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Über die Methode der Kunstphilosophie

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{"created":"2022-01-31T16:27:46.983018+00:00","id":"lit32551","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lange, Konrad","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 36: 381-416","fulltext":[{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"38 i\n\u2022 \u2022\nUber die Methode der Kunstphilosophie.\nVon\nKonrad Lange.\nIn seinem B\u00fcchlein: \u201eWas ist Kunst?\u201c spricht sich Tolstoi mit aller Entschiedenheit gegen die empirische Methode der Kunstphilosophie aus. Ihr Kennzeichen, das ist der Sinn seiner Worte, besteht darin, dafs wenn einmal eine gewisse Art von Kunstwerken als gut anerkannt ist, weil sie uns gefallen, eine Kunsttheorie aufgestellt wird, in der alle diese Werke mit ihren Eigenschaften aufgenommen werden k\u00f6nnen. Es existiert ein Kunstkanon, demgem\u00e4fs die Sch\u00f6pfungen der K\u00fcnstler, die in unseren Kreisen beliebt sind, z. B. Phidias, Sophokles, Hombk, Tizian, Raphael, Bach, Beethoven, Dante, Shakespeare, Goethe usw., als Kunst anerkannt werden, und man bildet seine \u00e4sthetischen Urteile (soll heifsen Definitionen und Normen) so, dafs sie alle diese Werke umfassen.1\nDies ist aber nicht der richtige Weg, um 'das Wesen der Kunst zu ermitteln. Man mufs vielmehr von gewissen Gesetzen ausgehen, wenn man zur Erkenntnis des K\u00fcnstlerischen kommen will. Es mufs zuvor bestimmt werden, was Kunst und was nicht Kunst, was gut und was schlecht ist, erst dann kann man auf Grund dieser Bestimmung die vorhandenen Kunstwerke untersuchen, wobei das als Kunst anerkannt werden mufs, was ihnen entspricht, dagegen dasjenige verworfen, was nicht damit \u00fcbereinstimmt. Und nun entwickelt Tolstoi in sehr interessanter Weise, dafs alle Kunst Gef\u00fchlsausdruck oder genauer gesagt \u201eGef\u00fchlsansteckung\u201c sei, indem der K\u00fcnstler die anderen Menschen mit seinem Gef\u00fchl \u201eanstecke\u201c. Und da es nun, nach seiner pers\u00f6n-\n1 Tolstoi, Was ist Kunst? Deutsch\u00a9 \u00dcbersetzung von Dr. Alexis Maekow. Berlin 1898. S. 76 ff.","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nKonrad Langt.\nlichen Auffassung, nicht die Aufgabe der Kunst sein k\u00f6nne, die Menschen mit schlechten Gef\u00fchlen anzustecken, ihre Aufgabe vielmehr nur darin bestehen k\u00f6nne, ihnen gute, d. h. \u2014 im weiteren Sinne des Wortes \u2014 religi\u00f6se Gef\u00fchl\u00a9 mitzute\u00fcen, so meint er, m\u00fcfsten die meisten der obengenannten K\u00fcnstler, deren Werke nur auf das Sch\u00f6ne, d. h. den Sinnenreiz ausgingen, \u2014 aus der Reihe der wahren K\u00fcnstler gestrichen werden.\nDies ist \u00a9in m\u00f6glichst reineg Beispiel der deduktiven Methode, und zwar einer Deduktion, bei der das, was bewiesen werden soll, zuerst durch eine unvollst\u00e4ndige Induktion in den Begriff, um den es sich handelt, hineingelegt wird, um dann wieder aus Ihm herausgeholt zu werden, was nat\u00fcrlich nicht sehr schwer ist Der Hauptsatz der empirischen \u00c4sthetik, dafs mau k\u00fcnstlerische .Normen nicht willk\u00fcrlich erfinden, sondern nur aus den Sch\u00f6pfungen der grofsen K\u00fcnstler ableiten k\u00f6nne, wird dabei geradezu lungedroht. .Erst wird -bestimmt, was Kunst sei, dann untersucht, ob die grofsen K\u00fcnstler auch wirklich grofse K\u00fcnstler seien,\n\u00bb\u00bb\nMn anderes Beispiel. Ein finnischer \u00c4sthetiker K. S. LAumiA\u00bb hat neuerdings ein Buch geschrieben, in welchem die Tonsioiflche Theorie der Gef\u00fchlsansteckung, di\u00a9 ja sicher einen richtigen Kern enth\u00e4lt, in scharfer und wie man anerkennen mufs, frucht-barer Weise weitergebildet wird.1 Er wendet sich besonders gegen den von mir gemachten Versuch, die Definition f\u00fcr Kunst durch Abstraktion aus den vorhandenen K\u00fcnsten und Kunstrichtungen festzustellen. Man k\u00f6nne, so meint er, das Wesen der Kunst nicht so ermitteln, wie man etwa aus verschiedenen \u00e4u&eren Merkmalen durch einfache Induktion den Begriff des Pferdes ermittele. Denn w\u00e4hrend von vornherein Mar welches Her ein Pferd sei, sei nicht von vornherein klar, welches Werk ein Kunstwerk ad. Vielmehr m\u00fcsse man, um dies zu bestimmen, schon ein \u201eIdeal des Kunstwerks\u201c in sich haben. Was damit nicht \u00fcbereinstimme, brauche man nicht als Kunstwerk an zu erkennen.\tEs komm\u00a9 also in der KunstphilosopM\u00a9 nur\ndarauf an, dieses Ideal, das in den meisten Menschen unbewufst schlummere, durch psychologische Analyse bewufst zu machen.\n1 K. \u00df. Latour, Versuch einer Stellungnahme m den Hauptfragen der Kunstphilosophie I. Helsingfors 1903. 8. bl.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode da* Kumtphilosophie.\n383\nDies tut nun Laurila und kommt dabei zu demselben Ergebnis wie Tolstoi, n\u00e4mlich dafs die Kunst \u201eansteckender Ge-f\u00fchlsausdruck\u201c sei, d. h. \u201edafs sie den Eindruck, den das' Seiende auf das Gef\u00fchlsleben des K\u00fcnstlers gemacht hat, durch sinnlich wahrnehmbare Mittel so auszudr\u00fccken suche, dafs dieser Ausdruck auf das Gef\u00fchlsleben anderer Menschen ansteckend wirke\u201c. Hiermit kann man sich, wenn auch die Bestimmung unvollst\u00e4ndig ist, allenfalls einverstanden erkl\u00e4ren. Laurila geht aber weiter. Ebenso wie Tolstoi seiner Deduktion eine ethische Forderung zugrunde legt, n\u00e4mlich die, dafs die Kunst dem Menschen religi\u00f6se Gef\u00fchle mitteilen m\u00fcsse, ordnet auch Lau\u00e4ila \u2014 im Gegensatz zu Kant \u2014 das K\u00fcnstlerische dem, Moralischen unter und macht demgem\u00e4fs den Wert des Kunstwerks aufser von der St\u00e4rke seiner ansteckenden Kraft auch von dem Wert und der Bedeutung der dargestellten Gef\u00fchle abh\u00e4ngig. Und da es nun K\u00fcnste gibt, die in bezug auf den Inhalt dessen, was sie darstellen, v\u00f6llig indifferent sind, derart, dafs das Ethische und Moralische bei ihnen gar keine Rolle spielt, n\u00e4mlich die Baukunst, die dekorative Kunst, den K\u00f6rper-schmuck usw., so \u2014 rechnet er diese T\u00e4tigkeiten einfach nicht zu den K\u00fcnsten.\nDiese beiden Beispiele aus -der neuesten Literatur sind sehr instruktiv, denn sie zeigen, wohin man kommt, wenn man bei seiner Definition des Begriffes Kunst von einem \u201einneren Ideal\u201c, d. h. von einer vorgefafsten Meinung, einer aufeerk\u00fcnstlerischen Forderung ausgeht: das eine Mal dahin, dafs die gr\u00f6fsten K\u00fcnstler aller Zeiten aus der Reihe der K\u00fcnstler ausgeschlossen, das andere Mal dahin, dafs mehrere, und zwar wichtig\u00a9 K\u00fcnste \u00fcberhaupt nicht als solche anerkannt werden.\nWenn ich nun dem gegen\u00fcber Mer den Wert der empirischen Methode f\u00fcr die Kunstphilosophie noch einmal ausf\u00fchrlich begr\u00fcnden m\u00f6chte, so geschieht es nicht, um den banalen Satz zum -so und so vielsten Male zu wiederholen, dafs die \u00c4sthetik wie jede Wissenschaft empirisch verfahren m\u00fcsse, sondern um zu zeigen, dafs der Umfang des zum Beweise herbeizuziehenden empirischen Materials gar nicht grofs genug sein kann, wenn man zu haltbaren Ergebnissen kommen will. Denn empirisch sind in gewisser Weise auch Tolstoi und Laurila verfahren. Nur haben sie sich den Begriff der Kunst auf Grund eines unvollst\u00e4ndigen empirischen Materials gebildet, indem","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nKonrad Langt,\nsie den Umfang des K\u00fcnstlerischen ethisch einschr\u00e4nkten and der Definition nur diejenigen K\u00fcnste und K\u00fcnstler zugrunde legten, die ihnen auf Grund ihres ethischen Ideals den. Forderungen der Kunst zu entsprechen schienen. Die Unvollst\u00e4ndigkeit ihrer Empirie beruhte' also darauf, dafs sie nur von der Selbstbeobachtung ausgingen, ohne sich klar zu machen, dafs das, was ihrem psychischen Bed\u00fcrfnis ja ohne Zweifel entsprach, darum noch keineswegs dem, Bed\u00fcrfnis anderer entsprechen mufste, d. h. also kerne Allgemeing\u00fcltigkeit .in. Anspruch nehmen konnte.\nWenn man aus einer gr\u00f6sseren Zahl, sei es k\u00f6rperlicher,, sei es psychischer Eigenschaften einer Sache das Wesen derselben abstrahieren will, so ist klar, dafs die gesuchte Definition um so greifbarer 'und fruchtbarer sein 'wird, je enger man den Kreis der zu untersuchenden Erscheinungen umgrenzt. Au\u00bb diesem Grunde habe ich \u2014 und darin, .ist mir Laubila gefolgt \u2014 in den Mittelpunkt der Untersuchung nicht mit der herrschenden \u00c4sthetik die Frage nach dem Wesen des Sch\u00f6nen, sondern die nach. dem. Wesen der Kunst gestellt. Dafs es von irgend einem wissenschaftlichen Interesse sein k\u00f6nne, di\u00a9 Wirkung aller \u201e\u00e4sthetischen Gegenst\u00e4nde\u201c, der k\u00fcnstlerischen sowohl wie der nichtk\u00fcnstlerischen in erforschen, wollen wir' nicht gerade leugnen. F\u00fcr uns handelt es sich, aber zun\u00e4chst nur um die k\u00fcnstlerischen. Deshalb reden wir auch von Kunstlehre, Kunsttheorie, Kunstphilosophie, nicht von \u00c4sthetik. Di\u00a9 herrschende \u00c4sthetik, die das Natursch\u00f6ne und das Kunstsch\u00f6ne in. gleicher Weise in. den Bereich ihrer Betrachtungen zieht, geht dabei von der selbstverst\u00e4ndlichen Voraussetzung aus, dafs beide in der Art ihrer Wirkung identisch, seien. Dies m\u00fcfste aber zun\u00e4chst bewiesen werden. Und wir sind der Ansicht, dafs eine Wissenschaft, die von vornherein den wesentlichen Unterschied aufser acht l\u00e4fst, dafs das Natursch\u00f6ne von. Natur1 vorhanden, das Kunstsch\u00f6ne aber ein. Werk von Menschenhand ist, schon, deshalb unm\u00f6glich zu richtigen Resultaten kommen\nkann. Laubila formuliert dies in etwas deutlicher Weise so:\n\u2022*\n\u201eDaher kommt es, dafs die sogenannte allgemeine \u00c4sthetik entweder hohle Phrasen und alberne Gemeinpl\u00e4tze enth\u00e4lt, oder wenn sie bisweilen das Wesen einiger sogenannten \u00e4sthetischen Erscheinungen gut beleuchtet, dann gar nicht auf andere angewandt werden kann.\u201c Ich. m\u00f6chte etwas h\u00f6flicher sagen, dais","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022 ____ __ _\nUber die Methode der Kunstphilosophie.\n385\n\u2022\u2022\ndie allgemeine \u00c4sthetik\u00bb di\u00a9 die Identit\u00e4t des Natursch\u00f6nen und des Kunstsch\u00f6nen von vornherein voraussetzt, unm\u00f6glich dem spezifisch K\u00fcnstlerischen, d. h. dem Verdienst der k\u00fcnstlerischen Pers\u00f6nlichkeit gerecht werden kann.\nWenn man nun das Wesen der Kunst ermitteln will, so mufs man, selbstverst\u00e4ndlich vom, Sprachgebrauch, ausgehen. Das halfst man mufs zun\u00e4chst feststellen, welche T\u00e4tigkeiten das Wort Kunst nach dem jetzt g\u00fcltigen Sprachgebrauch umfafst. Indem wir diese Frage stellen, wissen wir zwar schon auf Grund eigener Erfahrung etwas von den Wirkungen der Kunst. Allein dieses Wissen ist, wie jeder sich bei dem ersten Versuche der Definierung \u00fcberzeugen kann\u00bb ganz unsicher und schwankend. Wir haben deshalb das nat\u00fcrliche Bed\u00fcrfnis, durch Feststellung des Sprachgebrauchs das Gebiet der Untersuchung wenigstens vorl\u00e4ufig in irgend einer Weis\u00a9 zu umgrenzen.\nDiese Umgrenzung kann nun wiederum entweder ein\u00a9 weiter\u00a9 oder ein\u00a9 enger\u00a9 sein. Die weiter\u00a9 besteht darin, dafs wir all\u00a9 K\u00fcnste, nicht nur di\u00a9 eigentlichen, sondern auch di\u00a9 uneigentlichen, di\u00a9 streng genommen nur Geschicklichkeiten sind, der Begriffsbildung zugrunde legen, die engere darin, dafs wir uns auf die eigentlichen K\u00fcnste beschr\u00e4nken. Nun kann es ja m\u00f6glicherweise einen gewissen Wert haben, das Gemeinsame einer Jongleur-leistung und einer von, Joachim gespielten BAcnschen Chaconne\u00bb eines Feuerwerks und der \u00dcEMBBANDTschen Nachtwache\u00bb einer G\u00e4nseleberpastete und eines GoETHEschen Faust nachzuweisen. Den K\u00fcnstler und Kunstkenner wird das aber sehr1 wenig interessieren, da ihm seine Selbstbeobachtung sagt, dafs diese Dinge keineswegs dieselbe Wirkung auf ihn aus\u00fcben. Er 'wird vielmehr bei der Befragung des Sprachgebrauchs von dem ausgehen, was er und seine Genossen\u00bb vielleicht \u00fcberhaupt die Gebildeten seines Volkes unter Kunst im h\u00f6heren Sinne verstehen. Denn die Aufgabe ist ja weder die\u00bb zu ermitteln, was der Janhagel \u201eKunst\u201c nennt, noch auch herauszubekommen, was irgend ein vielleicht sehr begabter und tiefsinniger Philosoph verm\u00f6ge eines ihm innewohnenden \u201eIdeals\u201c als Kunst bezeichnet, sondern was der gebildete, d. h. k\u00fcnstlerisch empfindende Teil des Volkes \u201eKunst\u201c nennt.