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{"created":"2022-01-31T16:34:01.013869+00:00","id":"lit32793","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 35: 297-317","fulltext":[{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"J\u00c0tfraturbericht,\nm\nSt\u00f6runge\u00bb, eu einer Inkoordination kommen. Diese Koordinationsst\u00f6rung iulsert sich einmal auf dem psychosensorischen Gebiet, indem beispielsweise noopsychische Bewegungen das eine Mal gar keine, das andere Mal eine ganz ungeh\u00f6rige nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ ganz inad\u00e4quate thymopsychische Reaktion erregen, etwa mafslose Erregtheitsausbr\u00fcche \u00fcber Nichtigkeiten; \u2014 aweitens auf dem Gebiete der Psycho-motilit\u00e4t, es kommt zu Fehlreaktionen, Hyper- und Hyporeaktionen. Im normalen Leben spielt die Thymopsyche die Rolle des die Kontinuit\u00e4t des logischen Denkens sichernden Faktors. Ohne Konzentration, ohne Aufmerksamkeit, also ohne Thymopsyche keine Kritik, also kein geordnetes Denken.\nAuf die weiteren Ausf\u00fchrungen des Verf. \u00fcber Dissoziation zwischen thymo- und noopsychischer Sph\u00e4re, die auf psychiatrischem Gebiete sich bewegen, kann hier nur hingewiesen werden. Sie bieten auch f\u00fcr den Psychologen eine Menge des Interessanten. Bei gewissen Krankheiten ist die enge physiologische Koordination gest\u00f6rt; eine dauernde isolierte Er? krankung einer der beiden Sph\u00e4ren ist nicht denkbar; beide Sph\u00e4ren bedingen sich gegenseitig. Die St\u00f6rung der physiologischen Funktion f\u00fchrt Qatnrgem\u00e4f8 zu allgemeiner Verbl\u00f6dung, zu totalem psychischen Verfall.\nUmpfenbach.\nKindespsychologie. P\u00e4dagogik.\nSammelbericht\nvon\nW. Stern.\nI.\tKindespsychologie.\nSprechen und Denken.\n1.\tC. Stumpf. Eigenartige sprachliche Entwicklung eines Kindes. Zeitachr. f. p\u00e4d. Psychol, u. Pathol. 8 (6), 419\u2014447. 1901.\n2.\tE. Mruvakk. Bie Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. Philos. Studien 20 (Wundt-Pestschrift 1), 152\u2014214. 1902. Auch separat: Leipzig, Engelmann, 1902. 69 S. Mk. 1,20.\n3.\tO. Schneider. Die sch\u00f6pferische Kraft des Kindes in der Gestaltung seiner Bewufst8ein8xust\u00e4nde bis mm Beginn des Schulunterrichts. (Ein Beitrag mr Kinderpsychologie auf Grund der Beobachtung iweier Kinder.) Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik 121 (2), 153-175; 122 (1), 1-13. 1903.\n4.\tA. Lema\u00eetre. Le langage int\u00e9rieur chei les enfants. Recherches p\u00e9do-logiques. L\u2019Educateur 88. 1902. 22 S.\n5.\tB. Otto. Archiv fir Altersmundarten und Sprechspraehe. 1. Heft. 1903/04. 67 S.\n1. Die Beobachtungen, die Sitepf in diesem kleinen Aufsatz \u00fcber die Sprachentwicklung seines Sohnes Felix niederlegt, geh\u00f6ren mit zu den","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nLitcraturbcricht.\nallerwichtigsten Materialien, die uns f\u00fcr das Problem der Kindersprache \u00fcberhaupt zu Gebote stehen; und es m\u00fcssen Psychologen, P\u00e4dagogen und Sprachwissenschaftler um so mehr auf die Lekt\u00fcre des Originals verwiesen werden, als ja der Hauptinhalt der Arbeit, die Sprachproben, im Referat \u00fcberhaupt nicht zur Geltung kommen k\u00f6nnen. Darum m\u00f6chte ich hier Stumpfs Arbeit vor allem zum Anlafs eines allgemeineren Ausblickes nehmen.\nEs war eine besonders g\u00fcnstige Schicksalsf\u00fcgung, dafs in vorliegendem Falle der geschulte Psychologe zugleich Beobachter einer so abnormen und lehrreichen Sprachentwicklung sein konnte. Stumpfs Sohn hat n\u00e4mlich bis zum Alter von 31/* Jahren eine scheinbar ganz eigene Sprache gesprochen, die bei oberfl\u00e4chlicher Beobachtung \u00fcberhaupt keine \u00c4hnlichkeit mit der Sprache seiner Umgebung, welche er fortw\u00e4hrend h\u00f6rte und auch verstand, zeigte \u2014 bis er dann pl\u00f6tzlich ohne \u00e4ufsere Ursache das Hochdeutsche nachzusprechen begann \u2014 und zwar gleich in \u00fcberraschender Vollkommenheit und Korrektheit, sehr bald auch zum spontanen Sprechen seine Sondersprache mit der seiner Umgebung vertauschte.\nDas viel umstrittene Problem, ob die Sprache des Kindes allein auf Nachahmung beruhe oder ob spontane Erfindung daran beteiligt sei, erh\u00e4lt von hier aus eine betr\u00e4chtliche Kl\u00e4rung. Es erweist sich auch, worauf St. selbst hindeutet, dafs durch die Alternative \u201eNachahmung\u201c oder \u201eErfindung\u201c \u00fcberhaupt das Problem gar nicht ersch\u00f6pft wird, dafs vielmehr zwischen der blofsen Passivit\u00e4t und der v\u00f6llig freien Sch\u00f6pfung zahllose Zwischenstufen liegen, indem ja bei Auswahl des Nachzuahmenden, bei Fixierung des einen und Abstofsung deB anderen Elementes, bei Umbildung, Bedeutungswandel, Analogiebildung, Zusammensetzung und Wortstellung die Spontaneit\u00e4t noch einen bedeutenden Spielraum haben kann und auch wirklich hat. Darum ist es ebenso einseitig, blofs die Passivit\u00e4t in der kindlichen Sprachbildung zu betonen (Wundt), wie es einseitig ist, zum Beweis der kindlichen Sch\u00f6pfungskraft immer nur nach v\u00f6llig neuen von Kindern geschaffenen Worten, f\u00fcr deren Bildung jeglicher \u00e4ufserer Anlafs fehlt, zu fahnden. Was den letzten Punkt betrifft, so scheint mir, dafs man im grofsen und ganzen f\u00fcr normale Sprachentwicklung den Satz aufstellen kann: die Zahl der bei einem Kinde konstatierten v\u00f6llig unerkl\u00e4rbaren Wortbildungen ist umgekehrt proportional der L\u00fcckenlosigkeit und Gr\u00fcndlichkeit der Beobachtung. Denn eigentlich