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{"created":"2022-01-31T16:31:31.355936+00:00","id":"lit32380","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Kramer","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 38: 222-225","fulltext":[{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nLitcratwbericbt.\nwegungsimpuls \u2014 gleichg\u00fcltig wie und wo er in der Hirnrinde entstehen m\u00f6ge \u2014 str\u00f6mt nicht ohne weiteres einer einzigen Muskelgruppe zu. Er bringt vielmehr eine Anzahl von Muskeln in Aktion, Agonisten und Antagonisten; er erzeugt synergische Muskelbewegungen, indem die eine Bewegung der anderen Bewegung als Hilfsbewegung angereiht wird. So ist z. B. immer (cfr. die Versuche Herings und Sherrington s am Affen) die Fanstbildung mit einer Streckbewegung der Hand verbunden. Bedarf aus irgend welchem Grunde der Willensimpuls einer Btarken Energie und ist der Weg zu der zu bewegenden Muskelgruppe irgendwie verlegt, so findet entweder eine Irradiation der intendierten Bewegung auf andere benachbarte Muskelgruppen statt oder es tritt b lofs die Hilfsbewegung in die Erscheinung, w\u00e4hrend die eigentliche intendierte Bewegung nicht zustande kommt. \u201eInfolge des unbedingten Strebens des Organismus nach Ausf\u00fchrung der Bewegung werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, die geeignet sind den Effekt zustande zu bringen . .\nDie vielfach existierenden subkortikalen Verbindungen der einzelnen motorischen Zellengruppen untereinander bringen weitere Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten f\u00fcr die Entstehung der Mitbewegungen herbei. Subkortikale Reflexe vermitteln einen Teil der Mitbewegungen und zwar in automatischer Weise der Art, dafs die Unterdr\u00fcckung derselben selbst dem Gesunden sehr schwer wird, bei Erh\u00f6hung der Reflexerregbarkeit durch Unterdr\u00fcckung der Grofshirnt\u00e4tigkeit geradezu unm\u00f6glich wird; so lassen sich z. B. bei manchen Hemiplegikern die Finger nicht passiv beugen, ohne dafs gleichzeitig eine Streckung der Faust erfolgt.\nDie zentripetalen Einfl\u00fcsse spielen eine grofse Rolle, wenn es gilt den Ablauf der normal auftretenden unzweckm\u00e4fsigen Muskelbewegungen durch rechtzeitig erteilte Gegenimpulse zu neutralisieren. Bei Tabes, Chorea und bei all denjenigen Erkrankungen, bei denen die sensiblen Projektions-felder keine gen\u00fcgenden Nachrichten von den Vorg\u00e4ngen an der Peripherie zu erfahren imstande sind, werden wir deshalb eine Steigerung der unzweck-m\u00e4fsigen Mitbewegungen beobachten k\u00f6nnen \u2014 es zeigt sich deshalb gerade bei diesen Kranken, dafs wesentlich nur solche Muskelgruppen miterregt werden und solche Glieder Mitbewegungen ausftthren, welche an\u00e4sthetisch sind. F\u00f6bster glaubt noch die Existenz besonderer Inhibitionsfasern aufstellen zu m\u00fcssen, welche reflectorisch die T\u00e4tigkeit der Synergisten regulieren sollen. Ref. erscheint die Aufstellung dieser hypothetischen Bahnen ein Postulat zu sein, das weder physiologisch noch klinisch gefordert zu werden braucht.\nDie Mitbewegungen scheinen einem allgemein-physiologischen Prinzipe zu entspringen: wenn der Organismus eine Bewegung ausf\u00fchren will, so scheint er m\u00f6glichst viele und \u201ea priori eher zu viele als zu wenige\u201c Mittel heranzuziehen. \u201eDie Wahl unserer Bewegungsmittel bedeutet ein Suchen und dabei tritt ein gewisser Mangel an \u00d6konomie zutage.\u201c\t___________Merzbacher (Heidelberg).\nPaul Solu er. L\u2019Hyst\u00e9rie et son traitement Paris, Alcan. 1901. 294 8.