\nMan macht hiergegen geltend, dafs der Sprachgebrauch un-pr\u00e4zise 'und schwankend sei, dafs z. B. die Alten die Architektur und die dekorativen K\u00fcnste aus den eigentlichen K\u00fcnsten aus-\nZ\u00abitachrift f\u00fcr Fsyefcelogic 86.\t25","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nKonrad Lange.\ngeschlossen, die Redekunst dagegen dazu gerechnet h\u00e4tten. Das ist wohl richtig, aber es handelt sich ja hier noch nicht um die definitive Begriffsbildung, sondern um die ersten Direktiven f\u00fcr die Untersuchung. Und da ist es doch klar, dafs der Sprachgebrauch nicht \u00fcbergangen werden darf, dafs die Methode der systematischen psychologischen Selbstbeobachtung erst in dem Augenblick zur Anwendung kommen kann, wo man aus dem, Sprachgebrauch ermittelt hat, welche Art von psychischen Erscheinungen man ungef\u00e4hr beobachten soll. Sonst w\u00fcrde sie notwendig zerflattem und sich ins Uferlose verlieren,\nWas nun die Gebildeten der Gegenwart unter Kunst im eigentlichen Sinne verstehen, wissen wir ganz genau. Es sind: Malerei und Plastik, Poesie, Musik und Schauspielkunst, Tanz, Architektur und dekorative K\u00fcnste. Nat\u00fcrlich kann man auch aus diesen wieder eine engere Wahl treffen und nun nach den gemeinsamen Kennzeichen dieser im engsten Sinne sogenannten K\u00fcnste fragen. Das hat z, B. Laurila getan, indem er aus dieser Reihe nur einen Teil, n\u00e4mlich Poesie, Schauspielkunst, Musik und Malerei (letztere auch nur in ihren gef\u00fchlsm\u00e4fsigen Richtungen) herausgehoben und nachzuweisen versucht hat, dafs ihre Sch\u00f6pfungen den Zweck h\u00e4tten, Gef\u00fchle, die in dem K\u00fcnstler durch Naturph\u00e4nomene ausgel\u00f6st w\u00fcrden, auf andere zu \u00fcbertragen. Man wird sofort sehen, dafs dies dasselbe ist, was ich unter \u201eGef\u00fchlsillusion\u201c verstehe, wobei die Frage nach dem Unterschiede von wirklichem, Gef\u00fchl und Phantasiegef\u00fchl hier als f\u00fcr unser Problem unwesentlich bei Seite gelassen werden darf. Und man wird zugeben m\u00fcssen, dafs der Begriff der Gef\u00fchlsansteckung in bezug auf diese K\u00fcnste durchaus treffend und auch in gewisser Hinsicht fruchtbar ist.\nLeider ist nun aber diese Einschr\u00e4nkung des Kreises der K\u00fcnste ganz willk\u00fcrlich. Mit demselben Rechte, mit dem man seine Aufmerksamkeit ganz auf die Poesie, Schauspielkunst, Musik und Malerei richtet, k\u00f6nnte man auch die Plastik, Malerei und Architektur aus der Reihe herausheben und die gemeinsamen Kennzeichen dieser engeren Gruppe zu ermitteln suchen. Dies w\u00fcrde dann nat\u00fcrlich zu einem ganz anderen Ergebnis f\u00fchren. Und wenn La\u00fcrila bei seiner Definition, wie wir gesehen haben, die Architektur und die Schmuckk\u00fcnste ignoriert, das heilst \u00fcberhaupt nicht als K\u00fcnste gelten l\u00e4fst, so fehlt jeder Anhalt daf\u00fcr, warum man nicht auch den Tanz oder die Schauspiel-","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"387\nTiber die Methode der Kunetph\u00fcosophie.\ntarnst oder \u00fc\u00ae Poesie aus bestimmten Gr\u00fcnden ausschliefoen mai einer anderen Gattung von menschlieben T\u00e4tigkeiten zu-weisen sollte. Laurila macht allerdings darauf aufmerksam, dafs di\u00a9 Griechen die Baukunst nicht zu den K\u00fcnsten, sondern zu den Handwerken gerechnet h\u00e4tten. Aber der Grund daf\u00fcr war doch gerade der, dafs sie das Wesen der Kunst, ebenfalls auf Grund einer unvollst\u00e4ndigen Induktion, in, der \u201eNachahmung** erkannten, wobei ihnen nat\u00fcrlich nicht entgehen konnte, dafs dies Prinzip auf di\u00a9 ,Architektur nicht pafste.\nJa es l\u00e4Tst sich sogar nachweisen, dafs die Ansteckungstheorie nicht einmal f\u00fcr alle Sch\u00f6pfungen derjenigen K\u00fcnste G\u00fcltigkeit hat, aus denen sie durch Abstraktion gewonnen ist. Sie palst z. B. nicht auf solche Sch\u00f6pfungen der Malerei und Plastik, die, ohne eine bestimmte Gef\u00fchlserregung zu beabsichtigen, einfach das Seiende in m\u00f6glichst \u00fcberzeugender und glaubw\u00fcrdiger Weis\u00a9 schildern wollen. Der Doryphoros des Polyklet, Holbeins Gyze, der Stier Potters, die St&almeester Rembrandts, das Spargelbund Manets sind gewifs Kunstwerke und sollen doch in keiner Weise auf das Gef\u00fchlsleben des Beschauers wirken. Sie sollen vielmehr den rein sinnlichen Eindruck, den das Seiend\u00a9 auf die K\u00fcnstler gemacht hat, durch das Mittel der Nachahmung auch bei anderen erzeugen, d.h. mit anderen Worten die Illusion der Natur nach Farbe, Form, Bewegung usw. hervorrufen. Ob und inwieweit diese Illusion gleichzeitig Gef\u00fchle beim Beschauer ausl\u00f6st, h\u00e4ngt nicht nur von dem Willen und K\u00f6nnen des K\u00fcnstlers, sondern auch von dem Inhalt des Kunstwerks, seinen gem\u00fctlichen Beziehungen zum Menschen, die ja von vornherein nicht sehr eng zu sein brauchen, ab. Auch die Kunstwerke, durch die der K\u00fcnstler Gef\u00fchle auf andere \u00fcbertr\u00e4gt, wirken zun\u00e4chst rem \u00fclusionistisch und erregen die Gef\u00fchl\u00a9 erst auf Grund der Naturillusion, die sie erzeugen. Denn ein Gef\u00fchl kann man nicht malen, sondern man kann nur Formen schaffen, die dasselbe aus-dr\u00fccken, bei deren Anblick dasselbe entsteht. Vielleicht sind die Kunstwerke, die kein\u00a9 Gef\u00fchl\u00a9 \u00fcbertragen, solche niederen Ranges \u2014 das wir\u00a9 \u00a9ine Frage, -die f\u00fcr eich entschieden werden m\u00fcfste \u2014, jedenfalls sind sie aber Kunstwerke und d\u00fcrfen deshalb bei der Definition nicht ausgeschlossen bleiben. Und es bedarf woM keines Beweises, dafs nur diejenige Definition richtig sein kann, die alle K\u00fcnste ohne Ausnahme umfafst.\nAls ich mir \u2014 vor vielen Jahren \u2014 die Frage nach dem\n25*","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nKonrad Langt.\nWesen, der Kunst zuerst vorlegte, wufste ich nicht von vornherein, wie die Antwort lauten w\u00fcrde. Ich kann versichern, da& ich, obwohl ich schon manche Kunstwirkung an mir erfahren hatte, streng induktiv zu Werke ging. Ich nahm einfach die einzelnen K\u00fcnste durch \u2014 wobei ich nur in bezug auf den Tarn eine Zeit lang schwankte \u2014, schied diejenigen Z\u00fcge, durch die sie sich voneinander unterscheiden, aus, und fragte mich, was nach dieser Ausscheidung noch Gemeinsames \u00fcbrig bliebe. Das war eben nicht die Gef\u00fchlsansteckung, sondern die Illusion, d. h. der weitere Begriff, der jenen engeren in sich schliefst. Da ich das Wesen der Bau- und Schmuckkunst, besondere des Ornaments, \u00fcbereinstimmend mit dem Urteil zahlreicher K\u00fcnstler und Kunsttheoretiker in der symbolischen Beziehung der Formen zu einer organischen Kraft oder Bewegung erblickte, gleichzeitig aber sehr wohl, sah, dafs der Beschauer sich diese Kraft und Bewegung nur vorstellt, nicht wirklich wahmimmt, so schien mir dies vortrefflich zu dem Begriffe der Illusion zu passen. Da andererseits die darstellenden oder nachahmenden K\u00fcnste teils einfach die Natur nach ihrer \u00e4ufseren Erscheinung Vort\u00e4uschen, teils durch, das Mittel dieser T\u00e4uschung auf das Gef\u00fchlsleben der Menschen wirken, und da mir auch die so entstehenden Gef\u00fchle nach. St\u00e4rke und. Qualit\u00e4t nicht identisch mit den durch die Wirklichkeit erzeugten Gef\u00fchlen zu sein schienen, so glaubte ich daraus schliefsen zu m\u00fcssen, dafs die Illusion der weiter\u00ae Begriff sei, der alle K\u00fcnste zu einer Einheit verb\u00e4nde. Best\u00e4rkt wurde ich in dieser Annahme durch die Beobachtung, dafs fast alle Menschen, die ein Urteil \u00fcber k\u00fcnstlerische Wirkungen aus-sprechen, immer die Illusion als die wichtigste Bedingung derselben bezeichnen.\nEs wird, sich, empfehlen, gleich hier darauf aufmerksam zu, machen, dafs dieser ganze Beweis rem logisch ist, mit einer systematischen psychologischen Selbstbeobachtung zun\u00e4chst noch .nichts zu tun hat. Eine gewisse Selbstbeobachtung spielt allerdings auch dabei eine Holle, indem, jeder, der eine solche Untersuchung vornimmt, die Wirkung der Kunst schon an sich erfahren hat. Aber dies ist etwas ganz anderes als die wissenschaftliche systematische Selbstbeobachtung des Psychologen. Die Abstraktion als solche hat mit dieser noch, nichts zu, tun. Aus mehreren Erscheinungen oder T\u00e4tigkeiten das Verschiedene auszuscheiden, so dafs das Gemeinsame \u00fcbrig bleibt, ist eine rein logische","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode der Kunstphilosophie.\n389\nOperation. Wir nehmen sie bei jeder wissenschaftlichen Arbeit\u00bb ja \u00fcberhaupt bei jedem geordneten Denken in einem gewissen Stadium der Untersuchung\u00bb meistens gleich zu Anfang vor. Jede Definition\u00bb d. h. jede Abgrenzung eines Begriffes gegen seine Nachbarbegriffe l\u00e4uft schliefslich darauf hinaus. Die \u00c4sthetik unterscheidet sich in dieser Beziehung durchaus nicht von den anderen Wissenschaften oder Denkt\u00e4tigkeiten. Genau ebenso wie ich mir aus den gemeinsamen Merkmalen mehrere Pferdeindividuen den Begriff \u201ePferd\u201c bilde, bilde ich mir aus den gemeinsamen Merkmalen der verschiedenen K\u00fcnste den Begriff \u201eKunst\u201c. Den Ein wand Laltbilas, dafs man wohl vorher wisse\u00bb was ein Pferd, nicht aber was Kunst sei, verstehe ich nicht. Beide Begriffe hat sich der Mensch doch nur deshalb gebildet, weil die unter sie fallenden Dinge resp. T\u00e4tigkeiten eine Anzahl gemeinsamer Z\u00fcge hatten, die ihm f\u00fcr die Bildung eines Begriffs wichtig genug erschienen. Und es ist einfach di\u00a9 Aufgabe der Kunstphilosophie, diese Z\u00fcge zu ermitteln, durch Ausscheidung der Abweichungen die gemeinsamen Eigenschaften festzustellen, dann hat sie den ersten Teil ihrer Aufgabe gel\u00fcst. Und ich kenne kein logisches Gesetz, wonach man eine solche Abstraktion wohl mit k\u00f6rperlichen, nicht aber mit geistigen Erscheinungen vornehmen d\u00fcrfte.\nIch habe mich deshalb sehr gewundert, k\u00fcrzlich folgende Kritik des Abstraktions verfahrene von Volkelt zu lesen: \u201eWohin fuhrt denn dieses Abl\u00f6sen, Herausheben, Zusammenfassen des Gemeinsamen und Wesentlichen an den Kunstwerken? Doch immer nur zu \u00e4ufseren sinnenf\u00e4lligen Merkmalen. Man kann \u00fcber die Marmortechnik, die Technik des Kupferstichs, die Behandlung der \u00d6lfarbe, \u00fcber Linienf\u00fchrung, \u00fcber den Bau des Lustspiels, auch \u00fcber die Stoffe etwa der geschichtlichen Malerei oder der Ballade eine F\u00fclle von Abstraktionen anstellen. Allein man kommt mit ihnen nie bis zu dem, was den eigentlichen Gegenstand der \u00c4sthetik bildet.\u201c1 Ich verstehe nicht recht, warum Volkelt hier, statt von K\u00fcnsten zu reden, k\u00fcnstlerische Techniken und Stoffgebiete nennt. Oder vielmehr, ich verstehe es sehr wohl, denn dadurch erh\u00e4lt er die M\u00f6glichkeit, die heterogensten Dinge nebeneinander zu stellen und den Eindruck zu\n1 Volkelt, di\u00a9 entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der \u00c4sthetik. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol, d. Sinnesorgane 29 (1902), 8. 