concentriren zu k\u00f6nnen.\u201c Man darf es uns Anderen nicht verdenken, wenn wir zun\u00e4chst, wenn es sich um Erziehung handelt, mit dieser \u201esocialen Psyche\u201c als Abstractum noch als mit einer X-Gr\u00f6fee rechnen. Denn in unserer Erfahrungswelt \u2014 B. will ja nur auf dieser seine Socialp\u00e4dagogik aufbauen \u2014 \u201efindet sich Gesellschaftsseele als Be wufstseinsindividuum nicht\u201c. Das naturwissenschaftliche Denken hat eben auch seine Metaphysik. Im Ganzen ist es nicht richtig, dafs die bisherige P\u00e4dagogik den Menschen nicht als Mitglied der Gesellschaft (\u00c7\u00fcov ttoLuxov des Aristoteles) betrachtet und gewerthet hat Sie hat sich von Ueber treibungen ferngehalten wie \u201eder einzelne Mensch ist nur als abstracter Begriff denkbar, er existirt in Wirklichkeit nicht\u201c oder \u201enur sociale Er Ziehung kann ein sinnvolles Thun genannt werden\u201c. Aber sie war sich stets die Beziehungen des Individuums zur Gesellschaft bewufst, und indem sie mit Recht allein das Individuum f\u00fcr erziehbar hielt \u2014 anders wird es k\u00fcnftig auch nicht w\u2019erden \u2014 hat sie doch die Ziele dieser Erziehung stets mit R\u00fccksicht auf das Gemeinschaftsleben gesteckt und bestimmt\nDer Verf. legt besonderes Gewicht darauf, \u201edafs er die sociale P\u00e4dagogik auf die breite Basis der Erfahrungswissenschaft stellt und durchgehend\u00ab auf dem sicheren Wege der Induction weiterschreitet Nicht aus irgendwelchen kritisch-philosophischen oder sonstigen Voraussetzungen werden p\u00e4dagogische Principien hergeleitet, sondern die f\u00fcr die Erziehungslehre in Betracht kommenden Grunds\u00e4tze werden gewonnen als Ergebnisse, als Consequenzen von Erfahrungstatsachen, und zwar von Thatsachen der \u00e4ufseren Erfahrung.\u201c\nDie P\u00e4dagogik auf den Boden der Erfahrung zu stellen ist gewife richtig und kann fruchtbar sein, und inductiv denken ist meist ein sicherer Weg; aber diese Gedanken sind doch nicht neu, namentlich so weit es die psychischen Processe und ihre Beobachtung im Unterrichte betrifft; diese Zeitschrift, die von Ziehen und mir herausgegebene Sammlung und andere Schriften und Zeitschriften enthalten daf\u00fcr Beweise in H\u00fclle und F\u00fclle. Dafs wir aber trotzdem heute schon im Stande seien, ein System der P\u00e4dagogik, ich sage absichtlich nicht der socialen P\u00e4dagogik, rein auf Erfahrungen und Beobachtungen in ausreichender Menge aufzurichten, diese Frage wird jeder k\u00f6nnen, bestimmt verneinen. Da in Bjkhqkmaxn\u2019s Back","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n451\nVie bei den meisten Erziehungsreformen d\u00e9r Unterricht bedeutend hinter dieErzieh\u00fcng^zur\u00fccktritt, so ist auch nicht daran zu denken, dafs er etwa den Versu&i gemacht h\u00e4tte, den Unterricht anders als in grofsen Z\u00fcgen auf Erfahr\u00fcngsthatsachen zu begr\u00fcnden. Diese Erfahr\u00fcngsthatsachen kommen vielmehr da in Betracht, wo es sich um Dinge wie den Aufbau der geistigen und k\u00f6rperlichen Entwickelung handelt; dabei galten aber den Anthropologen vielfach Hypothesen, selbst umstrittene \u2014 und w'elche w\u00e4re hier nicht umstritten? \u2014 als Thatsachen, auf \u201edie Schl\u00fcsse begr\u00fcndet werden, die allerdings ganz sicher correct sind, wenn man \u2014 nur erst ihre Unterlage zugiebt. \u25a0 