w\u00fcrde ja eine nie pausierende Aufmerksamkeit dazu geh\u00f6ren, um in allen F\u00e4llen die oft so verborgenen Wege verfolgen zu k\u00f6nnen, welche von irgendwo und - wann geh\u00f6rten Worten bis zur Pr\u00e4gung des \u201eneuen\u201c Wortes und Sinnes durch das Kind f\u00fchren. (Wenigstens konnte bei der unabl\u00e4ssigen Beobachtung, die meine Frau und ich der Sprachentwicklung unseres nun bald vierj\u00e4hrigen Kindes angedeihen liefsen, mit einer unklaren Ausnahme, keine einzige ganz aus Eigenem stammende Ursch\u00f6pfung von Worten konstatiert werden, wohl aber viele Worte, bei denen der Ursprungsnachweis eben nur durch die L\u00fcckenlosigkeit der Beobachtung m\u00f6glich war, die also unter anderen Umst\u00e4nden leicht als \u201eErfindungen\u201c angesprochen worden w\u00e4ren; \u2014 und wohl konnte in zahllosen anderen Beziehungen eine starke Eigent\u00e4tigkeit des Kindes bei der Sprachbildung beobachtet werden. Ref.)\nDas Entsprechende zeigt nun auch die STUMPFsche Analyse. Trotz","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n299\nder scheinbar v\u00f6lligen Inkongruenz der Sprache seines Sohnes mit der geh\u00f6rten ist doch die Zahl der Elemente, f\u00fcr deren Auftreten jegliche Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeit durch \u00e4ufsere Anl\u00e4sse fehlt, verh\u00e4ltnism\u00e4fsig klein. (Hierher geh\u00f6rt z. B., dafs das Felix heifsende und \u201eliki\u201c gerufene Kind sich lange, Jobtobbelob\u201c nannte). Dagegen erweist sich die ganze Souver\u00e4nit\u00e4t und Selbst\u00e4ndigkeit des Kindes im Festhalten seiner rudiment\u00e4ren und verst\u00fcmmelten Wortgebilde, in der Hartn\u00e4ckigkeit, mit der es Flexionen vermied und Relationen nicht durch formale Bildungen, sondern durch eigene Worte ausdr\u00fcckte (z. B. negative S\u00e4tze meist durch ein hinten angesetztes \u201en\u00e4h\u201c), in der v\u00f6lligen Unbek\u00fcmmertheit, mit der es die Wortstellung in seinen zum Teil schon recht langen und inhaltreichen S\u00e4tzen handhabte. Die hier gegebenen interessanten 8atzproben werden sicherlich auch f\u00fcr Sprachwissenschaftler besonderes Interesse haben. Merkw\u00fcrdig und ein Zeichen f\u00fcr die starke Selbst\u00e4ndigkeit des Kindes ist es, dafs es seine Sondersprache, die zun\u00e4chst sicher ein Erzeugnis der Not war, sp\u00e4ter l\u00e4ngere Zeit freiwillig, ja in bewufstem Gegensatz zu der geh\u00f6rten Sprache der Umgebung beibehielt, gleichsam sein Spiel mit ihr trieb; nur so ist es verst\u00e4ndlich, dafs dann die Bekehrung zur normalen Sprache so schnell, beinahe sprunghaft vor sich gehen konnte.\n2. Sind wir durch \u00e4ltere und neuere Sammlungen von Kindesforschern \u00fcber die \u00e4ufsere SpracKform der ersten Stadien: Lautbildung, Wortschatz, Formenlehre usw., relativ gut unterrichtet, so herrscht daf\u00fcr im Gebiet des Problems der \u201einneren Sprachform\u201c ein um so schlimmeres Chaos ; hier bringt uns nun die gr\u00fcndliche psychologische Untersuchung MEUMANN8 ein gutes St\u00fcck weiter. In der Beurteilung dessen, was die Sprach-\u00e4ufserungen des Kindes psychisch repr\u00e4sentieren, also der Wortbedeutungen litten wir bisher meist an einer falschen Analogisierung mit den Wortbedeutungen der fertigen Sprache des Erwachsenen. In dieser fertigen Sprache beziehen sich die konkreten Ausdr\u00fccke auf Objekte und sind die abstrakten Ausdr\u00fccke Resultate eines logischen Vergleichungs-, Abstraktionsund Verallgemeinerungsprozesses. Entsprechendes nahm man an, wenn man in den ersten Stadien der Kindersprache Ausdr\u00fccke fand, die auf einen einzelnen, bzw. auf mehrere Gegenst\u00e4nde angewandt wurden. Dieser intellektualistisch logisierenden Deutung gegen\u00fcber betont nun Mkcmann mit vollsten Recht den affektiv - volitionistischen Charakter der urspr\u00fcnglichen Wortbedeutungen und den rein assoziativ - unlogischen Charakter der scheinbaren \u201eVerallgemeinerungen\u201c. Die schematische Erkl\u00e4rung, dafs die ersten Worte des Kindes aus einer Verbindung von Lautvorstellungen und Sachvorstellungen bestehen, wird durchaus verworfen. \u201eSeine ersten Worte sind Wunsch worte und Gef\u00fchls W\u00f6rter. Sie bezeichnen daher entweder gar keine Objekte oder Vorg\u00e4nge, sondern nur Gef\u00fchle und Begehrungen; oder, wenn sie zugleich Objektbezeichnungen sind, so ist diese Bedeutung eine mehr nebens\u00e4chliche und sie sollen in Wahrheit die emotionellen oder volitionalen Beziehungen der Gegenst\u00e4nde zu dem Kinde bezeichnen\u201c (S. 5). Erst allm\u00e4hlich werden die Wortbedeutungen \u201eintellektualisiert\u201c, aber auch hier wirkt zun\u00e4chst noch der blofse Mechanismus der Assoziation und Reproduktion, w\u00e4hrend sich sehr sp\u00e4t erst die logischen Prozesse der","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht,\n:->oo\nYergleichung, der Abstraktion, der Heraussondervng von Merkmalen und die Schlufsketten auftreten. Dieser Entwicklungsgang wird nun im einzelnen verfolgt, wobei die psychologische Betrachtung stets durch zahlreiche Beispiele aus den Beobachtungen anderer Forscher, zum Teil auch aus eigenen Beobachtungen Me\u00fcmanns belegt werden.