15.","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nKonrad Lange,\nerwecken, als ob es gar kein Interesse h\u00e4tte, das Gemeinsame dieser Erscheinungen festzustellen. Und dabei geh\u00f6rt doch gerade Volkblt zu den \u00c4sthetikern, die nicht nur die Kunst, sondern auch die Natur zu den \u00e4sthetischen Gegenst\u00e4nden rechnen, aus denen man das Wesen des Sch\u00f6nen zu bestimmen habe, also jedenfalls Dinge, die sehr viel mehr voneinander verschieden sind als der Bau eines Lustspiels und die Linienf\u00fchrung eines Gem\u00e4ldes. Denn diese haben doch wenigstens das miteinander gemein, dafs sie von Menschen stammen, dafs sich eine menschliche Pers\u00f6nlichkeit in ihnen ausspricht, w\u00e4hrend jene nichts anderes gemein haben als dafs sie Lust erzeugen, was z. B. auch der Genufs eines guten Glases Rheinwein tut. Und dann handelt es sich ja hier gar nicht um das Gemeinsame verschiedener Techniken, Formen oder inhaltlicher Motive, sondern, um, das Gemeinsame der K\u00fcnste \u00fcberhaupt, um das Rein-k\u00fcnstlerische an allen K\u00fcnsten. Hat man dieses erst einmal festgestellt, z. B. in der Illusion erkannt, so ist es ziemlich einerlei, ob man aufserdem auch noch gemeinsame Kennzeichen f\u00fcr die verschiedenen Techniken und Stoffe nachweisen will oder nach-weisen kann. Sollte dies auch nicht m\u00f6glich sein, so bliebe Kunst doch immer Kunst; ja durch den Gegensatz zu den Verschiedenheiten im einzelnen w\u00fcrde das Gemeinsame des Ganzen nur um so deutlicher hervortreten.\nErst nachdem, man diese rein logische Abstraktion vollzogen hat, tritt die systematische psychologische Selbstbeobachtung in ihr Recht. Denn jetzt gilt es den gefundenen Begriff psychologisch zu. beschreiben und zu analysieren. Die Wichtigkeit dieser Methode, di\u00a9 ich. im Unterschied von der logischen als die psychologisch\u00a9 bezeichnen will, ist schon so oft betont und auch von mir selbst so eingehend begr\u00fcndet worden, dafs ich. Mer nicht ausf\u00fchrlicher darauf zur\u00fcckzukommen brauche. Eher d\u00fcrfte es am Platze sein,, angesichts der \u00dcbersch\u00e4tzung, die sie vielfach geniefst, noch einmal, auf die Grenzen ihrer Beweiskraft hinzuweisen. Ich will diese an einem Beispiel, das mir gerade besonders nahe liegt, erl\u00e4utern.\nIch habe die k\u00fcnstlerische Illusion oder, wie ich sie nenne, die \u201ebewufste Selbstt\u00e4uschung\u201c als ein gleichzeitiges Erleben zweier Vorstellungsreihen: Kunstwerk und Natur oder K\u00fcnstler-Pers\u00f6nlichkeit und Inhalt beschrieben. Ein solches gleichzeitiges Erleben zweier Vorstellungsreiheni konnte ich mir auf Grund","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"\u25a0 * * _ _\nUber die Methode der Kumtph\u00fcmophie.\n391\nmeiner Selbstbeobachtung nur als einen Wechsel zwischen den Vorstellungen : Kunstwerk und Natur oder K\u00fcnstlerpers\u00f6nlichkeit und Inhalt denken. Diese Annahme wird, wie ich k\u00fcrzlich nach\u00bb gewiesen habe, durch Goethe best\u00e4tigt, der den H\u00f6hepunkt der \u00e4sthetischen Wirkung in dem \u201eHin- und Herfallen\u201c des Bewufst-seins zwischen dem durch den Inhalt geforderten Gef\u00fchl und der Bewunderung des K\u00fcnstlers erkennt.1 Auch viele Rezensenten meines Buches stimmen mir in dieser Beziehung bei. Statt aller anderen will ich einen K\u00fcnstler, den Wiener Hofburg-Schauspieler Ferdinand Gregori, nennen. \u201eIch habe,\u201c so sagt dieser, \u201ebeispielsweise auf dem Gebiete, das mir am gel\u00e4ufigsten ist. Langes Ausf\u00fchrungen mit allem Einverst\u00e4ndnis gut heifsen k\u00f6nnen.\u201c Und ein andermal schildert er den Eindruck, den ihm die KlingERschen Radierungen gemacht haben: \u201eWie lebhaft spielen die beiden LANGEschen Vorstellungsreihen auf und ab, her\u00fcber und hin\u00fcber \u2014 es ist eine Wollust, einen grofsen Mann verstehen zu lernen.\u201c 2\nDemgegen\u00fcber behaupten nun einige philosophische \u00c4sthetiker, die sich \u00fcber meine Theorie ge\u00e4ufsert haben, die Selbstbeobachtung lehr\u00a9 \u201ejeden\u201c, dafs beim Knnstgenufs nicht von zwei V orstel lu n gsr eih en die Rede sein k\u00f6nne, dafs man durch die Anschauung eines Kunstwerks nur zu einer Vorstellungs-reihe angeregt werde. Ich will hier die Frage nicht von neuem aufwerfen, ob diese eine Vorstellungsreihe sich auf den Inhalt bezieht \u2014 in welchem Falle der Gedanke an die k\u00fcnstlerische Pers\u00f6nlichkeit wegfallen m\u00fcfste \u2014 oder ob sie sich auf das K\u00fcnstlerische, das Technische, die K\u00fcnstlerpers\u00f6nlichkeit bezieht \u2014 in welchem Falle der Inhalt des Kunstwerks f\u00fcr die Anschauung gleichg\u00fcltig w\u00e4re. Ich will nur einfach konstatieren, dafs hier Meinung gegen Meinung steht und dafs es keine Instanz gibt, die \u2014 auf Grund von Selbstbeobachtung \u2014 den Streit entscheiden k\u00f6nnte.\nNun liegt es aber im Wesen jeder Wissenschaft, dafs sie nach Allgemeing\u00fcltigkeit ihrer Erkenntnisse strebt, Die Selbstbeobachtung besteht zun\u00e4chst nur in einer Beschreibung des Seelenzustandes einer einzelnen Person. Damit diese Einzel-\n1 Lange, Goethe und die selbstbewufste illusion. Wissenschaftliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung ll. 04, Nr. 15, 16 und 19, Heyfbldbr, Die Illusionstheorie und Goethes \u00c4sthetik 1904.\n\u2022 Gregort, Das Wesen der Kunst. Der B\u00fccherfreund II (1903), S 4.","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nKonrad Lange.\nbeschreibung allgemeine G\u00fcltigkeit gewinne, roufs sie durch die\nBeschreibung der Seelenzust\u00e4nde anderer Personen best\u00e4tigt und\n\u2022\u2022 =\nerg\u00e4nzt werden. Nur hierdurch erh\u00e4lt die \u00c4sthetik die Bedeutung\neiner normativen Wissenschaft. Nicht alle Menschen verhalten\nsich allen Seiten der Kunst gegen\u00fcber in gleicherweise. Deshalb \u2022\u2022 _____\ndarf die \u00c4sthetik sich nicht mit der Beschreibung des \u00e4sthetischen Verhaltens eines Menschen begn\u00fcgen, sondern mufs eine Beschreibung zu geben suchen, die auf alle Menschen oder wenigstens eine \u00fcberwiegende Mehrzahl kunstverst\u00e4ndiger Menschen pafst, Denn nur unter dieser Voraussetzung ergeben sich aus der Beschreibung unmittelbar die Normen des Kunstschaffens, indem das, was durch die \u00dcbereinstimmung aller als allgemeing\u00fcltig und wesentlich f\u00fcr die Kunst nachgewiesen worden ist, eben deshalb auch als notwendig f\u00fcr sie angenommen werden mufs.1\nWenn ich also z. B. aus der Selbstbeobachtung und dem Sprachgebrauch ermittelt habe, dafs f\u00fcr mich und die Gebildeten, deren Anschauung sich im Sprachgebrauch niederschl\u00e4gt, das Wesen der Kunst in der Illusion besteht, so mufs ich nunmehr durch die Beobachtung anderer, und zwar m\u00f6glichst vieler, nachzuweisen suchen, dafs auch bei ihnen das k\u00fcnstlerische Erleben die Form der Illusion annimmt. Kann ich dies nach weisen, so ist es f\u00fcr mich selbstverst\u00e4ndlich, dafs die Illusion f\u00fcr die Kunst eine Norm ist, das heifst, dafs jede gesunde Kunst nach Illusion streben mufs. Denn die Kunst h\u00e4tte diesen illusion\u00e4ren Charakter nicht angenommen, wenn sie nicht gerade so den Menschen, und zwar sowohl dem einzelnen als auch der Gattung\ngen\u00fctzt h\u00e4tte. Es Ist klar, dafs man die Forderung einer norma-*\u2022\ntiven \u00c4sthetik \u00fcberhaupt nur unter der Voraussetzung eines solchen Nutzens, eines solchen Gattungszwecks aussprechen kann.\nDiese Auffassung meint offenbar Volkelt, wenn er sagt: \u201eZu diesen darwinistischen (?) \u00c4sthetikern geh\u00f6rt auch Lange. Er setzt ohne weiteres voraus, dafs di\u00a9 Kunst sich nur darum uni nur insoweit entwickelt hat, weil und inwiefern sie die Menschheit im. Kampf ums Dasein unterst\u00fctzte. Und so verk\u00fcndet er denn auch ohne weiteres f\u00fcr die \u00c4sthetik den darwinistischen (?) Mafsstab : Jede Kunst ist gut, die der Gattung n\u00fctzt, jede Kunst ist schlecht, die ihr schadet.M Dafs dieser Mafsstab kein darwi- *\n1 Vgl. Lipi\u2019b, Grundlegung der \u00c4sthetik I (1903), S. 2.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode der Kumtphilosophie.\n393\nnistischer ist, lehrt schon die einfache Erw\u00e4gung, dafs auch Tolstoi, Laubila und Volkelt selber ihn teilen, indem sie der Kunst eine ethische Wirkung unterschieben, die auf Besserung des Menschen, sowohl des einzelnen als der Gattung, abzielt. Es fragt sich nur, ob dieser engere ethische Zweck der Kunst den Tatsachen entspricht oder der weitere, den ich ihr unterlege, n\u00e4mlich dafs sie zur Erhaltung und \u00dcbung aller F\u00e4higkeiten dient, die der Mensch im Kampf ums Dasein braucht, und die verk\u00fcmmern w\u00fcrden, wenn er nicht die Kunst als Erg\u00e4nzung der Wirklichkeit h\u00e4tte. Ob man diesen Standpunkt d&rwinistisch nennen will oder nicht, ist mir ziemlich gleichg\u00fcltig. Jedenfalls ist er richtig, wof\u00fcr ich bei einer anderen Gelegenheit ein erdr\u00fcckendes Beweismaterial beibringen wrerde, und jedenfalls ist die Bedingung dieser Wirkung der Kunst die Illusionskraft. Und deshalb ist die Illusion die wichtigste und zwar die einzig\u00a9 rein \u00e4sthetische Norm jeder k\u00fcnstlerischen T\u00e4tigkeit.1\nAuch hier spielt Volkelt di\u00a9 Frage wieder von der Kunst auf die k\u00fcnstlerischen Richtungen \u00fcber, indem er fragt, wie man wohl entscheiden solle, \u201eob der griechisch harmonisierende Stil unserer klassischen Dichter oder die musikalischen Neuerungen Wagnebs der Gattung im Kampf ums Dasein mehr gen\u00fctzt oder mehr geschadet haben. Als ob ich jemals behauptet h\u00e4tte, dafs alle einzelnen Kunstrichtungen dem Menschen unmittelbaren Nutzen bringen m\u00fcfsten. Als ob es sich f\u00fcr mich nicht immer nur um die Kunst im allgemeinen und zwar um die Illusionskraft der Kunst handeitel\nDie Befragung anderer, die zu der Selbstbeobachtung hinzukommen mufs, kann nun in der verschiedensten Weise erfolgen. Das Ideal w\u00fcrde nat\u00fcrlich die Befragung aller Menschen sein. Da dieses aber nicht erreichbar ist, wird man sich begn\u00fcgen, m\u00f6glichst viele zu befragen, Und hierin liegt eine Grenze unseres \u00e4sthetischen Wissens, \u00fcber die wir uns keiner T\u00e4uschung hingeben d\u00fcrfen. Wir k\u00f6nnen selbst beim besten Willen nur eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig kleine Zahl von Menschen der Gegenwart und Vergangenheit befragen. Die Zukunft f\u00e4llt von vornherein aus.\n1 ln anderem Sinne ist die Illusion neuerdings von Stein und Adlib in den Mittelpunkt der Weltanschauung oder wenigstens gewisser menschlicher Bestrebungen gestellt worden. Vgl. Stein: \u201eAlles ist Illusion\u201c, im Literatorblatt der Neuen Freien Presse 29 M\u00e4rz 1903 und Adle\u00bb, die Bedeutung der Illusionen f\u00fcr Politik und soziales Leben 1904,","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nKonrad Lange.\nAber das ist kein Ungl\u00fcck, denn .niemand ist verpflichtet, eine \u00c4sthetik f\u00fcr die Zukunft in schreiben. Bedenklicher ist es, dafo wir auch aus der Gegenwart und Vergangenheit nur ein ver-h\u00e4ltnism\u00e4fsig beschr\u00e4nktes Versuehsmaterial zur Verf\u00fcgung haben. Und wenn die Urteile dieser verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig kleinen Zahl so verschieden sind, wie ich das oben an einem Beispiel gezeigt habe, so fragt es sich, ob diese Methode uns irgendwie weiter bringen kann als die der Selbstbeobachtung.\nHier wird es nun zun\u00e4chst darauf ankommen, die zu befragenden Menschen aus der Reihe derer zu w\u00e4hlen, die in Dingen der Kunst urteilsf\u00e4hig sind. Zeigt rieh bei diesen eine gewisse \u00dcbereinstimmung in bezug auf die Beschreibung des \u00e4sthetischen Zustandes, so wird man die abweichenden Urteile entweder bei Seite lassen oder im Sinne einer Rangabstufung ausnutzen d\u00fcrfen. Wer die Urteiisf\u00e4Mgen sind, wissen wir ganz genau. In erster Linie die K\u00fcnstler selbst, in zweiter diejenigen, die sich durch Neigung oder Beruf viel mit Kunst besch\u00e4ftigen. Nicht als ob die K\u00fcnstler immer ein treffendes Urteil \u00fcber die Leistungen anderer h\u00e4tten, jedenfalls k\u00f6nnen sie aber am besten Auskunft dar\u00fcber geben, wie sich die Kunst in ihrem, eigenen Kopfe malt, was sie mit ihrer eigenen Kunst f\u00fcr eine Absicht verfolgen.