Nicht vereinzelt werden aber dabei Beobachtungen und ihre Ergebnisse als Thatsachen verwandt, die lange nicht ausgedehnt und umfangreich genug sind, um auf Allgemeingeltung Anspruch zu haben; Selbstverst\u00e4ndlich soll nicht bestritten werden, dafs in anderen Fragen der Sachverhalt weit g\u00fcnstiger liegt, und dafs Bergemann auch recht h\u00fcbsche Dinge mit seinem Verfahren erarbeitet hat. Meines Erachtens h\u00e4tte er viel richtiger gehandelt, wenn er Fragen wie die Abstammung des Menschen vom Affen noch nicht als wissenschaftliche Thatsachen verwerthet, und wenn er so wenig begr\u00fcndete Hypothesen, wie dafs des Wachsthum des Gehirns gr\u00f6fsere k\u00f6rperliche Zartheit und eingeschr\u00e4nkte FortpflanzungSr kraft mit sich gebracht habe, und seiner Socialp\u00e4dagogik weggelassen h\u00e4tte; denn f\u00fcr diese ist es doch g\u00e4nzlich einerlei, ob der Mensch vom Affen stammt, oder ob das Wachsthum des Gehirns die Fortpflanzung beeintr\u00e4chtigt hat: Das System wird dadurch nicht haltbarer, und die heutige \u201eIndividual- und Volksseele\u201c dadurch nicht anders.\nSeine materialistische Ansicht \u00fcber Seele und Gottheit dr\u00e4ngt er in schroffer Weise hervor; dies ist ja allerdings seine Sache, er h\u00e4lt es f\u00fcr seine Pflicht, und gar mancher wird den \u201eMuth der Ueberzeugung\u201c preisen, der freilich heute nicht grofs zu sein braucht. Aber B. darf sich auch nicht wundern, wenn sein Werk nicht die Verbreitung findet und die Wirkung \u00fcbt, die vielen Partieen desselben zu w\u00fcnschen w\u00e4re. Denn die naturwissenschaftliche Methode vermag die eigentlich geistigen Vorg\u00e4nge auch nicht befriedigend zu erkl\u00e4ren, und sie setzt mannigfach nur eine neue Metaphysik an Stelle der bisherigen. Jedenfalls wird B. nicht viel Zustimmung finden, wenn er die Forderung absoluter Religionsfreiheit seitens des modernen Culturmenschen damit begr\u00fcnden will, \u201eweil er weifs, dafs in dieser Hinsicht Alles Gef\u00fchlssache und Phantasiewerk ist, dafs wir \u00fcber die letzten Dinge nichts wissen k\u00f6nnen, dafs die Religion nur eine Randverzierung f\u00fcr das Leben bedeutet\u201c. Auch die geradezu feindselige Art, wie er sich \u00fcber Christus und Christenthum \u00e4ufsert, erscheint mir insofern ungerecht, als er selbst doch Duldung f\u00fcr seine von denen der meisten Menschen weit abweichenden Ansichten fordert. Warum die verletzen, die hierin anderer Meinung sind? Das Christenthum \u2014 und sagen wir auch die Kirche \u2014 hat auf socialem Gebiete grofse Verdienste, und wenn es hier nur langsam falsche Ueberlieferungen beseitigt hat, so hat es jedenfalls weiser und erfolgreicher gehandelt, als unsere \u201eSocialp\u00e4dagogen\u201c, die neue ideelle Verh\u00e4ltnisse so schroff construiren, dafs sie ihre Ausf\u00fchrung selbst so lange f\u00fcr unm\u00f6glich erkl\u00e4ren, bis die \u201evorhandene Gesellschaft\n10*","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nLiteraturbericht.\nerst hinweggefegt und durch eine Gesellschaft ersetzt sein wird, die auf ihre Fahne das Losungswort geschrieben hat : alle f\u00fcr einen und einer f\u00fcr alle.\u201c F\u00fcr einen ruhigen Denker ist dieser Tag doch wohl noch unabsehbar fern \u2014 \u00fcbrigens im Wesentlichen nichts anderes als die Idealforderung des alten Christenthums.