Open Access
{"created":"2022-01-31T14:28:14.346804+00:00","id":"lit32474","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Cohn, J.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 37: 292-298","fulltext":[{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nLiUraturberieht.\nverbanden. Sie gewinnt ferner durch Heranziehung von Versuchspersonen verschiedener Altersstufen und verschiedenen Geschlechts besondere Ergiebigkeit. Die Diskussion der Versuchsergebnisse beruht auf einer psychologischen Analyse des Aussagevorganges, die eine Steigerung der Schirfe und Genauigkeit zwar noch recht gut vertrflge, f\u00fcr den vorliegenden Zweck doch wohl gen\u00fcgt. Sie gruppiert sich nach folgenden Gesichtspunkten:\n1.\tDie formalen Bedingungen der Aussage (Bericht und Verh\u00f6r. Suggestion).\n2.\tDer Inhalt der Aussage (Auslese des Stoffes, Zuverl\u00e4ssigkeit der Aussage, Interesse der Auffassung, Fehlerarten). 3. Differenzierung der Leistung und Konstanz der relativen Zuverl\u00e4ssigkeit. 4. Altersfortschritt (seine Diskontinuit\u00e4t und DisproportionalitBt, Umfang, G\u00fcte, Inhalt der Leistung und Altersfortschritt).\nDas Positive und Einzelne der Ergebnisse, das zum Teil recht bemerkenswert ist, kann hier nicht wiedergegeben werden.\nSonst sei nur noch folgendes bemerkt. Die Bestimmung des Wesens der Suggestion hatte k\u00f6nnen unter Ber\u00fccksichtigung neuerer Arbeiten (Mztnon\u00f6, Annahmen 1902) sch\u00e4rfere Fassung gewinnen als von den alteren Auffassungen M\u00fcnbtkbbkkgs aus. \u00dcbrigens ist gerade die h\u00fcbsche theoretische Behandlung der SuggeBtionBfragen beachtenswert. \u2014 Die in den Versuchen zutage tretende Konstanz der relativen Zuverl\u00e4ssigkeit (die\nf*\nKonstanz des Wertes \u2014r-j, wobei r die richtigen, f die falschen Angaben\nr+r\nbedeutet) hat meines Erachtens mit dem WsBBiischen Gesetze, dem sie der Verfasser als einen Spezialfall unterordnen mochte, nichts zu tun. Die theoretische Auswertung der Versuchsergebnisse leidet etwas darunter, daises noch immer an einem Vorgang fehlt, den Anteil der AuffasBungs(Merk-)fahigkeit der Versuchsperson von dem ihres Ged\u00e4chtnisses zu sondern. Die prim\u00e4re Aussage lediglich als Mals der Auffassungsfahigkeit zu betrachten \u2014 wozu der Verfasser bisweilen Neigung zu verraten scheint \u2014 ist kaum zul\u00e4ssig. Mit Schlagworten wie \u201eGed\u00e4chtnis ist Interesse\u201c ist nat\u00fcrlich nichts geleistet. \u2014 Dafs uns die Angabe der mittleren Variationen durchwegs vorenthalten wird, ist ein Mangel, der durch die zu erwartenden Kapitel \u00fcber die individuellen Differenzen \u2014 wenn sie nicht dort ausdr\u00fccklich nachgetragen werden \u2014 kaum wettgemacht werden kann. Die bemerkenswerten individuellen Differenzen k\u00f6nnen er\u00f6rtert werden, ohne dafs wir von der Streuung der Werte ein Bild erhalten. \u2014 Was die Darstellung anlangt, so hatte sie vielleicht gewonnen, wenn sie etwas weniger breit gehalten worden ware; die Lekt\u00fcre bliebe im Vergleich zu der manch anderer Arbeiten auch dann noch eine interessante, leicht belehrende, angenehme und gehaltvolle Erholung.\tWitaskk (Graz).