\nSchon die Ber\u00fccksichtigung des Sprachgebrauchs kann pan wie gesagt unter den Gesichtspunkt der Befragung anderer bringen. Denn die Bedeutung des Wortes Kunst im Sprachgebrauch zeigt uns ja, welche T\u00e4tigkeiten die Gebildeten eines Volkes unter diesem Begriff zusammenfassen. Und wenn wir nun aus diesen T\u00e4tigkeiten durch Abstraktion ein bestimmtes psychisches Erlebnis wie die Illusion als charakteristisches Merkmal ermitteln k\u00f6nnen, so ist damit das Urteil der Gebildeten schon bis zu einem gewissen. Grade herbeigezogen. Aber die Gebildeten sind nicht immer die Kunstverst\u00e4ndigen, und darauf beruht es ohne Zweifel, dafs der Sprachgebrauch in der Begrenzung des Begriffs Kunst so schwankend ist.\nDeshalb mufs eine weitere Befragung anderer, und zwar1 Kunstverst\u00e4ndiger hinzutreten. Diese kann entweder zuf\u00e4llig und regellos oder systematisch und geregelt sein. Eine zuf\u00e4llige und regellose Befragung anderer ergibt sieh z. B. aus den Gespr\u00e4chen \u00fcber Kunst, aus dem Austausch der Meinungen bei der Anschauung von Kunstwerken. Dies ist die gew\u00f6hnliche Form, wie","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode der Kuiutphilosophie.\n395\n\u2022 \u2022\nder \u00c4sthetiker sein empirisches Material sammelt, denn er wird aus der Art, wie andere \u00fcber Kunstwerke urteilen, leicht entnehmen k\u00f6nnen, was ihnen bei der Anschauung des Kunstwerks am wichtigsten ist und was ihnen als Nebensache erscheint.\nDer \u00e4sthetische Zustand besteht aus zahllosen einzelnen Elementen : Empfindungen, Wahmehmungen, Vorstellungen, Urteilen, Gef\u00fchlen usw., die sich entweder auf den Inhalt oder aut die Form des Kunstwerkes beziehen, und es ist deshalb kein Wunder, dafs beim Urteil \u00fcber Kunst und Kunstwerke in der Regel alle diese psychischen Erlebnisse durcheinanderspielen. Es kann nun nicht die Aufgabe des \u00c4sthetikers sein, diese Vielheit der psychischen Elemente einfach zu konstatieren, sondern vielmehr nachzuweisen, ob diese psychischen Erlebnisse durch \u00a9in gemeinsames Band zusammengehalten werden oder ob eines derselben oder ein Verh\u00e4ltnis zwischen mehreren von ihnen den anderen gegen\u00fcber dominiert.\nDie Psychologen haben nun zu diesem Zweck das \u00e4sthetische Experiment ausgebildet. Ich habe in meinem \u201eWesen der Kunst\u201c an der experimentellen Methode eine ziemlich scharfe Kritik ge\u00fcbt und kann mich nicht erinnern, dafs von psychologischer Seite gegen die von mir vorgebrachten Bedenken irgend etwas Triftiges eingewendet worden w\u00e4re. Diese Bedenken waren: Erstens, dafs bei diesen Experimenten neuerdings immer nur wenige Versuchspersonen benutzt werden, die eben wegen ihrer geringen Zahl keine allgemeinen Schl\u00fcsse zulassen. Zweitens, dafs diese wenigen Versuchspersonen immer gewisse psychische Dispositionen zu dem Experiment hinzubringen, um die sich der Experimentator in der Regel nicht k\u00fcmmert, die aber doch f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis ihres Verhaltens aufserordentlieh wichtig sind. Drittens, dafs diese Experimente sich bisher nur auf gewisse \u00e4ufsere rein formale Seiten der Kunst wie Proportionen, Farbenzusammenstellungen, Rhythmen usw. erstreckt haben, die, wenn sie auch \u00e4sthetisch nicht gleichg\u00fcltig sind, doch jedenfalls nicht im Zentrum des \u00e4sthetischen Genusses stehen.\nDiesem letzteren Mangel hat nun Oswald K\u00f6lle neuerdings abzuhelfen gesucht, indem er auch die zentralen Fragen der \u00c4sthetik, Assoziation, Einf\u00fchlung, innere Nachahmung usw. der experimentellen Methode unterworfen hat.1 Ich will diesen\n1 O. K\u00fclpe, Ein Beitrag zur experimentellen. \u00c4sthetik. Commemorative Number of the American Journal of Psychology, vol. XIV, S. 215\u2014231 (1908).","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nKonrad Lange.\nVersuch etwas genauer besprechen, weil mir dies Gelegenheit geben wird, alle Bedenken, die ich schon fr\u00fcher gegen das \u00e4sthetische Experiment ge\u00e4ufsert habe, am einem konkreten Beispiel noch einmal, darzulegen.\nDie Experimente wurden mit drei Versuchspersonen vor-genommen, einem W\u00fcrzburger Privatdozenten, einem kanadischen Lecturer und einem Doktor, Diesen Herren wurden nacheinander vermittels des Projektionsapparates 28 Lichtbilder vorgef\u00fchrt, die sich zur H\u00e4lfte auf antike Architektur, zur H\u00e4lfte auf antike Plastik bezogen. Die Expositionsdauer jedes Bildes betrug drei Sekunden, und es wurde ihnen vorher ein Punkt auf dem Lichtschirm bezeichnet, der jedesmal zuerst fixiert werden sollte, von dem aus der B\u00fcck aber dann, auf dem. ganzen Bilde umherschweifen durfte. Die Herren wurden angewiesen, die Bilder aufmerksam, aber in m\u00f6glichst passiver Hingabe zu betrachten, und. nachher dem Experimentator so treu und vollst\u00e4ndig wie m\u00f6glich Auskunft dar\u00fcber zu geben, was ihnen, daran gefallen, oder mifsfallen habe oder indifferent gewesen sei, worauf sich, die Gef\u00fchlsreaktion gerichtet habe, und was sie besondere bemerkt resp. wahrgenommen h\u00e4tten.\nHier ist mir zun\u00e4chst die geringe Zahl, der Versuchspersonen aufgefallen. Fbcbnbb, der die ersten \u00e4sthetischen Experimente machte, befragte dabei mehrere hundert Personen, offenbar1 um zu m\u00f6glichst allgemeing\u00fcltigen Ergebnissen zu. gelangen. Seitdem ist die Zahl der Versuchspersonen von Jahr1 zu Jahr geringer geworden. Lightmer - Witmeb, Cohn und Mettmann benutzten deren acht oder zehn, Helwig gab sogar dem individuellen, das heilst an. einer einzigen Versuchsperson vorgenommenen Experiment den Vorzug. Offenbar war also der Zweck dieser Experimente gar nicht, allgemeing\u00fcltig\u00a9 \u00e4sthetische Normen zu ermitteln, sondern nur die Selbstbeobachtung auf etwas breitere Grundlage zu steEen, wobei nur unklar bleibt, warum man sich nicht ganz auf die Selbstbeobachtung beschr\u00e4nkte.\nSo wird sich wohl auch K\u00fclpe klar dar\u00fcber gewesen sein, dafs er mit seinen drei Versuchspersonen kein\u00a9 eigentlichen \u00e4sthetischen Normen ermitteln, konnte. Zum Wesen der Norm geh\u00f6rt die Allgemeing\u00fcltigkeit Eine Norm., die nur f\u00fcr drei oder acht oder zw\u00f6lf Personen gilt, ist keine Norm, sondern eine Beschreibung des Seelenzustandes dieser drei, acht oder zw\u00f6lf Personen. Wer sich, damit begn\u00fcgt, leugnet \u00fcberhaupt den.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u00ab\nIIber die Methode der Kunstphilosophie.\n397\nnormativen Charakter der \u00c4sthetik, das helfet er fafst diese als eine beschreibende Wissenschaft auf. Das ist gewifs auch ein Standpunkt, aber wenn, man ihn einnimmt, darf man nicht von Tatsachen oder Gesetzen des \u00e4sthetischen Verhaltens \u00fcberhaupt sprechen, sondern h\u00f6chstens von Tatsachen, die bei einem bestimmten Individuum oder einigen Individuen nachweisbar sind.\nSodann bleibt der Beruf und die Stellung dieser drei Personen zur Kunst unklar. Es wird zwar gesagt, dafs sie \u201esehr gebildet und praktisch sowie theoretisch auf \u00e4sthetischem Gebiete erfahren4 gewesen seien. Daraus geht aber nicht hervor, ob sie auch kunstverst\u00e4ndig im eigentlichen Sinne des Wortes waren, jedenfalls nicht, ob sie die F\u00e4higkeit eines gleichzeitig naiven und intensiven Kunstgenusses hatten. Nur unter dieser Voraussetzung k\u00f6nnen aber ihre Aussagen irgend einen Wert haben. Wie viele Gebildete und selbst knnsthistorisch oder \u00e4sthetisch Gebildete gibt es, denen die F\u00e4higkeit, k\u00fcnstlerische Qualit\u00e4ten zu erkennen, vollkommen fehlt! Und die Urteile, die diese drei abgaben, weisen, wie jeder unbefangene Leser zugeben wird, durchaus nicht auf ein h\u00f6heres k\u00fcnstlerisches Verst\u00e4ndnis hin.\nUnd h\u00e4tten sie ein solches auch gehabt, di\u00a9 Beschr\u00e4nkung der Expositionsdauer auf drei Sekunden h\u00e4tte sie nicht zum intensiven \u00e4sthetischen Genufs kommen lassen. Ohne ruhige Konzentration ist \u00fcberhaupt kein Kunstgenufs m\u00f6glich. Bei manchen Kunstwerken \u2014 und es sind nicht die schlechtesten \u2014 bedarf es sogar zwrei- oder mehrmaliger Anschauung, um sie vollst\u00e4ndig zu geniefsen. Bei antiken oder sonstwie entlegeneren Stoffen ist zum mindesten eine Kenntnis des .Inhalte n\u00f6tig, um das Werk auch nur zu verstehen. Und dafs das Verstehen die Vorbedingung des Gemefsens ist, bedarf wohl keines Beweises. Die Einschr\u00e4nkung der Expositionsdauer kann daher nur den Zweck gehabt haben, den \u00e4sthetischen Genufs nicht zu stand\u00a9 kommen, zu lassen, also sein Wesen gewissermafsen e contrario zu erschliefsen \u2014 immerhin \u00a9in nicht unbedenkliches Verfahren.\nAuch die Bezeichnung eines zuerst zu Imerenden Punktes auf dem Lichtschirm und die Aufforderung, sich der Anschauung m\u00f6glichst passiv hinzugeben, halte ich nicht f\u00fcr zweckentsprechend, doch will ich darauf nicht n\u00e4her \u00a9ingehen.\nWas haben nun di\u00a9 Experimente ergeben? Nach K\u00fcupi\u00a7 Urteil genug, um \u201eein ergiebiges Feld f\u00fcr weitere Untersuchung zu er\u00f6ffnen, und die Hoffnung, dafs f\u00fcr das Det.aH der \u00e4stheti-","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nKonrad Langt.\nsehen Erkenntnis und f\u00fcr die genauere Differenzierung der mafs-gebenden \u00e4sthetischen Kriterien und Prinzipien auf diesem Wege viel zu gewinnen sei,41 Nach meinem Urteil nichts, was f\u00fcr die \u00c4sthetik von irgend welcher Bedeutung w\u00e4re. .Angenommen selbst, die Bedingungen, unter denen die Experimente vorgenommen wurden, w\u00e4ren vollkommen einwandfrei gewesen, so m\u00fcfste doch auffallen, dafs die Urteile selbst in v\u00f6llig planloser Weise auseinandergingen. Von einer Majorit\u00e4t f\u00fcr ein bestimmtes \u00e4sthetisches Prinzip kann keine Rede sein.. Das einzige, was in diesem Sinne geltend gemacht werden k\u00f6nnte, w\u00e4re die ver-h\u00e4ltnism\u00e4fsig h\u00e4ufige Erw\u00e4hnung der Organempfindungen und die wiederholte Erw\u00e4hnung der Lust am Erkennen des Naturobjekts, an der Ausdrucksf\u00e4higkeit der Formen, an der Nat\u00fcrlichkeit und Lebendigkeit, also Dinge, die samt 'und sonders zur Illusion geh\u00f6ren, bestimmte Seiten der Illusionswirkung darstellen. Aber K\u00fclpe selbst legt darauf offenbar keinen Wert. Denn er erw\u00e4hnt die Illusion mit keinem Worte und meint nur, man k\u00f6nne in den Aussagen der drei Versuchspersonen alle f\u00fcr wesentlich gehaltenen Merkmale des \u00e4sthetischen Verhaltes wiedererkennen, besonders alle diejenigen, die sich auf den Sinn und Ausdruck im Gegensatz zu dem direkten (d. h. sinnlichen und formalen) Faktor bez\u00f6gen. Damit ist aber wenig gewonnen. Denn wir wollen doch wissen, welches dieser Merkmale das wichtigste, das spezifisch k\u00fcnstlerische ist. Was n\u00fctzt es mir ferner, zu erfahren, dafe die Versuchspersonen beim. Anblick heftiger Bewegungen Organ-\u00a9mpfindungen hatten, wenn ich nicht gleichzeitig erfahre, ob dies\u00a9 Organempfindungen lustvoll oder unlustvoll waren? Ob sie dabei wirkliche Bewegungen, machten, oder nur besonders lebhafte Bewegungsvorstellungen hatten? Was n\u00fctzt es mir1 zu. wissen, dafs dieser Versuchsperson ein bestimmter Inhalt, jener eine bestimmte Form auffiel, wenn ich nicht erfahre, ob ihnen der Inhalt an sich oder die Form an sich oder endlich das Verh\u00e4ltnis des Inhalte zur Form Befriedigung gew\u00e4hrte?