\nEbenso utopistisch ist meines Erachtens das Steckenpferd dieser Socialp\u00e4dagogen, die allgemeine Volksschule. B. fafst in sehr maafsvollem Sinne Vererbung und Variation auf, er untersch\u00e4tzt nicht die Bedeutung der Dispositionen und das Milieus f\u00fcr die Erziehung und nat\u00fcrlich auch f\u00fcr den Unterricht. Trotzdem ist aber die allgemeine Volksschule sein Ideal. Das allgemeine Gerede von dem grofsen socialen Werte der allgemeinen Volksschule mit ihrer vers\u00f6hnenden Ausgleichung der Classen gegens\u00e4tze sollte man doch endlich einmal ruhen lassen, da es jeder that s\u00e4chlichen Unterlage entbehrt. Der S\u00fcden Deutschlands hat im 19. Jahrhundert nie eine andere als die allgemeine Volksschule gekannt, und in ganz Deutschland besitzt \u00fcberhaupt nur J/5 der h\u00f6heren Schulen Vorschulen, in 4/a gelangen die Kinder nach dem 8\u20141j\u00e4hrigen Besuch der allgemeinen Volksschule. Ist es denn nun etwa im S\u00fcden oder im Norden gelungen, die Classengegens\u00e4tze aus der Welt zu schaffen? Nein, und es wird der allgemeinen Volksschule nie gelingen, so lange nicht der socialdemokratische Zwangsstaat existirt, und selbst dieser wird es nicht k\u00f6nnen, wenn er nicht die Cultur vernichten will. Dazu kommen aber gerade neuerdings noch sehr interessante Erfahrungen, die jenem Gerede jeden Boden entziehen. In Mannheim hat man, dem Phantom der allgemeinen Volksschule zu Liebe, den Lehrplan in Rechen- und Realienunterricht etwas erweitert. Die Folge war, wie nach 15 j\u00e4hriger Erprobung festgestellt wurde, \u201edafs 66\u00b0'0 der Sch\u00fcler die Oberclaese nicht erreichten oder nicht absolvirten. Da suchte man zu helfen mit der Gr\u00fcndung von Qualit\u00e4tsschulen d. h. von 4., sp\u00e4testens 5. Schuljahre ab sollten die besseren Sch\u00fcler jeder Classe ausgesondert, zu Eliteclassen vereinigt und nach einem erweiterten Lehrplan unterrichtet werden, w\u00e4hrend der grofsen Masse eine bescheidenere Kost servirt w\u00fcrde.\u201c Kann es eine schlagendere Kritik f\u00fcr die Utopie der allgemeinen Volksschule geben? Noch interessanter sind die in M\u00fcnchen mit der allgemeinen Volksschule gemachten Erfahrungen. Diese ist hier besonders rein durchgef\u00fchrt; es giebt weder Vorschulen noch Mittelschulen. \u201eDie M\u00fcnchener Volksschulen z\u00e4hlten in der IV. Classe (4. Schuljahr) im Durchschnitt der letzten 5 Jahre ungef\u00e4hr 3000 Knaben und in der VII. (letztes Schuljahr) 1000, d. h. */* aller unserer Knaben wendet sich zun\u00e4chst den Mittelschulen (Gymnasien und Realschulen) in. Nun nimmt jedes Gymnasium in M\u00fcnchen in den letzten 5 Jahren im Durchschnitt 160 Kinder auf. Die 4. Klassen (Tertien) z\u00e4hlen mit auffallender Uebereinstimmung bereits nur mehr % der Aufgenommenen, und an das Endziel der Oberclassen gelangt nur 1]i. Noch ung\u00fcnstiger steht es an den Realschulen, an welchen bei einer mittleren Aufnahme von 230 Sch\u00fclern per Anstalt und Jahr in der 4. Classe (Tertia) nur mehr */5 der Auf-genommenen und in der Oberclasse nur mehr */&\u20147e zu finden ist.\u201c Was hilft es, date \u201ediese \\ o\\kaae\\iv\\e\\v &\\e VAwdsx aller Gesellschaftselemente aufnehmen, vom YWratew \\yv& \u25a0lwov\txssA","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Li ter a tur bericht.