\nThxodob Lipps. \u00c4sthetik. Psychologie des SchBnen and der Knast I. Grundlegung der \u00c4sthetik. Hamburg und Leipzig, Vofs. 1903. XIV u. 601 S. Lipps deutet bereits im Titel seines Werkes an, dafs ihm die \u00c4sthetik eine psychologische Disziplin ist; aber diese Begr\u00fcndung der \u00c4sthetik auf Psychologie bedeutet, wie man schon aus fr\u00fcheren Arbeiten dieses Forschen weifs, bei Lipps etwas wesentlich anderes als bei vielen anderen Psycho-","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n293\nlogisten. Denn L. will keineswegs das \u00c4sthetische dem Nicht\u00e4sthetischen m\u00f6glichst nahe bringen, sondern er erkennt die Sonderstellung des Schonen \u00fcberall an. So znnfs er mehr nnd mehr dazu kommen, bei der Ausbildung seiner psychologischen Theorien selbst darauf BOcksicht zu nehmen, dafs sie zur Grundlegung der \u00c4sthetik (und ebenso der Ethik und Logik) geeignet seien. Diese Stellungnahme sei hier nur zur Orientierung erw\u00e4hnt. In eine Diskussion dar\u00fcber will Bef. hier nicht eintreten, da er die ganze Frage der psychologischen Begr\u00fcndung der \u00c4sthetik anderswo bereits er\u00f6rtert hat.1 Hier sei nur hervorgehoben, dafs Lifps naturgem\u00e4fs zu einer Apperzeptionspsychologie kommt und die Verschiedenheit der Lustqualit\u00e4ten stark betont. In beiden Bichtungen hat sich bei ihm mehr Und mehr eine Ann\u00e4herung an die Theorien Wilhbi.ii Wundts vollzogen, und wir k\u00f6nnen beobachten, wie diese beiden systematischen Psychologen von so verschiedenen Ausgangspunkten her und bei einer gr\u00fcndlich verschiedenen Methode und Darstellungsart in beachtenswerter Weise zu \u00e4hnlichen Resultaten gelangen.\nIn der vorliegenden Grundlegung geht Lifps davon aus, die allgemeinen \u00e4sthetischen Formprinzipien von den h\u00f6chsten Gesetzen der Lust aus abzuleiten. Ihr allgemeinstes Gesetz formuliert Lipps (S. 10) : \u201eEin Grund zur Lust ist gegeben in dem Mafse, als psychische Vorg\u00e4nge \u2014 oder Komplexe von solchen \u2014 ... der Seele \u201enat\u00fcrlich\u201c sind. Lust begleitet die \u201epsychischen Vorg\u00e4nge\u201c in dem Mafse, als sie \u201eSelbstbet\u00e4tigungen\u201c der Seele sind.\u201c Aber die Quantit\u00e4t der Lust ist nicht nur abh\u00e4ngig von dem Grade des Entgegenkommens, das die Natur der Seele einem zu apperzipierenden Gegenst\u00e4nde gew\u00e4hrt, sondern gleichzeitig durch die psychische Quantit\u00e4t dessen, was zur Apperzeption gebracht werden soll. So verkn\u00fcpft Lipps hier den sehr bemerkenswerten Begriff einer allgemeinen psychischen GrOfse als des Anspruches, den ein Aufzunehmendes an unsere Aufnahmef\u00e4higkeit stellt, einen Begriff, den er in fr\u00fcheren Arbeiten ausgebildet hatte mit seinem allgemeinen Lustgesetz. Augenscheinlich wird dadurch jenes Gesetz auch modifiziert, da eine sehr grofse Leichtigkeit der Auffassung oft durch geringe psychische Gr\u00f6fse erkauft wird. Lipps unterscheidet nun weiter Elementargef\u00fchle, d. h. solche, die durch ein einfaches Element, z. B. eine Farbe, einen Ton, erregt werden, von Formgef\u00fchlen, die ihren Grund in den Beziehungen oder Verh\u00e4ltnissen der Teile eines Mannigfaltigen zueinander haben; nur