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{"created":"2022-01-31T16:24:34.853289+00:00","id":"lit32579","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ritter, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 28: 96-130","fulltext":[{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nUnf\u00e4higkeit zu lesen1 und Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit und Schreibfertigkeit.\nVon\nProf. Dr. C. Ritter in Ellwangen.\nEs sind pathologische F\u00e4lle bekannt, wo ein Mensch die vorher erworbene F\u00e4higkeit zn lesen eingeb\u00fcfst hat, ohne dafs er auch der F\u00e4higkeit des Sprechens und Schreibens verlustig ging. Nach dem von manchen Psychologen anerkannten Grundsatz, dafs dasjenige, was an geistigem Besitz zuletzt erworben worden, bei der Aufl\u00f6sung der Kr\u00e4fte des Geistes zuerst wieder entschwinde, k\u00f6nnte man schliefsen, Personen, bei welchen die bezeichnete Erscheinung eintrat, h\u00e4tten in ihrer Schulzeit erst, nachdem sie die F\u00e4higkeit des Abschreibens sich erworben, nachtr\u00e4glich auch das Lesen des Geschriebenen erlernt. Doch mag das kaum glaublich scheinen, da ja im Elementarunterricht der Volksschule wohl \u00fcberall Lesen und Schreiben bei der Erlernung Hand in Hand gehen und gleichzeitig einge\u00fcbt werden. Aber es w\u00e4re an und f\u00fcr sich denkbar, dafs wir alle bei diesen verbundenen Uebungen vorher der Schreibbewegungen unserer Hand sicher w\u00fcrden, durch die wir die Nachahmung des vor uns stehenden Buchstabenbildes zuwegebringen, als der Umsetzung jenes Bildes in den gesprochenen Laut; wahrscheinlicher ist es, dafs wenigstens f\u00fcr einen Theil der Menschen dies zutrifft, w\u00e4hrend f\u00fcr den anderen Theil, der anders veranlagt ist, eine andere Ordnung gelten wird. Indes nicht von Vermuthungen und Wahrscheinlichkeiten soll weiter die Rede sein, sondern ein that-s\u00e4chlicher Befund soll mitgetheilt werden betreffs eines Menschen der, ohne an einem Geh\u00f6r- oder Sprachfehler zu leiden, die Kunst des Lesens und Dictirtschreibens \u00fcberhaupt nicht hat er-\n1 Einige Mediciner wenden daf\u00fcr das greuliche Mils wort \u201eAlexie\u201c an. Einem Philologen wird man nicht zumuthen, dieses nachzusprechen.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 97\nwerben k\u00f6nnen, w\u00e4hrend er ganz ordentlich geschrieben und gedruckt Vorliegendes abschreibt. Da ein \u00e4hnlicher Fall, so viel ich weifs und erfahren kann, kaum jemals literarisch behandelt worden ist1 2 3, darf ich hoffen, dafs meine Mittheilungen nicht ohne einiges Interesse werden auf genommen werden.\n(1) Die \u00e4ufseren Lebensverh\u00e4ltnisse des Betreffenden lassen sich mit Folgendem kurz beschreiben:\nNikolaus Leixner von Estenfeld B.-A. W\u00fcrzburg war bei der im April 1898 mit ihm vorgenommenen Untersuchung 26 Jahre l3,2 Monate alt, seit 4 Jahren verheiratet und k\u00f6rperlich gesund. Er hat die Volksschule seines Heimathorts durchgemacht, dann sofort als Pfl\u00e4sterer in W\u00fcrzburg dauernde Besch\u00e4ftigung gefunden, dazwischen hinein der Milit\u00e4rpflicht in mehrj\u00e4hrigem Dienst bei der Kavallerie gen\u00fcgt. In der Schule hat er zwar f\u00fcr Betragen und Schulbesuch die Note I, aber in allen Unterrichtsf\u00e4chern stets und ausnahmslos die allerschlechtesten Noten erhalten; dagegen bewies er sich immer so lenksam und zu mechanischem Dienste so weit anstellig, dafs es in den etwa 10 Jahren seiner Verwendung als Pfl\u00e4sterer beim st\u00e4dtischen Tiefbauamt und w\u00e4hrend der Milit\u00e4rzeit niemals einen Anstand mit ihm gegeben hat und dafs seine Vorgesetzten gar nicht bemerkten, dafs er ohne die Kenntnifs des Lesens und Dictat-schreibens aus der Schule hervorgegangen war. Auch zur Kommunion wurde er vom Pfarrer zugelassen, nachdem seine Mutter ihm mit grofsem Zeitaufwand soviel als er aus dem Katechismus wissen mufste, durch best\u00e4ndiges Vorsagen schliefs-lich nothd\u00fcrftig beigebracht hatte, da er sich dies durch Lesen nicht aneignen konnte. Seine Ehe - war friedlich und harmo-\n1\tMein Schwager, Prof. Dr. Rieger in W\u00fcrzburg, der mir vor nahezu 4 Jahren anl\u00e4fslich eines Besuches bei ihm den Idioten, um den es sich hier handelt, vorgestellt und mich zur Ver\u00f6ffentlichung der an demselben beobachteten Eigenth\u00fcmlichkeiten ermuntert hat, kannte damals keinen \u00e4hnlichen Fall. Erst neulich ist ihm unter der grofsen Menge von Idioten, die er Jahr aus Jahr ein zu untersuchen hat, ein zweiter \u00e4hnlicher vorgekommen, und von einem dritten h\u00f6rt er, dafs er bei Dr. Gustav Wolfe, Privatclocent der Psychiatrie in Basel, zur Beobachtung gekommen sei. Die Beschreibung des zweiten Falles stellt Rieger selbst f\u00fcr gelegene Zeit in Aussicht, wobei er dann auch die einzige in der Literatur von ihm aufgefundene Mittheilung, die in Betracht kommen k\u00f6nnte \u2014 von einem \u2022englischen Arzte herr\u00fchrend \u2014, zu ber\u00fccksichtigen denkt.\n2\tBez\u00fcglich der von ihm eingegangenen Ehe bemerkte Rieger : L. ge-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 28.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nC. Ritter.\nnisch, haupts\u00e4chlich auch deshalb, weil die Ehefrau, die ihn in jedem Jahr rogolm\u00e4fsig mit einem Kind beschenkte, ann\u00e4hernd ebenso stumpfsinnig ist wie der Mann. Als friedfertig und harmlos wurde er auch von allen Dorfgenossen, besonders von den Nachbarn, geschildert. Nun begegnete ihm aber das Ungl\u00fcck, dafs der Verdacht einer Mordthat sich auf ihn lenkte* 1 und sein Benehmen im gerichtlichen Verh\u00f6r wurde Anlafs zu einer eingehenden Untersuchung seines geistigen Zustandes in der W\u00fcrzburger psychiatrischen Klinik. Nachdem der Vorstand derselben, Prof. Dr. Rieger, festgestellt hatte, was f\u00fcr die gerichts\u00e4rztliche Begutachtung wichtig war, \u00fcberwies er mir den Menschen, damit ich an einem interessanten Object mich in der psychologischen Beobachtung \u00fcben k\u00f6nnte.\n(2) Bei meiner Pr\u00fcfung, zu der ich nicht mehr als 3 V Tage Zeit hatte, habe ich mich selbstverst\u00e4ndlich genau an das Schema gehalten, welches Rieger fr\u00fcher zum Zweck methodischer Intelligenzpr\u00fcfungen aufgestellt und an 2 lehrreichen Beispielen (in den Verh. d. physik.-me\u00e4. Ges. zu W\u00fcrzburg, N. F., 22, 65\t150, und\nin der Zeit sehr. f. Psych, u. Ph.ys. d. &, 15, 45 ff.) demonstrirt hat; seit Jahren bildet dasselbe, immer aufs neue bew\u00e4hrt, den Rahmen f\u00fcr alle eingehenden Untersuchungen, die in der W\u00fcrzburger Klinik ausgef\u00fchrt werden. So trefflich es \u00fcbrigens zur Untersuchung selbst ist, indem es fast geradezu unm\u00f6glich macht, dafs ein wichtiger Gesichtspunkt vernachl\u00e4fsigt, eine bedeutungsvolle Frage vergessen werde, so will ich mich doch in der Darlegung des Befundes nicht an die Ordnung desselben binden, sondern lieber einen freieren Gang einhalten.\nh\u00f6re zu denjenigen Idioten, von denen man sagen m\u00fcsse, dafs sie ge-heirathet worden seien, als dafs sie geheirattiet haben.\n1 Wenn ich mich so ausdr\u00fccke, so liegt darin, dafs ich L. f\u00fcr v\u00f6llig unschuldig halte. Das Schwurgericht hat ihn zu 5 Jahren Gef\u00e4ngnifs ver-urtheilt ; und zwar, w\u00e4hrend es sich augenscheinlich nur um einen gr\u00e4fs-lichen Mord (m\u00f6glicherweise einen Lustmord) handeln konnte und die Anklage auch in diesem Sinne erhoben war, wegen \u201eTodtschlags\u201c und untei Annahme \u201emildernder Umst\u00e4nde\u201c, Professor Riegee, der durch eine h\u00f6chst ungl\u00fcckliche Verkettung von Umst\u00e4nden verhindert worden ist, schon vor dem Wahrspruch der Geschworenen zu bemerken, wie unwahrscheinlich die Th\u00e4terschaft des Angeklagten sei, der wohl nur zu bl\u00f6dsinnig war, um, was man gegen ihn vorbrachte, nachdr\u00fccklich zur\u00fcckzuweisen, hat sich hintennach bem\u00fcht, durch eine aufs P\u00fcnktlichste ausgearbeitete Denkschiift Wiederaufnahme des Verfahrens zu seinen Gunsten zu erwirken, aber umsonst.","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 99\n(3) Ich beginne mit dem Wichtigsten und Aufserordent-hchsten, was die Untersuchung (schon die durch Rieger selbst vorgenommene) zu Tage gef\u00f6rdert hat: das ist eben die bereits angezeigte Absonderlichkeit, dafs L. in der Schule zwar schreiben, aber nicht lesen gelernt hat. Damit ist aber sein K\u00f6nnen und Nichtk\u00f6nnen noch nicht p\u00fcnktlich genug bezeichnet. Des Genaueren verh\u00e4lt es sich folgendermaafsen :\nLegt man ihm die Fibel vor und zeigt ihm zun\u00e4chst das Alphabet der kleinen deutschen Schriftbuchstaben, so liest er diese zum gr\u00f6fseren Theil richtig und ohne lange Stockungen ; fehlerhaft giebt er aber 1) als fd) wieder, j als i, m als n, q als g, \u00f6 als tu und nach (etwa 40 Secunden-) langem Besinnen p als tu. Von den zusammengesetzten Zeichen macht ihm f$ und cf keine Schwierigkeit, dagegen cf) verwechselt er mit fcf), p liefst er tjg. Nur den Buchstaben c behandelt er als ganz unbekannt. Im Ganzen liest er so 21 Lautzeichen von den 30, welche die Fibel zusammenstellt, richtig. \u2014 Ich habe schon vorausnehmend bemerkt, dafs organisch bedingte St\u00f6rungen nicht Vorkommen. Die Aussprache aller Laute ist klar und bestimmt.\nMit den grofsen deutschen Schriftbuchstaben und den kleinen Buchstaben der deutschen Druckschrift (Fraktur) geht es \u00e4hnlich. Bei \u00cf) j m begeht er immer die gleiche Verwechselung, aufserdem mifskennt er immer q, nur dafs er es bei Druckschrift als a liest, und c behandelt er immer als unbekannt. Doch kommen noch einige weiteren Fehler und Unsicherheiten hinzu, welche bewirken, dafs er aus dem ersten der beiden Alphabete noch 19 Zeichen (darunter Gl) und \u00a9cf)), aus dem zweiten nur 16 im Ganzen (darunter fdj) richtig liest.1\nVon den grofsen Fracturbuchstaben erkennt L. mit Sicherheit nur 51\t3 & S 9ft D ^ \u00a9 U SB \u00a9f. F\u00fcr 91, das er doch\nals Anfangszeichen seines Namenszugs kennen sollte (den er \u2014 wie wir bald h\u00f6ren werden \u2014 sicher hinschreibt und liest) liest er Anfangs e\u00ef\u00efi, dann verbessert er sich allerdings und findet auch daf\u00fcr den richtigen Laut.\n1 Von den grofsen deutschen Schriftzeichen wird aufser den oben angegebenen noch 5t und 8t falsch gelesen (und zwar als a und ff) ; aufser (\u00a3 auch \u00a3 f\u00fcr unbekannt erkl\u00e4rt. Weitere Fehler der kleinen Frakturschriftzeichen sind n \u2014 m, p = f, u \u2014 m, S) u. 1) - b. j = r, fe = g, & = t. c wird nach l\u00e4ngerem Besinnen als x ausgesprochen (q, wie schon oben gesagt, als a).\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nC. Ritter.\nlieber die kleinen lateinischen Druckbuchstaben (Antiqua), mit welchen allein noch eine Probe angestellt worden ist, versichert L. zum Voraus, dafs er von ihnen nicht viel kenne. Dies best\u00e4tigt sich. Bemerkenswerth ist, dafs er auch hier m und v. verwechselt, h wird von ihm als r, b als /, f als /<\u2018, s als (j, o als o, \u00fc als m gelesen.