\nWer diese Urteile unbefangen \u00fcberblickt, mufs vielmehr den Eindruck einer v\u00f6lligen Anarchie gewinnen. Schon in bezug auf die Frage des Gefallens, Mifsfalles oder Indifferentbleibens weichen die drei Herren in mehreren F\u00e4llen so stark voneinander ab, wie das bei drei Personen \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, indem dem einen, ein Bild gef\u00e4llt, das dem anderen mifsf\u00e4llt und. wobei der 'dritte indifferent bleibt. Und. wo einmal eine \u00dcbereinstimmung herrscht,","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode der Kumtph\u00fcosophie,\n399\nwird das Urteil h\u00e4ufig ohne Motivierung ausgesprochen, wodurch es \u00e4sthetisch nat\u00fcrlich wertlos wird.\nSodann mischten sich in das \u00e4sthetische Urteil so viele ander\u00a9 Erlebnisse : Erkenntnisurteile, Erinnerungen wissenschaftlicher Art, ach\u00e4ologische Reminiszenzen, konventionelle Vorstellungen, Wertreproduktionen usw. ein, dafs neben ihnen, zumal bei der kurzen Expositionsdauer ein eigentlich \u00e4sthetischer Genufs unm\u00f6glich zu st\u00e4nde kommen konnte. Besonders auffallend sind die vielen rein zuf\u00e4lligen und unkontrollierbaren Assoziationen, z. B. wenn die Statue des Schleifers von Florenz an einen Getreide siebenden Mann, sein Gesicht an einen Frosch, das Gesicht eines Niobiden an einen trinkenden Vogel, die Porta Nigra in Trier an das Heidelberger Schlofs, der tuskanische Tempel an die Berliner National galerie erinnerte. Nat\u00fcrlich beweist alles das nichts f\u00fcr die \u00e4sthetische Bedeutung der Assoziation, sondern im Gegenteil f\u00fcr die v\u00f6llig\u00a9 Unberechenbarkeit solcher Assoziationen, zumal da gar kein Versuch gemacht worden ist, den vor der \u00e4sthetischen Anschauung vorhandenen Vorstellungsvorrat der Versuchspersonen zu analysieren und dadurch die Gesetzm\u00e4fsig-keit bestimmter Assoziationen nachzuweisen.\nOft versteht man die Urteile \u00fcberhaupt nicht, z. B. wenn an einem plastischen Werke die Schattierung als sch\u00f6n oder die Helligkeit als unsch\u00f6n bezeichnet oder eine architektonische Rekonstruktion deshalb mifsbilligt wird, weil sie nur \u00a9ine Zeichnung ist oder nur einen Teil des Bauwerks darstellt. Oder wenn es vom Theseion heifst, es habe zu viel S\u00e4ulen, oder vom toskanischen Tempel, er habe zu wenig (wobei doch offenbar em mittleres Ideal vorausgesetzt wird, dessen Berechtigung oder Notwendigkeit f\u00fcr die betreffende Person zun\u00e4chst nachgewiesen werden m\u00fcfste), oder wenn ein Tempel deshalb nicht sch\u00f6n gefunden wird, weil er (auf der Photographie!) schief steht, oder wenn bei farbigen Reproduktionen die Farben \u00fcberhaupt nicht wahrgenommen werden.\nSolchen Urteilen gegen\u00fcber mufs man sich wirklich fragen, ob es ganz gleichg\u00fcltig ist, welchen Grad von \u00e4sthetischer Bildung 'die Versuchspersonen haben, und ob es \u00a9inen Zweck hat, momentane Einf\u00e4lle, wie sie bei einer Expositionsdauer von nur drei Sekunden entstehen k\u00f6nnen, sorgf\u00e4ltig zu buchen und zur Bildung \u00e4sthetischer Theorien zu benutzen. Vor alen Dingen aber mufs man bezweifeln, ob di\u00a9 the ore tisch-\u00e4sthetische Vor-","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nKonrad Lange.\nbildung der Personen irgend einen Nutzen fur da\u00df Experiment haben kann. So sehr man n\u00e4mlich bei ihnen eine \u00e4sthetische Genu\u00dff\u00e4higkeit im allgemeinen w\u00fcnschen muf\u00df, so sicher ist es, dafg jede theoretische Kenntnis der Fragen, um. die es sich bei dem Experiment handelt, das Urteil beeinflussen wird. Und wem nun gar der Experimentator, was ja 'nicht zu vor-meiden ist, nachtr\u00e4glich Fragen stellt, die sich auf die \u00e4stheti-sehen Theorien beziehen, wie ist es dann m\u00f6glich, dafs die Antworten ganz naiv ausfallen und nur das wiedergeben, was w\u00e4hrend der Anschauung wirklich wahrgenommen und gef\u00fchlt worden ist?\nKurz, ich kann mich auch diesem neuesten Versuche gegen\u00fcber nicht davon \u00fcberzeugen, dafs die experimentelle Methode, wenigstens so wie sie jetzt betrieben wird, f\u00fcr die Kunsttheorie mehr leisten kann als was ein Kunstverst\u00e4ndiger schon auf dem Wege der einfachen Selbstbeobachtung zu leisten imstande ist. Ich will dabei die allgemeinen erkenntmstheoretischen Bedenken, die gegen das psychologische Experiment geltend gemacht werden, nicht einmal besondere urgieren. Es mag zugegeben werden, dafs das psychologische Experiment bei ganz einfachen psychischen Vorg\u00e4ngen wie z. B. Empfindungen und Wahrnehmungen, dem Ged\u00e4chtnis, der Erm\u00fcdung usw., besonders wenn es sich um Reaktionsdauer und andere mefs* und z\u00e4hlbare Erscheinungen handelt, n\u00fctzliches leisten kann. Aber der .\u00e4sthetische Zustand ist denn doch zu kompliziert, als dafs man hoffen d\u00fcrfte, das Verh\u00e4ltnis der einzelnen psychischen Erlebnisse zueinander, besonders ihr dynamisches Verh\u00e4ltnis auf diesem Wege einigermafsen sicher festzustellen.\nIch habe deshalb an die Stelle der experimentellen Methode die kunsthistorische gesetzt. Nat\u00fcrlich war es nicht meine Absicht, die Methode der psychologischen Selbstbeobachtung dadurch zu verdr\u00e4ngen. Diese steht vielmehr auch bei mir immer noch an erster Stelle. Denn es ist selbstverst\u00e4ndlich, dafs 'wir \u00fcber die Gef\u00fchle anderer immer nur nach Analogie unserer eigenen urteilen k\u00f6nnen. Das gilt aber nicht nur f\u00fcr die \u00c4sthetik, sondern f\u00fcr aie Wissenschaften, die sich mit dem geistigen Leben des Menschen besch\u00e4ftigen. Wer wollte z. B. die Motiv\u00a9 des historischen Geschehens richtig beurteilen, ohne aus eigener Erfahrung zu wissen, wie Freiheitsdrang und MachtbewuEstsein, Liebe und Hofs tun? Darum gibt es aber doch ein\u00a9 historische","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"M\nUber die Methode der Kwrutphilosophie.\n401\nMethode, die in ihrer Art selbst\u00e4ndig und von der Selbstbeobachtung unabh\u00e4ngig ist. Wenn sich auch schliefslich aie Dinge letzten Endes auf die eigene psychologische Erfahrung reduzieren lassen, so sind es darum doch verschiedene Methoden, die in den einzelnen Geisteswissenschaften angewendet werden m\u00fcssen. Und in der Kunstphilosophie ist es eben die kunsthistorische Methode, d. h. die Methode der Abstraktion aus dem kunsthistorisch gegebenen Material, die an erster Stelle steht. Die \u201eanderen Menschen\u201c, die man dabei befragt, sind die K\u00fcnstler der Vergangenheit. Und diese unterscheiden sich von den zuf\u00e4llig zusammengew\u00fcrfelten Versuchspersonen des \u00e4sthetischen Experiments dadurch, dafs sie etwas von Kunst verstehen.\nEs ist sehr nat\u00fcrlich, dafs der Blick dabei in erster Linie auf die Bl\u00fcteperioden und innerhalb derselben auf die f\u00fchrenden Meister, das heilst also auf di\u00a9 .klassischen K\u00fcnstler f\u00e4llt. Was Bl\u00fcteperioden und klassische Meister sind, wissen wir ganz genau. Das Urteil der Geschichte und die \u00dcbereinstimmung aller Sachverst\u00e4ndigen hat es erwiesen. Ob Phidias und Praxiteles, Shakespeare und Goethe, Michelangelo und Rembrandt, Mozart und Beethoven klassische Meister sind, brauchen wir nicht erst von Tolstoi untersuchen zu lassen, das wissen wir ganz genau und davon k\u00f6nnen wir als von einer gegebenen Tatsache ausgehen. Und wenn sich irgend ein \u201eIdeal\u201c von Kunst mit ihrem Schaffen nicht vertragen sollte, so werden wir immer noch eher dies\u00ab Ideal als ihr Schaffen verwerfen. Das Studium ihrer Werke wird aber f\u00fcr uns um so fruchtbarer sein, je mehr wir uns bewufst sind, dafs man dabei nicht nur diese grofsen K\u00fcnstler seihst, sondern all die Tausende und Abertausende befragt, die im Laufe der Jahrhunderte durch ihre Werke begeistert und entz\u00fcckt worden sind. Was wollen dieser ungeheuren Menge sch\u00f6pferischer und empf\u00e4nglicher Menschen gegen\u00fcber die paar Versuchspersonen besagen, deren zuf\u00e4llige Urteile man beim Experiment zusammentr\u00e4gt?\nAuch beim Befragen der klassischen Meister und ihrer Werke ist die anzuwendende Methode 'die der Abstraktion. Man fragt erstens, was sie miteinander gemeinsam haben, zweitens wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Die Unterschiede l\u00e4fst man als unwesentlich beiseite, di\u00a9 gemeinsamen Z\u00fcge beh\u00fct man als wesentlich \u00fcbrig. Das ist, wie mir scheint, klar und deutlich.\nVolkelt ist anderer Meinung. \u201eAlles Abstrahieren fuhrt\nZeitschrift f\u00fcr Psyehologl\u00ae 8\u00ab.\t26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nKonrad Lange.\nuns nimmermehr dahin zu erfahren, was die griechischen K\u00fcnstler f\u00fchlten, als sie ihre Trag\u00f6dien schufen, und was in dem griechischen Publikum an den grofsen Dionysian und den Leimen innerlich vorging. Um so tief vorzudringen, m\u00fcssen psychologische, von den Innenerfahrungen des modernen Menschen ausgehende, nach Analogie deutende Verfahrungsweisen angewendet werden. Jenes Abstrahieren ist daher in der Kunstgeschichte an seinem Platz. Hier bildet es eine wesentliche Seite\n\u2022\u2022\nder Methode. In der \u00c4sthetik dagegen kann ihm nur einer, der dem oberfl\u00e4chlichen Anschein folgt, eine grundlegende Bedeutung zuschreiben.\u201c\nWelch seltsame Umdrehung der Tatsachen ! Volkelt statuiert\n_ \u2022\u2022\nhier einen Gegensatz von Kunstgeschichte und \u00c4sthetik, der gar\nnicht existiert. Oder vielmehr, er setzt der Kunstgeschichte\n\u2022 \u2022\neine Aufgabe, die in erster Lime Aufgabe der \u00c4sthetik ist, der \u00c4sthetik dagegen eine solche, die einzig und allein der Kunstgeschichte zuf\u00e4llt. Denn ist es nicht recht eigentlich die Aufgabe des Kunst- d. h. in diesem Falle des Literarhistorikers, eine Einzelerscheinung der Kunstgeschichte wie die Dionysien und Lenften zu verstehen, d. h. eben doch psychologisch zu deuten? Und wenn das der Fall ist, ist es nicht selbstverst\u00e4ndlich, dafs er dabei auch von der eigenen psychischen Erfahrung ausgehen mufs? Freilich nicht von dieser allein, sondern auch von den zeitgen\u00f6ssischen Urteilen, die uns die Wirkung der grofsen Kunstwerke der Vergangenheit auf das Publikum der betreffenden Zeit schildern. Und wie kann man behaupten, dafs das Abstrahieren f\u00fcr die Kunstgeschichte charakteristisch seil Gerade diese hat nur ein geringes Interesse daran, das Gemeinsame an 20 oder 100 oder mehr historischen Ph\u00e4nomenen zu erforschen, ihre erste Aufgabe ist vielmehr, die einzelne historische Tatsache f\u00fcr sich, ans der Kultur ihrer Zeit und des betreffenden Volkes heraus zu verstehen. Wie will man \u00c4sthetik schreiben,\nohne diesen fundamentalen Unterschied von Kunstgeschichte und \u2022\u2022\n\u00c4sthetik zu begreifen?\nAber auch aus anderen Gr\u00fcnden h\u00e4lt Volkelt die abstrahierende Methode f\u00fcr ungen\u00fcgend. \u201eAlles \u00e4sthetische Abstrahieren mufs doch nach einer bestimmten \u00e4sthetischen Richtung, nach einem bestimmten \u00e4sthetischen Mafsstabe, schliefslich : gem\u00e4fs einem \u00e4sthetischen Werturteile erfolgen.\u201c Da haben wir es also. Das Abstrahieren soll nicht etwa dazu dienen, etwas, was","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode der Kunstph\u00fcosophie.\n403\nman noch nicht weife, was noch streitig ist, durch vorurteilslose Pr\u00fcfung der Tatsachen zu ermitteln, sondern vielmehr das, was man \u2014 a priori \u2014 weife, nachtr\u00e4glich zu best\u00e4tigen. Erst soi \u201eaus der Tiefe des Gem\u00fcts44 bestimmt werden, was \u00e4sthetisch sch\u00f6n, d. h. menschlich bedeutsam ist, dann soll dieses Etwas, was sich vielleicht bei ein paar dem eigenen Empfinden besonders nahestehenden Kunstwerken findet, als charakteristisch f\u00fcr die Kunst \u00fcberhaupt nachgewiesen werden. Denn nur die Werke, in denen es nachgewiesen werden kann, sollen zur Normgebung dienen, alle \u00fcbrigen beiseite gelassen werden. Es scheint, dafs Volkelt diese Methode f\u00fcr empirisch h\u00e4lt. Ich brauch\u00a9 nicht darauf aufmerksam zu machen, dafs sie sich mit der gleich zu Anfang charakterisierten Methode Tolstois und Laubila s vollkommen deckt.