\n453\nTagl\u00f6hnerskind\u201c daraus wegl\u00e4uft, sobald es \u00fcberhaupt nur m\u00f6glich ist? Ist hier der Name \u201eallgemeine Volksschule\u201c nicht geradezu ein Hohn ?\nIch habe vorhin von dem socialdemokratischen Zukunftsstaate gesprochen; der Zwang in dem socialp\u00e4dagogischen w\u00e4re nicht minder grofs. Hier sollen die Lehrer der allgemeinen Volksschulen die Entscheidung erhalten, ob die Sch\u00fcler in eine h\u00f6here Schule \u00fcbertreten d\u00fcrfen oder nicht. Und diese Tyrannei der Lehrer noch obendrein in einer Sache, in der jeder vorsichtige Mensch gerne sich ein Urtheil erspart sieht, n\u00e4mlich in der Entscheidung \u00fcber die m\u00e4fsige Entwickelung eines Kindes. Diese Tyrannei der Schule ist \u00fcberhaupt heute eine grofse Gefahr, gerade wie die der Aerzte. Unsere Socialm\u00e4nner scheinen \u00fcber ihren Utopien gar nicht zu bemerken, dafs sie dabei nur f\u00fcr die Socialdemokratie oder f\u00fcr die Kirche arbeiten ; denn diese werden sich der geschaffenen Machtmittel eines Tages zu ihren Zwecken bem\u00e4chtigen. Mit nicht geringerer Macht wird die \u201eGesellschaft\u201c ausgestattet. Sie darf den Eltern, die ihre Kinder nicht richtig erziehen, diese wegnehmen, und da die Erziehung mit der Schule nicht aufh\u00f6rt, so darf sie auch das Halten von Dienstboten und Lehrlingen verbieten, wenn Dienstherrschaften und Lehrherren nicht richtig erziehen. Ja sogar die Ehe soll allen nicht v\u00f6llig gesunden Personen von der \u201eGesellschaft\u201c verboten werden. Leider wird das Eheverbot nicht die Kindererzeugung hindern, und darum ist es nicht nur th\u00f6richt, sondern geradezu unsittlich; denn den Kindern wird der Makel der Unehelichkeit und der Nachtheil einer jedenfalls nicht besseren Pflege als bei ihren ver-heiratheten Eltern zugef\u00fcgt. Vielleicht kommt ein sp\u00e4terer Sozialreformer noch einmal zu dem Vorschl\u00e4ge der Castration; der w\u00e4re wenigstens wirksamer und \u2014 consequenter. Dafs es auch ein Eecht der Freiheit giebt, davon weifs der echte Socialist nichts. Und wer ist diese \u201eGesellschaft\u201c, die mit dieser Dictatur ausgestattet wird? Worauf wird die Unfehlbarkeit ihrer Entscheidung begr\u00fcndet? In letzter Linie stets auf die Machtfrage des sic volo sic jubeo, stat pro ratione voluntas.\nAn Erziehern fehlt es allerdings der socialp\u00e4dagogischen Gesellschaft nicht; dann, sagt B., alle Menschen sind Erzieher; er scheidet nur zwischen berufsm\u00e4fsigen und gelegentlichen. Alle berufsm\u00e4fsigen Erzieher (Schul-und Anstaltserzieher) stehen sich in Rang und Gehalt gleich, m\u00fcssen ein Gymnasium absolvirt und auf der Universit\u00e4t P\u00e4dagogik studirt haben. Gewifs ein freundliches Bild, aber \u201ees w\u00e4r zu sch\u00f6n gewesen\u201c etc. Und die gelegentlichen? Wie sollen sie auf die H\u00f6hen der Socialp\u00e4dagogik erhoben werden? Durch die Presse und freie Vereinigungen zu Erziehungszwecken. Wieder ein sch\u00f6ner Optimismus, der nur leider die Frage nicht beantwortet, wie man eine Presse mit solchem Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr das Erziehungswerk und solch\u2019 normativem Charakter schafft und \u2014 wer sie liest.\nBei der Erziehung wird dem Weibe eine bedeutende Rolle zugewiesen, gewifs mit Recht. Aber die Begr\u00fcndung klingt seltsam \u201eweil es dem kindlichen Typus n\u00e4her stehe.