\nGeht man zu einfachen W\u00f6rtern \u00fcber und l\u00e4fst sie durch L. buchstabiren, so gelingt das ebensogut wie das Lesen vereinzelter Buchstaben. Aber wenn L. das richtig Buchstabirte nun als ein einheitliches Wort aussprechen soll, so versichert er sofort, dafs er so nicht lesen k\u00f6nne und will keinen Versuch wagen. Nur mit seinem eigenen Namen machte er eine Ausnahme. Wenn man ihm diesen geschrieben zeigt, erkennt er ihn sogleich und erkl\u00e4rt lebhaft mit dem Ausdruck eines gewissen Stolzes : \u201edas sind 15 Buchstaben. Das ist mein Namen: Niklaus Leixner\u201c (Das \u00fc des Vornamens, das er offenbar mitz\u00e4hlt, um die 15 Buchstaben zusammenzubringen, spricht er niemals aus). Dabei weifs er die beiden St\u00fccke des Namens wohl zu unterscheiden und erkennt ihn gleich sicher, ob man den Vornamen oder den Geschlechtsnamen vorausstellt.1\nDie Bem\u00fchungen, mit denen ich an 3 aufeinanderfolgenden Tagen ihn dahin zu bringen suchte, dafs er vom Buchstabiren eines Wortes zum richtigen Zusammensprechen der Laute \u00fcbergehe, verlohnt es sich ohne Abk\u00fcrzung der dar\u00fcber gemachten Aufzeichnungen zur Darstellung zu bringen : \u201eist\" war richtig buch-stabirt: i \u2014 s \u2014 t. Auf die Aufforderung, das Wort nun auszusprechen, st\u00f6fst L. aus: \u201enusche\u201c. Ein erneuter Versuch er-giebt gl\u00fccklich \u201eTisch\u201c und dabei bleibt L. bei mehrfach wiederholtem Bem\u00fchen. \u2014 Das soeben abgeschriebene Wort \u201ehin\" wird buchstabirt, darauf soll es gelesen werden: zuerst kommt \u201eich\" oder \u201eWicht\u201c heraus (ich weifs es nicht genau); dann \u201eMilich\u201c. \u2014 L. soll \u201ewir\u201c buchstabiren, wieder nachdem er das WTort richtig von einer Vorlage abgeschrieben. Er giebt an \u201ew \u2014 i \u2014 er\". Also wie lautet das Wort? Sagen Sie\u2019s zusammen! \u201eMutter\u201c. Ein Versuch mit dem Wort ,.dafs\", der sich anschliefst (meist begn\u00fcgte ich mich, um L. nicht unlustig zu machen, auf einmal mit einem einzigen Versuch und trieb dann wieder Anderes;\n1 Wahrscheinlich gilt das Alles nur f\u00fcr deutsche Schriftzeichen : meine Aufzeichnungen sind hier nicht ganz klar. Leixners Unterschrift besitze ich nur deutsch.","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"L nf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higke-it etc. 101\ndies ist durch die Gedankenstriche zwischen den einzelnen Beispielen angedeutet) ergab nach richtigem Buchstabiren ..Mann\u201c \u2014 ..Mit\" wird nach mehrmaligem Buchstabiren zu \u201eWicht\u201c entstellt. Auf das W\u00f6rtchen ..die\u201c wurde nun besondere M\u00fche verwendet. Nachdem L. es mehrmals richtig buchstabirt hatte, forderte ich ihn auf, es schneller zu buchstabiren und 3 Mal hinter einander spornte ich ihn zu immer schnellerem Angeben der Buchstabenfolge. Dann verlangte ich \u201ezusammen\u201c! \u2014 und L. lief \u201eD\u00e4cher \\ Am letzten Nachmittag meiner Untersuchung versuchte ich es noch mit dem Wort: sagen. L. buchstabirt lichtig. \u201eNun, wie heilst also das Wort?\u201c frage ich. Antwort: \u201emich\u201d. \u201eNein! Buchstabiren Sie noch einmal!\u201c \u2014 \u201eGut! Also heilst das W ort ? Wieder lautet die eifrig gegebene Antwort : \u201emich\u201c. Und dies wiederholt sich bei zwei weiteren Versuchen. Ich bemerke in vorwurfsvollem Ton, es sei immer falsch und frage eindringlich, wie die Laute, zusammengesprochen, klingen? \u201eDes weils e net, Herr Professer\u201c ist die bedauernde Antwort. Ich lasse mich nicht abschrecken und es wird wieder buchstabirt, indem ich best\u00e4ndig ermahne: schneller! schneller! Nach f\u00fcnfmaligem schnellem Buchstabiren frage ich wieder: \u201eAlso wie heilst das Wort?\u201c\t\u201eMich!\u201c \u2014 Wenn ausnahmsweise ein\neinziges Mal auch ein Versuch gelungen ist, n\u00e4mlich mit dem V oit \u201eich , das nach dem Buchstabiren wirklich richtig zusammengesprochen wurde, so ist dies offenbar nur gl\u00fccklichem Rathen zu danken. Denn \u201emich, ich, Wicht, Milich\u201c das sind die nahe bei einander liegenden Kl\u00e4nge, mit denen L. der Auf-forderung zu lesen gerecht zu werden sucht ohne R\u00fccksicht auf die vorher buchstabirten W\u00f6rter.\nBedeutend besser geht es mit dein Lesen von Zahlen. L. kennt nicht blos die einzelnen Ziffern f\u00fcr sich, sondern zeigt auch einiges Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr die Verbindungen derselben. W\u00e4hrend ihn die Aufgabe, verbundene Buchstaben als Wort zu lesen, v\u00f6llig verwirrt, so dafs er nur in planlosem Drauflos-iathen sich ergeht, so sucht er verbundene Ziffern ihrer nat\u00fcrlichen Gliederung in lausender, Hunderter, Zehner entsprechend Ach abzutheilen und spricht 4\u20145 stellige Zahlen h\u00e4ufig beim eisten \\ ersuch schon richtig aus. Freilich greift er oft auch fehl und liest z. B. die 3 stellige Zahl 249 als 2 tausend 4 hundert und 9 oder auch als vierundzwanzig neun; ein andermal die 5 stellige 325 84 als 325 und 84. Bemerkenswerth ist, dafs\ner","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nC. Ritter.\nsolche Ungeschicklichkeiten nur begeht, wenn von einer Reihe von Zahlen gleicher Ziffernzahl ihm die erste vorgelegt wird; die folgenden fafst er, der Analogie der unter meiner Anleitung selbst wiedergefundenen richtigen Aussprache folgend, gleich von vorn herein richtig an : wie 249 ins reine gebracht ist, geht 827 u. s. w. glatt; ebenso macht nach Richtigstellung von 32584 was von 5 stelligen Zahlen nachfolgt, keine besondere Schwierigkeit. Nullen habe ich freilich niemals eingeschoben, da ich aus seinen verungl\u00fcckten Lese versuchen die Ueberzeugung gewonnen hatte, dafs er die Bedeutung des Zeichens 0 nicht verstehe.\nDie Bew\u00e4ltigung 6 stelliger Zahlen geht \u00fcber seine Kr\u00e4fte.\nDie r\u00f6mischen Ziffern I\u2014XII sind L. ganz gel\u00e4ufig.\n(4) Dafs ein Mensch, der es nicht dazu gebracht hat, die Laute, die er abbuchstabirt, zur Einheit des Wortes zusammenzufassen, auch umgekehrt das gesprochene Wort nicht in seine Laut-bestandtheile zu zerlegen vermag, ist selbstverst\u00e4ndlich. Ich habe zwar vers\u00e4umt, L. vorgesprochene W\u00f6rter zum Buch-stabiren aufzugeben, halte aber f\u00fcr zweifellos sicher, dafs er dazu unf\u00e4hig w\u00e4re. So kann er auch nat\u00fcrlich das vorgesprochene Wort nicht nachschreiben oder, mit dem \u00fcblichen Ausdruck: er kann nicht Dict\u00e2t schreiben. Nicht einmal zu einem Versuch dazu konnte ich ihn bewegen.1\nZu erwarten war andererseits, dafs L. vereinzelte Laute, so wie er sie buchstabirend liest, auch durch Buchstabenzeichen wiedergebe, wenn man sie ihm vorspreche. An 2 Tagen hinter einander habe ich ihm das Alphabet dictirt, mit der Aufforderung, jeden Laut sowohl durch den grofsen als durch den kleinen Buchstaben wiederzugeben. Das erste Mal hat L. Folgendes an die Tafel geschrieben : % a ; 33 U) ; 3) t \u2014 auf Mahnung in 3) abge\u00e4ndert; e J2; f 233; 9 1); 1) J\\ noch einmal l) J\\ 2 1; m \u00e4ft; it \u00fcft; o o; 93; r 91; f \u00a9; g [anstatt % tj ; u; f; \u00f6 2B; \u00a3 : i 3 [anstatt g) tj\\ ; 6 3 [anstatt g 3]. Tags darauf hatte L. bei dem Versuch ein Papier zur Verf\u00fcgung, von welchem ich Folgendes abschreibe, wobei erst hier auftauchende Zeichen fett ge-\n1\tDabei mufs ich freilich wieder ein eigenes Vers\u00e4umnifs bedauern. Ernstliches Zureden h\u00e4tte bei dem willf\u00e4hrigen Menschen diesen Versuch erreichen m\u00fcssen : und er w\u00e4re sehr interessant.\n2\tZur Bezeichnung des in der Schreibeschrift vom 3 durch seine nach unten gehende Schleife deutlich unterschiedenen Zeichens 3\u00b0* mufs hier und in den ersten Zeilen der n\u00e4chsten Seite sowie S. 105 Z. 3 v. u. der entsprechende Buchstabe des Cursivausdrucks aushelfen.","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 1Q3\n*\ndruckt werden, auf st\u00e4rkere Abweichungen durch beigesetztes hingewiesen wird: 31 et; 33 D*; t g, beide \u00fcberfahren durch das Zeichen J* ; \u00a9 e ; f ; \u00a9 g ; t) ; 1 3? ; J; St ; S 1 ; SW m ; n W ; o 0 ;\t33 ; u* ; r sJi ; \u00a9 [3 ; b J* ; it ; f ; g \u00fcberfahren durch \u00a9*\n(vorher sch\u00fcchterner Ansatz zu dem richtigen Zeichen f\u00fcr 3$ oder 38) ; \u00a3 ; t J1 ; (\u00a3 \u00fcberfahren durch:) [3. Eine Vergleichung der beiden Leistungen unter einander und mit den oben \u00fcber das Lesen der Buchstaben gemachten Angaben ist lehrreich.2 Besonders beachtenswerth scheint mir aber, dafs L. das Zeichen f\u00fcr i und i nicht gefunden hat, obgleich sie hinter einander in seinem Vornamen Nikolaus Vorkommen und das t noch obendrein in seinem Geschlechtsnamen enthalten ist. Dafs er diese mit einander lesen kann, ist schon oben als Merkw\u00fcrdigkeit mit-getheilt. Auch hier finden wir zwischen Lesen und Dictat-schreiben volle Uebereinstimmung : es macht L. sichtlich Freude seinen Namen zu schreiben, wenn man ihn dazu auffordert. Fragt man ihn, wie er denn die Kunst gelernt, die er damit an den Tag legt, so erz\u00e4hlt er, dafs er nach der Schulzeit in seinem Beruf als st\u00e4dtischer Arbeiter es n\u00f6thig gefunden habe, seine Unterschrift geben zu k\u00f6nnen. Da habe er sich denn Sonntags nach der Kirche und am Nachmittag sehr oft abgem\u00fcht, stundenlang wieder und wieder, bis er den Zug-sicher in der Hand hatte.\nSehen wir weiter, wie L. sich beim Dictiren von Zahlen verh\u00e4lt. Auch hier best\u00e4tigt sich aufs Neue, dafs Dictirtschreiben und Lesen einander entsprechen. Sogar bstellige Zahlen (ohne Null, welche ich auch hier aus dem Spiele gelassen habe) schreibt L. richtig; und da er beim Schreiben stets zur Abtrennung der Tausender ein Komma, zur Abtrennung der Hunderter einen Punkt\n1\tSiehe Anm 2 der vorigen Seite.\n2\tIch weise darauf hin, dafs in den beiden oben dargestellten Alphabet-dietaten das Zeichen .V) fehlt, w\u00e4hrend 6 nur in dem einen enthalten ist und ebenso %, das aber anstatt Q gesetzt ist, und dafs beim Lesen des gleich jener Abschreibvorlage in Fraktur gedruckten Alphabets alle die 3 Zeichen (5, und fy von L als ch gesprochen worden sind (das % nach l\u00e4ngerem Besinnen von etwa 15 Sec. \u2014 Weiteres \u00fcber diesen Buchstaben s. S. 105 am Schlufs.). Unter den \u00fcbrigen grofsen Buchstaben der Vorlage, die L. richtig in die entsprechenden Cursivbuchstaben umgeschrieben hat, \u2014 51 S 5k @ S3 und SS \u2014 sind die 2 letzten zwar auch beim Lesen und Dictirtschreiben von ihm mit einiger Unsicherheit behandelt worden, doch bestand diese wesentlich nur in gegenseitiger Verwechslung von S3 und 53.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nC. Bitter.\nsetzt, so gelingt es ihm, die vorgesagte Zahl, die er 127,7.32 geschrieben, ohne Anstand auch wieder richtig vom Blatte abzulesen. Die r\u00f6mischen Zahlen I\u2014XIII schreibt er ebenfalls anstandslos. Die 2 n\u00e4chstfolgenden giebt er durch XIIII und XII\u00cfII wieder. Von der Bedeutung der Zahlzeichen L, M u. s. w. weifs er nichts.\n(5)\tIch will hier gleich anf\u00fcgen \\ dafs L. auch Additionen von 2 \u00fcber einander geschriebenen mehrzifferigen Zahlen richtig zu Wege bringt, unter der Bedingung, dafs die Summe der je \u00fcber einander stehenden Ziffern 10 ist. Wenn diese Bedingung nicht erf\u00fcllt ist, so schreibt er eine gewonnene 2 stellige Summa einfach mit beiden Ziffern an ohne Verst\u00e4ndnifs f\u00fcr den Stellungswerth und das aus ihm folgende \u201eBehalten\u201d. So summirt er die Zahlen 8446 und 3215 zu 116511. Subtrahiren kann er nicht.\nImmerhin konnte man \u00fcber seine Za h lenken nt nifs erstaunen, nachdem sich vorher eine so kl\u00e4gliche Unbeholfenheit an den W\u00f6rtern enth\u00fcllt hatte. Den Grund der besseren Vertrautheit mit den Zahlen werden wir wahrscheinlich nicht allein darin zu suchen haben, dafs die 10 oder (mit Weglassung der Null) 9 Ziffern in ihren Zusammsetzungen leichter zu verstehen sind als die viel zahlreicheren Buchstaben, sondern es wird hier wie bei dem Namenszug auch das praktische Bed\u00fcrfnifs, das nach der Schule im Beruf sich geltend machte, mitgewirkt haben. So zur Noth wenigstens mufs der Arbeiter doch die Zahlen seiner Lohnabrechnung verstehen. Jedenfalls haben sie f\u00fcr ihn stets ein sehr dringliches Interesse. Die r\u00f6mischen Ziffern von I \u2014XII h\u00e4lt der Anblick der Uhrentafeln an den Kirchth\u00fcrmen ihm in stets frischer Erinnerung. Er ist gewohnt, nach denselben seine Arbeitszeit zu regeln. Ueber XII hinaus versucht er es begreiflicherweise eben durch Anf\u00fcgung weiterer Striche.