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{"created":"2022-01-31T16:36:50.655711+00:00","id":"lit32495","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Giessler","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 37: 318-320","fulltext":[{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nLiteraturbericht.\nmitsprechen kann. Der Roman kann von den Bekenntnissen, Eindr\u00fccken und Reflexionen des Autors nicht leben, wohl aber die Lyrik. Alle Kunst strebt nach vollster Subjektivit\u00e4t, sobald aber das Ziel erscheint, kehrt sie pl\u00f6tzlich am und verlangt nach objektiven St\u00fctzen. Dies geschieht aus Mitteilungsbed\u00fcrfnis an andere. Es bleibt nicht bei dem einfachen und bequemen Ausstr\u00f6menlassen der Lebenskraft, bei dem rohen Vonsichgeben des \u00dcberflusses, sondern die brachliegende Gabe wird in den Dienst der Menschheit gestellt. Immer mufs der K\u00fcnstler von einem idealen Pnblikum mindestens tr\u00fcumen, das ihn recht verstehen und w\u00fcrdigen k\u00f6nnte. Vollkommene Kunst ist der Ausdruck vollster Subjektivit\u00e4t in der Gestalt vollster Objektivit\u00e4t. Der K\u00fcnstler verteilt an jede Person ein St\u00fcck seines eigenen Selbst. Welcher Person gibt aber der Dichter Recht? Was meint er selbst? Jedenfalls wird er einer bestimmten unter den Personen mehrere Z\u00fcge von seinem Selbst, von seinem Erlebten und \u201eAnempfundenen\u201c verleihen, wobei die Anempfindung ein noch unverarbeitetes Erlebnis darstellt. Beide Elemente, Wirklichkeit und Phantasie, sind f\u00fcr das Zustandekommen des Kunstwerkes unentbehrlich. Meist \u00fcbertreibt, potenziert sich der K\u00fcnstler in seiner Hauptperson. Auch das Privatleben des K\u00fcnstlers d\u00fcrfte bis au einem gewissen Grade in Betracht kommen. Zwar ist in den seltensten F\u00e4llen der K\u00fcnstler gr\u00f6\u00dfer als sein Werk. Warum daher nach der Person des K\u00fcnstlers fragen ? 1 Und doch erst durch die Kenntnis der Entstehungabedingungen eines Werkes verm\u00f6gen wir dasselbe richtig zu w\u00fcrdigen. Die Unsicherheit in der k\u00fcnstlerischen Beurteilung eines Werkes kann sich verlieren, wenn man aus einer Biographie des K\u00fcnstlers ersieht, welches Erlebnis und welche Stimmung der k\u00fcnstlerischen Vision zugrunde lagen.\tGissslss (Erfurt).\nR. (Up.kv Beobachtungsgabe. W. Reins Encyklop\u00e4disches Handbuch der P\u00e4dagogik. 2. Auflage. S. 515\u2014532. 1903.\nWie es f\u00fcr den Psychologen interessant sein d\u00fcrfte, sich von Zeit zu Zeit \u00fcber die Verwertung seiner Lehren in der P\u00e4dagogik zu informieren, so ist f\u00fcr den P\u00e4dagogen die Betrachtung seiner Diszipline im Lichte der fortschreitenden Psychologie insofern erspriefslich, als er dadurch leicht auf bestehende M\u00e4ngel und neue Erfordernisse aufmerksam wird. Der vorliegende Aufsatz behandelt eine kompliziertere seelische Erscheinung, deren Ausbildung zu den unerl\u00e4\u00dflichsten Bedingungen aller Geistesbildung geh\u00f6rt, die Beobachtungsgabe.\nUnter Beobachtungsgabe versteht man einerseits die Feinheit und Unterscheidungsf\u00e4higkeit der Sinne als \u201esch\u00e4tzende\u201c Beobachtungsgabe, andererseits die \u201eanalysierende\u201c, wobei das Individuum sein Objekt nicht als ungegliederte Masse auf sich wirken l\u00e4\u00dft, sondern es in seine Bestandteile zerlegt auffa\u00dft. Die psychologischen Bedingungen der sch\u00e4tzenden Beobachtungsgabe sind Feinheit der Organe selbst und \u00dcbung derselben. Von entschiedenem Einflu\u00df auf die Genauigkeit der Sch\u00e4tzung ist der Aufmerksamkeitsgrad. Wenn wir achtlos sehen und h\u00f6ren, halten wir vieles f\u00fcr gleich und