\nWiederum exemplifiziert Volkelt seine Methode nicht am Kunstsch\u00f6nen, d. h. \u00e4sthetisch Wirksamen, sondern an einer bestimmten Kategorie des K\u00fcnstlerischen. \u201eMan will beispielsweise Me Bestandteile und Bedingungen des Gef\u00fchls vom Tragischen ermitteln. In welchem Sinne ist die griechische Trag\u00f6die daf\u00fcr malsgebend? Darf man die Abstraktion auch auf Caldebon ausdehnen? Und auf Zola, Ibsen, b\u2019Annunzio, Maeterlinck? Hier\u00fcber kann durch die Methode der kunstgeschichtlichen Abstraktion schlechtweg nichts bestimmt werden. Der Abstraktion m\u00fcfste eine Untersuchung dar\u00fcber vorausgehen, welcher charakteristische und menschlich wertvolle Gef\u00fchls- und Phantasietypus ins Auge zu fassen sei, wenn vom Tragischen die Rede ist. Und diese Untersuchung kann offenbar nur auf psychologischem Wege gef\u00fchrt werden.\u201c\nIch will die Frage des Tragischen hier nicht wieder aufrollen \u25a0und nur beil\u00e4ufig bemerken, dafs nach meiner \u00dcberzeugung das Tragische, wenn es \u00fcberhaupt einen Sinn haben soi, nichts .anderes sein kann als das in die Kunst \u00fcbersetzte oder in der\nKunst darstellbare Traurige. Sieht man bei der Bestimmung\n_ ^ _ \u2022\u2022\n\u25a0dieses Begriffs, wie es Volkelt und die anderen \u00c4sthetiker tun,\nvon der k\u00fcnstlerischen Darstellbarkeit ab und h\u00e4lt sich nur\nan den Inhalt, so kann mm ihn umgrenzen, wie man will, denn\n\u25a0die Umgrenzung geschieht ja nur in der Form, dafs man diese\noder jene ethische, d. h. aufserk\u00fcnstlerische Forderung an ihn.\nstellt. Will man dann nach dieser auf aufserk\u00fcnstlerischem\nWege gefundenen Definition die Erscheinungen des Lebens und\n26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nKonrad Lange.\ndie Sch\u00f6pfungen der dramatischen Poesie durchnehmen und bestimmen, was von ihnen tragisch und was nicht tragisch genannt werden darf, so ist das ein ganz hubscher Sport, mit dem wenig Unheil angerichtet wird. Aber Wissenschaft ist es nicht. Wissenschaft ist es vielmehr, wenn man die Sch\u00f6pfungen, die dramatisch wirksam sind, m\u00f6glichst umfassend zusammensteHt \u25a0und rein empirisch untersucht, was sie miteinander gemeinsam haben. Dieses Gemeinsame ist dann eben das k\u00fcnstlerisch Wirksame. Ob man dieses, aufserdem tragisch, oder komisch oder tragikomisch nennen will, ist 'wirklich ziemlich gleichg\u00fcltig, kommt jedenfalls erst in zweiter Linie in Frage.\nWarum nennt nun Volkelt bei der Aufz\u00e4hlung der Dichter, deren Werke bei der empirischen Untersuchung heranzuziehen w\u00e4ren, auch zwei Dekadents wie d'Annunzio und Maeterlinck? Etwa um die Methode der Abstraktion zu diskreditieren ? Das kann doch nicht sein, denn ich habe ja selbst betont, dafs man bosser tue von der modernen noch nicht allgemein anerkanntem Kunst abzusehen, um das Beweismaterial m\u00f6glichst rein zu erhalten. Aber freilich, damit ist Volkelt wieder nicht einverstanden, denn er sagt: \u201eWarum sollte es von vornherein unm\u00f6glich sein, dais sich das \u00e4sthetische F\u00fchlen in wesentlichen St\u00fccken in der neueren Zeit verfeinert habe?\u201c Nun gut, wenn D\u2019Annunzio mod Maeterlinck das \u00e4sthetische F\u00fchlen in bezug auf das Tragische wesentlich verfeinert haben, 'warum sollte man ihre Werke bei der Bestimmung des Tragischen nicht heranziehen? Wenn sie es aber \u2014 wie ich nebenbei gesagt glaub\u00a9 \u2014 nicht verfemart haben, ist es dann nicht vorsichtiger sie wegzulassen? Was ist nun eigentlich Volkelts Meinung? Offenbar dafs ihre Werke nur insoweit herbeigezogen werden d\u00fcrfen, .als sie zu dem vorher feststehenden Ideal des K\u00fcnstlerischen oder Tragischen passen. Sieht er denn den Circulus vitiosus nicht, in dem er sich da bewegt?\n\u201eOder es werde \u00fcber das Eigent\u00fcmliche des Romans gehandelt. D\u00fcrfen der Abstraktion auch der naturalistisch beschreibende und der psychologisch zergliedernde und dtf stimmungsvoll lyrisch\u00a9 Roman als gleichwertig mit den Romanen etwa Goethes, Scotts, Dickens zugrunde gelegt werden ?\u201c Hierauf kann ich nur erwidern: Warum nicht, wenn sie gut sind, wenn sie k\u00fcnstlerisch wirken? Wirken sie aber nicht oder nur auf eine kleine Minderzahl von Lesern, d. h. hat sieh das Urteil \u00fcber sie","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode der Kunatph\u00fcoaophie.\n405\nnoch nicht gekl\u00e4rt, so wird man wiederum gut tun, sie bei der Abstraktion wegzulassen. Es gibt ja genug klassische Werke, \u00fcber die \u00a9in Zweifel nicht besteht, und die zu einer Abstraktion vollkommen ausreichen.\nIn Wirklichkeit hat auch di\u00a9 \u00c4sthetik, soweit sie Kunstlehre ist, von jeher die klassischen Meisterwerke zur Feststellung ihrer Normen benutzt. Ich kenne keine Poetik, in der nicht Sophokles und Shakespeare und Goethe eine mafsgebende Rolle spielten. Es ist also gar nichts Neues, was die kunsthistorische Methode fordert. Der Unterschied ist nur der, dafs sie das empirische Material umfassender herbeizieht als es bisher herbeigezogen wurde, indem sie n\u00e4mlich alle klassischen Meister ohne Ausnahme bei der Abstraktion ber\u00fccksichtigt. Und dies braucht wohl nicht n\u00e4her begr\u00fcndet zu werden. Denn der Fehler der fr\u00fcheren \u00c4sthetik bestand ja gerade darin, dafs sie einzeln\u00a9 Meister und Schulen willk\u00fcrlich aus der Betrachtung ausschlofs, z. B. Normen entwickelte, die zwar auf Phidias und Praxiteles, Raphael und .Michelangelo pafsten, nicht aber auf D\u00fcber und Rembrandt, Murillo und Velazquez. Daraus entstanden dann Kunstlehren wie diejenige Winckelmanns und Lessings oder der Romantiker, bei denen die realistischen Kunstrichtungen entweder ganz unber\u00fccksichtigt blieben oder wenigstens in ungen\u00fcgender Weise ber\u00fccksichtigt wurden. Lediglich gegen dies\u00a9 Einseitigkeit richtet sich das, was ich die kunstMstorische Methode nenne, und was ganz einfach darauf hinausl\u00e4uft, den Beweis auf m\u00f6glichst breit\u00a9 Grundlage zu stellen.\nNun meint Volkelt freilich, dafs \u201eden Kunstwerken auch in den Bl\u00fcteperioden gar viele stoffliche, \u00a9inseitig religi\u00f6se, einseitig auf Belehrung ausgehende (?) Gef\u00fchle entsprochen haben, zu deren Ausscheidung die Methode der kunstgeschichtlichen Abstraktion von eich aus nicht das mindeste Recht hat, die man vielmehr erst vom Standpunkt der modernen hochentwickelten Kunst ausscheiden kann.44 Gewifs hat es in den Zeiten der klassischen Kunst ebensogut Kunstbanausen und Kunstverst\u00e4ndige gegeben wie heutzutage, aber gerade die Feststellung dieser Tatsache ist 'f\u00fcr die Kunstphilosophie von der allergr\u00f6fsten Wichtigkeit. Sie zeigt n\u00e4mlich, dafs es verschiedene Arten des \u00e4sthetischen Genusses, verschiedene Abstufungen in der Reinheit der \u00e4sthetischen Anschauung gibt. Und wenn nun eine dieser Anschauungsarten das Sinnliche, Moralische usw. ausschliefst, so geht schon daraus","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nKonrad Lange.\n\u2014 nach der Methode der Abstraktion \u2014 hervor, dafs dieses f\u00fcr das K\u00fcnstlerische nicht wesentlich sein kann. Welche von diesen Anschauungsarten nun die h\u00f6here und welche die niedere ist, das kann man wiederum nur empirisch feststellen, und daf\u00fcr sind gerade die Bl\u00fcteperioden besonders wichtig, weil wir aus ihnen die Urteile der K\u00fcnstler selbst haben, die uns \u00fcber das aufki\u00e4ren, was sie an der Kunst f\u00fcr ausschlaggebend hielten. Und wenn wir mm aus diesen Aufserungen entnehmen k\u00f6nnen, dafs sie an der Kunst in erster Linie die Illusionskraft sch\u00e4tzten, wenn Bubbe sagt: Wahrlich die Kunst steckt in der Natur, wer sie heraus kann reifsen, der hat sie, oder Lionabdo : Dasjenige Bild ist das beste, das seinem Vorbilde am meisten gleicht, so ist das ein Beweis f\u00fcr die \u00e4sthetische Bedeutung der Naturwahrheit, der von unserer Selbstbeobachtung ganz unabh\u00e4ngig ist. Solchen Ausspr\u00fcchen gegen\u00fcber ist es v\u00f6llig gleichg\u00fcltig, ob irgend ein moderner Philosoph oder Kunstkritiker auf Grand seiner Selbstbeobachtung die Treue der Natumachahmung \u2014 in dem von mir schon oft charakterisierten k\u00fcnstlerischen, d. h. illusionistischen Sinne \u2014 f\u00fcr die wesentliche Aufgabe der Kunst oder f\u00fcr einen 'Irrweg h\u00e4lt, jene K\u00fcnstler sahen eben in ihr das eigentliche Ziel der Kunst. Das ist eine historische Tatsache, \u00fcber die wir uns durch keine Spitzfindigkeiten und Sophismen hinwegt\u00e4uschen\nk\u00f6nnen, eine historische Tatsache, die wir als empirisches Material \u2022\u2022\nf\u00fcr die \u00c4sthetik benutzen m\u00fcssen. Und wenn diese selben K\u00fcnstler auf der anderen Seite \u201edas Sch\u00f6ne\u201c, das heilst eine Auswahl aus der Natur im Sinne eines historischen Sch\u00f6nheitsideals ak Aufgabe der Kunst proklamieren, so haben wir eben diese beiden einander scheinbar widersprechenden Mehlungen ihrer Kunsttheorie als empirisches Material zu benutzen und nachzuweisen, dafs zwar ihre Absicht bei allen ihren Kunstsch\u00f6pfungen auf Illusion gerichtet war, dafs sie aber auch die aus-w\u00e4hlende, ordnende, kurz stilisierende T\u00e4tigkeit des K\u00fcnstlers nicht aufser Acht liefsen, ja sogar als etwas Selbstverst\u00e4ndliches ansahen. Und weiter m\u00fcssen wir dann nachweisen, dafs gerade in dieser Zweiheit der Intentionen der Beweis f\u00fcr jene Zweiheit der Vorstellungsreihen innerhalb des Kunstgenusses legt, in der wir nach unserer Selbstbeobachtung das Wesen der \u00e4sthetischen Anschauung erkennen. Der kunsthistorische Beweis ist also keineswegs von der Selbstbeobachtung abh\u00e4ngig, sondern im Gegenteil die Selbstbeobachtung erh\u00e4lt durch ihn eine St\u00fctze und Best\u00e4tigung. Und","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode der Kunstphilosophie.\n407\nwenn es wahr ist \u2014 was sich ja nicht leugnen l\u00e4fst \u2014 dafs auch die klassischen K\u00fcnstler, befangen in gewissen \u00e4sthetischen Theorien des Altertums, die Aufgabe der Kunst in einer wirk-liehen T\u00e4uschung erblickten und dementsprechend eine grobsinnliche Wirkung derselben f\u00fcr m\u00f6glich und unter Umst\u00e4nden w\u00fcnschenswert hielten, so haben wir dies in der Weise, wie ich es getan habe, als Irrtum nachzuweisen und diesen Irrtum dadurch zu erkl\u00e4ren, dafs wir in ihm nur die ein\u00a9 Seite ihrer theoretischen \u00dcberzeugung erblicken, w\u00e4hrend wir andererseits aus ihrer Betonung der technischen Seite, der k\u00fcnstlerischen \u00dcberlegung usw. festzustellen haben, dafs auch sie neben der Vorstellung der Natur di\u00a9 Vorstellung der k\u00fcnstlerischen Pers\u00f6nlichkeit f\u00fcr den Kunstgenufs forderten. Hier f\u00fchrt uns also der kunsthistorische Beweis auf rein induktivem, ich m\u00f6chte sagen rein empirisch -philologischem Wege zu derselben Deutung der Illusion als einer bewufsten Selbstt\u00e4uschung, die wir bisher nur aus der Selbstbeobachtung und aus der Ber\u00fccksichtigung des Sprachgebrauchs gewonnen hatten. Und wir haben durchaus nicht n\u00f6tig, mit einem unzufriedenen Kritiker meines \u201eWesens der Kunst\u201c zu behaupten, aus diesen K\u00fcnstlerzeugnissen k\u00f6nne man schliefslich alles herauslesen, und wenn die alten K\u00fcnstler gewufst h\u00e4tten, wozu man einmal ihre harmlosen Bemerkungen mifsbrauchen w\u00fcrde, so h\u00e4tten sie sich wohl geh\u00fctet, dieselben niederzuschreiben und der Nachwelt zu \u00fcberliefern.