\nDes n\u00e4heren ist der Inhalt der folgende:\nNach kurzer Behandlung der \u201eVorstufen\u201c der Sprachentwicklung; des spontanen Lallens und der Nachahmung geh\u00f6rter Laute, bespricht M. unter Polemik gegen Erdmann, Preyer und andere die Entwicklung des Sprachverst\u00e4ndnisses des Kindes. Man kann die ersten \u00c4ufserungen des Sprachverst\u00e4ndnisses gar nicht primitiv genug denken. M. zeigt, wie das ber\u00fchmte Beispiel von Sigismund (dafs ein noch nicht ein Jahr altes Kind beim Vorzeigen des Auerhahns das Wort Vogel h\u00f6rte und sofort auf eine ausgestopfte Eule blickte) nichts mit \u201eSubsumptionen\u201c, Verallgemeinerungen usw. zu tun habe, sondern damit erkl\u00e4rt werden k\u00f6nne, dafs \u00e4hnliche Reize \u00e4hnliche Wirkungen haben (ohne dafs die \u00c4hnlichkeit als solche auch nur bemerkt zu werden brauche).\nAuch das Eingehen auf Fragen und Aufforderungen der Erwachsenen; \u201ewie grofs ist das Kind?\u201c usw. ist oft nur so zu deuten, dafs der v\u00f6llig unverstandene Lautcharakter, ja, sogar der blofse Tonfall eine Bewegung assoziativ ausl\u00f6st.\nBeginnt nun das Kind selbst zu sprechen, so haben seine ersten Worte ihrer Bedeutung nach nicht etwa den Charakter von Begriffen, sondern von S\u00e4tzen, und zwar von Wunsch- und Affekts\u00e4tzen, \u201etul\u201c bedeutet nicht \u201edas ist ein Stuhl\u201c, sondern \u201eich will den Stuhl haben.\u201c Dafs daher gleiche Worte f\u00fcr so sehr verschiedene Gegenst\u00e4nde gebraucht werden, iet einfach dadurch m\u00f6glich, tla\u00fc das Kind eben gar nicht diese Objekte, sondern den immer gleichen Affekt ihnen gegen\u00fcber zum Ausdruck bringt. Allm\u00e4hlich erst verliert sich der Gef\u00fchlscharakter ; die Worte wandeln ihre urspr\u00fcnglich rein praktische Bedeutung in eine wenigstens zum Teil theoretisch - gegenst\u00e4ndliche. (Hierzu sei ein Beispiel aus eigener Beobachtung gegeben. Das Kind des Referenten brauchte ein halbes Jahr lang das Wort \u201enein\u201c lediglich im Sinn von \u201eich will nicht\u201c oder \u201eDu sollst nieht**, erst nach Vollendung des zweiten Lebensjahres konnte zum ersten Male das theoretische \u201enein\u201c im Sinne von \u201edaB ist nicht so\u201c konstatiert werden).\nDie nun folgende assoziativ-reproduktive Sprachstufe beruht nach M. darauf, dafs die gegenst\u00e4ndliche Bedeutung infolge der unvollkommenen Apperzeption des Kindes meist nur an irgend einer einzelnen Eigenschaft haftet, und dafs, wo diese wieder wahrgenommen wird, sich von selbst auf assoziativem Wege die gleiche Bezeichnung einstellt; also auch hier bedeutet die Verwendung eines Wortes f\u00fcr verschiedene Gegen' st\u00e4nde und Vorg\u00e4nge nicht einen logischen Vergleichungs- und Abstraktion* prozefs; das Kind w\u2019eifs eben noch gar nicht, dafs Laut und Bedeutung ein inneres organisches Ganzes zu bilden haben. Dafs das Kind oft \u00c4hnlichkeiten zwischen scheinbar ganz heterogenen Dingen herausfindet, iBt demnach keine besonders hohe Leistung, sondern gerade eine Folge der niederen Entwicklungsstufe, n\u00e4mlich der Unvollkommenheit seiner Auf* merksamkeit und der D\u00fcrftigkeit seiner Reproduktion.","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht\n301\nDie letzten kurzen Kapitel besprechen die Motive, durch welche die Kindessprache dann allm\u00e4hlich logisiert wird, zeigen, Wie falsch es ist, gewisse fr\u00fche Beobachtungen als \u201eSchl\u00fcsse\u201c zu kennzeichnen, und behandeln die Frage der \u201eWorterfindung\u201c in wesentlich negativem Sinne.\n3* Die Arbeit SCHNEIDERS, eines K\u00fcstriner Gymnasialprofessors ist dankenswert, sowohl durch das Material wie durch die besondere Art der Verarbeitung. Das Material besteht in Aufzeichnungen \u00fcber die sprachliche und intellektuelle Entwicklung seiner beiden T\u00f6chter, die bis zum -Beginn des siebenten Lebensjahres fortgesetzt wurden. An diesem Material -will nun der Verf. zeigen, dafs es nicht m\u00f6glich ist, mit Hilfe von Wahrnehmung, Assoziation und Reproduktion die geistige Entwicklung im Kinde verst\u00e4ndlich zu machen, dafs wir vielmehr sch\u00f6pferische Kr\u00e4fte annehmen m\u00fcssen, die den dargebotenen Erfahrungsstoff im Sinne aphoristischer \u201eGrundVerrichtungen\u201c (Kategorien) verarbeiten. Er nimmt also zu dem erkenntnistheoretischen Streit zugunsten des Apriorismus gegen den Empirismus Stellung, und ich halte es f\u00fcr einen sehr gl\u00fccklichen Gedanken, die Waffen zu diesem Kampf aus dem Arsenal der Kindespsychologie zu holen (wie es ja schon Locks seinerseits im Kampf gegen die angeborenen Vorstellungen getan hatte). Aber auch von psychologischem Standpunkt aus ist dem Verf. beizupflichten, wenn er gegen\u00fcber der \u00dcbersch\u00e4tzung des Rezeptiven und Imitativen in der kindlichen Sprach- und Denkentwicklung die Spontaneit\u00e4t stark hervorhebt.\nIm einzelnen freilich ist durch die Vermischung des erkenntnis-theoretischen und des psychologischen Gesichtspunktes manche Unklarheit und Schiefheit in die Deutungen hineingekommen. Schneider kennt f\u00fcnf Grundverrichtungen, durch welche das Bewufstseinsmaterial verarbeitet Wird. 1. Gleichsetzung und Unterscheidung; 2. Verdinglichung (Sub-stantialisierung) ; 3. Gr\u00f6fsenbildung; 4. DaseinBartunterscheidung (Unterscheidung der Modalit\u00e4t) ; 5. Verursachlichung. Wenn nun von dem halbj\u00e4hrigen Kinde berichtet wird: \u201eBei v\u00f6llig fremder Umgebung, in der Wohnung der Grofseltern, in kurzer Abwesenheit aller Bekannten, angesichts lauter fremder Personen schrie S. in sattem Zustande heftig, und nur durch unser Wiedererscheinen konnte sie beruhigt werden\u201c, \u2014 so ist dies Benehmen unter die Kategorie der Vergleichung h\u00f6chstens dem \u00e4ufser-lich logischen Resultat nach, keineswegs aber dem psychologischen Akt nach, zu ordnen. Ebenso ist man manchmal im Zweifel, in wie fern gewisse Handlungen, die objektiv ethische Abzweckung haben, (z. B. Abgeben von Kuchen usw.) und vom Verf. daher als Anf\u00e4nge altruistischer Regungen gedeutet werden, psychologisch wirklich schon derartige Bewufstseins-tendenzen zur Grundlage gehabt haben m\u00fcssen.