\n(6)\tGanz anders als zum Dictirtschreiben stellt sich L. zum Abschreiben an. Dieses geht bei ihm etwa so gut, wie bei einem beliebigen anderen Menschen, der die Volksschule seit Jahren hinter sich hat und weder einen inneren noch \u00e4ufseren Antrieb sp\u00fcrt, die dort erworbene Schreibf\u00e4higkeit weiter zu \u00fcben. Die Vorlagen, welche ich L. zum Abschreiben gegeben, waren theils von mir selber mit m\u00f6glichst p\u00fcnktlicher Beobachtung der sehulgem\u00e4fsen Buchstabenform deutsch und lateinisch\n1 Was die Untersuchung bei Anwendung von E6 des RiEGERSchen Schemas erkennen l\u00e4fst.","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\nseit zu\nlesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Spraclifahu\u00dfeit etc. ] 05\ngeschrieben, theils bestanden sie in gew\u00f6hnlicher deutscher und lateinischer Druckschrift. Die ihm gestellte Aufgabe des Abschreibens erfafste L. immer rasch und bereitwillig, w\u00e4hrend er, wie wir gesehen, der Aufforderung zum Lesen zusammengesetzter Buchstabengebilde sogleich mit der Erkl\u00e4rung zu begegnen pflegte, dafs er das nicht k\u00f6nne und auch zum Dictirtschreiben sich auf einen Versuch gar nicht einliefs. Wenn man ihn beim Abschreiben beobachtete, so schien zun\u00e4chst alles ganz in Ordnung zu sein. Er verfuhr im Allgemeinen, wie wir alle es bei der entsprechenden Aufgabe machen w\u00fcrden, insofern er die handschriftlichen Vorlagen in denselben Schriftformen (deutsch und lateinisch cursiv) wiedergab, die deutsche Druckschrift (Fractur) aber auch in Cursiv umsetzte. Lateinische Druckschrift (Antiqua) freilich, von der ihm nur eine kurze Probe ohne grofse Buchstaben vorgelegt wurde, konnte er offenbar nicht Umsetzern Die Worte d\u2019imprimeur hat er wohl auch richtig abgeschrieben, aber mit Nachahmung der Form der vorliegenden Buchstaben, so dafs es also viel mehr ein Nachzeichnen war, als Nachschreiben. Ebenso finden wir bei sch\u00e4rferer Betrachtung seiner Abschrift, dafs er einige der grofsen Buchstaben der deutschen Druckvorlage nicht in die entsprechende Cursivform umgesetzt hat, sondern eben \u2014 so gut es gehen wollte \u2014 nachgezeichnet, n\u00e4mlich (S und \u00ab\u00a3>. Und dasselbe Mittel mufste ihm auch \u00fcber einige Schwierigkeiten der handschriftlichen Vorlage weghelfen, wo meine Buchstaben von der gewohnten Form denn doch etwas abweichen. So hat L. mein lateinisches cli\u00bb, so oft es vorkam, dadurch nachgebildet, dafs er anstatt h l schreibt und diesem einen eigenth\u00fcmliehen, dem o \u00e4hnlichen Zug vorausgehen l\u00e4fst; mein deutsches i und r sind mehrfach undeutlich ausgefallen und in diesen Fallen wird eben die unregelm\u00e4fsige Mifsform von L. nachgeahmt. Einmal findet sich bei ihm auch eine falsche Umsetzung aus dem deutschen Drucktext, n\u00e4mlich Jreund mit Ersatz des g durch J. Hier traute sich L. die Umsetzung des ihm, wie die Proben des Alphabetdictats (vgl. Anm. oben) und die Leseversuche erweisen, wenig gel\u00e4ufigen Buchstaben zu, malte ihn nicht als unbekannten nach, liefs sich dabei aber eine falsche Form in die Feder kommen: das 3, das er besonders gern verwendet, wenn er \u00fcber die Wiedergabe eines vorgesprochenen Lauts in Verlegenheit ist.1\n1 Die Hartn\u00e4ckigkeit, mit der dieser Buchstabenzug sich aufdr\u00e4ngt","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nC. Ritter.\nAndere kleine Fehler sind nicht selten, z. B. Auslassen eines e nach it, Weglassen des Punkts auf dem i, des B\u00f6gchens auf dem u (besonders nat\u00fcrlich bei Umsetzung aus der Druckschrift). Sie bieten aber nichts Besonderes, sondern k\u00f6nnen als Fl\u00fcchtigkeitsfehler aufgefafst werden, wie sie besonders einem Unge\u00fcbten wohl begegnen m\u00f6gen.\nDafs L. den Sinn des Abgeschriebenen nicht versteht, auch wenn die einzelnen Buchstaben, aus denen die W\u00f6rter und S\u00e4tze gebildet sind, ihm alle wohl bekannt sind, ist nach dem schon Mitgetheilten ganz selbstverst\u00e4ndlich. Wenn es eines Beweises noch bed\u00fcrfte, so best\u00e4nde er darin, dafs L., der \u2014 wir werden es nachher gelegentlich sehen \u2014 nicht ohne Einwendung nachspricht, was er f\u00fcr falsch h\u00e4lt, mit demselben Eifer, den er sonst bei erf\u00fcllbaren Aufgaben beth\u00e4tigt, einen Satz abschreibt, durch den er sich des Verbrechens schuldig bekennt, dessen Verdacht er seine Untersuchungshaft dankt, und dann der Aufforderung, das Abgeschriebene zu unterzeichnen, mit der schon bekannten Beflissenheit nachkommt.\nDafs ihm das Abschreiben von Zahlen keine Schwierigkeit verursacht, brauche ich gar nicht zu sagen.\n(7) Hier d\u00fcrfte ich meine Mittheilungen \u00fcber den Menschen sehliefsen, wenn ich nur das eigenth\u00fcmliche, wohl selten Beobachtete und vielleicht nie Beschriebene darzustellen h\u00e4tte, das ich schon durch die Ueberschrift bezeichnen wollte. Aber ich meine, zur richtigen Beurtheilung dieser Eigent\u00fcmlichkeiten, die doch nur wenige Z\u00fcge im geistigen Bilde des Betreffenden ausmachen, werde es notwendig sein, sie im Zusammenhang mit den \u00fcbrigen zu betrachten. Und so will ich wenigstens eine Skizze auch der \u00fcbrigen geistigen Z\u00fcge zu geben suchen, so wie ich sie nach Anleitung von Riegees Schema fl\u00fcchtig aufnehmen konnte. Vieles wird dabei freilich, wenn ich mich auch kurz fasse, fast allzu trivial erscheinen.\nWas die blofse Auffassung von einfachen Sinneseindr\u00fccken betrifft, so ergab die Untersuchung bei L. weder eine Unregelm\u00e4fsigkeit noch eine irgend bemerkenswerte Stumpfheit. (Gesicht, Geh\u00f6r, Geruch, Geschmack, Tastempfindung und\n(vgl. S. 102 f.), hat ihr Analogon an dem bei den verungl\u00fcckten Leseversuchen immer wiederkehrenden Laut \u201eich\" (\u201emich, V icht, Milich, D\u00fccher\u201c) s. S. 100 f.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Lnf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 107\nMuskelsinn k\u00f6nnen als \u201enormal\" bezeichnet werden.) Auch im Gebrauch seiner Glieder zeigt L. keinerlei auffallende Ungeschicklichkeit. Dafs er insbesondere auch der Sprachwerkzeuge m\u00e4chtig ist, habe ich schon hervorgehoben. Doch mufs gesagt werden, dafs L. sich trotz stets bew\u00e4hrten guten Willens bei keiner einzigen Leistung durch Gewandtheit auszeichnet, sondern eher einen schwerf\u00e4llig ungelenken Eindruck macht. Aber diese auf alles gieichm\u00e4fsig sich erstreckende Schwerf\u00e4lligkeit geht nicht \u00fcber das Maafs hinaus, in welchem sie dem gew\u00f6hnlichen unge\u00fcbten Menschen \u00fcberhaupt eigen sein wird. Selbst von seiner grofsen Ungeschicklichkeit im Zeichnen wird das gelten.\nAuch die Vereinigung und Aufein anderbezieh un g von Eindr\u00fccken verschiedenerSinne, welche f\u00fcr unsere Vorstellung sinnlicher Gegenst\u00e4nde so wichtig ist, vollzieht sich bei L. in regelm\u00e4fsiger Weise. Die blofse Betastung von Gegenst\u00e4nden, wie Schl\u00fcssel, Stahlfeder, gen\u00fcgt f\u00fcr ihn, sie mit dem richtigen Wort zu benennen. Ferner ordnen sich ihm, wie einem geistig v\u00f6llig Gesunden, die wahrgenommenen Gegenst\u00e4nde r\u00e4umlich so, dafs ihre Lage zu einander klar bestimmt ist. Auch seine Zeitvorstellungen scheinen geordnet und klar zu sein. Dafs er die Uhrentafel versteht, ist schon gesagt. Nat\u00fcrlich gilt dasselbe f\u00fcr das Zifferblatt der Taschenuhr. Das Datum des laufenden Tages giebt er auf Befragen sogleich richtig an.\n(8) Die angef\u00fchrten Belege beweisen mit einander auch schon, dafs das Ged\u00e4chtnifs L.s feste Assoziationen bewahrt. Eine eingehendere Untersuchung nach der RiEGER\u2019schen Rubrik E. 1 zeigt nun aber, dafs L. gerade f\u00fcr den Erinnerungsstoff, welcher der Pr\u00fcfung am sichersten und leichtesten zug\u00e4nglich ist, n\u00e4mlich die Aufeinanderfolge von W\u00f6rtern, die in ihrer bestimmten Ordnung eine feste Reihe bilden, wie dergleichen in jeder Schule den \u201eMemorirstoff\u201d bilden, ein recht schlechtes Ged\u00e4chtnifs besitzt. Im einzelnen ist der Befund folgender : Von eingelernten Wortreihen gehen bei L. richtig: die Wochentag- und Monatsnamen, sowie das Vater Unser (mit einer ganz leichten Entstellung), ferner die Zahlenreihe 1, 2, 3 ft. mindestens bis in die Hunderter hinein. Aber nach den 10 Geboten gefragt bleibt L. die Antwort schuldig und von Spr\u00fcchen, geistlichen Liedern und anderen Gedichten behauptet er nichts auswendig zu wissen, weder von der Schule her noch aus der Milit\u00e4rzeit. Immerhin gelingt es, den ersten Vers des beim Milit\u00e4r so viel","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nC. Ritter.\ngesungenen Uhland\u2019sehen \u201eIch hatt\u2019 einen Kameraden\u201c aus ihm heraus zu bringen, freilich nicht so, dafs er ihn hersagt, sondern nur indem er ihn singt, wobei sein Wortged\u00e4chtnifs dem Anscheine nach durch die Melodie gest\u00fctzt wird. Am Schlufs h\u00e4ngt L. den unter den Soldaten \u00fcblichen Refrain an. Aber ohne grobe Entstellung geht es dabei nicht ab: \u201eKavallerie mufs ab-marschiren\u201c anstatt \u201eattaquiren\u201c. Schlimmer verderbt L. den U hl and sehen Text selbst, indem er beharrlich, trotz mahnender Zwischenfragen, singt: ..Ich hatt\u2019 einen Kameraden, einen bessern singst du nicht\u201d u. s. w. Von dem 2. und 3. Vers ist ihm nur eine recht unsichere Erinnerung geblieben.\nHierher geh\u00f6rt auch, dafs L. die christlichen Tugenden ..Glaube, Liebe,\" die ihm vorgesagt werden, nicht zur Dreiheit zu erg\u00e4nzen weifs. Doch allerdings erg\u00e4nzt er ..Pontius\u201c richtig durch \u201ePilatus\u201c und die 3 K\u00f6nige kann er mit ihren traditionellen Kamen benennen. In denselben Zusammenhang m\u00f6chte ich r\u00fccken, dafs L. auf die Frage nach der Hauptstadt Bayerns ohne Z\u00f6gern die Antwort ..M\u00fcnchen\u201c giebt. S\u00e4tze, die ihm w\u00e4hrend seiner Soldatenzeit beigebracht worden sind, geben ihren Ursprung durch die eigent\u00fcmliche instructionsgem\u00e4fse Betonung kund, die auch mit einer gewissen Straffung der Muskeln in leichter Ann\u00e4herung an soldatische Haltung verbunden zu sein pflegt. Solche S\u00e4tze kommen zum Vorschein auf die Fragen: \u201eWie heilst der K\u00f6nig von Bayern?\u201c worauf L. antwortet \u201eS. Kgl. Majest\u00e4t Prinz Leopold von Bayern\u201c \u2014 (von selbst sich verbessernd:) \u201eK\u00f6nig Otto von Bayern\" ; und \u201eWie heilst der deutsche Kaiser?\u201c, worauf folgt: \u201eS. Kaiserl. Maj. Karl\n-----S. Kaiserl. Maj. Ludwig II, K\u00f6nig von Preufsen\u201c. Man\nsieht, der \u00e4ufsere Rahmen solcher S\u00e4tze ist noch trefflich erhalten, aber was er einschliefst, ist schon recht verschwommen. Die Reihe des Alphabets, von der man annehmen sollte, dafs sie jedem, der eine Schule durchgemacht, gel\u00e4ufig genug sei, sagt L. folgendermaafsen her : $1 53e @ e3T esJf e\u00a9 23e 0 H ; und die mahnende Frage, ob es damit fertig sei, beantwortet er ganz ruhig zustimmend. (Die oben besprochenen Dictate, durch die ihm das vollst\u00e4ndige Alphabet wieder in Erinnerung gebracht werden mufste, hatten an 2 unmittelbar vorhergehenden Tagen stattgefunden.)\nF\u00fcrs erste also ist mit all dem eine recht auff\u00e4llige Schw\u00e4che des Ged\u00e4chtnisses f\u00fcr das Festhalten von Klangassociatio-","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 109\nn e n bei L. festgestellt. Zur Best\u00e4tigung dieses Ergebnisses f\u00fchre ich zun\u00e4chst noch eine Reihe von Beispielen an, aus denen sich aber sofort etwas weiteres Bemerkenswerthes ergeben wird. W\u00e4hrend, wie wir soeben gesehen, die Frage nach der Hauptstadt von Bayern frischweg richtig beantwortet wird, getraut sich L. nicht, die Hauptstadt von Preufsen anzugeben. Und da er auf die weitere Frage, was denn die Hauptstadt des deutschen Reiches sei, doch etwas antworten m\u00f6chte, so versucht er\u2019s und st\u00f6fst heraus: \u201eSchweiz\u201c. Wahrscheinlich, weil er den Eindruck, den diese Antwort bei mir hervorgebracht, aus meinem Gesicht gelesen hat, wird er darauf wieder zur\u00fcckhaltend und giebt auf die Frage nach der Hauptstadt von Frankreich die Versicherung, dafs er das nicht wisse; so bleibt er dann auch auf die Frage nach der Hauptstadt Englands stumm. Die weitere nach der von Oesterreich beantwortet er wieder, aber durch \u201eMannheim\u201c, und, da ich das verneine und die Frage eindringlich erneuere, durch \u201eAmerika\u201d. \u2014 ..Ach, was!