\nAn die letzte Stelle habe ich endlich die entwicklungs-geschichtliche Betrachtungsweise gestellt. Der Irrtum, dais ich die ganze Kunstphilosophie auf entwicklungsgeschichtliche Grundlage stellen wolle, ist durch den etwas unvorsichtig gew\u00e4hlten Titel einer vor Jahren erschienenen Rezension des Gaoosschen Buches \u00fcber die Spiele der Tiere veranlagt worden.1 Aus meinem \u201eWesen der Kunst\u201c geht f\u00fcr jeden unbefangenen Leser hervor, dafs ich der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise nur neben und nach den anderen Methoden einen Platz anweise und dafs die Richtigkeit meiner Theorie keineswegs von ihr abh\u00e4ngt. Dafs die Vertreter der idealistischen Philosophie in dieser Betrachtungsweise allerlei Darwinistisches wittern und sie deshalb von vornherein ablehnen 'w\u00fcrden, war ja vorauszusehen. Das hindert mich nicht, sie in der vor-\n1 Zeitschrift f. Psychol, u. Physiol d. Sinnesorgane 14, S. 242 ff.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nKonrad Lange.\nsichtigen Form, wie ich sie zuletzt formuliert habe, auch nach dem \u00fcbrigens sehr verklausulierten Widerspruch Voukeuts festzuhalten.\nWenn wir von Entwicklung sprechen, so k\u00f6nnen wir ein Doppeltes meinen: Erstens Entwicklung des Individuums und zweitens Entwicklung der Gattung. Ob eine Entwicklung der Gattung vom Niederen zum H\u00f6heren, oder gar eine Entwicklung einer Art aus der anderen stattfindet, wissen wir nicht. Das h\u00e4ngt von der Entscheidung \u00fcber die Vererblichkeit erworbener Eigenschaften ab, \u00fcber die die Urteile der Naturforscher bis auf diesen Tag auseinandergehen, obwohl sie bisher von niemandem widerlegt worden ist. Dafs aber innerhalb der Gattung sowohl wie innerhalb der Altersstufen des Individuums niedere und h\u00f6here Stufen der k\u00f6rperlichen und intellektuellen Entwicklung zu unterscheiden sind, ist wohl niemals im Ernst bestritten worden. Und dafs diese Unterschiede auch f\u00fcr die \u00e4sthetische Anschauung Geltung haben, d\u00fcrften wir von vornherein voraussetzen, auch wenn wir es nicht fortw\u00e4hrend empirisch beobachten k\u00f6nnten. Jedermann hat an sich selbst die Erfahrung gemacht, dafs er als Kind die Kunst anders aufgefafst hat wie als Erwachsener. Jedermann redet von \u00e4sthetisch Ungebildeten und Gebildeten, von einer \u00e4sthetischen Erziehung, von einer allm\u00e4hlichen Ent-Wicklung des \u00e4sthetischen Verst\u00e4ndnisses usw., was ja alles keinen Sinn h\u00e4tte, wenn man die \u00e4sthetische Bildung aller Menschen f\u00fcr gleichwertig Welte. Die Aufgabe der Kunstphilosophie ist nun nicht, diese Verschiedenheit zu konstatieren oder auch irgend eine Stuf\u00a9 der \u00e4sthetischen Anschauung willk\u00fcrlich als die h\u00f6chste herauszugreifen, sondern die Entwicklung vom niederen zum h\u00f6heren im einzelnen nachzuweisen und zu erkl\u00e4ren. Dies tut sie, indem sie zeigt, dafs sowohl beim Individuum wie bei der Gattung der \u00e4sthetische Zustand, je h\u00f6her die intellektuelle Bildung und je intensiver die Besch\u00e4ftigung mit der Kunst ist, um so mehr von grob sinnlichen Interessen, von Belehrungsabsichten, von moralischen Einwirkungen usw. losgel\u00f6st erscheint und in der reinen Illusion gipfelt.\nUm aber diesen Nachweis f\u00fchren zu k\u00f6nnen, mufs die Kunstphilosophie neben den h\u00f6heren Stufen der \u00e4sthetischen Entwicklung, die sie auf dem Wege der Selbstbeobachtung und der Befragung der klassischen Meister kennen zu lernen sucht, auch die niederen Stufen einer genauen Betrachtung unterziehen. Dies f\u00fchrt sie","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Methode der Kunstphilosophie.\n409\nzun\u00e4chst zur Kunst der Naturv\u00f6lker und des pr\u00e4historischen Menschen. Hier\u00fcber haben 'wir erat in den letzten Jahrzehnten etwas N\u00e4heres erfahren, und es ist begreiflich, dafs die philosophisch\u00a9 \u00c4sthetik, die das Wesen des Sch\u00f6nen schon vorher festgestellt hatte, sich dadurch ihre Kreise nicht gern\u00a9 st\u00f6ren lassen m\u00f6chte. Volkelt begr\u00fcndet dies\u00a9 Abneigung mit dem Hinweis darauf, dafs wir von den Naturv\u00f6lkern die Hauptsache, um di\u00a9 es sich handelt, n\u00e4mlich ihren \u00e4sthetischen Zustand 'beim Genufs der Kunst doch nicht erfahren k\u00f6nnten, weil wir gar nicht w\u00fcfsten, ob ihr \u00e4sthetisches Verhalten dem unsrigen gleich sei. Und Laurila meint, man m\u00fcsse, ehe man di\u00a9 Anf\u00e4nge der Kunst untersuche, schon wissen, was Kunst sei, denn das primitive Kunstwerk sei durchaus nicht, wie man meinen k\u00f6nnte, \u00fcbersichtlicher und reiner, sondern im Gegenteil komplizierter und unvollkommener als das hochentwickelte.\nBeide Einwendungen beweisen nur das Gegenteil von dem, was sie beweisen sollen, n\u00e4mlich dafs wir diese primitiv\u00a9 Kunst sehr sorgf\u00e4ltig studieren m\u00fcssen und dafs dazu di\u00a9 Selbstbeobachtung nicht ausreicht. Es ist n\u00e4mlich sicher, dafs wir aus unserem Seelenleben nicht unmittelbar auf das der Primitiven schliefsen d\u00fcrfen. Wir w\u00fcrden sonst, wie Grosse einmal richtig bemerkt, denselben Fehler machen, den Kinder begehren, wenn aie der Hummel deshalb, weil sie brummt, Gef\u00fchle des Zornes andichfen. Aber daraus schliefsen wir eben, dafs wir uns von der Selbstbeobachtung emanzipieren, d. h. die Primitiven selbst fragen m\u00fcssen, was sie mit ihrer Kunst wollen und wie sie ihre Kunst geniefsen. Und das haben schon viel\u00a9 Reisend\u00a9 getan. Wenn die M\u00e4nner eines Naturvolkes den Reisenden sagen, sie bemalten ihren K\u00f6rper, um ihren Weibern zu gefallen, so wissen wir, dafs di\u00a9 K\u00f6rperbemalung wie jeder K\u00f6rperschmuck einen sexuellen Nebensinn hat. Und wenn die Indianer Zentral-brasiliens ein rautenf\u00f6rmiges Ornament, das uns einen rein geometrischen Eindruck macht, f\u00fcr einen Fisch erkl\u00e4ren, so 'wissen wir, dafs sie durch geometrische Ornamente zuweilen zu Naturvorstellungen angeregt werden. Alles dies wissen wir unabh\u00e4ngig von unserer Selbstbeobachtung, zuweilen sogar im Gegensatz zu derselben. Anderes freilich, wor\u00fcber wir keine unzweideutigen Zeugnisse haben, m\u00fcssen wir im Hinblick auf di\u00a9 Einheit der menschlichen Gattung nach Analogie unseres Seelen-lebens deuten. In dieser Beziehung sind wir aber den Naturv\u00f6lkern","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nKonrad Lange.\ngegen\u00fcber nicht ung\u00fcnstiger gestellt als den Kulturv\u00f6lkern gegen\u00fcber. Es ist gewifs nicht schwieriger, die Gef\u00fchle zu ermitteln, die die Eskimos beim Anblick ihrer Her- und Jagdzeichnungen haben, als die Gef\u00fchle, die die Griechen des f\u00fcnften Jahrhunderts beim Anblick ihrer Trag\u00f6dien beseelten. Im Gegenteil, ich glaube, dals sich ein Reisender, der jahrelang mit Primitiven zusammen gelebt hat, durch wiederholtes Ausfragen und systematisches Beobachten viel besser \u00fcber den seelischen Zustand des von ihm beobachteten Naturvolkes unterrichten kann als ein Philolog, der aus den l\u00fcckenhaften schriftlichen Quellen \u00fcber den Seelenzustand eines seit Jahrhunderten verschwundenen Kulturvolkes urteilen soll.\nWenn also Volkelt sagt: \u201eEs k\u00f6nnte ja z. B. so sein, dafa T\u00e4nze und Ges\u00e4nge der Wilden, die der moderne Zuschauer und Zuh\u00f6rer ganz wohl \u00e4sthetisch zu geniefsen imstande ist, von den Wilden selbst mit kriegerisch oder geschlechtlich oder fanatisch-religi\u00f6s erregtem Gem\u00fctsleben begleitet w\u00fcrden\u201c, so kann ich darauf nur erwidern: Es k\u00f6nnte nicht nur so sein, sondern es i s t tats\u00e4chlich so. Die Ethnologie hat l\u00e4ngst konstatiert, d&b die Primitiven nicht rein \u00e4sthetisch geniefsen, sondern dafs ihr \u00e4sthetischer Genufs aufs engste mit allerlei praktischen und sinnlichen Interessen zusammenh\u00e4ngt. Und das ist es auch, was Laukila veranlafst hat, das primitive Kunstwerk f\u00fcr komplizierter zu erkl\u00e4ren als das reif ent wickelte. Aber sollen wir es darum aus der Betrachtung ausscheiden ? Ich glaube, jeder Unbefangene wird das Gegenteil daraus schliefsen, und auch die beiden genannten Gelehrten wollen ja die primitive Kirnst keineswegs unber\u00fccksichtigt lassen. Sie wollen nur, wenn ich sie richtig verstehe, den niederen Standpunkt nicht als den entwicklungsgeschichtlich fr\u00fcheren anerkennen. Nun, dar\u00fcber kann man streiten. Die Entscheidung h\u00e4ngt nat\u00fcrlich davon ab, ob man \u00fcberhaupt eine Entwicklung der Gattung in k\u00f6rperlicher und geistiger Beziehung zugibt oder nicht. Wer auf dem Standpunkt steht, dafs der Rentierj\u00e4ger und H\u00f6hlenmensch der Dordogne dieselbe Stufe der Kultur repr\u00e4sentiert wie Leonardo da Vinci, der wird das unangenehme Wort \u201eEntwicklung\u201c f\u00fcglich aus der \u00c4sthetik ausscheiden k\u00f6nnen. Mir als Kunsthistoriker mufs man es schon zugute halten, wenn ich nicht alle Entwicklungsstufen f\u00fcr gleichberechtigt halte, sondern annehme, dafs der Mensch sich tats\u00e4chlich, wenn man von den","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nUber die Methode der Kunstph\u00fcosophie.\n411\nperiodischen R\u00fcckf\u00e4llen absieht, von einer niederen zu einer h\u00f6heren Kunststufe entwickelt hat.\nUnd dies scheint mir durch eine Untersuchung des Kindes\nin seinem Verh\u00e4ltnis zur Kunst nur' best\u00e4tigt zu werden. Denn\ndie Kunst des Kindes, die ja kein Mensch f\u00fcr etwas anderes als\neine niedere und fr\u00fchere Stufe des \u00e4sthetischen Verhaltens im\nVergleich mit der des Erwachsenen halten kann, hat, 'wie l\u00e4ngst\n\u2022\u2022\nbemerkt worden ist, grofse \u00c4hnlichkeit mit der Kunst der Primitiven. Auch hier meint Volkelt freilich, man k\u00f6nne nicht \u00fcber eine grobe und ungewisse Skizzierung der .kindlichen Innenvorg\u00e4nge hinauskommen. \u201eMan denke etwa nur, es wollte jemand, weil die Kinder den M\u00e4rchen mit stofflicher Neugier und Ungeduld und mit moralischer Billigung und Mifsbilligung lauschen, eben hieraus den Mafsstab entnehmen, dafs Neugier, Ungeduld, moralisches Tadeln und Loben Merkmale des \u00e4sthetischen Verhaltens seien.4 Ob diesen Schlufs schon jemand gezogen hat, ist mir unbekannt. Jedenfalls liegt es aufserordentlich nahe anzunehmen, dafs diese unreine Art des \u00e4sthetischen Genusses, eben weil sie f\u00fcr das Kind charakteristisch ist, eine niedere und fr\u00fchere Art des .\u00e4sthetischen Genusses \u00fcberhaupt repr\u00e4sentiert. Und warum wir bei der Lebhaftigkeit und Naivit\u00e4t der meisten .Kinder \u00fcber die Art ihrer \u00e4sthetischen Lust und Unlust nicht ebensogut sollten urteilen k\u00f6nnen wie \u00fcber den Kunstgenu\u00df aller anderen Menschen, weifs ich wirklich nicht.\nDafs auch die Tiere gewisse \u00e4sthetische Regungen haben, ist seit D.ABWH\u00ce allgemein angenommen worden, wie man ja auch in den Kreisen der Philosophen und Zoologen jetzt allgemein von einer \u201eTierpsychologie4 spricht. Hier liegt die Sache ja nun freilich insofern schwieriger, als die Tiere uns nicht selber sagen k\u00f6nnen, was sie bei ihren Spielen und nachahmenden T\u00e4tigkeiten empfinden. Wir sind also hier mehr als in den anderen Gebieten auf Analogieschl\u00fcsse aus der Selbstbeobachtung angewiesen, wobei wir geneigt sein werden, unsere Gef\u00fchle unwillk\u00fcrlich den Tieren unterzulegen. Dafs dies ein sehr unsicheres Verfahren ist, hat Volk Elt mit Recht betont. \u201eWie soll ich dar\u00fcber entscheiden lassen, von welcherlei Gef\u00fchlen und Vorstellungen V\u00f6gel, Fische, Schmetterlinge bewegt werden, wenn, sie das farbenreiche gl\u00e4nzende Kleid ihrer Artgenossen erblicken oder sich beim Liebeswerben in allerhand Spielen ergehen.4 Allein man mnfs doch bedenken, dafs auch das Tier Mittel hat, seiner","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nKonrad Lange.