\nTrotz alledem aber bleibt noch sehr viel Einwandfreies und Wertvolles bestehen. Die Entwicklung der kindlichen Logik ist noch kaum je 'mit so reichlichem Material belegt worden; der Schatz an sprachlichen Neupr\u00e4gungen (Zusammensetzungen, Ableitungen usw.) ist nicht nur f\u00fcr den Psychologen, sondern auch f\u00fcr den Sprachforscher lehrreich; ein Beispiel: \u201eindem F. (als 21/*j\u00e4hriges Kind) in ausdr\u00fccklichem Widerspruch den Hammer Haue genannt wissen will, gibt sie einen schlagendst!","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nLiteraturbericht.\nBeweis daf\u00fcr, wie falsch die Theorie ist, die dem Kinde Selbstt\u00e4tigkeit in der Bildung seiner Bewufstseinszust\u00e4nde abspricht.\u201c Auch die Begehrungen und Gef\u00fchle werden einsichtsvoll in ihrer Entwicklung registriert.\nDie Anordnung der Darstellung ist die chronologische, wodurch die einzelnen sachlich zusammengeh\u00f6rigen Daten nat\u00fcrlich an den verschiedensten Stellen auftreten. Zur Markierung der jeweiligen Altersstufe bedient sich Verf. der Angabe von Jahren, Vierteljahren und Wochen, was nicht allzu \u00fcbersichtlich ist.\nEs w\u00e4re wohl an der Zeit, dafs sich die immer zahlreicher werdenden Kindesforscher \u00fcber ein gemeinsames Darstellungs- und vor allem Zeitz\u00e4hlungssystem einmal einigten. Die so notwendige Vergleichung verschiedener Kinder w\u00fcrde hierdurch erheblich erleichtert werden.\n4. Der Hauptinhalt des Schriftchens von LESAtTBE ist die genaue Analyse des inneren Sprachtypus von 14 Sch\u00fclern im Alter von 11\u201414 Jahren. Die Methode war die des Verh\u00f6rs. Am st\u00e4rksten vertreten war der motorische Typus, aber auch die Visuellen waren nicht selten; diese teilten sich wieder in \u201eVerbo-visuelle\u201c, welche ihre Vorstellungen als geschriebene Worte \u201esehen\u201c, und in \u201eSymbolo - visuelle\u201c, bei denen die Vorstellungen von Farben- oder Formph\u00e4nomenen begleitet sind. L. reproduziert eine Reihe von interessanten Diagrammen, namentlich f\u00fcr Zahlen und Daten. Aufserdem gab es noch Auditive (welche bald in eigener bald in fremder Stimme die Worte innerlich \u201eh\u00f6rten\u201c) und Auditiv - visuelle. In einer Klasse von 31 Sch\u00fclern fiel es auf, dafs die Visuellen (11) ebensostark vertreten waren wie die Motorischen.\n5* Ein eigenartiges periodisches Unternehmen, das als Materialsammlung auch der Kinderforschung Dienste zu leisten verspricht, ist die Vierteljahrsschrift: Archiv f\u00fcr Altersmundarten und Sprechsprache, von dem soeben das erste Heft erschien. Der Herausgeber, Behthold Otto, verfolgt schon seit Jahren p\u00e4dagogische Sonderbestrebungen, die bezwecken, den \u201egeistigen Verkehr mit Kindern\u201c dadurch zu erm\u00f6glichen, dafs man sich vollst\u00e4ndig der Sprache der Kinder anpasse. (Eine genauere Schilderung und Kritik dieser p\u00e4dagogisch nicht ganz einwandfreien Bestrebungen gibt Ref. in der Zeitschrift f\u00fcr p\u00e4dagogische Psychologie). Den genannten Zwecken diente bisher die Zeitschrift \u201eDer Hauslehrer\u201c, welche nicht nur Sagen und M\u00e4rchen, den Faust und die Odyssee, sondern auch die laufenden aktuellen Tagesereignisse, wie den Leipziger Bankkrach, den Venezuela-streit \u201ein der Sprache der Achtj\u00e4hrigen, der Zw\u00f6lfj\u00e4hrigen\u201c usw. darstellte. Immer mehr aber dr\u00e4ngte sich Otto die Notwendigkeit auf, zu diesen Zwecken die nat\u00fcrliche Sprechsprache der verschiedenen kindlichen Alters stufen in Wortschatz, Formreichtum und syntaktischer Eigenart genau zu studieren und so entstand denn die Idee zu dem neuen Archiv. \u2014\nDie Sprachforschung ist ja in den letzten Jahrzehnten davon abgegangen, die Schriftsprache als allein der Beachtung w\u00fcrdig zu betrachten ; sie sieht vielmehr in der Kenntnis der Dialekte, ja, ganz spezieller Ortsmundarten eine wichtige Aufgabe. Otto hat ganz Recht, dafs nicht nur die \u00f6rtliche Differenzierung, sondern auch die zeitliche Differenzierung","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht\n303\nder Sprechsprache, die Bildung von \u201eAltersmundarten\u201c, Ber\u00fccksichtigung erheischt, dafs daher die stenographische Aufzeichnung von kindlichen Sprachleistungen aus verschiedenen Altersstufen einerseits, ihre grammatische, linguistische, logische und psychologische Analyse andrerseits der P\u00e4dagogik, der Sprachwissenschaft und nicht zum wenigsten der Kindes-psychologie von Nutzen sein wird.\nDas vorliegende erste Heft des Archivs ist fast vollst\u00e4ndig gef\u00fcllt von einer Darstellung der biblischen Geschichte des alten Testaments durch den 101/*j\u00e4hrigen Eddy von Jena, dessen Erz\u00e4hlungen vom Pfarramtskandidaten Gbobg Koch mitstenographiert worden sind. Den Schlufs des Heftes bilden zwei Rotk\u00e4ppchenerz\u00e4hlungen eines 8j\u00e4hrigen und eines 3j\u00e4hrigen M\u00e4dchens und eine Schneewittchenerz\u00e4hlung eines 2j\u00e4hrigen Knaben.