\u201c fahre ich dazwischen ; \u201ewissen Sie so wenig von Amerika?\u201c Und: \u201eWer hat denn Amerika entdeckt?\" verh\u00f6re ich weiter, in der Erwartung, ein ihm gel\u00e4ufig gewordenes Spr\u00fcchlein in seiner Erinnerung zu erwecken. \u201eWissen Sie das nicht?\u201c Doch die einzige Antwort lautet: \u201enein\u201c.\n(9) Ich bin der Meinung, dafs es sich bei all den angef\u00fchrten F\u00e4llen wesentlich um Klangassoziationen handle, aber es besteht unter diesen ein bedeutsamer Unterschied. Ich will diesen indes erst besprechen, nachdem ich auch noch mitgetheilt, was sich \u00fcber das Ged\u00e4chtnifs an Assoziationen, die auf anderen Sinneseindr \u00fc e ken r u h e n, mittheilen l\u00e4fst. Die Pr\u00fcfung hat hier viel weniger sichere Grundlagen : Um zu sehen, wie genau einzelne Gesichtsbilder, Geruchs-, Ber\u00fchrungsempfindungen u. s. w., Gef\u00fchle, im Ged\u00e4chtnifs bewahrt worden sind, sollten wir eigentlich eine Zeit lang fr\u00fcher mit der Person zusammen gelebt haben, die wir untersuchen. Nur so liefsen sich wirklich eindringende Fragen stellen, deren Antworten wir scharf controliren k\u00f6nnten. Die Fragen, welche von Rieoer\u2019s Schema1 an die Hand gegeben werden, beantwortet L. insgesammt so, dafs m. E. daraus kein Anhaltspunkt zu gewinnen w\u00e4re, um ihn\n1 Unter CI \u201eGed\u00e4chtnifs f\u00fcr fr\u00fchere Erinnerungen\u201c, seit der Aufstellung von Rieger selbst n\u00e4her ausgef\u00fchrt und nach den Perceptionen der verschiedenen Sinne gegliedert.","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nC. Ritter.\nzu seinen Ungunsten von der Masse gew\u00f6hnlicher Menschen zu unterscheiden. Er erz\u00e4hlt aus seiner Schulzeit, wie schwer ihm das Lernen geworden, wie er oft gescholten Avorden sei und Schl\u00e4ge bekommen habe ; erz\u00e4hlt aus seiner Milit\u00e4rzeit und giebt dabei nicht blofs von seinem eigenen Regiment, sondern auch yon anderen, mit denen er Ber\u00fchrung gehabt, die Nummern und Farben richtig an, ahmt die milit\u00e4rischen Signale so nach, dafs man sie wohl erkennt, giebt Schilderungen aus einem Man\u00f6ver, das er vor 5 Jahren mitgemacht und die Ortsangaben, welche diese Schilderung enth\u00e4lt, stimmen mit der Wirklichkeit \u00fcberein. Auch den Namen seines Regimentskommandeurs und anderer Offiziere ist er im Stand sogleich anzugeben. Auf die Frage, wroher die Narbe komme, die in seinem Gesicht zu bemerken ist, erz\u00e4hlt er ganz glaublich, wie er als Knabe im Wald einem Eichh\u00f6rnchen nachgeklettert, dasselbe auch gl\u00fccklich gefangen, aber von dem Thier in die Wange gebissen Avorden sei. Bedenken wir auch, dafs die Schreibfertigkeit, die sich L. in der Schule erworben, nur dadurch zu Stande kommen konnte, dafs sein Ged\u00e4chtnifs die Erinnerung an die oft ausgef\u00fchrten Handbewegungen treu bewahrte ; dafs er beim Milit\u00e4r seine Griffe, Marschbewegungen u. s. w. gut erlernte, dafs er in seiner Han-tirung als Pfl\u00e4sterer sich ganz brauchbar erwiesen hat. Auf Grund dieser Thatsachen k\u00f6nnte man den Schlufs wagen, dafs eben nur das \u201eacustische\u201c Ged\u00e4chtnifs L.s abnorm schwach sei, das \u201eauditorische, tactile\u201c u. s. w. nicht als abnorm zu betrachten, und damit die Erkl\u00e4rung f\u00fcr die ganze Eigenth\u00fcmlichkeit seines geistigen Wesens gewonnen zu haben meinen. Aber vor einem so schnellfertigen Schl\u00fcsse m\u00f6chte ich warnen, indem ich nun den grofsen Unterschied zu beachten bitte, der doch auch bei den Klangassoziationen sich geltend macht. Die S\u00e4tze \u201eM\u00fcnchen ist die Hauptstadt Bayerns\u201c und \u201eBerlin ist die Reichshauptstadt, Paris ist die Hauptstadt Frankreichs\u201c k\u00f6nnen sich blofs durch ihren Klang dem Ged\u00e4chtnifs einpr\u00e4gen. F\u00fcr mich sind sie vollkommen gleichartig; f\u00fcr L. aber nicht. Woher kommt das? Dar\u00fcber kann Niemand im Zweifel sein. Nicht nur hat L. den Namen M\u00fcnchen unendlich h\u00e4ufiger geh\u00f6rt als jene anderen St\u00e4dtenamen und ebenso den Namen Bayern unendlich h\u00e4ufiger als Frankreich u. s. w., und insbesondere Bayern und M\u00fcnchen immer wieder mit einander verbunden geh\u00f6rt, sondern es verbindet sich mit den W\u00f6rtern Bayern und M\u00fcnchen f\u00fcr ihn","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. XU\nauch eine viel, viel inhaltsreichere Vorstellung als mit jenen anderen. Er weifs : wenn einer von W\u00fcrzburg aus in eine gr\u00f6fsere Stadt reist, so pflegt M\u00fcnchen das Ziel der Reise zu sein; er weifs, obrigkeitliche Verf\u00fcgungen, welche getroffen werden, gehen von M\u00fcnchen aus; er weifs, in M\u00fcnchen wohnt der Prinzregent in einem Schlofs, das noch viel stolzer und sch\u00f6ner ist, als das W\u00fcrzburger. Er hat von allen m\u00f6glichen Arbeitsgenossen, von denen und jenen seiner Regimentskameraden von M\u00fcnchen erz\u00e4hlen h\u00f6ren, wie dort das Leben so unterhaltend sei, auch der Lohn h\u00f6her u. s. w. Sobald er \u201eM\u00fcnchen14 h\u00f6rt, werden solche Erz\u00e4hlungen belebt und es regen sich W\u00fcnsche in ihm. Die Vorstellung, welche der Name erweckt, hat Beziehung zu seiner eigenen Person, obgleich er noch nie in M\u00fcnchen gewesen ist. Von Paris, London, Amerika, Mannheim, Schweiz weifs er wahrscheinlich, dafs sie geographische Begriffe sind \u2014 vielleicht das nicht einmal sicher und jedenfalls nicht viel dar\u00fcber hinaus \u2014: das ber\u00fchrt ihn weiter nicht und darum bilden sich f\u00fcr sein Ged\u00e4chtnifs keine haltbaren Assoziationen zwischen diesen Namen und anderen.\n(10) Und so d\u00fcrfte sich vielleicht, wenn man L. n\u00e4her kennen lernte, als es f\u00fcr mich in den paar Tagen m\u00f6glich war, \u00fcberhaupt nachweisen lassen, dafs alles, was er auf Grund von wirklichen Erlebnissen und Erfahrungen oder von blofsen Erwartungen und Hoffnungen in Beziehung zm seinem pers\u00f6nlichen Wohl und Wehe zu setzen weifs, seinem Ged\u00e4chtnifs sich einpr\u00e4gen kann, anderes aber nicht \u2014 mag nun der Eindruck durch das Geh\u00f6r auf ihn gewirkt haben oder mit einem anderen Organ aufgenommen worden sein. Dafs ihn das dringende Bed\u00fcrfnifs dazu getrieben hat, seinen Namenszug durch Nachmalen einzu\u00fcben und zu vor\u00fcbergehendem Gebrauch die wichtigsten S\u00e4tze des Katechismus mit H\u00fclfe der geduldig vorsprechenden Mutter sich einzupr\u00e4gen, haben wir schon geh\u00f6rt ; auch den praktischen Grund f\u00fcr seine Kenntnifs der r\u00f6mischen Ziffern kennen wir. Kennt-nifs der Wochen- und Monatstage mufs L. nat\u00fcrlich auch schon um seines Arbeitsberufs willen besitzen und so erneuert er sich die Klangfolge, welche ihre Ordnung anzeigt, nach st\u00e4ndigem Bed\u00fcrfnifs. Ebenso nothwendig braucht er im t\u00e4glichen Leben die Kenntnifs der Zahlen, welche durch Behalten der festen Zahlwortfolge gesichert wird. Und weiter geh\u00f6rt das Vater Unser","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nC. Bitter.\nzu den Dingen, deren allt\u00e4glicher Gebrauch ihm Bed\u00fcrfnifs ist. Was er auf Befragen aus seinem fr\u00fcheren Leben erz\u00e4hlt, woraus man auf ein normales Farben-, Orts-, Muskelbewegungsged\u00e4chtnifs schliefsen m\u00f6chte, sind eben lauter Dinge, die seine d\u00fcrftige pers\u00f6nliche Geschichte ausmachen. K\u00e4men wir pr\u00fcfend \u00fcbei dergleichen hinaus, so ist sehr fraglich, ob wir es besser bestellt f\u00e4nden, als mit den Klangassoziationen \u00fcber Amerika oder Frankreich, den 10 Geboten und der Buchstabenfolge des Alphabets. Auch wird das Raum- und Zeitbild, das in den Angaben L.s so befriedigend sich ausnahm, wohl recht verschwommen und schwankend werden, wenn man es vom pers\u00f6nlich Ei lebten bei ihm lostrennen will. Falls ich mit diesen A ermuthungen Recht h\u00e4tte, dann w\u00e4re das Merkw\u00fcrdige an L. eigentlich nicht sein schlechtes acustisches Ged\u00e4chtnifs, sondern eben popul\u00e4r ausgedr\u00fcckt: seine Dummheit; klarer gesagt, da es doch Dummheit sehr mannigfacher Art giebt, die \u00e0fia-tHa, die Stumpfheit und mangelnde Wifsbegierde seines Geistes, der keine theoretische Lust (\u2014 die h\u00f6chste nach der Auffassung der griechischen Philosophen \u2014) kennt; kein Gef\u00fchl der Befriedigung empfindet \u00fcber den Erwerb blofsen Wissens, z. B. geographischer Art; oder die Bornirtheit, die eben nur aufserordentlich wenig, nui das allei N\u00e4chstliegende auf die eigene Person zu beziehen und dadurch interessant zu machen vermag. Auch andere Menschen fassen ja viel leichter auf, was sie pers\u00f6nlich etwas angeht, als anderes. Aber w\u00e4hrend der Kreis dessen, was mit der eigenen Person Ber\u00fchrung oder Beziehung hat, bei ihnen von anf\u00e4nglich engen Grenzen aus durch Erlebnisse und Erfahrungen sich immer mehr erweitert, bleibt er bei Stumpfsinnigen fast in der urspr\u00fcnglichen Beschr\u00e4nktheit; und bei unserem Idioten scheint es fast, als ob er das aufserhalb solcher kl\u00e4glich engen Grenzlinien Liegende \u00fcberhaupt nicht auffafste, als ob vielmehr die dar\u00fcber gesprochenen Worte, wie man so sagt, zum einen Ohr hineingingen und zum anderen wieder heraus, nicht blofs ohne Betheiligung seines Gef\u00fchls, sondern wirklich ohne dafs die Worte in ihm eine Vorstellung weckten.\n(11) Doch kehren wir von dieser theoretisirenden Abschweifung wieder zur Schilderung der beobachteten Thatsachen zur\u00fcck. Alle die zuletzt besprochenen Einzelheiten beziehen sich auf die Erinnerung an weiter Zur\u00fcckliegendes. Mit gutem Grund mahnt aber Riegek durch Unterscheidung von CI und CII f\u00fcr","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"I nf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. H3\ndie Pr\u00fcfung des Ged\u00e4chtnisses in seinem Schema, auch das Ged\u00e4chtnifs f\u00fcr frische Eindr\u00fccke eigens zu untersuchen. Das Verhalten L.s bei dieser Untersuchung giebt bez\u00fcglich der neu dargebotenen Gesichts-, Geschmacks-, Geruchsund Tasteindr\u00fccke zu keiner Bemerkung Anlafs, durch welche entschieden eine Absonderlichkeit festzustellen w\u00e4re. Zwar f\u00e4llt bei Besichtigung der verschn\u00f6rkelten Linien, die L. mit verbundenen Augen nachahmend zu zeichnen hatte, nachdem ihm vorher die Hand gef\u00fchrt worden war, auf, dafs die zuerst gestellten Aufgaben mit ihren Eindr\u00fccken eine Nachwirkung hinterlassen, welche die L\u00f6sung der folgenden st\u00f6rend beein-flulst. Aber dasselbe wird man in \u00e4hnlichen F\u00e4llen oft auch bei begabten Menschen feststellen k\u00f6nnen.1 * 3\n(12) Dagegen eine ganz auffallende Schw\u00e4che L.s zeigt sich auch hier wiederum bei den am leichtesten genau zu pr\u00fcfenden Geh\u00f6rerinnerungen. L. ist aufser Stande, auch nur dsilbige ihm fremde W\u00f6rter, deren Laute nicht eben besonders einfach sind, nachzusprechen. Da er, wie wir uns \u00fcberzeugt haben, die einzelnen Laute, welche ihm vorgesprochen worden, ganz richtig nachbildet, ist die Behinderung und der Grund der Verwirrung, die uns Beispiele zeigen werden, bei seinem Ged\u00e4chtnifs zu suchen, das eben nur eine kleine Zahl mit einander verbundener Kl\u00e4nge festhalten kann. Aufs erste Mal bringt L. selbst deutsche Wortbildungen von 4 Silben, die ihm nicht vorher bekannt und etwas consonantenreich sind, nicht richtig heraus. Ebenso gelingen 2- und 3silbige Fremdw\u00f6rter selten aufs erste Mal. So findet er die Worte \u201eunziel-setzlich, chirecp silluq, Dschiggetai\u201d erst auf wiederholten, zum Theil mehrfach wiederholten Versuch. Salmanassar gelang beim zweiten Versuch. Aber Themistokles, Ptolem\u00e4us, K\u00f6dschenbroda wurden immer nur verzweifelt schlecht nachgesprochen. F\u00fcr Themistokles setzt sich die Form Themisketles fest, welche trotz stetiger A erbesserung 4 mal hinter einander hartn\u00e4ckig wiederholt wird. Dafs L. nun vollends am Nachsprechen 5 silbiger Namen, wie Nebukadnezar, Alcibiades elendiglich scheitert, ist\n1 Es fehlt an Versuchen, die an ..normalen\" Menschen angestellt\nworden, oder mindestens an Mittheilungen \u00fcber solche. Mit dem Nachsprechenlassen habe ich selbst viele Versuche gemacht : und eine der gew\u00f6hnlichsten Erscheinungen dabei ist, dafs Worte vorausgehender Proben in die nachfolgenden sich st\u00f6rend einmengen.