identisch, was wir bei scharfem Aufmerken wohl unterscheiden. Auch die Vitalit\u00e4t d. h. das Quantum der vorhandenen Nerven-energie, genauer der Grad der Erm\u00fcdung spielt eine Rolle. Ferner kommt","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n319\ndas Ged\u00e4chtnis dabei zur Geltung, n\u00e4mlich dann, wenn die zu vergleichenden Eindr\u00fccke durch eine l&ngere Zeit getrennt sind. Sehr wertvoll ist der Besitz einer Anzahl treuer Markierungspunkte innerhalb der Wahrnehmungsreihen der einzelnen Sinne, sofern die Einordnung eines neuen Eindruckes alsdann um so besser gelingt. \u2014 Was zweitens die analysierende Beobachtungsgabe betrifft, so k\u00f6nnte man dieselbe mit der T\u00e4tigkeit eines Scheinwerfers vergleichen, der ein Geb\u00e4ude sukzessive beleuchtet. Sie bildet \u00fcberwiegend ein Akt des Wollens und beruht auf dem Interesse an der AuJsenwelt. Die meisten Menschen gelangen gar nicht zu einer Analyse, sondern bleiben beim Gesamteindruck stehen. Der analysierenden Beobachtung erw\u00e4chst aus einer F\u00fclle von Vorbegriffen eine ganz besondere Hilfe. Letztere werden bei jedem Suchen und Anpassen sogleich mobil. Jene Vorbegriffe st\u00e4rken auch das Wahrnehmungsinteresse. Wird durch eine spezielle Besch\u00e4ftigung d\u00e4s Beobachtungsinteresse erh\u00f6ht, so kann sich dies auch auf anderen Gebieten bet\u00e4tigen. Auch das Vergleichen vermag vor\u00fcbergehend eine gr\u00f6fsere Feinheit der Wahrnehmungsanalyse zu bewirken. Schliefslich kommt auch die F\u00e4higkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden in Betracht: Die Ideen werden nicht nach jenem zuf\u00e4lligen St\u00e4rkeverh\u00e4ltnis ungeordnet, in welchem Wahrnehmung und Assoziation sie dem Geiste zuf\u00fchrt, sondern die wichtigeren werden in den Vordergrund ger\u00fcckt. Rousseau gab zuerst den Anstois zu einer methodischen Erziehung der sinnlichen Unterscheidungsf\u00e4higkeit. Pestalozzi wollte von den Elementen ausgehend in dieser Beziehung einen l\u00fcckenlosen Lehrgang verfolgen. So z. B. brachte sein Unterricht den Sch\u00fclern zun\u00e4chst Ausmessungsformen. Letztere sollten Orientierungspunkte innerhalb der flielzenden Reihe der Lageverh\u00e4ltnisse bilden, von denen das sch\u00e4tzende Auge seinen Anfang nehmen k\u00f6nnte. Als Urform aller Lageverb\u00e4ltnisse galt dem Pestalozzi das Quadrat. Nach Hebe art dagegen i\u00dft es das Dreieck. Doch beging letzterer den Fehler, dais er alle Einzelheiten der analysierenden Beobachtung auf Dreiecke zur\u00fcckf\u00fchren wollte, und dafs er dabei das materielle Element der Gesichtswahrnehmung, die Farbe \u00fcbersah. Erst bei Fs\u00f6bbl spielt die Farbe eine Rolle.\nEs fragt sich, ob die Ausbildung der sch\u00e4tzenden Beobachtungsgabe sich lohnt. F\u00fcr das Leben der meisten Menschen reicht offenbar die uns eigene sinnliche UnterBcheidungsf\u00e4higkeit aus. Eine Ausnahme davon bilden einige K\u00fcnste, wie die Kunst des Musikers, Zeichners, Malers, Arztes, Sch\u00fctzen usw. Die Vorbildung f\u00fcr diese K\u00fcnste geh\u00f6rt schon dem Schulunterrichte und der Kindererziehung an, in Form von Gesangsunterricht, Gerwerfen, Fuis- und Handball, Zeichnen usw.\nDa die analysierende Beobachtungsgabe auf den apperzipierenden Vor-begriffen und dem daraus resultierenden Spezialinteresse an gewissen Wahrnehmungsgebieten beruht, so kann auch nur eine Schulung dieser Beobachtungsgabe f\u00fcr spezielle Anschauungsgebiete stattfinden. Verf. will den Anschauungsunterricht, wie er in der Volksschule getrieben wird \u2014 das Anschauen der Natur \u2014 nicht mehr r\u00fcckhaltslos anerkennen. Desgleichen ist es nach Verf. verfehlt, die Beobachtungsgabe an den sprachlichen Formen zu \u00fcben. Der Gebildete braucht die analysierende Beobachtungsgabe vor allem f\u00fcr 3 Objekte: f\u00fcr Menschen, Natur und Kunst.","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nLiteraturbericM.