\nDie knappen Anmerkungen, die Otto den Texten nachschickt, sind ausschliefslich formal - sprachlicher Natur; sie gehen haupts\u00e4chlich auf den Unterschied des Sprechdeutsch vom Schriftdeutsch, wobei einige auch psychologisch verwertbare Ergebnisse angedeutet werden. Freilich ist damit die psychologische Ausbeute des Textes durchaus nicht ersch\u00f6pft; man hat eben in den gegebenen Erz\u00e4hlungen nicht blofs Beitr\u00e4ge zur Kindes Sprachforschung, sondern zur allgemeinen Kindespsychologie \u00fcberhaupt zu sehen. Wie lehrreich sind etwa zur Erkenntnis der religi\u00f6sen Vorstellungen des Kindes folgende Worte, die der 10j\u00e4hrige Knabe Gott zu Noah sprechen l\u00e4fst: \u201eNoah, h\u00f6r mal, die Menschen draufsen die sind jetzt so schlecht. Ich hab schon mal vor 120 Jahren drangedacht, eine S\u00fcndflut kommen zu lassen; aber da hab ich ihnen noch 120 Jahre zum Bessern Zeit gegeben; aber ich weife nicht, die Menschen sind immer schlechter geworden. Und da will ich dann jetzt die S\u00fcndflut kommen lassen.\u201c Und welche selbst\u00e4ndige Logik offenbart sich darin, dafs der Knabe ganz eigenm\u00e4chtig den Noah die Fische, Enten und andere schwimmen k\u00f6nnende Tiere nicht mit in die Arche nehmen l\u00e4fst : \u201edenn denen konnte das ja nicht schaden, wenn die lange auf dem Wasser waren. Aber er f\u00fctterte sie doch oft.\u201c\nEin Bedenken m\u00f6chte ich schliefslich noch \u00e4ufsern. Ich halte es f\u00fcr ethisch nicht ungef\u00e4hrlich und f\u00fcr methodologisch nicht einwandfrei, dafs die Kinder, welche die Texte liefern, wissen, um was es sich handelt und bewufst dem Stenographen diktieren. Man h\u00f6re nur den Anfang von Eddy von Jena: \u201e . . . . Und dann, als Herr Kandidat mal wieder bei Herrn Otto war, da sagte Herr Otto zu Herrn Kandidat: \u201eAch, wissen Sie, das alte Testament k\u00f6nnte doch der Eddy erz\u00e4hlen, und dann w\u00fcrd' ichs ganz gern rausgeben. Und da hab\u2019 ich denn angefangen, in den biblischen Geschichten durchzugehen, das heifst, ich hab' ordentlich nachgeguckt, dafs ich\u2019s auch richtig erz\u00e4hl. Und dann hab\u2019 ich mich am Nachmittag hingesetzt und hab diktiert.\u201c Es ist fast unausbleiblich, dafs hier durch in dem Bande Eitelkeit und Pose grofsgezogen werden. Aufserdem hebt Otto selbst hervor, dafs das diktierende Kind sehr oft schriftdeutsche Wendungen einfliefsen l\u00e4fst, die fehlen w\u00fcrden, wenn es ganz naiv sich selbst \u00fcberlassen erz\u00e4hlen k\u00f6nnte. Der Ausweg Ottos, dafs man das Kind darauf aufmerksam macht: das ist Schriftdeutsch, dafs mufst Du ver-","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nLiteraturberieht.\nmeiden (8. 7), erscheint total verfehlt. Denn erstens sollen ja auf Grund dieser Texte die Unterscheidungsmerkmale des Sprechdeutschen vom Schrift-deutschen erst festgestellt, nicht aber schon dogmatisch vorausgesetzt werden; zweitens aber geht die Grundvorbedingung eines echten \u201e8prech-deutsch\u201c, die Unbefangenheit, verloren, sobald das Kind sich irgend welchen, ihm zun\u00e4chst sich aufdr\u00e4ngenden, Wendungen gegen\u00fcber kritisch verhalten soll. Zur Beseitigung dieser Bedenken mufs daher gefordert werden, \u2014 was methodologisch nicht leicht, aber auch nicht unm\u00f6glich ist \u2014 dafs das Mitschreiben der kindlichen Erz\u00e4hlung erfolgt, ohne dafs die Kinder davon wissen, dafs ihre \u00c4ufserungen nachgeschrieben werden \u00ab\u2014 oder zum mindesten, ohne dafs sie wissen, zu welchem Zwecke diese Aufzeichnungen erfolgen. \u2014\n\u00c4sthetische Entwicklung.\n1.\tA. J. Schbe\u00fcder. Ober\tPie Kinderfehler 7 (6 u. 6),\n216-229. 1903.\n2.\tA. K\u00f6nig. Die Entwicklung des mnsiknlischen Sinnes bet Klndeirh. Die\nKinderfehler 8 (2), 49-61 ; (3), 99\u2014110. 1903.\n1. Gest\u00fctzt auf ein sehr mannigfaltiges, ebenso lehrreiches wie am\u00fcsantes Material von kindlichen Zeichnungen hat Direktor SCHBEUVEB (Haag) in der IV. Jahresversammlung des Jenenser Vereins f\u00fcr Kinderforschung einen Vortrag gehalten, der hier abgedruckt vorliegt und von 7 Tafeln begleitet ist. In der ersten Entwicklung des kindlichen Zeichnens unterscheidet Sch. die drei Stadien: 1. des ziel- und sinnlosen Kritzetns, 2. des Kritzelns mit beigelegter Bedeutung aber ohne jede \u00c4hnlichkeit, 3. des Bestrebens nach wirklicher, wenn auch roher Nachbildung; und er macht auf die parallele Stadienbildung beim Sprechenlernen, wie beim Spielen aufmerksam. Ausf\u00fchrlicher verweilt Sch. beim freien (d. h. \u00fcicht durch Vorlagen gebundenen) Zeichnen w\u00e4hrend der Schulzeit. Sehr interessant ist der Nachw'eis von Intelligenzdefekten an der Hand bestimmter zeichnerischer Typen; so ist der Kopf-Rumpf-Typus (bei dem Leib und Kopf zu einer Einheit verschmolzen ist, die Nase und Augen ebenso wie die Glieder tr\u00e4gt) die Urform der Menschendarstellung, wo er aber in h\u00f6heren Altersstufen auftritt, ein Zeichen geistiger Minderwertigkeit. Was Soh. ferner berichtet \u00fcber die sch\u00f6pferische Darstellungskraft des Kindes, \u00fcber deren Hemmung durch Gew\u00f6hnung an Nachzeichnen, \u00fcber den Kampf d\u00abfr Logik mit der Perspektive, kann nicht gut zum Gegenstand eines Berichts gemacht werden, da das Schwergewicht durchaus in der psychologischen Analyse der beigegebenen Bilder liegt. Es mufs daher auf das Original verwiesen werden, das bei aller K\u00fcrze viel Wertvolles e\u00fcth\u00e4lt.\n2\u00ab Der K\u00d6NIGsche Aufsatz \u00fcber die musikalische Entwicklung ist ein popul\u00e4r gehaltener, wesentlich auf \u00e4ltere literarische Materialien gest\u00fctzter \u00dcberblick. Die Freude am Klang und am Rhythmus beginnt schon im ersten Lebensjahr; doch sind lange Zeit nur ganz einfache Rhythmen des 2/4-Taktes dem Kinde zug\u00e4nglich. F\u00fcr die Melodie glaubt K. auf Grund","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n805\nder Kinderlieder eine Art Urmelodie feststellen zu k\u00f6nnen, welche so aussieht\n(Charakteristisch: Umfang einer Quarte, Fehlen des Halbtones, die Terz\ntritt als kleine auf.)