\u201c Und nun kommen die anatomischen, physiologischen und psychologischen angeblichen Minderwerthigkeiten des Weibes, die man zum grofsen Theile doch nicht als erwiesene Thatsachen betrachten kann, da dar\u00fcber die gr\u00f6fsten Meinungsverschiedenheiten bestehen. W\u00fcrde ein verst\u00e4ndiger und erfahrener Mensch etwa die erzieherische","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nLi ter a turbericht.\nVeranlagung des Weibes insbesondere f\u00fcr bestimmte Altersstufen in Abrede stellen, wenn auch hundertmal bewiesen w\u00e4re, dafs dessen Gehirnstructur und Gehirngewicht anders sei als die des Mannes?\nAuch sonst liefse sich \u00fcber gar vieles streiten. B. hat zwar ganz mit Recht die Uebersch\u00e4tzung der Phantasieth\u00e4tigkeit im fr\u00fchen Kindesalter verworfen. Aber er geht nach der anderen Seite viel zu weit, wenn er z. B\u00bb die Kindersprache lediglich ein Werk der Ammen und M\u00fctter nennt; denn zweifellos erfinden Kinder mit ihren eigenartigen Wortschatz. Ebenso ist es Uebertreibung, wenn er behauptet, das Kind sei in seinen ersten Lebensjahren reiner Empirist, besitze gar keine Phantasie. Denn es ist gar nicht zu bestreiten, dafs nicht wenige Kinder schon sehr fr\u00fch die com-binirende Th\u00e4tigkeit \u00fcben.\nAber ich will nicht mit dem Bestreitbaren schliefsen. Abgesehen von dem, was freilich f\u00fcr den Verf. das Wesentlichste ist, von den unsicheren allgemeinen Grundlagen, auf denen das System ruht, ist das Buch durchaus werthvoll. Es enth\u00e4lt einen reichen Schatz an erfahrungsm\u00e4fsigem Wissen, und zwar an Wissen, wie es in den meisten Lehrb\u00fcchern der P\u00e4dagogik fehlt. Es stellt eine Menge von Problemen, zu denen der Leser Stellung nehmen mufs, es ist dabei klar und leicht verst\u00e4ndlich; freilich die Schulterminologie, hier die naturwissenschaftliche, erh\u00f6ht, wie in philosophischen Schriften die philosophische, \u00f6fter das Verst\u00e4ndnifs nicht. Es giebt endlich viele L\u00f6sungen von Erziehungsfragen, denen ich nur beistimmen kann, so sehr sie der gedankenlosen Routine in unseren Schulen und in unserer Erziehung widersprechen; der Verf. sieht dabei weder rechts noch links, sondern er sucht einfach die Wahrheit.\nDie \u00e4ufsere Anlage ist durchaus \u00fcbersichtlich. In 4 Theilen werden zuerst die p\u00e4dagogischen Grundbegriffe in ihrer erfahrungswissenschaftlichen Ableitung, dann die socialen Grundlagen der Erziehungslehre entwickelt. Der 3. Theil giebt den theoretischen Aufbau der socialen Erziehungslehre als Culturp\u00e4dagogik, der 4. behandelt Kinderschutz und Volkserziehung. Der 1. Theil h\u00e4tte erheblich k\u00fcrzer sein k\u00f6nnen, da er meist selbstverst\u00e4ndliche Fragen mit unn\u00f6thiger Breite behandelt ; dasselbe gilt grofsentheils von dem 2. Theile, wo ebenfalls nicht selten mit Kanonen nach Spatzen geschossen wird.\tSchiller (Leipzig).","page":454}],"identifier":"lit32339","issued":"1902","language":"de","pages":"449-454","startpages":"449","title":"P. Bergmann: Sociale P\u00e4dagogik auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage und mit H\u00fclfe der inductiven Methode als universalistische oder Kulturp\u00e4dagogik dargestellt. Gera, Hofmann, 1900. 615 S","type":"Journal Article","volume":"27"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:27:06.465832+00:00"}