die letzteren sind einer direkten Analyse zug\u00e4nglich. F\u00fcr die Elementargef\u00fchle stellt Lipps weiterhin Hypothesen auf, durch die sie zu den Formgef\u00fchlen in Analogie gesetzt werden. Die Formgef\u00fchle der Lust entstehen, wenn die Form eines Gegenstandes der seelischen Aufnahme entgegenkommt oder der Natur der Seele analog ist. Nun ist die Seele in erster Linie Einheit und verlangt daher Einheit. Die blofse Einheit jedoch w\u00fcrde zu wenig psychische Gr\u00f6fse und damit zu wenig Interesse haben, daher tritt zur Einheit die Mannigfaltigkeit. Aber Einheit und Mehrheit d\u00fcrfen nicht nur nebeneinander, sondern sie m\u00fcssen ineinander sein. Lipps sagt (8. 34): \u201eDie Seele ist eine gegliederte, d. h. nat\u00fcrlicherweise in ihrem Tun sich gliedernde oder differenzierende\n1 Arch. f. system. Philos. 10, 131\u2014169.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nLiteraturbtrickt.\nEinheit. Die Auffssaungswelse, die ihr nat\u00fcrlich ist, ist also \u2014 nicht die einheitliche Auffassung schlechtweg, sondern die gliedernde oder diffe renaierende. Diese schliefst beides rainai in eich, die vollkommene Einheit und die klare Besonderung.\u201c Ein Gegenstand, der dieser Natur der Seele entsprechen soll, mais also sich sur Einheitsapperzeption darbieten and zugleich zur klaren Sonderang seiner Teile auffordern und zwar dies beides nicht blofs nebeneinander, sondern in einem.\nEine Folge, in der Quadrate und quadrat\u00e4hnliche Rechtecke ab wechseln, befriedigt nicht, wohl aber eine Folge, die aus Quadraten und Kreisen besteht, wenn der Durchmesser des Kreises der Seite des Quadrats gleich ist. Diese Einheit kommt nun stets durch Unterordnung zustande. Unterordnen k\u00f6nnen sich entweder Teile dem Ganzen, z. B. die Seiten des Quadrats dem Quadrat, oder ein Teil dem anderen Teile, z. B. die k\u00fcrzere Ausdehnung des Rechteckes der l\u00e4ngeren. Die zweite Unterordnung nennt L\u00efpps monarchische Unterordnung. Bei dieser monarchischen Unterordnung ist hervorzuheben, dafa nicht nur das \u00dcbergewicht des Herrschenden in Betracht kommt, sondern auch die relative Bedeutsamkeit des Beherrschten. Denn ein Herrschen Ober Unbedeutendes ist nicht eindrucksvoll. So ergibt sich ein bestimmtes Verh\u00e4ltnis zwischen herrschendem und beherrschtem Glied als g\u00fcnstigstes. Dies Verh\u00e4ltnis ist f\u00fcr das Rechteck etwa bei 8 zu 13 d. h. beim sogenannten goldenen Schnitt vorhanden. Diese Erkl\u00e4rung (S. 66\u201467) ist insofern nur Scheinerkl\u00e4rung, als sie unbestimmt latst, warum das g\u00fcnstigste Verh\u00e4ltnis gerade bei 8 zu 13 und nicht z. B. bei 1 zu 2 oder 2 zu 3 erreicht ist. Lipps verfolgt die angedeuteten Prinzipien weiter in ihre Arten nnd Anwendungen, es ist hier leider nicht m\u00f6glich, auf diese sehr interessanten Ausf\u00fchrungen einzugehen.\nDiese ganze formale Betrachtungsweise ist im Sinne von Ln>pa nur eine einseitige Vorbereitung; er sagt (S. 96): \u201eDie \u00c4sthetischen Form-prinzipien sind aber nicht blofse Prinzipien einer sinnlichen Form. Im \u00c4sthetischen Objekt ist das Sinnliche jederzeit \u201eSymbol\u201c eines seelischen Inhaltes ; es ist belebt oder beseelt. Dadurch eist wird es zum \u00c4sthetischen Objekt und zum Tr\u00e4ger eines \u00c4sthetischen Wertes.