\nTon den T\u00f6nen der Tonleiter geht die Septime am sp\u00e4testen und schwersten \u00abin. Die Harmonie stellt, wie in der Menschheitsentwicklung des musikalischen Sinnes, so auch in der individuellen eine sehr sp\u00e4te Stufe dar; sie tritt als spontanes Erzeugnis (Sekundieren beim Gesang) normalerweise nicht vor der Schulzeit auf. Es folgen weiter kurze Betrachtungen, \u00fcber -das musikalische Geh\u00f6r, die sch\u00f6pferische Phantasie des Kindes, \u00fcber das abweichende musikalische Verhalten von Kindern verschiedener Nationen, \u00fcber das musikalische Urteil, \u00fcber die Erblichkeit der musikalischen Begabung. Ein Fragebogen mit 38 auf die musikalische Bef\u00e4higung und Entwicklung des Kindes bez\u00fcglichen Fragen bildet den Schlufs.\nIL P\u00e4dagogik.\nAllgemeines.\n1.\tF. Kemsies. Die Entwicklung der p\u00e4dagogischen Psychologie int XIX. Jahrhundert. Zeitschr. f. p\u00e4dag. Psychol., Pathol, u. Hyg. 4 (3), 197\u2014211; (4), 342\u2014355; (5/6), 473-484. 1902.\n2.\tHildegard Weg scheid kr - Ziegler. Erfahrungen im Gymnasi&luterricht f\u00fcr M\u00e4dchen als Beitrag sur gemeinschaftlichen Erziehung beider Geschlechter. Vortrag. Zeitschr. f. p\u00e4dag. Psychol., Pathol, u. Hyg. 4 (3), 212\u2014222. 1902.\n3.\tK. L\u00f6schhorn. Einige Worte Aber die gemeinsame Erziehung beider Geschlechter. Ebda. 223\u2014228. 1902.\n1. Nach einer einleitenden Er\u00f6rterung \u00fcber die verschiedenen Meinungen, die \u00fcber die M\u00f6glichkeit einer psychologischen Grundlegung der P\u00e4dagogik bestehen, gliedert Kessies die historische Betrachtung in drei Etappen. Die erste Epoche wird durch die Namen Kant und Pestalozzi gekennzeichnet, deren p\u00e4dagogische Anschauunge durch die Verm\u00f6genstheorie bestimmt werden. Die P\u00e4dagogik hat nichts anderes zu tun, als die vorhandenen Anlagen der Seele durch nat\u00fcrlichen Gebrauch anszugestalten ; Bildung ist Kr\u00e4ftebildung oder \u201eformale\u201c Bildung. Du zweite Epoche ist die Herbarts und Benekbs; Herbart setzt an die Stelle der allgemeinen Verm\u00f6gen die psychischen Einzelprozesse, an Stelle der Selbstt\u00e4tigkeit den Vorstellungsmechanimnus, aber er weife durch seine systembildende Kraft vor allem die intellektuelle, also die unterrichtliche Seite der P\u00e4dagogik au einem imposanten psychologisch und metaphysisch fundamentierten Geb\u00e4ude auszugestalten, in dem freilich die Psyche nur als passive anlagelose Vorstellungsmaschine Platz hat. Bbneke stellt in seiner Lehre von den unz\u00e4hligen \u201eUrverm\u00f6gen\u201c der Seele, von denen je eines f\u00fcr jeden -einzelnen seelischen Prozefs da sein mufs, eine Art Mittelglied zwischen Zeitschrift fiir Psychologie 35.\t20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nIAteraturbericht.\nder alten Verm\u00f6genslehre und der HEEBABTschen Atomisierung des Seelenr lebens vor.\t. ;\nDie dritte Epoche ist die der neuen Str\u00f6mungen der p\u00e4dagogischen Psychologie, in denen wir mitten inne stehen. Zugunsten dieses Abschnittes w\u00fcrden wohl die meisten Leser auf die Ausf\u00fchrlichkeit in der Inhaltsangabe der \u00e4lteren p\u00e4dagogischen Systeme verzichtet haben,, um von einem als Mitarbeiter in der modernen p\u00e4dopsychologen Bewegung bekannten Fachmann \u00fcber deren Werdegang orientiert zu werden. Was geboten wird, ist \u00dcberhaupt nicht eigentlich die p\u00e4dagogische Psychologie der letzten Jahrzehnte, sondern eine Zusammenstellung derjenigen p\u00e4dagogischen Probleme der Gegenwart: Lehrverfassung, intellektuelle, \u00e4sthetische, ethische Bildung, Psychohygiene, Psychopathologie \u2014 an deren L\u00f6sung nach des Verf.s Meinung die Psychologie, insbesondere die experimentelle mitt\u00e4tig sein kann und soll. Eine wenn auch nur kurze \u00dcbersicht \u00fcber das tats\u00e4chlich schon Geleistete, sowie eine Andeutung \u00fcber die Mittel und Wege, durch welche die Psychologie jene Dienste der P\u00e4dagogik zu leisten vermag, werden leider dem Leser vorenthalten.\n2. u. 3. Die Frage, ob eine Koedukation beider Geschlechter erstrebenswert sei, wird im ersten der beiden Aufs\u00e4tze negativ, im zweiten positiv beantwortet. Psychologisch interessant sind einige der Beobachtungen, die H. Wegscheideb- Ziegler, Leiterin von M\u00e4dchen-Gymnasialkursen, \u00fcber gewisse typische Unterschiede im Verhalten beider Geschlechter gesammelt hat. Schon die \u00e4ufsere Ordnung der Klasse zeigte ganz verschiedene Aspekte ; die Disziplin, Straffheit und Ruhe, die F\u00e4higkeit, ablenkende Vorstejlungs-ketten zu hemmen, die f\u00fcr die Knaben selbstverst\u00e4ndlich war, liefe sich bei gleichaltrigen M\u00e4dchen nicht erreichen. Auch der Unterrichtsstoff der Knabengymnasien erwies sich nicht in allen Punkten als f\u00fcr M\u00e4dchen geeignet; f\u00fcr UHLANDSche Balladen, f\u00fcr trojanische und c\u00e4sarische Kriegsgeschichte war innere Teilnahme nicht zu erzielen, wogegen die sozialen und kulturhistorischen Teile der Geschichte lebhaft fesselten. Bemerkenswert ist endlich, dafs durch das# Eintreten vieler Sch\u00fclerinnen in die Ge? schlechtsreife der Unterricht zeitweilig eingreifendste Modifikationen erlitt\u00bb, da anstrengendere k\u00f6rperliche \u00dcbungen, sowie psychisch erregende Faktoren wie Extemporalien vermieden werden mufsten. Die Verfasserin schliefst mit dem Worte W\u00e4tzholds: \u201eNicht Egalisierung, sondern Differenzierung ist das h\u00f6here Prinzip der Natur. M\u00e4dchen sind aber keine Knaben; sie-lernen und verarbeiten ganz anders. M\u00f6gen sie dasselbe lernen, aber falsclr ist es auf jeden F\u00c41, sie von vornherein dasselbe in derselben Weise zu lehren.