\nDas vorliegende Buch ist in seinem gr\u00f6fsten Teile der Behandlung der Hysterie gewidmet. In den ersten 57 Seiten setzt Verf. Beine theoretischen","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Litcraturbericht.\n223\nAnschauungen aber die Hysterie, die er bereits fr\u00fcher in seiner \u201eGen\u00e8se et la nature de l\u2019hysterie (1897)\u201c geschildert hat und auf der seine therapeutischen Prinzipien basieren, auseinander. Er wendet sich zun\u00e4chst gegen die verschiedenen psychologischen Theorien der Hysterie und weist einerseits nach, wie wenig sich die Anh\u00e4nger dieser Theorien untereinander einig Bind und wie wenig andererseits die herangezogenen psychologischen Gesichtspunkte, wie Vorstellungsausfall, Einengung des Bewufstseinsfeldes, Verdopplung der Pers\u00fcnlichkeit u. a. geeignet sind, die Menge der hysterischen Symptome zu erkl\u00e4ren. Alle begehen den Fehler, dafs sie ein richtig konstatiertes psychisches Symptom als Ursache der ganzen Erkrankung auffassen, w\u00e4hrend wir es hier nur mit einem Begleitsymptom, einem Effekt des der Hysterie zugrunde liegenden Prozesses zu tun haben. Eine rein psychologische Theorie ist \u00fcberhaupt nicht imstande, die Hysterie zu erkl\u00e4ren, wir m\u00fcssen nach einer physiologischen Grundlage suchen, die imstande ist, alle physischen und psychischen Symptome der Hysterie aus einem Gesichtspunkte heraus zu erkl\u00e4ren.\nEine solche physiologische Theorie hat nun Verf. aufgestellt. Nach seiner Ansicht besteht das Grofshirn aus zwei Teilen, dem organischen und dem psychischen Gehirn. Das erstere enth\u00e4lt die Projektionsfelder des gesamten K\u00f6rpers, sowohl die bisher bekannten motorischen, sensiblen und sensorischen Gebiete, aber auch aufserdem die vasomotorischen und viszeralen Projektionen. Dem psychischen Gehirn, das den Stirnteil einnimmt, f\u00e4llt die Aufgabe zu, die aus diesen Gebieten stammenden Erregungen zu sammeln, zu verarbeiten und zu vereinigen. Wird das organische Gehirn von der Peripherie aus erregt, so haben wir eine Empfindung, wird es vom psychischen Gehirn aus erregt, eine Vorstellung. Das Wesen der Hysterie besteht nun darin, dafs die verschiedenen Gehirnteile in ihrem Zusammenarbeiten gest\u00f6rt sind. Diese St\u00f6rung besteht in einer Hemmung der Funktion. Durch eine Hemmung der entsprechenden Projektionsfelder lassen sich die motorischen und sensiblen Ausf\u00e4lle erkl\u00e4ren. Wir haben es in solchen F\u00e4llen mit einem VorBtellungsausfall zu tun. Um nun auch diejenigen Erscheinungen zu erkl\u00e4ren, wo es Bich nicht um einen Vorstellnngsausfall, sondern im Gegenteil eine \u00fcberm\u00e4fsig haftende Vorstellung handelt, wo die psychologischen Theorien meinen, dafs die Vorstellung des betreffenden Sympt\u00f4mes das Symptom selbst hervorruft, mufs Verf. den Begriff der Hemmung noch etwas erweitern. Durch die Hemmung wird ein Gehirnzentrum nicht notwendigerweise zur Funktions-Unf\u00e4higkeit gef\u00fchrt, sondern es kann im Gegenteil in seiner Funktion fixiert werden, so dafs diese in abnormer Dauer bestehen bleibt. In \u00e4hnlicher Weise werden dann durch die Hemmung einzelner Gehirn teile die verschiedenen von den psychologischen Theorien in den Vordergrund gehobenen Tatsachen, wie Verdopplung der Pers\u00f6nlichkeit, Suggestibilit\u00e4t, Einengung des Bewufstseinsfeldes etc., sowie auch die \u00fcbrigen Erscheinungen der Hysterie abgeleitet.\nDer Hemmungszustand pflanzt sich bei Beiner Entwicklung entsprechend der Lage der einzelnen Gehirnteile fort Verf. will dieseB Verhalten bei einer grofsen Anzahl von F\u00e4llen konstatiert haben, indem die","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nLitera turberich t.