\u201c Da der Lustcharakter der Erlebnisse darauf beruht, dafs sie meiner Seele nat\u00fcrliche Auffassangsbedingungen darbieten, ist es im Grunde meine Natur, die sich in der Lust ausBpricht. Das Lustgef\u00fchl ist Selbetwertgef\u00fchl. Wo ich ein Positives, ein Leben oder eine Lebensm\u00f6glichkeit in einem Objekte finde, da ist Grund zu positiven Gef\u00fchlen gegeben. Diese Gef\u00fchle werden nun \u00fcberall unmittelbar auf das Objekt bezogen, in das Objekt eingef\u00fchlt. \u201eDie vollkommene Einf\u00fchlung ist eben ein vollkommenes Aufgehen Meiner in dem optisch Wahrgenommenen und dem, was ich darin erlebe. \u2014 Solche vollkommene Einf\u00fchlung nun ist die \u00c4sthetische Einf\u00fchlung\u201c (S. 125). Lipps verfolgt nun diese Einf\u00fchlung vom Menschen ausgehend durch das ganze Gebiet der Naturgegenst\u00e4nde hindurch und gibt damit im zweiten Abschnitte seines Werkes gleichzeitig eine Theorie der Einf\u00fchlung und eine Lehre vom Natursch\u00f6nen. Hier k\u00f6nnen nur einige wichtige und bezeichnende Punkte herausgehoben werden. Bei der Genese des Verst\u00e4ndnisses der Ausdrucksbewegungen ist am schwersten zu verstehen, wie das Kind das -optische Bild der fremden Bewegung mit den ganz anders wahrgenommenen","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Liter aturbericht.\n296\neigenen Ausdrueksbewegungen in Zusammenhang bringt. Lipps nimtnt hier eine angeborene Verbindung zwischen Gesicbtsbild und Un\u00e4sthetischem Bilde an (S. 116 f.), auch nach Ansicht des Referenten der einzig m\u00f6gliche Ausweg. Lim ist bekanntlich ein entschiedener Gegner der Theorien, die einen wesentlichen Einfinfs unserer Organ- besonders Muskelempfindungen auf die Gef\u00fchle behaupten. Das tritt auch hier wieder hervor. Lipps gibt ausdr\u00fccklich zu, dafs beim Anblick fremder Bewegungen Mtiskelspannungen und entsprechende Empfindungen in mir auftre'ten, aber er weist aufs entschiedenste zur\u00fcck, dafs diese Empfindungen eine Bedeutung f\u00fcr das \u00c4sthetische Gef\u00fchl haben. Wenn ich \u00e4sthetisch f\u00fchle, mafs ich meinen K\u00f6rper und seine Empfindungen vergessen, darf nicht auf sie achten. Auch kann ich gar nicht Freude an diesen Organempfindungen haben, Freude habe ich nur an dem kraftvollen, leichten, inneren Tnn, and diese Frende ist \u00e4sthetisch, nur sofern ich sie ins Objekt hinein erlebe (8. 216\u2014219 vergleiche 120f., 130f.). W\u00e4hrend Lipps unbedingt darin Recht za geben ist, dafs weder Lust mit Organempflndungen zti identifizieren, noch \u00e4sthetische Lust Lust an Organempfindungen ist, bleibt doch durch seine Argumentationen eine andere Auffassung von der Bedeutung der Organempfindungen an widerlegt. Im Zusammenh\u00e4nge unseres Seelenlebens haben Empfindungen h\u00e4ufig eine Bedeutung als Kriterien eines objektiven Verhaltens, w\u00e4hrend sie als Empfindungen so wenig beachtet werden, dafs der Nichtpsychologe sie gar nicht kennt. Ich erinnere nur an die Bedeutung der Gelenkempfindung f\u00fcr die Auffassung unserer Eigenbewegnngen oder an die Bedeutung des binokularen Sehens f\u00fcr die k\u00f6rperliche Auffassung naher Gegenst\u00e4nde. In \u00e4hnlichem Sinne konnten jene \u201eOrganempflndungen\u201c, ohne selbst beachtet zu werden, als -Momente in die Auffassung des Objektes als eines belebten eingehen. Ich kann diese Theorie hier nicht ausf\u00fchren oder begr\u00fcnden, sondern nnr darauf hinweisen, dafs sie durch Lipps nicht widerlegt 1st.