\u201c\nW\u00e4hrend das Problem der Koedukation bisher fast ausschliefslich (so auch in dem L\u00d6SCHHORIfschen Artikel) von ethischen Gesichtspunkten aus-beurteilt wurde, zeigt der Wbgschbider-ZreoLKESche Aufsatz, dafs bei seiner? L\u00f6sung zugleich eine differentielle Psychologie der Geschlechter (die win freilich als Wissenschaft noch nicht haben) mitzusprechen hat.","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht\n307\nExperimentelle P\u00e4dagogik.\n1.\tA. Maybe. Ober Einzel- and 6e\u00abimtlelitnng des Schalkindes. Bin Beitrag zar experimentellen Pidagoglk. Arch. f. d. ges. Psychol. 1 (2/8), 276\u2014416. 1903.\n2.\tE. Kraepelin. Ober Ermfldnngsmessingen. Arch. f. d. ges. Psychol. 1 (1), 9-30. 1903.\n3.\tO. Lipmaxk. Praktische Ergebni\u00e9se der experimentellen Untersnchnng des fiedichtnisses. Journal f. Psychol, u. Neurol. 2 (2/3), 108\u2014118. 1903.\n4.\tw. A. Lay. Experimentelle Didaktik. Ihre Brnndlegang mit besonderer R\u00fccksicht atf liskelsinn, Ville and Tat I. Allgemeiner Teil. Wiesbaden, Nemnich, 1903. 595 S.\n1. Maies, ein W\u00fcrzburger Lehrer, versneht in dieser Arbeit ein neues und nicht unwichtiges p\u00e4dagogisches Problem der experimentellen Be* handlung zu erschliefsen: die Frage, ob der Einzelunterricht oder der Massenunterricht die besseren Leistungen beim Sch\u00fcler erziele.\nDie Versuche wurden in zwei Serien an je 14 Volkssch\u00fclem des\n5.\tbzw. 6. Jahrganges angestellt. Jeder Knabe hatte eine Reihe von, Leistungen zu vollbringen, die sich auf folgende Gebiete erstreckten: Diktat, m\u00fcndliches Rechnen, schriftliches Rechnen, Kombinieren (in einer kleinen Variation der EBBiNOHAUsschen Methode) und Erlernen sinnloser Silben; und zwar hatte er diesen Leistungskomplex das eine Mal zu vollziehen* w\u00e4hrend seine 13 Mitpr\u00fcflinge im gleichen Raume dasselbe arbeiteten, ein anderes Mal mit Aufgaben analoger Schwierigkeit f\u00fcr sich in alleiniger Gegenwart des Experimentators. Ferner wurden die Bedingungen der Arbeit noch insofern variiert, als in den Anforderungen an den Pr\u00fcfling Dauer und G\u00fcte der Leistung verschieden stark betont wurden. In einigen Versuchsreihen hiefs die Parole: \u201eArbeite so schnell und so sch\u00f6n als m\u00f6glich\u201c; in anderen Reihen sollte nur auf G\u00fcte ohne R\u00fccksicht auf Dauer, in wieder anderen nur auf m\u00f6glichste Raschheit Bedacht genommen werden. Mit Recht bezeichnet Verf. die erstgenannte Formel als die \u201eNormalbedingung\u201c.\nDauer und G\u00fcte sind auch die beiden Faktoren der Leistung, die gemessen werden konnten, jene mit Hilfe einer F\u00fcnftelsekunden uh r, diese durch Z\u00e4hlung der gemachten Fehler. Aus beiden Zahlen stellt Verf. durch einfache Multiplikation die \u201eQualit\u00e4tsziffer\u201c her, die den eigentlichen Wert der Leistung repr\u00e4sentieren soll (oder vielmehr den Unwert, da ja ein Steigen der Ziffer eine Verschlechterung der Leistung bedeutet). Dieser Berechnungsmodus erweckt freilich lebhafte Bedenken; ist wirklich eine Leistung, die einen bestimmten Stoff in 10 Minuten mit 4 Fehlern bew\u00e4ltigt, gleichzusetzen einer Leistung, die denselben Stoff in 4 Minuten mit 10 Fehlern bew\u00e4ltigt? Hier haben physikalisch-mechanische Analogien zu Unrecht Gevatter gestanden. \u00dcbrigens tut dies Bedenken dem Wert der Untersuchung keinen wesentlichen Abbruch, da sich die Hauptergebnisse auch schon aus den sehr ausf\u00fchrlichen Zeit- und Fehlertab eilen an sich ableiten lassen.\nDiese Ergebnisse f\u00fchren nun zu dem wichtigen Satz, da\u00a3s \u201edie\n20*","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nIAteratmberiehi.\nMassenarbeit der Leistung unter normalen Bedingungen f\u00f6rderlicher ist, als die Abgeschlossenheit.0 In jenen \u201eNormal\u201c-reihen, in denen sowohl auf G\u00fcte wie Schnelligkeit gesehen werden sollte, ebenso in den Reihen, bei denen die G\u00fcte allein im Vordergr\u00fcnde stand, wurden im Durchschnitt bei gemeinsamer Arbeit die Leistungen betr\u00e4chtlich rascher und weniger fehlerhaft vollzogen, als im Einzelunterricht Andere Bilder zeigten 1. ein mitten in die Ferien fallender Versuch, bei dem wohl die Zerstreuung und die Entw\u00f6hnung vom gemeinsamen Arbeiten die Massenleistangen verschlechterten, 2. die Versuchsreihe, bei der lediglich auf Raschheit Gewicht gelegt war : hier potenzierten die Sch\u00fcler durch ihr Beisammensein die nerv\u00f6se Hast des Arbeitens, machten diese schlechter und erzielten trotzdem nicht so kurze Dauern, wie bei Einzelarbeit.\nEin weiteres Resultat ist, dafs in der Massenleistung die mittlere Variation der Individuen lange nicht so grofs ist, wie im isolierten Arbeiten; d. h. es besteht beim gemeinsamen Arbeiten eine starke An-gleichungstendenz, die wohl haupts\u00e4chlich darauf beruht, dais die besseren die schlechteren nach sich ziehen und zu erh\u00f6hter Leistung anspornen.\nWas die verschiedenen Arbeitsstoffe anlangt, so war die hebende Wirkung der Gemeinsamkeit am st\u00e4rksten bei den Diktat- und Ged\u00e4chtnisleistungen ausgesprochen.