\nEntwicklung der hysterischen Symptome entsprechend dem Nebeneinanderliegen der bekannten Gehirnzentren verlief, und nachdem er dieses Prinzip einmal anerkannt hatte, war er dann auch imstande, aus der Aufeinanderfolge der Symptome die Lage der unbekannten Projektionsfelder z. B. der inneren Organe zu bestimmen und entwirft dementsprechend ein Schema der Gehirnoberfl\u00e4che. Beim Verschwinden folgen die Symptome derselben Reihenfolge.\nUm dem Verst\u00e4ndnis des Hemmungszustandes etwas n\u00e4her zu kommen, zieht Verf. als Analogon den normalen Schlaf heran. Er meint, dafs es sich bei der Hysterie um einen partiellen Schlaf des Gehirns, um einen Schlafzustand einzelner Gehirnzentren handelt. Fflr diesen Zustand schl\u00e4gt er als Namen, weil die Patienten den Eindruck von wachen Menschen machen, Vigilambulismus vor. (Dieser Name mufs als recht unzweckm\u00e4\u00dfig gew\u00e4hlt erscheinen; denn aus dem Worte Somnambulismus, dem die Bezeichnung offenbar nachgebildet ist, wird ja gerade das Schlafmoment, auf das es dem Verf. ankommt, eliminiert, und wenn man es w\u00f6rtlich \u00fcbersetzt, kann man ja unter Vigilambulismus nur einen Zustand verstehen, wo jemand in wachem Zustande herumgeht, ein Verhalten, das wohl niemand als pathologisch betrachten wird.) Ale wichtigstes Zeichen des Schlaf-zustandes sieht Verf. die An\u00e4sthesie, welche die Hysterischen zeigen, an. Die Therapie hat darin zu bestehen, das Gehirn zum Aufwachen zu bringen. Ein vollkommenes Aufwachen ist erst dann erzielt, wenn jegliche Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rung verschwunden ist.\nIn seiner Opposition gegen die psychologischen Theorien der Hysterie ist wohl Verf. nach mancher Richtung etwas zu weit gegangen. Die Anh\u00e4nger dieser Theorien sind sich doch wohl alle dar\u00fcber im klaren gewesen, dafs den von ihnen konstatierten psychischen Ver\u00e4nderungen auch Ver\u00e4nderungen der Gehirnfunktion zugrunde liegen m\u00fcssen; sie haben diese nur als f\u00fcr uns vorl\u00e4ufig unzug\u00e4nglich aufser Betracht gelassen. Die Frage dreht sich ja vor allem darum, ob sich die der Hysterie zugrunde liegenden physischen Funktionsst\u00f6rungen auf das physische Substrat der Bewufstseinsvorg\u00e4nge beschr\u00e4nken oder nicht. Im ersteren Falle w\u00e4re es zweifellos richtiger und fruchtbringender zun\u00e4chst nur die psychischen \u00c4quivalente dieser Ver\u00e4nderungen als bei weitem besser zug\u00e4nglich und fafsbar in Betracht zu ziehen, als sich in durchaus hypothetischen und meist ziemlich nichtssagenden physiologischen Hypothesen zu bewegen. Diese Voraussetzung scheint ja allerdings nicht erf\u00fcllt zu sein und man kann darum dem Verf. wohl beiBtimmen, wenn er auf die Unzul\u00e4nglichkeit wenigstens der bisher aufgestellten psychologischen Theorien der Hysterie hin weist. Ein strikter Gegensatz zwischen beiden Arten von Theorien kann aber nicht zugegeben werden, da eben beide nur die Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus ansehen.\nDas, was uns nun Verf. als seine physiologische Theorie gibt, bietet uns allerdings auch ziemlich wenig. Die Ausdr\u00fccke \u201eHemmung\u201c und \u201epartieller Schlaf\u201c, von denen Vert selbst zugibt, dafs wir bei diesen Worten stehen bleiben m\u00fcssen, ohne uns etwas genaueres darunter vorstellen zu k\u00f6nnen, besagen ja f\u00fcr das Wesen der Erkrankung sehr wenig.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Litera turberich t.