\nIn dem Inhalt des Eingefohlten ruht der eigentliche \u00e4sthetische Wert; dieser ist Eigenwert, nicht Wirknngswert. Eigenwert aber hat f\u00fcr Lipps das Leben und jede positive Lebensbet\u00e4tigung, Unwert dagegen hat jede \u25a0Negation des Lebens oder einer Lebensm\u00f6glichkeit und alles, was solcher -Negation dient. Das hat der \u00e4sthetische Wert mit jedem Eigenwert gemein ; eigent\u00fcmlich ist ihm, dafs er f\u00fcr mich einzig in der \u00e4sthetischen Betrachtung besteht und entsteht. Dazu tritt noch eine gewitse \u201eTiefe\u201c, durch -die das Sch\u00f6ne unsere Gesamtpers\u00f6nlichkeit in sich hineinzieht (167 f.). Diese ganze Lehre von der Einf\u00fchlung wird nun mit den Formprinzipien dadurch besonders innig verbunden, dafs die Einheit als Formprinzip mit der in das Objekt eingef\u00fchlten Einheit meines Ich identifiziert wird. \u201eDie Einheit des Ich ist die einzige vorstellbare Einheit, weil sie die einzige \u2022unmittelbar erlebbare ist, die einzige aus der Erfahrung uns bekannte. Jede andere Einheit ist nichts als jener g\u00e4nzlich leere Begriff, oder sie ist eine Wiederholung, ein Abbild, ein Analogon dieser Einheit des Ich\u201c (S. 196).\nDie so gewonnenen allgemeinen Grunds\u00e4tze werden nun auf die einzelnen Darstellung\u00bb- und Ausdrucksmittel der Kunst angewendet. In diesem Sinne gibt zun\u00e4chst der dritte Abschnitt \u201eRaum\u00e4sthetik\u201c eine neue Dar-","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nLiteraturbcric\u00c0t\nStellung von Lipps' bekannter \u00e4sthetischer Mechanik. Diese Darstellung bringt im einzelnen viel neue Beispiele und Ausf\u00fchrungen und zeichnet sich gegen\u00fcber den fr\u00fcheren Arbeiten des Verfassers dadurch aus, dals die Verquickung mit der Theorie der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen fehlt. Das hat insofern grofse Vorteile, als die \u00e4sthetischen Anschauungen in ihrer Unabh\u00e4ngigkeit von jener scharfsinnigen aber vielfach problematischen Theorie hier reiner heraustreten.\nDer vierte Abschnitt behandelt den Rhythmus, dem Lipps vorher noch keine Publikation gewidmet hatte. Daher muls er hier breiter darstellen und bietet viel Neues. Er baut seine Theorie synthetisch, von den einfachen Formelementen des Rhythmus zum rhythmischen Ganzen fortschreitend, auf. Dabei geht er vom akzentuierenden Rhythmus der Poesie aus. Bei dem Elemente dieses Rhythmus, dem Versfufs, ist zweierlei wesentlich : die Zusammenfassung mehrerer Teile zu einer Einheit und die Betonung eines der so vereinigten Elemente. Was Betonung ist, ermittelt Lipps durch Analyse des Vorganges beim willk\u00fcrlichen subjektiven Betonen in einer Reihe objektiv gleicher Taktschl\u00e4ge. \u201eDie Betonung eines Taktschlages besteht darin, dafs die Auffassungst\u00e4tigkeit in der Auffassung desselben nicht nur tats\u00e4chlich, sondern f\u00fchlbar in gewissem Grade gespannt ist. Die Betontheit des Taktschlages als unmittelbares Bewufst-seinserlebnis besteht im Dasein dieses Gef\u00fchles und dem Bewnlst-sein seines Bezogenseins auf einen bestimmten Taktschlag.