\nFremde und seinem Schmerz Ausdruck zu geben, und data wir schon aus der intensiven Art, wie es eine T\u00e4tigkeit aus\u00fcbt, seh\u00fcefsen k\u00f6nnen, dafs es Freude daran hat. Und wenn wir nun sehen, dafs es die kunst- oder spielartigen T\u00e4tigkeiten besonders h\u00e4ufig beim Liebeswerben oder im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme aus\u00fcbt, wenn wir ferner bemerken, dafs diese Spiele in ihren Formen, z. B. der Illusion, manche \u00c4hnlich-keil mit den analogen T\u00e4tigkeiten der Menschen aufwei\u00dfen, ist es da wirklich so phantastisch und unmethodisch, wenn wir die Statuierung einer niederen mit sinnlichen Interessen gemischten \u00e4sthetischen Anschauung, die wir schon bei den Primitiven und Kindern vorgenommen hatten, auch auf die Tierwelt ausdehnen? Und wird die W\u00fcrde des Menschengeschlechts irgendwie dadurch verletzt, dafs man aufzeigt, wie es sich allm\u00e4hlich \u00fcber die Tierwelt erhoben, gewiss\u00a9 K\u00fcnste \u00fcberhaupt zuerst ausgebildet und sein \u00e4sthetisches Empfinden dann im Laufe der Entwicklung immer mehr verfeinert hat? Es kommt mir wirklich manchmal etwas seltsam vor, wenn Vertreter der Geistes Wissenschaften schon bei dem Worte \u201eEntwicklung\u201c nerv\u00f6s werden, statt sich klar zu machen, dafs die Naturwissenschaften den Entwicklungsgedanken ja erst aus den Geistes Wissenschaften entlehnt haben, und daJs man viel fr\u00fcher von einer geistigen als von einer k\u00f6rperlichen Entwicklung gesprochen hat.\nDas wesentliche Ergebnis dieser entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise ist nun die Erkenntnis, dafs es kein\u00a9 einheitliche Art des Kunstgenusses gibt, sondern Entwicklungsformell, di\u00a9 sich in mannigfachen Abstufungen zwischen einem Niederen zu einem H\u00f6heren, einem Unreinen und einem Reinen bewegen. Die wichtigste Frage f\u00fcr die \u00c4sthetik ist nun die: L\u00e4fst sich dies H\u00f6here und Reinere empirisch fixieren, l\u00e4fst sich innerhalb dieser Entwicklung \u00a9in Punkt als der h\u00f6chste nachweisen, demgegen\u00fcber sich die anderen Stufen nur als Vorstufen oder Niedergangserscheinungen darstellen? Oder sind all diese Stufen gleichberechtigt, einerlei wie weit sie von einem bestimmten Punkte abstehen I\nUnd hier trennen sich nun die Wege der herrschenden \u00c4sthetik\nund die der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise. Die\n\u2022\u2022\nherrschende \u00c4sthetik geht von der .\u00e4sthetischen Anschauung des \u201emodernen Kulturmenschen\u201c als von einer ein f\u00fcr alternai feststehenden Sache, von einem, selbstverst\u00e4ndlichen Ideal aus, an","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"mm\nUber die Methode der Eumtphilosophie.\n413\ndem alle anderen Erscheinungen gemessen werden m\u00fcssen, die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung dagegen stellt die modernen Kulturmenschen in ihrem Verh\u00e4ltnis zur Kunst durchaus nieht alle auf dieselbe Stufe, sondern sucht das Ideal empirisch, d. h. aus dem vorurteilslosen Vergleich der verschiedenen\n\u2022 #\nStalen heraus zu entwickeln. Zwar lehnt die herrschende \u00c4sthetik\nden Entwicklungsgedanken keineswegs prinzipiell ab. So h\u00e4lt z.B.\nVolkelt entwicklungsgeschichtliche Erw\u00e4gungen in der \u00c4sthetik\nf\u00fcr durchaus berechtigt und betont auch bei jedem der erw\u00e4hnten\nBeweismittel, dafs es f\u00fcr die \u00e4sthetische Forschung nicht ohne\nWert sei. Aber nach seiner \u00dcberzeugung ist der Gegenstand\nder \u00c4sthetik nicht entwicklungsgeschichtlich ausgedehnt,\nsondern im Gegenteil entwicklungsgeschichtlich eingeschr\u00e4nkt.\n\u201eDer \u00c4sthetiker hebt nicht nur in menschheitlich-, sondern auch\nin individuell-entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht eine bestimmte\nStufe heraus.41 Diese Stufe ist in phylogenetischer Hinsicht die\ndes modernen Kulturmenschen, in ontogenetischer die des reif\n\u2022\u2022\nentwickelten Erwachsenen. \u201eDer \u00c4sthetiker ist mit seinen Feststellungen und Beweisen an die \u00e4sthetische Entwicklungsstufe seiner Zeit gebunden. Er darf nur den Anspruch erheben, die \u00e4sthetische Gef\u00fchlsweise, zu der sich die Kultur seiner Zeit in ihren reifsten und h\u00f6chststehenden Vertretern entwickelt hat, auf ihre Normen zu bringen.41 \u201eSein Hauptaugenmerk ist auf die Gef\u00fchle und Bed\u00fcrfnisse des \u00e4sthetisch ansgereiften Menschen gerichtet, seine Normgebung wird von diesem Boden aus unter nominell.\u201c\nWenn dies die Aufgabe der \u00c4sthetik w\u00e4re, so w\u00fcrde sie sich von Kunstgeschichte nicht unterscheiden. Denn das \u00e4sthetische Empfinden einer bestimmten Periode zu ermitteln ist recht eigentlich Aufgabe des Kunsthistorikers, das der Gegenwart zu ermitteln, Aufgabe des modernen Kunsthistorikers. Man m\u00fcfste denn, die Aufgabe der Kunstgeschichte, wie es Volkelt zu tun scheint, in dem Zusammentragen von historischen Tatsachen, der Beschreibung der Technik, des Stils usw. nach ihren \u00e4ufseren Merkmalen erblicken. Die \u00c4sthetik f\u00e4ngt, wie gesagt, erst jenseits an-, erst da, wo aus verschiedenen, und zw\u00bb allen historischen Erscheinungen allgemeine Wahrheiten abstrahiert werden. Gerade deshalb ist aber die \u00c4sthetik nicht entwicklungsgeschichtlich eingeschr\u00e4nkt, sondern entwicklungsgeschichtlich (und historisch) ausgedehnt.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nKonrad Lange.\nUnd zwar ist ihre Aufgabe die, ausdenempirischen Tatsachen der Entwicklung heraus das Ideal des \u00e4sthetischen Genusses nachzuweisen. Denn die Supposition, dafs \u201eder moderne Kulturmensch\" dieses Ideal repr\u00e4sentierte, ist ein Petitio principii. Er repr\u00e4sentiert es nur insoweit, als er \u00e4sthetisch gebildet ist, in seinem \u00e4sthetischen Verhalten mit den grofsen K\u00fcnstlern der Vergangenheit \u00fcbereinstimmt und gegen\u00fcber den Tieren, Kindern, Primitiven, Ungebildeten usw. tats\u00e4chlich anders, d. h. reiner und h\u00f6her empfindet. Und nicht von jedem modernen Kulturmenschen kann man dies sagen. Es gibt sehr gebildete Menschen, die \u2014 wahrscheinlich infolge gewisser Grenzen, die ihrer Begabung gesetzt sind \u2014 niemals die Stuf\u00a9 des reinen \u00e4sthetischen Genusses erreichen. Ein sehr frappantes Beispiel daf\u00fcr ist mir Laurila. Unsere \u00c4sthetiker stimmen wohl aie darin \u00fcberein, dale das einseitig stoffliche Interesse des .Kindes, die starke Lust- und Unlustempfindung, mit der es z. B. dem fr\u00f6hlichen und traurigen Inhalt der Erz\u00e4hlungen folgt, kein rein \u00e4sthetischer Genufs ist. Sie stimmen ferner darin \u00fcberein, dafs jede Kunst, einerlei ob sie einen h\u00e4fslichen oder sch\u00f6nen Inhalt hat, Lust gew\u00e4hrt, wenn sie nur wirkliche Kunst ist, d. h. die Bedingungen der k\u00fcnstlerischen Wirkung erf\u00fcllt. Laurila ist der entgegengesetzten Ansicht. Er meint: \u201eWenn es einmal feststeht, dafs dasjenige, was in einem Kunstwerk dargestellt ist, in der Wirklichkeit einen vorwiegend unlustvolen Eindruck macht, so hat man keinen Grund anzunehmen, dafs es in der Kunst einen anderen Eindruck machen w\u00fcrde.u Und er findet dies durch die Selbstbeobachtung best\u00e4tigt, indem er gesteht, dafs auf ihn z. B. Dostojewskis Raskqlnikow oder Ibsens Gespenster oder die Romane von Jonas Lie \u2014 er h\u00e4tte auch. die meisten Dramen Shakespeares Mnzuf\u00fcgen k\u00f6nnen \u2014 einen vorwiegend unlustvolen Eindruck machten. Es ist Max, dafs sich dieser Standpunkt in nichts von dem der Kinder unterscheidet, die im Theater bei fr\u00f6hlichen Szenen lachen, bei traurigen weinen.\nDemgegen\u00fcber schrieb mir neulich ein \u00e4sthetisch feinf\u00fchliger Lehrer, mein\u00a9 Theorie habe ihm erst Klarheit dar\u00fcber verschafft, dafs die 'Tr\u00e4nen, die er wohl, im Theater zu vergiefsen pflege, nicht die Folge von Unlustgef\u00fchlen seien, sondern im Gegenteil Freudetr\u00e4nen \u00fcber die k\u00fcnstlerische Sch\u00f6nheit des Werkes. Wer von diesen modernen Kulturmenschen, di\u00a9 beide \u00e4sthetisch sehr interessiert sind, hat nun recht? Von wessen Selbst-","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"\u00bb \u00bb\nUber die Methode der Kunstphilosophie.\n415\n\u2022\u2022\nbeobachtung bat der \u00c4sthetiker auszugehen? Er mufs doch offenbar1, ehe er dar\u00fcber Entscheidung trifft, wissen, welcher der beiden Standpunkte der \u00e4sthetisch reinere, d. h. der entwicklungsgeschichtlich h\u00f6herstehende ist. Und wie sol er dies anders erfahren als aus der vergleichenden entwicklungsgeschicht\u00fcchen Betrachtung, die den Unterschied der niederen und h\u00f6heren Anschauung in den verschiedenen Rangstufen des Alters, der geistigen Kultur usw. deutlich vor Augen stellt?\nDie Selbstbeobachtung kl\u00e4rt uns nun dar\u00fcber auf, dafs diese Unterschiede des \u00e4sthetischen Verhaltens einfach auf der verschiedenen St\u00e4rke der zwei Vorstellungs- resp. Gef\u00fchlsreihen beruhen, die das Wesen der bewufsten Selbstt\u00e4uschung ausmachen.1 Wer die Vorstellungen und Gef\u00fchle, die dem Inhalt eines Kunstwerks entsprechen, in voller St\u00e4rke erlebt, und dabei den Gedanken an das Kunstwerk als solches, an den K\u00fcnstler als schaffend\u00a9 Pers\u00f6nlichkeit ganz zur\u00fcckdr\u00e4ngt, empfindet nat\u00fcrlich je nach der Qualit\u00e4t des Inhalts einmal Lust, ein andermal Unlust. Wer dagegen w\u00e4hrend der \u00e4sthetischen Anschauung nur an den K\u00fcnstler denkt, der das Werk geschaffen hat, und ihn ob seiner Kraft und Geschicklichkeit bewundert, f\u00fchlt schliefs\u00fcch den Inhalt als solchen \u00fcberhaupt nicht mehr. Es ist Mar, dafs das Ideal nur irgendwo zwischen diesen beiden Extremen liegen kann, und da ist es eben die Theorie der bewufsten Selbstt\u00e4uschung, die dieser Forderung Rechnung tr\u00e4gt. Denn sie konstatiert gerade die Zweiheit der Vorstellungsreihen, die beim Kunstgenufs entstehen m\u00fcssen. Sie sagt aber \u00fcber ihre St\u00e4rke im Verh\u00e4ltnis zueinander nichts aus, so dafs sie also auf alle m\u00f6glichen Zwischenstufen, d. h, auf alle Formen des \u00e4sthetischen Verhaltens pafst, ohne doch auszuschliefsen, dafs die m\u00f6glichst gleiehm\u00e4fsige Entwicklung der beiden Vor\u00ab\nstellungsreihen den idealen \u00e4sthetischen Zustand repr\u00e4sentiert.\n_ _ _ _ ___________________ _ \u2022\u2022\nDas ist eben der Sinn der Forderung, dafs die \u00c4sthetik nicht entwicklungsgeschichtlich eingeschr\u00e4nkt, sondern entwicMungs-geschichtlich ausgedehnt sein soll. Und deshalb kann ich den Versuch Volkelts, die Grundlagen der Beweisf\u00fchrung, die ich mich bem\u00fcht hatte, m\u00f6glichst zu erweitern, wieder auf die psychologische Selbstbeobachtung einzuschr\u00e4nken, nur als einen methodischen R\u00fcckschritt bezeichnen.\n1 VgL den eben zitierten Aufsatz \u00fcber Goethes selbstbewufste Illusion.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nKonrad Lange.\nAber vielleicht meint es Volkelt mit dieser Einschr\u00e4nkung\nder Grandlagen gar nicht so streng, wie es nach den agitiertem\nWorten scheinen k\u00f6nnte. Denn auch er nimmt an, dafs die\n\u00e4sthetischen Normen einen \u201eallgemeing\u00fcltigen Kern haben,\nder, wenigstens von einer gewissen Stufe der Reihe an, f\u00fcr alte\nabsehbar folgenden Entwicklungen G\u00fcltigkeit besitzt\u201c Auch er\n\u2022\u2022 _\nh\u00e4lt es f\u00fcr di\u00a9 Aufgabe der \u00c4sthetik, besonders in den grundlegenden und weitesten Normen das \u00e4sthetische F\u00fchlen\nseiner Zeit in der Richtung auf das Allgemeing\u00fcltig\u00a9 zu\n\u00bb\u2022\n\u00fcberschreiten und so dem \u00c4sthetischen ann\u00e4herungsweise ein\u00a9 allgemeinmenschliehe Grundlage geben. Nun gut, das ist ja gerade das Ziel, das ich mit meiner Kunstphilosophie anstreb\u00a9. Und ich will deshalb die Hoffnung noch nicht aufgeben, dafs wir uns in Zukunft einmal \u2014 auf dem Boden der empirischen und historisch-entwicklungsgeschichtlichen Methode \u2014 einigen werden.\n(Eingegangen am 29. Mai 1904.)","page":416}],"identifier":"lit32551","issued":"1904","language":"de","pages":"381-416","startpages":"381","title":"\u00dcber die Methode der Kunstphilosophie","type":"Journal Article","volume":"36"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:27:46.983024+00:00"}

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