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 28.\n8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nC. Ritter.\nnat\u00fcrlich. Ich mufs ausdr\u00fccklich wieder sagen, dafs es L. hierbei niemals an gutem Willen hat fehlen lassen. Er gab sich redlich M\u00fche, Fehler zu vermeiden und zu verbessern: aber es ging eben nicht. Das \u00f6silbige deutsche Wort \u201eKaltwasseranstalt\u201c war f\u00fcr L. noch nicht zu schwer', aber entschieden zu schwer \u201eKaltwasseranstaltsdirector\u201c, obgleich ihm gewifs auch der letzte Bestandtheil des zusammengesetzten Wortes nicht fremd sein konnte. Nach einigen mifsgl\u00fcckten Ans\u00e4tzen brachte er es zum fehlerlosen Nachsagen von \u201eSanit\u00e4tsrathswittwe\u201c, aber das ebenfalls 6 silbige, auch f\u00fcr einen Ungebildeten kaum halb mehr als Fremdwort zu betrachtende Wort \u201eInstitutsstatuten wuide immer aufs neue von ihm beim Versuch des Nachsprechens verst\u00fcmmelt und verballhornt; und nicht besser ging es dem Wort \u201eIndustrieunterricht\u201c, das in den Formen \u201eInstuterie- und Institiuieunter rieht\u201c beim 2. und 7. Versuch seine verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig gl\u00fccklichsten Gestaltungen annahm.\nZahlenversuche habe ich zuerst mit solchen Formen angestellt, in denen sich stets dieselbe Ziffer wiederholt. Meinen Aufzeichnungen dar\u00fcber entnehme ich Folgendes: 666 666 findet zuerst Wiederhall in der Form 636000 und 36, wobei also die 3 Silben ausgefallen sind, welche die Hunderter bezeichnen und aufserdem eine Entstellung mit unterl\u00e4uft, auf die wahrscheinlich die vom Einmaleins her nacht\u00f6nende Klangerinnerung j?6 X 6 \u2014 36\u201c eingewirkt hat.1 Beim zweiten Versuch lautet es 600000 und 66, also mit Unterdr\u00fcckung von 9 Silben. Ein darauf angestellter Versuch mit dem einfacheren 66 666 f\u00e4llt auch unbefriedigend aus. Dagegen 6 666 ward sogleich richtig nachgesagt und haftet nach einer Pause von mehreren Minuten noch im Ged\u00e4chtnifs. Darauf gelingt auch das Nachspiechen des 5 stelligen 66 666. Die Zahl 444 444 erweifst sich trotz l\u00e4ngerer Bem\u00fchung wieder als zu schwer. Erstens hat das Wort, welches den Ziffern entspricht, offenbar zu viel Silben f\u00fcr L.s Ged\u00e4chtnifs, zweitens mischen sich jetzt (vgl. das oben bez\u00fcglich des Nachfahrens von Figurenz\u00fcgen, zu denen die Hand gef\u00fchrt worden, Bemerkte) vom vorhergegangenen Versuch her immer st\u00f6rende Sachen ein, so dafs z. B. 44 000 und 66 heraus-\n1 Nachtr\u00e4glich bezweifle ich \u00fcberhaupt, ob die Gleichheit der Ziffern nicht eher erschwerend war und Verwirrung stiftete als Erleichteiung bot. Letzteres h\u00e4tte der Fall sein m\u00fcssen bei Aufnahme der Zahlen durchs Auge, anstatt dafs ihr Klang geh\u00f6rt wurde.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schr\u00e4ken hei voller Spraehf\u00e4higkeit etc. H5\nkommt. Die gl\u00fccklichste Leistung, welche sich ergiebt, ist 44000 und 46. Die Nachbildung der um eine Ziffer verk\u00fcrzten Form 44444 gelingt nach etwa 10 maligem Vorsagen m\u00fchsam. Aber die Zahl hat sich dem Ged\u00e4chtnifs immer noch nicht fest eingepr\u00e4gt. Nach 5 Minuten, \u00fcber welche sie im Kopf behalten werden sollte, wird sie in der Form 44446 vorgebracht. Ein nochmals mit 666 666 angestellter Versuch f\u00fchrt trotz eindringlichen Zuredens und vieler Geduld nicht weiter als wieder auf 664000 und 66 und endlich 666000 und 66 mit Ausfall der Hunderter.\nMeist handelte es sich um sofortiges Nachsprechen des Vorgesprochenen. Aber einige Mal wurde auch gepr\u00fcft, ob eine Klangverbindung, die ihm entweder nur vorgesprochen wurde oder die von ihm selbst soeben durch Nachsprechen erzeugt worden war, sich einige Minuten in seinem Ged\u00e4chtnifs halte. Bez\u00fcglich einiger von L. zuerst nachgesprochener Zahlen ist das Ergebnifs dieser Pr\u00fcfung schon mitgetheilt. Ohne dafs er sofort nachsprechen durfte, sagte ich ihm einmal die 4stellige Zahl 5432 vor, indem ich sie festzuhalten ihm einsch\u00e4rfte. Diese konnte L. nach Verflufs einiger Minuten richtig angeben. Mit der 4ziffrigen Zahl 1287 gl\u00fcckte ein \u00e4hnlicher Versuch: diese hatte L. freilich geschrieben vor sich auf der Tafel stehen, von der er sie abzulesen hatte um sie dann auszuwischen und nach einigen Minuten wieder anzuschreiben. Sogar das 5 stellige 16879, das bei einem erst unten zu schildernden Versuche nach 7 maligem successivem Vorzeigen der Ziffern richtig aufgefalst und ausgesprochen war, konnte von L. nach freilich nur kurzer Pause fehlerlos wiederholt werden. Von W\u00f6rtern wurde das nach einigen vergeblichen Bem\u00fchungen gl\u00fccklich zu Stande gebrachte \u201e Sanit\u00e4tsraths wittwe\u201c gew\u00e4hlt und nachher das von L. anstatt \u201eIndustrieunterricht\u201c geformte \u201eInstitruieunterricht\u201c. Mit jenem Wort wurde er f\u00fcr 10, mit diesem f\u00fcr 5 Minuten in eine Ecke geschickt und sich selbst \u00fcberlassen. Vermuthlich hat er in dieser Zwischenzeit die W\u00f6rter sich manchmal im Stillen wiederholt. Als er zur\u00fcckkam, lautete das erste aus seinem Mund \u201eSanit\u00e4tswittwe\u201c und wie ich das nicht anerkenne, ersetzt er es durch \u201eSanit\u00e4tsrat\u201c und weiter wiederholt er 2 Mal aufs Neue sein \u201eSanit\u00e4tswittwe\u201c. Das zweite Wort wurde ihm w\u00e4hrend der nur 5 Minuten, die er es behalten sollte, zu \u201eInstanterie-\nunterricht\u201c, da sein erster Bestandtheil offenbar in seinem ver-\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nC. Hitter.\nworrenen Ivopfc Anlehnung sn ..Infanterie bekommen hatte. Also nicht einmal 6\u20147silbige W\u00f6rter, deren 2\u2014Bsilbiger End-bestandtheil klar ins Ohr fiel, so dafs es sich eigentlich nui um scharfe Beachtung von 4 Anfangssilben handelte, blieben \u00fcber die Frist weniger Minuten hin\u00fcber erhalten.\nDafs die hiermit geschilderten Ged\u00e4chtnifsleistungen ganz auffallend gering sind, f\u00fchlt jeder Leser, indem er sich bewufst ist, nie geh\u00f6rte Silbenverbindungen von der L\u00e4nge und Schwierigkeit der zur Probe verwandten W\u00f6rter ohne Weiteres nachbilden zu k\u00f6nnen und anderen erwachsenen und verst\u00e4ndigen Menschen dasselbe zutraut. Als Anhaltspunkt zur Beurtheilung m\u00f6chte ich aber noch einige vergleichenden Mittheilungen geben. Ziemlich ausgedehnte Versuche1 haben mir gezeigt, dafs Bsilbige, ganz barbarisch klingende Gebilde , wie sie etwa durch Umkehrung deutscher W\u00f6rter gewonnen werden k\u00f6nnen, f\u00fcr gebildete erwachsene Personen, sowie f\u00fcr Sch\u00fcler der oberen Classen des Gymnasiums noch nicht zu schwer sind zum Nachsprechen. Die 5 silbigen Namen aber, mit denen L. trotz aller Wiederholungen nicht zurecht kommen konnte, spricht mein kaum mehr als 4j\u00e4hriges T\u00f6chterlein, ohne Uebung im Nachsagen zu besitzen, zum Theil sogleich, zum Theil nach wenigen Wiederholungen richtig aus.2 Andere Kinder desselben Alters werden das Gleiche\nleisten.\n1\tIch bin zu ihnen, wie zu verschiedenen anderen, angeregt worden durch Ebbinghaus\u2019 Schrift \u00fcber das Ged\u00e4chtnifs. Derselbe theilt dort S. 64 \u00fcber sich selbst mit, dafs er beim Nachsagen von sinnlosen Zusammensetzungen, deren Einzelbestandtheile je aus 2 Gonsonanten und \\ on diesen eingeschlossenem Vocal oder Diphthong bestehen, Gsilbige niemals entstelle, wenn er sie vorher einmal laut sich vorgelesen habe; 7silbige in der Regel auch richtig treffe; Bsilbige meist nur, wenn er geistig frisch sei. Die Aufgabe, welche Ebbinghaus sich damit gestellt hatte, ist einerseits etwas leichter, als die, um welche es sich hier gehandelt hat, sofern jener die Klanggebilde nicht blofs durch das Ohr auf nahm, sondern auch durch die Erinnerung an die eigenen Ausspraehbewegungen und das Aussehen der seinem Auge dargebotenen Buchstaben in sich befestigen konnte ; auf der anderen Seite ist sie sehr bedeutend erschwert durch die Consonanten-h\u00e4ufungen, die bei seiner Art der Silbenbildung entstehen und damit schwieriger aufzufassende und auszusprechende Gebilde ergeben, als die, welche mir zu meinen Versuchen dienten, namentlich aber als die L. vorgesprochenen aus einer wirklichen Sprache entnommenen TV \u00d6rter.\n2\tVgl. die Anmerkung auf der folgenden Seite.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprcichf\u00e4higkeit etc. H7\n(13) Ganz \u00fcberwiegend kommt in dem bisher Geschilderten nur der Klang m Betracht , nur nebenbei in deutschen Wort\u00bb bildungen auch die Vorstellung des durch die Wortsilben be-zeichneten Inhalts. Gehen wir jetzt aber auch noch auf sinnvolle, zu S\u00e4tzen verbundene W\u00f6rter \u00fcber. Ich schicke voraus, dafs die Sch\u00fcler des hiesigen Obergymnasiums leichte S\u00e4tze von etwa 30\t35 Silben meist fehlerlos nachschreiben \u2014 was erheb-\nlich schwieriger ist als blofses Nachsprechen ; ferner, dafs meine kleine lochter g\u00fcnstigen Falles volle 30 Silben, die ihr nur einmal vorgesprochen worden sind, richtig wiedergiebt, wenn die durch die W\u00f6rter angeregten Vorstellungen ihr vertraut sind.1 Hieran gemessen erscheint nun das Verhalten L.s wieder als h\u00f6chst merkw\u00fcrdig. Es sei mir gestattet, den hierher geh\u00f6rigen Abschnitt meiner Aufzeichnungen w\u00f6rtlich und ohne Abk\u00fcrzung abzuschreiben: Ich spreche vor: (1) ..Was ist denn dem Nikolaus\n1 Die auf voriger Seite erw\u00e4hnten Versuche mit meinem T\u00f6chterchen habe ich vor 2 Jahren angestellt. Inzwischen ist der Aufsatz, den ich hier ver\u00f6ffentliche, in meinem Pulte liegen geblieben. Bei der Durchsicht des Druckes kann ich ihn durch folgende neue Beobachtungen erg\u00e4nzen : heute spricht mein jetzt nahezu 6 j\u00e4hriges T\u00f6chterchen von den dem Idioten Leixner vorgesprochenen S\u00e4tzen Nr. 6 ohne Weiteres glatt nach, Nr. 8 beim ersten Ansatz mit der geringen Ungenauigkeit, dafs \u201ees\u201c zu \u2019s verk\u00fcrzt wird. Die \u00fcbrigen S\u00e4tze machen ihr Schwierigkeiten, nicht, wegen der\nSilbenzahl, aber wTeil die darin vorkommenden Namen f\u00fcr sie meist v\u00f6llig fremden Klang haben und so sinnlose, schwer zu behaltende Gebilde sind. Immerhin bringt sie nach mehr oder weniger zahlreichen Wiederholungen alle diese S\u00e4tze richtig heraus; so Nr. 7, 9, 13 beim 3ten Versuch, Nr. 12 beim 4 ten, Nr. 2 beim 7 ten. Von S\u00e4tzen, die nur Dinge ihres eigenen An-schauungs- und Verst\u00e4ndnifskreises umschreiben, gelingen ihr solche mit 22\u201424 Silben aufs erste Mal. Ganz \u00e4hnliche Ergebnisse fand ich bei einer ihrer etwa gleichaltrigen Gespielinnen. Von meinem kleineren T\u00f6chterchen aber, das ich jetzt auch in die Untersuchung hereinziehen konnte, nachdem es soeben das Alter von 2y.2 Jahren erreicht hat, kann ich Folgendes feststellen: sie sagt ca. losilbige S\u00e4tze von W\u00f6rtern ihres Anschauungskreises aufs erste Mal gut nach. Auch durch gr\u00f6fsere S\u00e4tze von 25 bis 27 Silben l\u00e4fst sie sich von einem Versuch nicht abschrecken; aus ihnen gehen ihr aber Anfangs immer einige W\u00f6rter verloren und auch mit einigen Wiederholungen erreicht sie den genauen Wortlaut nicht, doch n\u00e4hert sie sich diesem bis auf wenige Fehler an. Einzelne ihr unbekannte-Wortbildungen spricht sie entschieden schon besser als der beschriebene Idiot: so bringt sie z. B. den Klang von \u201eThemistocles\u201c richtig heraus; aber allerdings an \u201eNebukadnezar\u201c bricht sie sich vergebens die Zunge abj, um dann lachend zu versichern, \u201edas k\u00f6nne sie nicht\u201c.