\u201c Objektive Betonung ist dann vorhanden, wenn ein Glied durch seine objektive Beschaffenheit z. B. St\u00e4rke jene Spannung der Auffassungst\u00e4tigkeit f\u00fcr sich fordert. Das betonte Glied beherrscht das ganze rhythmische Element im Sinne der monarchischen Unterordnung. Da der Rhythmus ein zeitlich verlaufendes Ganzes gliedert, so steht hier jedes Glied nur mit dem unmittelbar folgenden in direkter Beziehung. Daher erscheint der zweigliedrige Versfufs als das nat\u00fcrlichste rhythmische Element. Hier bestehen dann die beiden M\u00f6glichkeiten der Anfangs- und Endbetonung, des Troch\u00e4us und Jambus. Von diesen ist der Jambus die geschlossenere Einheit; denn die Endbetonung dr\u00e4ngt die Glieder gewissermafsen zusammen, ich eile darin dem Schlufsglied des vorbekannten Ganzen zu. Bei der Anfangsbetonung dagegen lasse ich einfach Element um Element an mich herankommen; diese Betonung gibt den Charakter des Zur\u00fcckhaltenden durch das Haften am ersten Gliede (306\u2014308). N\u00e4chst der Zweizahl gibt die Dreizahl die nat\u00fcrlichste Gliederung; die drei hier bestehenden M\u00f6glichkeiten, Amphibrachys, Daktylus und Anap\u00e4st werden von Lipps entsprechend charakterisiert.\nDie Versf\u00fcfse bilden aber f\u00fcr sich keine rhythmische Bewegungseinheit. \u201eWir haben im Troch\u00e4us das sich Auswirken eines Bewegungseinsatzes; im Jambus das Hineilen auf ein Ziel; im Amphibrachys das Hindurchgehen. Aber wir haben in keiner dieser Formen die in sich selbst fortschreitende Bewegung, die Bewegung vom einen zum andern\u201c (320). Die rhythmische Bewegungseinheit ist ein Schritt; sie erfordert den Gegensatz zweier Hauptbetonungen. Die beiden Betonungen sind aber nicht gleichwertig, vielmehr bezeichnet die erBte ein Fortgangsstreben, eine Spannung, die zweite ein Ruhen, eine L\u00f6sung. Der Spannung entspricht","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"LiteraturbericM.\n297\nder Hochton, der Losung der Tiefton (323.) Hier entstehen der Theorie Schwierigkeiten ans der dialektischen Verschiedenheit der Betonung z. B. zwischen Schwaben und Norddeutschen. Wie Lipps auch in diesen Differenzen sein Grundgesetz bewahrt findet, m\u00f6ge man 340 f. und 363 f. nach-lesen. Die einfachste Bewegungseinheit ist der Amphimacer. Durch Verselbst\u00e4ndigung und Erweiterung seiner drei Teile entstehen die in der Poesie wirklich gebrauchten Einheiten als \u201ePotenzierungen des Amphimacer\u201c. Aus zwei 8chritten bildet sich das einfachste rhythmische Ganze; dabei bleiben aber die beiden Teile nicht unabh\u00e4ngig voneinander, sondern schlie\u00dfen sich in verschiedener Art zusammen, was insbesondere in der relativen H\u00f6he und Tiefe der Betonungen zum Ausdruck kommt. Im Aufbau eines solchen Ganzen herrschen ' zwei Prinzipien : wir k\u00f6nnen es betrachten als eine Folge von Elementen und Einheiten oder als innere Differenzierung eines Ganzen, als ein Sichentfalten von Innen her. Das erste Prinzip ist ein Prinzip der Zweizahl, nach der sich der Zeitfolge entsprechend die Elemente zusammenordnen; die innere Differenzierung dagegen fordert Anfang, Mitte und Ende, sie ist ein Prinzip der Dreizahl (367\u2014368).