\n225\nWenn das Wesen der Hemmung nicht nur in einer Funktionsherabsetzung besteht, sondern, wie es Verf. tut, auch als eine Fixierung in der Funktion, also eigentlich Funktionssteigerung aufgefafst wird, so besagt es eigentlich nicht viel mehr, als Funktionsst\u00f6rung \u00fcberhaupt, und die Bezeichnung \u201epartieller Schlaf\u201c kann uns, da sie ja schliefslich nur ein Gleichnis mit einem uns ebenfalls durchaus unverst\u00e4ndlichen Zustande darstellt, auch nichts wesentliches mehr bieten. Wir erfahren also eigentlich nicht mehr, als dafs die Hysterie in einer Funktionsst\u00f6rung unbekannter Natur im Bereiche des Gehirns besteht; also eine Auffassung, die wohl die allgemein verbreitete ist.\nIm einzelnen bietet sonst das Buch viel Interessantes. Die Analyse der einzelnen Symptome und die Art wie Verf. dieselben aus seiner Anschauung ableitet und wie er auf allem diesem sein therapeutisches Verfahren aufbaut, gibt besonders dem Praktiker viel Anregung.\nAuf die Einzelheiten des therapeutischen Teiles einzugehen, er\u00fcbrigt sich wohl, da dieser \u00fcber den engeren Fachkreis hinaus kaum von Interesse iBt.\tKrameb (Breslau).\nG. Wolf*. Psychiatrie and Dlchtkanst. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 22. 1903.\nMit Interesse mufs man dem Vortrag eines Psychiaters folgen, der die Psychiatrie treibenden Dichter in Schutz nimmt. Nicht mit kleinlichen Argumenten des \u00fcberlegenen Fachmannes m\u00fcssen die Produktionen des Dichters auf diesem Gebiete gemessen werden, sondern von einem allgemeinen \u00e4sthetischen Standpunkt aus, der den Anforderungen des grofsen Publikums den Aufgaben der Dichtkunst gegen\u00fcber gerecht wird. Der Fachmann tritt an eine Pr\u00fcfung heran, nicht um die G\u00fcte des Kunstwerkes nach der mehr oder weniger getreuen Darstellung der Psychose messen zu wollen, sondern um zu erl\u00e4utern, warum gerade der Dichter sich so h\u00e4ufig veranlagst f\u00fchlt, der Darstellung Geisteskranker, sei es als Tr\u00e4ger der ganzen Handlung, sei es mehr episodenhaft f\u00fcr die Bestimmung der Entwicklung der Handlung, seine Kraft widmet und dann um weiter die freie, ziel-bewuJtste Sch\u00f6pfungskraft des Dichters zu illustrieren, indem er den Kranken des Dichters mit dem Kranken der Klinik vergleicht. Auf diesem Standpunkt stehend kommt W. zu den scheinbar paradox klingenden S\u00e4tzen: den Dichtern ist eine F\u00e4lschung psychiatrischer Krankheitsbilder im Dienste der Dichtkunst nicht nur erlaubt, sondern sie sind sogar dazu verpflichtet; eine wahrheitsgetreue Darstellung vertr\u00e4gt sich mit den Aufgaben der Dichtkunst nicht; gerade jene Dichter, denen wir am meisten unseren Beifall zollen, wirken auf uns, indem sie die Krankheit ihrer Helden nach ihrer eigenen Vorstellung umschaffen.\nDer Dichter, der \u201edie menschliche Seele in ihren H\u00f6hen und Tiefen, in allen ihren Lebens\u00e4ufserungen\u201c zum Gegenstand Beiner Betrachtung macht, wird auch jene \u00c4ufBerungsform heranziehen, die, sei es durch das Vorwalten eines Affektes, sei es durch die m\u00e4chtige Leitung infolge irgend einer Wahnidee, einer besonderen dramatischen Gestaltung f\u00e4hig sind. Solange die Darstellung der Geisteskrankheit keiner anderen Mittel sich bedient als derjenigen, die uns aus dem Spiele unserer gew\u00f6hnlichen Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 88.\t15","page":225}],"identifier":"lit32380","issued":"1905","language":"de","pages":"222-225","startpages":"222","title":"Paul Sollier: L'Hyst\u00e9rie et son traitement. Paris, Alcan. 1901. 294 S.","type":"Journal Article","volume":"38"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:31:31.355942+00:00"}