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nC. Bitter.\nLeixner begegnet, dafs er vom Gensdarmen verhaftet worden ist?\u201c (25 Silben, wovon 6 auf den gel\u00e4ufigen Namen kommen).\nL. spricht nach: \u201eWas ist dem N. L. passiert, dafs er vom G.\nverh. worden ist?\u201c\nEinige Zeit sp\u00e4ter, nachdem inzwischen anderes untersucht war, spreche ich vor: (2) \u201eIm Jahr 1870 war der grofse Kiieg zwischen Deutschland und Frankreich.\u201c (20 Silben.) \u2014 L. stutzt, nach l\u00e4ngerem Besinnen macht er, anstatt nachzusagen, den Einwand: \u201eNein! \u2014 wann \u2014 der Krieg mit Preufsen und Oest-reich.\u201c Ich entgegne, er t\u00e4usche sich, mein Satz sei liehtig, \u00fcbrigens habe er gar nichts anderes zu thun, als p\u00fcnktlich das Vorgesprochene nachzusagen. Nachdem ich den Satz wiederholt, bringt er Folgendes vor: \u201eIm Jahr 1870 war der grofsj\u00e4hrige Krieg mit Deutschland\u201c, dann eorrigirt er sich, weil er bemerkt, dafs ich damit nicht zufrieden bin, w\u00e4hrend ich noch Notizen\nmache, in folgender Weise: \u201emit Rufsland---------Deutschland\n_____mit Deutschland\u201c ; dann, dumm l\u00e4chelnd, da er an meinem\nSchreiben und wohl auch meiner Miene erkennt, dafs er noch nicht das Richtige getroffen: \u201emit Oestreich und Deutschland . Auf neues eindringliches Vorsagen: \u201eIm Jahr 1870 war dei grofse Krieg mit Deutschland \u2014 mit Oestreich und Deutschland\u201c. Ich suche durch Ermahnung Verbesserung zu erzielen: \u201eWarum sagen Sie denn nicht so nach, wie ich es Ihnen vorsage ! I. J. 1870 w. d. g. K. z. D. u. F.\u201c L. stottert heraus: \u201eIm\nJahr 1870 war der grofsj\u00e4hrige Krieg-----------Im Jahr 1870\nwar der Krieg \u2014 zwischen Bayern und Preufsen\". Neues Vorsagen mit ernstlicher Zurede; darauf: \u201eIm Jahr 1870 war der grofse Krieg zwischen England und Deutschland\u201c\tcorn-\ngirend:) \u201emit Oestreich und Deutschland\"; neu vorgesagt: \u201eIm J. 1870 w. d. gr. Kr. zwischen Oestreich und Deutschland\nmit Oestreich und Deutschland .\nDer Satz, den ich nun folgen lasse (3): \u201eDer Nikolaus Leixner ist von Estenfeld und hat 13 Jahre beim st\u00e4dtischen Tiefbauamt gearbeitet\u201c (28 Silben, wovon wieder 6 den Eigennamen ausmachen), wird dem Sinn nach richtig, aber ebenfalls\nin abweichender Form nachgesagt.\nAm folgenden Tag wird unter Anderem der Versuch mit dem oft vergebens vorgesagten Satz (2) \u00fcber den siebenzigei Krieg erneuert. L. sagt nach : \u201eIm Jahr 1870 war der grofse Krieg mit Deutschland\u201c. Auf wiederholtes Vorsagen: \u201eIm Jahr 1870","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. H9\nwar der grofse Krieg mit Oestreich und Deutschland\u201c ; auf neue Wiederholung: \u201eIm Jahr 1870 war der Krieg mit England und Deutschland\u201c. Endlich, nachdem ich durch mehrfaches Vorsagen und Nachsagenlassen seinem Ged\u00e4chtnifs die Wortverbindung \u201eKrieg zwischen Deutschland und Frankreich\u201c aufgedr\u00e4ngt habe, kann er auch den ganzen Satz wiederholen, jedoch nicht 3 Mal hintereinander richtig, vielmehr stellen sich dazwischen hinein einige der fr\u00fcheren Fehler wieder ein.\nNach einer l\u00e4ngeren Pause beginne ich wieder vorzusprechen:\n(4)\t\u201eDie Hauptstadt von Unterfranken ist W\u00fcrzburg am Main\u201c (13 Silben). Dieser Satz wird von L. richtig nachgesagt. Dann\n(5)\t,.Die Hauptstadt von W\u00fcrttemberg ist Stuttgart am Nesen-bach\u201c (14 Silben). L. : \u201eDie Hauptstadt von Stuttgart ist Metzelburg\u201c. (4) \u201eDie Hauptstadt von Unterfranken ist W\u00fcrzburg am Main\u201c wird darauf wieder richtig herausgebracht. Der neue Versuch mit dein zweiten Satz ergiebt dagegen: (5) \u201eDie Hauptstadt von Wirtelberg ist \u2014 esch \u2014 Stuggart\u201c. Auf neues Vorsagen : ..Die Hauptstadt von Wirtelberg isch \u2014 sch \u2014 Stuggart \u2014, \u2019sch Meckelburg\u201c. Neues Vorsagen mit eindringlicher Vermahnung; dann: \u201eDie Hauptstadt von Stuggart-\u2014 \u2014 die Hauptstadt von Wirtelberg isch de n\u00e4chste Stadt von Stuggart\u201c ; w\u00e4hrend ich schreibe, folgen noch die Verbesserungsversuche : \u201eisch von Wirtelberg \u2014 isch ze Stuttgart von Megdelburg \u2014 \u2014 isch Megdelburg\u201c. Wieder neues Vorsagen; es hilft nichts. L. verwickelt sich nur immer mehr: \u201eDie Hauptstadt, de Hauptstadt\n\u2014 \u2014 Messel--------Die Hauptstadt von Wirtelberg ist de gr\u00f6fste\nStadt von Megdel \u2014 Messelbach \u2014 \u2014 \u2014 Die Hauptstadt von Wirtelberg-----ist de n\u00e4chste \u2014 \u2014 ist Stuggart \u2014 isch Megdel-\nburg. \u201d\nZur Abwechslung liefs ich nun einen Satz folgen, der keine von L\u2019s Gedanken abliegenden W\u00f6rter enthalten und an dem sich zugleich wieder erproben sollte, ob derselbe einen Inhalt, den er als verkehrt ansehen mufste, sich ruhig bieten lasse :\n(6)\t\u201eDer Honig ist s\u00fcfs, und wenn man ihn ifst, bekommt man einen Rausch\u201c (16 Silben). Der Satz wurde ohne Beanstandung nachgesprochen, mit der leichten Formab\u00e4nderung \u201ekriegt mer en Rausch\u201c. Als ich dagegen im n\u00e4chsten Satze auf die Dinge, welche L. zur Zeit innerlich am meisten besch\u00e4ftigen mufsten, anspielend, etwas Falsches aussagte, indem ich den Weg verkehrt angab, auf dem die Person ermordet worden war, deren","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nC. Ritter.\nErmordung L. schuld gegeben wurde, stellte er beim Nachsagen die Sache richtig. Mein Satz lautete: (7) ..Die Schubert hat Abends von W\u00fcrzburg nach Lengfeld gehen wollen\u201c (17 Silben). L. sagt berichtigend ..Die Sch. h. A. v. Lengfeld nach W\u00fcrzburg gehen wollen\u201c.\nWeitere Proben: (8) \u201eWenn der L. nicht eingesteht, dafs er es gethan hat, so wird er verurtheilt\u201c (19 Silben): zuerst mit Auslassung des Dafssatzes, auf wiederholtes Vorsagen w\u00f6rtlich genau nachgesagt. \u2014(9) \u201eDie gr\u00f6fste Stadt Schlesiens ist Breslau an der Oder\u201c (14 Silben). L.: \u201eDie gr\u00f6fste Stadt ist Breslau an Gretle\u201c. Auf Wiederholung : \u201eDie gr\u00f6fste Stadt ist schlefslich \u2014 \u2014 schleslich ist Holstein\u201c [! Schleswig-Holstein schwebt vor]. Auf neue Wiederholung: \u201eDie gr\u00f6fste Stadt von Schlesien ist die Grevelau-Grete\u201c. Ich: \u201ewas sagen Sie? ist die?\u201c L. : \u2014 \u201eGrede\u201c. Ferner: (10) \u201eDie gr\u00f6fste Handelsstadt Deutschlands ist Hamburg an der Elbe\u201c (15 Silben). L.: \u201eD. gr. Plandelsst. ist Hamburg an die Elbe\u201c. Auf Wiederholung : \u201eD. gr. H. i. H. an die, vor die Elbe \u2014 die erste Handelsstadt\u201c. \u2014 Dann: (11) ..Wenn der L. vom Gef\u00e4ngnifs in die Klinik gef\u00fchrt wird, dann geht allemal ein Schutzmann mit\u201c (24 Silben). L. : \u201eWenn der L. jedesmal in die Kl. gef. wird, geht jedesmal ein Sch. mit.\u201c\nAm dritten Tag machte ich noch einmal einige kurze Versuche. Zun\u00e4chst gab ich, absichtlich in m\u00f6glichst engem An-schlufs an jenen fr\u00fcher lang ge\u00fcbten Satz, auf nachzusprechen : (12) \u201eIm Jahr 1859 war der grofse Krieg zwischen Oestreich und Italien\u201c (24 Silben). L. sagt nach: \u201eIm Jahr 1859 w. d. gr. Krieg mit Italien und Oestreich\u201c. \u2014 Darauf: (13) \u201eIm Jahr 753 ist Rom von Romulus gegr\u00fcndet worden\u201c (21 Silben). L. setzt zuerst an, h\u00e4lt aber sofort ein und erkl\u00e4rt \u201edes hab e net verstanden\u201c. Auf Wiederholung bringt er heraus \u201eIm Jahr 1871 ist Rom von Ron\u00fcmus gegr. w.\u201c Ich \u00e4ndere ab, um zu erleichtern, und sage vor: \u201eIm Jahr 753 vor Christus ist Rom gegr. w.\u201c (20 Silben). L. klebt am alten Vmrtlaut und sagt\nnach: \u201eIm Jahr 18--------im Jahr 700 ist Rom von Ron\u00fcmus\ngegr. worden\u201c.\nDiese Proben werden gen\u00fcgen. Sie lassen uns erkennen, 1. dafs die vorher schon festgestellte Schw\u00e4che des Ged\u00e4chtnisses, die uns so sehr aufgefallen ist, als wir eingelernte Wortreihen (den Memorirstoff der Schule insbesondere) von L. h\u00f6ren wollten, mit einer ebenso auffallenden Schw\u00e4che der Auf-","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 121\nfassungsf\u00e4higkeit f\u00fcr eben erst sich darbietende Laut-und Wortfolgen zusammenh\u00e4ngt; 2. dafs auch hierbei ein bemerkenswerther Unterschied des Verhaltens sich zeigt, je nachdem das Vorgesprochene (wie in Satz 1 3 7 8 11) durch seinen Sinn und Inhalt Beziehung zu L.s Wohl und Wehe hat (auch Satz 4 geh\u00f6rt in weiterem Sinne hierher) und damit sein Gef\u00fchl in Mitleidenschaft zieht oder nicht.\n(14) Da die merkw\u00fcrdige Beschr\u00e4nktheit L.s auch hier wieder nur bei Klangauffassungen hervorgetreten ist, scheinen die Pr\u00e4missen des oben noch als eilfertig abgewiesenen Schlusses auf eine Verk\u00fcmmerung eben seines \u201eauditorischen\u201c Ged\u00e4chtnisses eine neue, fast unwiderstehliche Verst\u00e4rkung zu erhalten; und wir werden nachher noch eine Einzelheit kennen lernen, n\u00e4mlich die wiederum erstaunliche Unf\u00e4higkeit L.s, Ger\u00e4usche unmittelbar z\u00e4hlend zusammenzufassen, die in dieselbe Richtung weift -\u2014 so mag der Schlufs in der That das Richtige treffen : und doch halte ich f\u00fcr gut, aufs Neue zu betonen, dafs er einstweilen wenigstens nicht zwingend ist. Leider erkenne ich zu sp\u00e4t, dafs ich einige Mittel der Pr\u00fcfung unbenutzt gelassen habe, welche die offene Frage vielleicht mit zwingendem Beweis zu ihrer Entscheidung gebracht h\u00e4tten. Es w\u00e4re vielleicht m\u00f6glich gewesen, das von Rieger noch zu wenig ins Einzelne ausgearbeitete Verfahren f\u00fcr Ermittlung der Leistungen des \u201eoptischen, tactilen, gustatorischen\u201c u. s. w. Ged\u00e4chtnisses so auszugestalten, dafs eine Vergleichung derselben mit den beschriebenen Leistungen des akustischen Ged\u00e4chtnisses die Gleichwerthigkeit oder Ungleichwerthigkeit wirklich erkennen liefse.1 Insbesondere\n1 Als einfache Untersuchungsmittel, theils f\u00fcr die Feinheit der Auffassung der verschiedenen Sinnesorgane, theils f\u00fcr die Festigkeit, mit der die Eindr\u00fccke in der Erinnerung bestehen bleiben, m\u00f6chte ich zur Erg\u00e4nzung der von Rieger namhaft gemachten etwa noch folgende empfehlen : \u00ab f\u00fcr das optische Gebiet: gleichartige Figuren verschiedener Gr\u00f6fse, die simultan und successiv zur Anschauung zu bringen w\u00e4ren, mit der Aufforderung die Gr\u00f6fse zu vergleichen ; \u00df f\u00fcr das akustische : Kaffeemahlen, Teppichklopfen, Ivleiderausb\u00fcrsten, Trommeln auf Holzplatten und Blech, Geldklingenlassen, Husten, Schneuzen (Bellen, Knurren u. s. w. vgl. Rieger F. II.\u00df), zur Beantwortung der Frage, was da geschehe? g bez\u00fcglich des Tastsinns : Ber\u00fchrung von trockener Erde, feuchtem Lehm, Glas, Lederst\u00fccken, Holz, Metall, Papier verschiedener Art, Linnen, Wollstoff, Sammet, Pelz, Federn, Fingereintauchen in Wasser und Oel, zur Unterscheidung von Stoffen ; 8 des Geruchs : Verbrennen von Haaren und N\u00e4geln oder Plorn, An-","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nC. Ritter.