\nDer Rhythmus ist eine Bewegung, die zun\u00e4chst meiner Apperzeption zugeh\u00f6rt, sich aber fflr mich in Silben oder T\u00f6nen verwirklicht. Jeder Art dieser Bewegung entspricht eine zugeh\u00f6rige Stimmung. \u201eSo ist der Rhythmus nicht mehr blofs diese Art der Folge von Taktschlagen, Silben, T\u00f6nen, sondern er ist ein Lebenselement, in dem ich lebe, etwas, in dem und von dem getragen, ich frei und heiter, oder traurig und sehnsuchtsvoll, erregt oder beruhigt, jubelnd oder klagend, zur\u00fcckhaltend oder vorw\u00e4rtsst\u00fcrmend, mit mir einstimmig oder innerlich ringend und kampfend und siegend mich selbst, ein ideelles und je nach der H\u00f6he dieses objektivierten Selbstgef\u00fchls zugleich ideales Ich realiter auslebe. Hiermit ist erst das \u00e4sthetische Wesen des Rhythmus eigentlich bezeichnet. Sein Sinn liegt in dieser \u201eEinf\u00fchlung\u201c (424).\nDas Interessante an dieser Theorie liegt in der Zusammenbindung des Formalen und des Ausdruckswertes des Rhythmus, Bowie darin, dals zugleich die Zusammenf\u00fcgung von Einheiten und die Gliederung eines Ganzen in ihr zur Geltung kommt. Sie ist beherrscht von dem Streben, das \u00e4sthetisch Wesentliche am Rhythmus, keineswegs alle seine Eigent\u00fcmlichkeiten hervorzuheben, und von diesem \u00e4sthetisch Wesentlichen aus die verschiedenen Formen zu entwickeln. Die ganze Darstellung ist daher deduktiv, freilich \u00fcberall durch sorgf\u00e4ltig analysierte Beispiele aus der neuhochdeutschen Rhythmik erl\u00e4utert. Hoffentlich regt sie dazu an, ihre Gesichtspunkte an weiteren Beispielen zur Anwendung zu bringen und damit nachzupr\u00fcfen.\nDer f\u00fcnfte Abschnitt \u201eFarbe, Ton und Wort\u201c will zun\u00e4chst die Elementargef\u00fchle auf die gleichen Gesetze zur\u00fcckf\u00fchren, wie die Formgef\u00fchle. Lipps unterscheidet zu diesem Zwecke von dem Empfindungs-jnhalt den Empfindungsvorgang und f\u00fchrt z. B. 426 die sogenannte Gef\u00fchlsanalogie zwischen Farben und T\u00f6nen usw. auf \u00c4hnlichkeiten der Empfindungsvorg\u00e4nge zur\u00fcck. Auch bei harmonischen Farbenzusammen-","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nLiteraturbericht.\n'Stellungen soil du vereinheitlichende Element, das ja neben der energischen Differenzierung in jedem Kontrast liegt, auf einer \u00dcbereinstimmung in den Empflndnngsvorg\u00e4ngen beruhen. Lut\u00bb n\u00e4hert damit die \u00c4sthetik der Farbe seiner bekannten Theorie der Konsonanz, die er im folgenden vertr\u00e4gt und zu einer elementaren Musik\u00e4sthetik erweitert. Der stark hypothetische Charakter dieser Theorie liegt in der Zur\u00fcckf\u00fchrung bekannter Eigent\u00fcmlichkeiten der Empfindungen und Gef\u00fchle auf die glnt-lich unbekannten psychologischen Empfindungsvorg\u00e4nge. Zweifellos erreicht Lipps so eine starke Vereinheitlichung des ganzen Gef\u00fchlslebens, aber