\nDie Beobachtung von Menschen geh\u00f6rt jedoch nicht in den Bereich des Knaben und J\u00fcnglings, sie ist erst dem reifen Alter zug\u00e4nglich. Die Ausbildung der Beobachtungsgabe f\u00fcr die Natur hat ein doppeltes Endziel: Naturerkenntnis und Naturfreude. Als Erziehungsmittel in dieser Beziehung besitzen wir Zoologie, Botanik, Physik und Chemie. Ein richtig gegebener naturkundlicher Unterricht macht nicht nur das Denken im Reiche der Gesetze, Klassifikation und Definition, sondern auch das Auge heimisch. Allerdings haben wir dabei keine Schulung der Beobachtungsgabe f\u00fcr landschaftliche Sch\u00f6nheit zu erwarten. Hier m\u00fcfste ein regelrechter Knnst-unterricht eintreten, der den Sch\u00fcler in die Sch\u00f6nheiten des von den Gem\u00e4lden Gebotenen einf\u00fchrte. \u2014\nNach Ansicht des Ref. sind die bestehenden Zusammenstellungen der Facher f\u00fcr die einzelnen Lehranstalten \u00fcberhaupt noch sehr der Verbesserung f\u00e4hig und bed\u00fcrftig. Namentlich d\u00fcrfte auch das richtige Abmessen des Zuviel und Zuwenig der Pensen f\u00fcr die einzelnen Facher unter den neueren Schulreformen gelitten haben. So z. B. hat die schon bei Pestalozzi und Hbbbart bestehende \u00dcbersch\u00e4tzung des Bildungsgehaltes der Mathematik eine zu starke Erweiterung der Grenzen der in diesem Fache an Gymnasien geforderten Leistungen (\u00c4hnlichkeitspunkte, Chordalen, Sph\u00e4rische Trigonometrie, analytische Geometrie usw.) bewirkt, so dafs dadurch das Erreichen des von dieser Art Lehranstalten vorgezeichneten Ideals erschwert wird. Das Ideal des Gymnasiums ist doch ein humanistisches. Es sollen Theologen, Juristen, Arzte und h\u00f6here Verwaltungsbeamte vorgebildet werden, also keine Baumeister, Ingenieure und Techniker wie an Realanstalten. Dementsprechend ist das Betreiben der Mathematik an Realanstalten Selbstzweck und kann nicht genug erweitert werden. An Gymnasien dagegen soll dasselbe nur eine Erg\u00e4nzung bilden zu der formellen Bildung, die nach ihren wichtigsten Richtungen hin schon durch die alten Sprachen erlangt wird, welche letztere dem Lernenden gleichzeitig qualitative Inhalte \u00fcbermitteln. Die Besch\u00e4ftigung mit Mathematik bietet aber nicht Inhalte der reinen Auffassung, der Phantasie und des Gef\u00fchls, mit denen der eine humanistische Bildung erstrebende Sch\u00fcler doch vor allen Dingen erf\u00fcllt werden mufs. Dies um so weniger, je mehr die Erweiterung des mathematischen Pensums ein rascheres Vorw\u00e4rtsschreiten ben\u00f6tigt Es besteht dabei die Gefahr, dale das mathematische Wissen unverdaut bleibt und als bloJser Ballast, der f\u00fcr den Humanisten keinen Wert besitzt, die f\u00fcr ihn n\u00f6tigen geistigen Inhalte beeintr\u00e4chtigt. Kleinere mathematische Pensa in Ruhe und gr\u00fcndlich verarbeiten I Aber kein Dr\u00e4ngen und Jagen nach Bew\u00e4ltigung von Pensen und nach dem Erreichen von Zielen, welche auf das Realgymnasium geh\u00f6ren! Dies m\u00f6chte Ref. den Reformatoren der humanistischen Gymnasien data occasione zurufen. Giessleb, (Erfurt).","page":320}],"identifier":"lit32495","issued":"1904","language":"de","pages":"318-320","startpages":"318","title":"R. Baerwald: Beobachtungsgabe. W. Reins Encyklop\u00e4disches Handbuch der P\u00e4dagogik. 2. Auflage. S. 515-532. 1903","type":"Journal Article","volume":"37"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:36:50.655716+00:00"}