\naber w\u00e4re ein schon von anderer Seite bequem dargebotenes Mittel anzuwenden gewesen, um die unmittelbare Auffassung des Geh\u00f6rten, die ich hier immer als gleichbedeutend mit dem Ged\u00e4chtnifs f\u00fcr die vor wenigen Minuten aufgefafsten Geh\u00f6rseindr\u00fccke behandelt habe, von diesem zu unterscheiden und beides getrennt zu pr\u00fcfen* 1, n\u00e4mlich die von Ebbinghaus in seinen grundlegenden Untersuchungen \u00fcber das Ged\u00e4chtnifs eingef\u00fchrte Feststellung der Zahl von Wiederholungen, welche erforderlich ist, um Silbenreihen bestimmter L\u00e4nge dem Ged\u00e4chtnifs so einzupr\u00e4gen, dafs sie ..gerade eben willk\u00fcrlich reprodu-cirt werden\u201d k\u00f6nnen2, in Vergleichung mit der Zahl der Wiederholungen, welche nach Verflufs von 1 oder 2 Tagen zur Wiederherstellung desselben Ged\u00e4chtnifszustandes erfordert wird. Jede Untersuchung der geistigen Eigenth\u00fcmlichkeit eines Menschen sollte diese Feststellungen unbedingt ausf\u00fchren. Nach und nach liefse sich dann auch die wichtige Frage entscheiden, welche dem Leser der Ebbinghaus\u2019sehen Darlegungen sich von selbst auf dr\u00e4ngt, aber in den mehr als 16 Jahren seit Ver\u00f6ffentlichung derselben noch nicht gr\u00fcndlich untersucht worden zu sein scheint3, ob das im\nz\u00fcnden von Papier, Pech, Schwefelh\u00f6lzern, Anbrennen von Milch, K\u00e4se, stinkendes Fleisch, Knoblauch; e bez\u00fcglich des Geschmacks: Kosten von Wachholderbeeren, Schlehen, K\u00fcmmel, Holzasche, Mehl, Kreide (Wein, Most, Bier, Wasser).\n1\tRieger in seinem \u201eEntwurf-4 unterscheidet beides wohl insofern, als er das Nachspreehen unter der allgemeinen Rubrik f\u00fcr \u201eUnmittelbare. Nachahmung\u201c D behandelt wissen will und getrennt davon unter CII, 2 \u201eGed\u00e4chtnifs f\u00fcr frische Eindr\u00fccke aus akustischen Perceptionen\u201c die Stellung von Aufgaben verlangt, wie ich sie L. damit gegeben, dafs ich ihn vorgesagte Worte nach 5 oder 10 Minuten Pause nachsagen lieis. Abei Rieger selbst verkennt nicht, dafs sich beim Nachsagen buchstabenreicher unbekannter W\u00f6rter und l\u00e4ngerer S\u00e4tze doch auch die Kraft des Ged\u00e4chtnisses verr\u00e4th (z. B. S. 22 der seinem schematischen Entwurf vorausgeschickten \u201eBeschreibung der Intelligenzst\u00f6rungen in Folge einer Hirnverletzung\u201c = Ievli. d. pliys.-me\u00e4. Ges. N. F. 22, S. 86 wird das von ihm betont).\n2\t\u201eDieses Ziel\u201c, so erkl\u00e4rt Ebbinghaus selbst S. 30 der Schrift \u00fcber das Ged\u00e4chtnifs, \u201egalt als erreicht, wenn eine Reihe zum ersten Male nach gegebenem Anfangsgliede ohne Stocken in einem bestimmten Tempo und mit dem Bewufstsein der Fehlerlosigkeit hergesagt werden konnte.\"\n3\tSollte ich mich t\u00e4uschen, so bitte ich, zu meiner Entschuldigung gelten zu lassen, dafs mir in meinem Wohnort nur eine sehr kleine Bibliothek zur Verf\u00fcgung steht. Und f\u00fcr einen Nachweis dar\u00fcber, dafs was ich vermisse schon geleistet sei, werde ich gewifs dankbar sein. Ich mufs aus","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben hei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 123\nGed\u00e4chtnifs Behalten sich einfach als Function des unmittelbaren Auffassens darstelle, so dafs der Satz g\u00e4lte, je rascher etwas von derselben Person aufgefafst wird, desto sicherer und l\u00e4nger wird es festgehalten; und ob man etwa auch bei Vergleichung verschiedener Individuen mit einander aus dem gegenseitigen Verh\u00e4ltnis ihrer Auffassung auf ihre Ged\u00e4chtnifsleistungen schliefsen k\u00f6nne. Es ist hier noch eine L\u00fccke in dem Rieger\u2019sehen Schema, die sich sehr leicht ausf\u00fcllen l\u00e4fst. An jenes mich haltend, habe ich die jetzt von mir vermifste Feststellung vers\u00e4umt. Und eben im Bewufstsein dieser Vers\u00e4umnis betone ich, es sei durch meine Untersuchungen nicht ganz ausgeschlossen, dafs bei L. selbst das Ged\u00e4chtnifs f\u00fcr W\u00f6rter, das besonders erb\u00e4rmlich scheint, sich in recht eng gesteckten Grenzen als t\u00fcchtig und treu erwiese, wenn man n\u00e4mlich eben der geringen Fassungskraft des Menschen sich geduldig damit anbequemen wollte, dafs man ihm alles nur in ganz kleinen, kurzen St\u00fccken zur Auffassung und Ein\u00fcbung darb\u00f6te. Wahrscheinlich ist es ja nicht gerade in Anbetracht all des Mitgetheilten, doch mufs man bei der Beurtheilung auch mit in Rechnung nehmen, dafs L. beim Auswendiglernen aufgegebenen Ged\u00e4chtnifsstolfes immer in \u00e4ufserst ung\u00fcnstiger Lage war, indem er ja die Aufgabe sich nicht vorlesen konnte, sondern nur zuh\u00f6ren, wenn andere ihm laut vorlernten (vgl. das \u00fcber seine Vorbereitung zur Kommunion Bemerkte S. 97).\n(15) Aber -\u2014 wir sind mit der Schilderung L.s immer noch nicht fertig. An einem der ergiebigsten Torcoi im Schema Rieger\u2019s haben wir noch nicht nachgesehen, n\u00e4mlich unter H, wo die \u201eCombination\u201c gepr\u00fcft werden soll. Ich bitte um Geduld auch noch f\u00fcr Darlegung dessen was hierher geh\u00f6rt.\ndr\u00fccklich bekennen, dafs ich die wichtigen Untersuchungen, die G. E. M\u00fcller und F. Schumann \u00fcber das Ged\u00e4chtnifs ver\u00f6ffentlicht haben, nur oberfl\u00e4chlich kenne : da ich sie einst gl\u00fccklich von einer ausw\u00e4rtigen Bibliothek erhalten hatte, wurden sie mir wieder abgefordert, ehe ich zu ihrem Studium recht Zeit gefunden. Aus der Darstellung von H. Ebbinghaus im ersten Bande seiner eben erschienenen \u201ePsychologie\u201c (S. 648) kann ich \u00fcbrigens schliefsen, dafs auch die genannten Forscher die von mir hier aufgeworfene Frage noch offen gelassen haben. Sie ist gewifs nicht schwieriger, als manches Problem, das jene gl\u00fccklich gel\u00f6st. Wie aufsei -ordentlich wichtig aber ihre Beantwortung w\u00e4re, das wird jedem Lehiei auf den ersten Blick klar sein.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nC. Ritter.\nEine Aufgabe war, zusammengesetzte Substantiv a zu bilden, deren erster Bestandteil vorgesagt wurde. Der Gedankenstrich trennt je das von mir Vorgesagte und das von L. Dazugesetzte. Esels \u2014 haut; Brei \u2014 Hirschbr\u00e4u: dieser Fehler (der Umdrehung beider Wortbestandtheile) wird wiederholt, nachdem ich an einzelnen Beispielen ihn deutlich zu machen mich bem\u00fcht hatte ; Trommel \u2014 schlegel ; Hirn \u2014 : bleibt ohne Erg\u00e4nzung ; Magen \u2014 wagen (! ) ; Stuhl \u2014 bein ; Bein \u2014 stuhl (!) ; Feder \u2014 Stahlfeder; nach Erkl\u00e4rung des Fehlers: Feder \u2014 bett; Bett \u2014 kissen ; Tuch \u2014 Taschentuch; Feuer \u2014 wehr; Bettel \u2014 Bettler.\nEin anderer Versuch : Ich las vor, nachdem ich L. die Aufgabe gestellt, wenn ich etwas lese, das unsinnig, falsch, l\u00e4cherlich sei, zu unterbrechen und zu corrigiren, Ein St\u00fcckchen aus der Fibel schien f\u00fcr L.s Fassungskraft am ehesten geeignet, lieber den Inhalt gab ich zum Voraus an, es werde etwas von einem Spitzerhund erz\u00e4hlt. Fragen \u00fcberzeugen mich, dafs er sich einen solchen richtig vorstellt. Nun beginne ich zu lesen: Der geizige Spitz: Ein Spatzhund 1 i e f s s i c h \u2019 s w o h 1 -Schnecken1 -\u2014- heilst es so? Ein Spatzhund? \u2014 ..Nein: ein Spitzhund\u201c verbessert L. selbst. Auch f\u00fcr ..wohlschnecken\" erhalte ich von ihm durch Zureden die entsprechende Berichtigung, aber an den weiteren Worten bei einer vollen Schule Molch nimmt L. durchaus keinen Anstofs. \u201eJa, s\u2019 ist recht\" erkl\u00e4rt er auf wiederholte Fragen. Ein h\u00e4ngeriges M\u00e4uschen kam herzu? \u2014 dies verbessert er zum hungerigen M. : und rat um ein Almeisen \u2014 Das st\u00f6rt ihn wieder nicht; ich selbst mufs ..rat\" verbessern; aus dem fragend wiederholt\nvorgesagten ..bat um ein Almeisen\" ? will L. endlich.........eine\nAmeise\u201c machen. Pack dich, sprach Spitz, es mundet mir silber gar zu p\u00e4chtig: auch das nimmt L. ruhig hin, und alle Fragen wollen nichts helfen. Endlich, ohne den Klang zu beachten, sagt er: ..es hungert mir selbst\u201c. Und dabei jugte er die Bettlerin in ein nahes Loch? ..Wie?\u201c ..Schlupft in sein Loch!\u201c ..Ach, Unsinn,\u201c bemerke ich tadelnd; \u201eer schlupft nicht in sein Loch. Wie m\u00fcssen Sie sagen? Er\n1 Der gesperrte Druck bezeichnet das Vorgelesene im Unterschied von den Zwischenfragen und Antworten; die fett gedruckten Buchstaben zeigen die beim Vorlesen absichtlich begangenen Entstellungen an.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu- lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 125\njugte die Bettlerin in ein Loch? er jugte sie?\" \u2014 ,.Des weifs i nett, Herr Professer.\u201c \u2014 W\u00e4hrend er aber voll Eifer vor dem Loche lag und kitzelte und schnoperte? L. will verbessern: \u201eschnoferte\u201c. Ich frage: \u201eWas! kitzelte? Was thut er denn?\u201c Antwort: \u201eer frifst!\u201c \u2014 \u201eNein, er frifst nicht. Aber er kitzelt auch nicht. Wie mufs es heifsen statt: \u201ekitzelte?\u201c L. : \u201espitzte\". Bei neuem dringlichem Fragen: \u201edo weifs e nett, was e sage soll.\" Nach eigener Berichtigung lese ich weiter: schlich die Kutze herbei, leerte das Ges\u00e4fsmnd kletterte risch auf eine Leiter. Die \u201eKatze\u201c wird von L. herausgefunden ; das \u00fcbrige scheint ihm in Ordnung zu sein ; verstau dnifsinnig wiederholt er \u201eLeitere\u201c und auf die ungeduldige Frage: \u201eNun? was leert sie denn, die Katze?\u201c erwidert er \u201edas Fleisch\u201c. So hatte Spitz das Nachsehen und mufste sich den Bartsch wischen \u2014 l\u00e4fst L. wieder ganz kalt. Endlich, auf oft erneutes Zureden, was der Spitz thue, meint er \u201enochspitzen\u201c, dann \u201enochgucken\u201c und weiteres Fragen bewegt ihn auch zu einem Verbesserungsversuch von Bartsch (mit kurzem a gesprochen). Pl\u00f6tzlich leuchtet es n\u00e4mlich auf seinem Gesicht auf und er ruft aus ..de Dodsche\u201c, was er erkl\u00e4rt durch ..sei Fuefs\u201c.\n(16) Weitere Proben kann ich \u00fcbergehen, um nun \u00fcber L.s F\u00e4higkeit zu z\u00e4hlendem Zusammenfassen zu berichten. Aufeinanderfolgende Trommelschl\u00e4ge werden von ihm bis zur Zahl 8 richtig zusammengefafst ; doch nur, so lange er im Stillen mitz\u00e4hlt. Wie ich ihn anweise, dies zu unterlassen und aufs neue pr\u00fcfe, stellt sich heraus, dafs er nur 1 und 2 richtig auffafst : zuerst n\u00e4mlich werden 8 von ihm als 5 angegeben, ebenso 6 als 5; dann werden 4 als 2, 6 als 4, 3 als 2 gez\u00e4hlt und, nachdem 1 und 2 richtig angegeben war, wiederum 4 als 3. \u2014 Von geometrischen Figuren erkennt L. das Dreieck ohne Weiteres als solches, ein F\u00fcnfeck bezeichnet er als Viereck und auch beim Nachz\u00e4hlen der Ecken \u00fcberzeugt er sich erst durch den 3. Versuch von seinem Irrthum, worauf er die Figur als F\u00fcnfeck anerkennt. Ein Achteck und Sechseck wagt er jetzt nicht mehr nach dem Augenschein zu benennen, sondern er beginnt die Ecken zu z\u00e4hlen, wodurch er das richtige Ergebnifs gewinnt. Auch beim Viereck verh\u00e4lt er sich jetzt vorsichtig und z\u00e4hlt, anstatt auf den ersten Blick die Summe der Ecken anzugeben. Die Punkte zweier W\u00fcrfel werden auf den Wurf hin ebenfalls","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nC. Ritter.