er erreicht sie durch eine Reihe von Annahmen, die einer direkten Kontrolle sich v\u00f6llig entziehen. Es wird sich fragen, wie weit neue Tatsachen durch Anwendung dieser Prinzipien vorausgesagt und gewonnen werden k\u00f6nnen; denn nur, wenn sie solche Dienste leisten, werden hypothetische Entit\u00e4ten von der Art der Empftndungsvorg\u00e4nge eine wissenschaftliche Bedeutung erlangen k\u00f6nnen, die sich etwa mit der Rolle atoms \u00bbtisch er Hypothesen in der Physik vergleichen liefse.\nDer zweite Gegenstand des f\u00fcnften Abschnittes, die Sprache, ist wohl nur aus \u00e4ufseren Gr\u00fcnden mit den beiden anderen zusammengekoppelt Hier befindet sich die Einftthlungs\u00e4sthetik von vornherein in der g\u00fcnstigsten Lage. Lipp8 ordnet denn auch 486 ff. das Sprachverst\u00e4ndnis sogleich dem Begriffe der Einf\u00fchlung unter. Bei der weiteren Analyse der \u00e4sthetischen Sprachsymbolik unterscheidet er dann Klang, Form der Rede und gegen-st\u00e4ndlichen Inhalt. Auf der Gegenstandsseite teilt er, vielleicht einer Anregung Hdssbbls folgend, die S\u00e4tze ein in direkte Kundgaben meines Erlebnisses und objektiven Bericht \u00fcber ein inneres oder \u00e4ufseres Ereignis. In S\u00e4tzen wie \u201eich will\u201c, \u201edies Ereignis erstaunt mich\u201c, liegt eine unmittelbare Kundgabe. Wenn ich dagegen ein Ereignis erz\u00e4hle und dabei sage, dafs es mich zu irgendeiner Zeit erstaunt habe, so wird beides, das \u00e4ufsere Ereignis, wie der innere Vorgang, lediglich berichtet. Es ist deutlich, dafs diese Unterscheidung die Trennung von lyrischer und epischer Poesie vorbereitet.\nDer letzte Abschnitt, der von den Modifikationen des Sch\u00f6nen handelt, bringt \u00e4sthetisch nicht sehr viel Neues, dagegen enth\u00e4lt er sehr interessante Beitr\u00e4ge zur Gef\u00fchlstheorie und zwar beziehen sich diese Beitr\u00e4ge sowohl auf die verschiedenen Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten, die aufser Lust und Unlust anzunehmen sind, als auch auf die Gef\u00fchlsverschmelzung, das Nebeneinanderbestehen von LuBt und Unlust und den \u00dcbergang der einen in die anderen. Besondere sei hervorgehoben, dafs die Empfindungeintensit\u00e4t auf die Zuordnung eines Gef\u00fchles zur\u00fcckgef\u00fchrt wird. \u201eIntensit\u00e4t, so k\u00f6nnen wir allgemein sagen, iBt diejenige Qualit\u00e4t einer Empfindung, in deren Natur es liegt, dafs mit ihr ein eigenartiges Gef\u00fchl der Inanspruchnahme, mit ihrer Steigerung ein entsprechend gesteigertes Gef\u00fchl dieser Inanspruchnahme Hand in Hand geht\u201c (506f.). Sehr interessant, wie wohl dem Thema dieser Zeitschrift ferner liegend, sind auch die Bemerkungen \u00fcber das Verh\u00e4ltnis des \u00c4sthetischen zum Ethischen (vgl. bes. 526, 532 f., 5371).\nJ. Cohn (Freiburg i. B.).","page":298}],"identifier":"lit32474","issued":"1904","language":"de","pages":"292-298","startpages":"292","title":"Theodor Lipps: \u00c4sthetik. Psychologie des Sch\u00f6nen und der Kunst. I. Grundlegung der \u00c4sthetik. Hamburg und Leipzig, Vo\u00df. 1903. XIV u. 601 S.","type":"Journal Article","volume":"37"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:28:14.346810+00:00"}