\nerst nach und nach von ihm zusammengez\u00e4hlt : seine Augen laufen dabei her\u00fcber und hin\u00fcber und bei gr\u00f6fseren Zahlen ist die Zeit von etwa 8 Secunden erforderlich, bis er die Summe durch stilles Addiren gefunden hat. Vorgelegte Spielkartenbl\u00e4tter dagegen benennt L. sogleich, ohne die Zeichen z\u00e4hlen zu m\u00fcssen, z. B. als \u201eGrassiebener\" oder \u201eKreuzachterA Die Erkl\u00e4rung liegt darin, dafs L. Kartenspieler ist. Er spielt nach seinen eigenen Angaben den \u201eSechsundsechziger\" und den ..Schafskopf\". Wer sich etwa noch deutlich erinnert, wie er selbst Kartenspielen gelernt hat, wird wissen, dafs Uebung dazu geh\u00f6rt, um auf den ersten fl\u00fcchtigen Blick den Achter einerseits vom Zehner und andererseits vom Sechser sicher zu unterscheiden. Ebenso wie dieses unmittelbare Erfassen des Zahlwerths durch den Blick \u2014 ich m\u00f6chte es Zusammenschauen nennen \u2014 kann auch das entsprechende Zusammenfassen durchs Ohr \u2014 oder, w7enn ich so sagen darf, das Zusammenh\u00f6ren einge\u00fcbt werden. (Leider haben wrir kein Spiel, an dem es sich deutlich darthun liefse.) Der gew\u00f6hnliche Mensch nun wird freilich auch ohne Uebung eine Folge von 6 und mehr gleichen T\u00f6nen richtig z\u00e4hlen, auch w7enn er es unterl\u00e4fst die Zahlen mitzusprechen, w\u00e4hrend jene erklingen: aber er wird das Z\u00e4hlen nur damit fertig bringen, dafs er nachtr\u00e4glich das Nacheinander der Kl\u00e4nge sich innerlich wiederholt und dabei mitz\u00e4hlt. Eben diese nachtr\u00e4gliche Wiederholung aber scheint L. nicht leisten zu k\u00f6nnen.\n(17) Dafs dieser dennoch unter Umst\u00e4nden nach einander sich Darbietendes im Ged\u00e4chtnifs zusammenzuhalten und richtig zu verbinden weifs, wird durch einen anderen Versuch dargethan. Derselbe1 bestand darin, dafs Kartenbl\u00e4tter, auf welche in grofser Schrift je eines der Zahlzeichen 1\u20149 aufgeschrieben sind, ihm vorgehalten wurden, wobei seine Aufgabe war, die mehrziffrige Zahl auszusprechen, wTelche sich erg\u00e4be, wenn man die Bl\u00e4tter in der Ordnung r\u00e4umlich zusammenstellte, die der zeitlichen Folge des Vorzeigens entspricht. Die einzelnen Ziffern f\u00fcr sich waren meist von L. laut abzulesen, zum Theil hatte er sie nur im Stillen sich einzupr\u00e4gen. Die Versuche fielen nun im Ganzen verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig recht ordentlich aus. Einige davon wfill ich mittheilen, wrobei die Vorgesetzte Zahl angiebt, den wievielten\n1 Bei Rieger unter CII\u00ab gestellt.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 127\nder Versuche (es waren 17 im Ganzen) wir vor uns haben. 2) 9\u20144 1 * * \u2014 L. best richtig : 94. 3) 5\u20143 \u2014 L. liest : 35. 5) 6\u20147 \u2014 L. liest: 47; nach Wiederholung richtig. 6) 3\u20145\u20144 \u2014 L. liest: \u201ef\u00fcnfunddreifsig vier\u201c ; nach erster Wiederholung 334, nach zweiter 345.\t9) 2\u20148\u20145 \u2014 L. liest: 282, nach Wiederholung\nrichtig 285.\t10) 1\u20147\u20149\u20143 \u2014 wird aufs erste Mal richtig zu-\nsammengenommen. Ueber Versuch 13) der die Zahl 16 879 ergeben sollte, ygl. oben S. 115.\t14) 2\u20143 \u2014 5\u20144\u20148 \u2014 L. liest:\n35448; dann 325 und 84; dann richtig. 15) 6\u20141\u20147\u20149\u20148 \u2014 kommt schon beim zweiten Versuch richtig heraus. Bei \u00dfstelligen Zahlen scheint die Grenze der Fassungskraft L.s nur insofern \u00fcberschritten, als er mit der Gruppenabtheilung nicht mehr zurecht kommt, aber das Behalten der 6 Ziffern in ihrer richtigen Folge ist ihm nicht unm\u00f6glich. 17) 7\u20146\u20144\u20143\u20145\u20148 \u2014 L. beginnt mit \u201e47 tausend\"4 und wagt nicht mehr weiter; auf wiederholtes Vorzeigen spricht er aus 73 tausend 43 hundert und 46; dann 76 tausend 43 hundert und 38; dann, den Ziffern entsprechend, 76 tausend 43 hundert und 58.\nBemerkenswerth ist, dafs kein Unterschied hervortritt, wenn L. die einzelnen Ziffern aussprechen darf oder wenn er sie (so bei Nr. 9 unter den angef\u00fchrten) nur still f\u00fcr sich zu behalten hat. Man kann das wieder f\u00fcr die Ansicht in die Wagschale werfen, dafs er eben nur akustisch besonders schlecht veranlagt sei. Denn das Gesichtsbild der Ziffern scheint sich ihm einzupr\u00e4gen, das immer gleichm\u00e4fsig dargeboten wurde, nicht das Geh\u00f6rbild, das zum Theil mit jenem verbunden war, zum Theil nicht.\nEinige Verwandtschaft mit diesen Aufgaben hat die Umkehrung einer eingelernten Wortreihe. Ich habe mir dar\u00fcber aufgezeichnet, dafs die umgekehrte Reihe der Wochentage ohne besondere Schwierigkeit von L. hergestellt wird ; dafs er bei der Monatsreihe zum ersten Mal Fehler macht, zum zweiten Mal aber sie mit wiederholtem Anhalten zu Stande bringt; ferner \u00fcber die Zahlenreihe Folgendes: von 20 an r\u00fcckw\u00e4rts geht es, wenn auch nicht ohne Anstofs; von 100 an ebenfalls. Von 1000 an z\u00e4hlt L. zuerst \u201e900, 800, 700\u201c. Als ich ihn unterbreche,\n1 Der Gedankenstrich nach den einzelnen Ziffern soll andeuten, dafs\nsie nach kurzer Betrachtung (von etwa 1 7a Sec.) dem Blick wieder entzogen\nwurden.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nC. Bitter.\ndurch Vorw\u00e4rts-Z\u00e4hlen-Lassen von 890\u2014900 an die richtige Ordnung erinnere und zu neuem Versuch von 1000 zur\u00fcckzugehen auffordere, l\u00e4fst er die Tausender und Hunderter weg, giebt nur die Folge 99\u201493, und l\u00e4fst sich durch keine Erinnerung zurechthelfen. R\u00fcckw\u00e4rtsgehen in der Reihe der Geraden von 40 an ergiebt bei ihm: ,,40, 39, 38, 37\" ..Halt! \u2014 rufe ich \u2014 Gerade r\u00fcckw\u00e4rts, blos gerade: 40. Weiter?\" L.: ,.40, 38, 36, 34, 32, 30\u201c. Ich: \u201eEbenso ungerade r\u00fcckw\u00e4rts von 25 an\". L.:\n25, 23, 22, 17, 15, 13, 10, 9, 7, 4, 1.\u201c\nSchon vorw\u00e4rts sind Reihen mit Ueberspringen f\u00fcr L. aus dem Schatze des blos Eingelernten, der ihm f\u00fcr Zahlen in gewissen Grenzen wirklich zur Verf\u00fcgung steht, nur mittels einer geistigen Th\u00e4tigkeit herzustellen, die man noch zur Combination ziehen kann. Der Versuch, die ungeraden Zahlen von 1 an vorw\u00e4rts herzusagen, nimmt sich in meinen Aufzeichnungen schlecht genug aus. Ich hatte nach gegebener Erkl\u00e4rung der Aufgabe vorgesagt: 1, 3, 5. L. nimmt das Trumm auf und giebt: 1, 3, 5, 8, 10, 12, 14, 16, Ich unterbreche: \u201ePassen Sie auf! Noch einmal: 1, 3, 5\". L. wieder: \u201e1, 3, 5, 8, 10, 12\". Wieder unterbreche ich und verlange die geraden, mit 2, 4 beginnend. Diese Reihe geht ohne Anstand. Nach 16 lasse ich sie abbrechen und fordere wieder zum Hersagen der Reihe der ungeraden auf, mit nachdr\u00fccklicher Ermahnung zur Aufmerksamkeit. Jetzt wird Folgendes vorgebracht: 1, 3, 5, 7, 9, 11, 15, 18, 21, 24, 27, 30, 33 \u2014 \u201eAufmerken! Die ungeraden Zahlen ! keine weglassen und keine geraden einmischen !\" \u2014 \u201e1, 3, 5, 7, 9, 11, 13, 15, 17, 20, 23, 26,\n29, 32.\u201c\n(18) Versuche mit Vexirbildern fallen nicht gerade ung\u00fcnstig aus. Doch hat sich mit solchen L., wie er auf Befragen zu giebt, schon manchmal unterhalten. Die bekannte \u201eKatze des Bulgaren\u201d kann er schon nach etwa 2 Minuten auf dem Bild zeigen. F\u00fcr ein anderes Bild (\u201edas Modell des Malers\u201c) hat er nach 5 Minuten den richtigen Blick gefunden. Ein Drittes (\u201eFriedrich II. und Napoleon\u201c) bringt er zwar nicht heraus. Aber dieses ist auch recht mangelhaft und verschwommen gezeichnet.\nDas durch Zerschneiden eines Bildes hergestellte] Legspiel im Pr\u00fcfungszimmer der Klinik hat mich selbst beim ersten Versuch etwa 1/i Stunde besch\u00e4ftigt, bis alles richtig lag. L. l\u00e4fst sich dazu Anfangs anscheinend nicht \u00fcbel an, aber sobald kleine","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Unf\u00e4higkeit zu lesen u. Dict\u00e2t zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit etc. 129\nSchwierigkeiten ihm in den Weg kommen, ist es aus. Nach 1/.2 Stunde ist L. etwa soweit, wie ich nach 5 Minuten. Nach 40 Minuten mache ich seinen Bem\u00fchungen ein Ende, in der Ueberzeugung, dafs er wohl noch 11I2 Stunde Zeit brauchte und kleine Fehler an den Stellen, wo keine menschlichen und thieri-schen Figuren sind, \u00fcberhaupt schwerlich als solche eins\u00e4he.\nDie Geduld meiner Leser wird ersch\u00f6pft sein. Gl\u00fccklicherweise bin ich auch mit meinen Aufzeichnungen \u00fcber L. am Ende, wenn ich noch angef\u00fcgt, dafs er in seinem sittlichen Empfinden, so weit ich es beobachten konnte \u2014 und mehrfach bot sich dazu ungesucht Gelegenheit \u2014 sich durchaus vorwurfsfrei und anst\u00e4ndig zeigte.\n(19)\tDas Gesammtbild des Menschen, mit dem wir uns hier besch\u00e4ftigt, kann kaum Anspruch darauf machen, interessant gefunden zu werden. Seine Sinneswerkzeuge sind gesund, ohne fein zu sein. Aus den Eindr\u00fccken, die sie ihm vermitteln, bildet or sich ganz richtig mittels Assoziationen die Vorstellung sinnlicher Objecte, die ein geordnetes Raum- und Zeitschema ausf\u00fcllen; aber was er nicht selbst gesehen, geschmeckt und betastet hat, daf\u00fcr scheint er kein Interesse und damit auch keinen ..Sinn\u201c, kein Verst\u00e4ndnifs zu haben; durch blofse Mittheilung und Schilderung anderer scheint ihm kaum etwas begreiflich oder wichtig gemacht werden zu k\u00f6nnen, vielleicht insbesondere deshalb nicht, weil er auffallend wenig gesprochene Worte auch nur ihrem Klang nach mit einander aufzufassen vermag. So bleibt seine Vorstellungswelt, durch ungew\u00f6hnlich enge Schranken eingeschlossen, kl\u00e4glich, d\u00fcrftig und arm. Er geh\u00f6rt zu den \u2014 zum Gl\u00fcck wenigstens gutm\u00fcthigen \u2014 Dummen, von denen es mehr als genug giebt und der Grad seiner Bornirtheit kann gekennzeichnet werden durch die Bemerkung \u201eso dumm, dafs er in der Volksschule nicht einmal Lesen gelernt hat und vom Schreiben nur eben das Abschreiben\u201c. Doch gerade dieser eine Zug ist in seiner Seltenheit so merkw\u00fcrdig, dafs um seinetwillen auch die Schilderung der \u00fcbrigen mehr Beachtung verdient, als ihr am Ende auch deshalb schon entgegengebracht werden d\u00fcrfte, weil selbst das Gew\u00f6hnlichere als Thats\u00e4chliches einer genaueren Schilderung werth ist.\n(20)\tProfessor Dr. Rieger, der als erfahrener Psychiater die Bedeutung des Falles viel sicherer abzusch\u00e4tzen weifs, als ich,\n9\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 28.","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nC. Ritter.\nhat mich mit einigen Bemerkungen allgemein orientirender Art dar\u00fcber versehen, die ich zum Schl\u00fcsse noch mittheilen kann:\n\u201eEs handelt sich jedenfalls um einen, v\u00f6llig reinen und uncomplicirten, Fall von Idiotie. Der K\u00f6rperzustand ist v\u00f6llig normal; und jeder Gedanke daran: es k\u00f6nnte sich um eine Complication mit einer sogenannten Herderkrankung des Hirns handeln, ist, bei dem k\u00f6rperlich geschickten und von jeder Innervationsst\u00f6rung freien Idioten, v\u00f6llig ausgeschlossen. Es besteht nicht die geringste Wahrscheinlichkeit daf\u00fcr, dafs sein Hirn bei der Section anders aussehen w\u00fcrde als das jedes beliebigen anderen Menschen ; und so ist er ein reiner uncomplicirter Idiot, der eben lediglich nur bemerkenswerth ist durch seine grofse Dummheit und speciell durch seine Unf\u00e4higkeit in Bezug auf die Erwerbung von Schulkenntnissen. Es liegt deshalb alles, was an ihm zu untersuchen ist, rein auf dem Gebiete der Psychologie. Auch die Functionen seiner \u00e4ufseren Sinne (Sehen, H\u00f6ren etc.) sind v\u00f6llig in Ordnung; und es bedarf, nachdem dieses alles in negativem Sinne constatirt ist, zu seiner Untersuchung keiner specifisch medicinischen Kenntnisse. Die Untersuchung war deshalb auch f\u00fcr einen Lehrer und Philologen ohne Weiteres ausf\u00fchrbar und durchf\u00fchrbar.\u201c\n(Eingegangen am 4. Januar 1902.)","page":130}],"identifier":"lit32579","issued":"1902","language":"de","pages":"96-130","startpages":"96","title":"Unf\u00e4higkeit zu lesen und Dictat zu schreiben bei voller Sprachf\u00e4higkeit und Schreibfertigkeit","type":"Journal Article","volume":"28"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:24:34.853295+00:00"}