\nUm die Bedeutung dieser Ergebnisse ganz zu w\u00fcrdigen, mufs man bedenken \u2014 was M. vielleicht nicht deutlich genug hervorhebt \u2014 dafs bei den Massenleistungen die Gemeinsamkeit lediglich in dem \u00f6rtliches Zusammensein der Sch\u00fcler bestand. Es handelt sich also nicht um wirkliches \u201eMiteinander\u201carbeiten, d. h. um gegenseitige Unterst\u00fctzung \u2014 ein Moment, das im realen Unterricht die Massenleistung noch weit mehr \u00fcber die Einzelleistungen emporheben wird \u2014 sondern lediglich um ein \u201eNeben-einanderuarbeiten, wobei der einzelne die Leistung selbst\u00e4ndig vollzieht. Dais diese r\u00e4umliche Gemeinschaft Wirkungen von entgegengesetzter Tendenz erzielen kann, ist klar; die sch\u00e4digenden Wirkungen deT Zerstreuung und Ablenkung, die f\u00f6rdernden der Arbeitsstimmung und vor allem des Ansporns und Ehrgeizes. M. hat nachgewiesen, dafs unter normalen Umst\u00e4nden die positiven Wirkungen die negativen \u00fcbertreffen.\nErw\u00e4hnt sei noch, dafs der Verf. sein Material auch differentialpsychologisch behandelt. Er vergleicht die Resultate der Einzelpersonen mit sehr eingehenden Charakteristiken, die er vorher auf Grund der Unterrichtserfahrung von ihnen angefertigt hatte und kommt zu dem Ergebnis, dais in vielen Punkten \u00dcbereinstimmung besteht, dafs aber auch in manchen Hinsichten das Experiment geeignet ist, die Charakteristik der Alltagsempirie zu vertiefen, zu modifizieren und zu bereichern.\nVerf. schliefst seine wertvolle Arbeit mit besonnen zur\u00fcckhaltenden Hinweisen, auf die praktischen Ausblicke, welche durch die Versuche er\u00f6ffnet werden. Sie beziehen sich auf die Bewertung des Massen-(Schul-) Unterrichts gegen\u00fcber dem Einzel-(Hofmeister-)Unterricht, auf die Bewertung der h\u00e4uslichen Aufgaben, auf die Klassenf\u00fclle und auf die Bestrebungen (die er verwirft), die Klassen allzustark nach den Begabungen sm gruppieren","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n309\n2. Sjukpeun nimmt auf Grund seiner bei Laboratoriumsuntersuchungea gemachten Erfahrungen Stellung eu den Experimenten \u00fcber Schulerm\u00fcdung, kritisch zu den bereits vorliegenden, anregend zu den k\u00fcnftig anzustellen-den. Er unterscheidet zwei Seiten der \u00dcberb\u00fcrdtingefrage, die stoffliche und die pers\u00f6nliche ; dort mufs die Erm\u00fcdungswirkung bestimmter Leistungen, hier die individuelle Erm\u00fcdbarkeit bestimmter Individuen festgestellt werden.\nUm den Erm\u00fcdungswert bestimmter T\u00e4tigkeiten zu messen, kann man entweder nach der fortlaufenden Arbeitsmethode die zu untersuchenden T\u00e4tigkeiten selbst \u00fcber eine bestimmte Zeit hin quantifizieren oder aber vermittels der \u201eStichproben\u201cmethode von Zeit zu Zeit kurzdauernde andersartige T\u00e4tigkeiten einschieben, deren Messung die inzwischen eingetretene Ver\u00e4nderung der Leistungsf\u00e4higkeit dartut. Wo es sich um Vergleichung der Erm\u00fcdungsWirkungen verschiedener Unterrichtsstoffe handelt, kann nur die letztere Methode in Betracht kommen. K. geht nun der Reihe nach die bisher als Stichproben verwerteten Reagenzmittel durch, wobei er auf die mannigfachen zu ber\u00fccksichtigenden Faktoren, die Beziehungen zwischen k\u00f6rperlicher und geistiger Erm\u00fcdung, die Tatsachen der Erregung, des Antriebs ubw. hinweist. Die lange so unkritisch \u00fcbersch\u00e4tzte, in letzter Zeit aber immer mehr in ihrer Unbrauchbarkeit erkannte \u00c4sthesiometermethode lehnt er ebenfalls ab ; ebenso den Ergo-graphen; und auch Ebbinghaus Kombinationsmethode mag nach E. zur Feststellung geistiger Reife, aber nicht zu Erm\u00fcdungsmessungen geeignet sein. F\u00fcr unberechtigt halte ich K.s allgemeine Ablehnung motorischer Leistungen; die von ihm nicht erw\u00e4hnte, von mir vorgeschlagene Tempoklopfmethode ist neuerdings (durch Lay) mit gutem Erfolg angewandt worden. K. selbst empfiehlt als brauchbare Methode, \u00fcber deren bisherige Vernachl\u00e4ssigung bei SchulverBuchen er sich nicht mit Unrecht wundert^ das von ihm im Labatorium oft angewandte Addieren einstelliger Zahlen. Freilich, den aus der allzugrofsen Einfachheit und mechanischen Eint\u00f6nigkeit der Methode herzuleitenden Einwand bespricht er nicht. Er schl\u00e4gt vor, zun\u00e4chst an einer begrenzten Zahl sorgf\u00e4ltig ausgew\u00e4hlter Sch\u00fcler vor und nach je einer Unterrichtsstunde je 5 Minuten rechnen zu lassen, um an der Menge der jedesmal berechneten Aufgaben die Erm\u00fcdung abzulesen. Die genaueren Anweisungen, die er f\u00fcr diesen Versuch gibt, lassen sich hier nicht wiederholen; wir m\u00f6chten die Hoffnung aussprechen, dafs psychologisch geschulte P\u00e4dagogen sich die dankenswerte Anregung zunutze machen m\u00f6gen.\nDie zweite Seite des \u00dcberb\u00fcrdungsproblems ist die pers\u00f6nliche; sie bezieht sich auf die individuell sehr starken Differenzen der Erm\u00fcd* barkeit, denen gegen\u00fcber die Schabionisierung der Arbeitsdauern und Pausenlagen von \u00dcbel ist. Auch hier gen\u00fcgt die Messung auf einem einzigen Arbeitsgebiet; K. h\u00e4lt wieder das Addieren f\u00fcr das geeignetste Pr\u00fcfungsmittel. Eine grofse Schwierigkeit wird in die Bearbeitung der vorliegenden Frage dadurch gebracht, dafs sich in den Ver\u00e4nderungen einer Leistung bei fortlaufenden Arbeiten die Wirkungen der Erm\u00fcdung mit denen der \u00dcbung verquicken. Das Verlangen nach einem Verfahren, welches die g\u00fcnstigen Wirkungen der \u00dcbnng v\u00f6llig aueschaltet nnd so die","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nLiteraturberich t.\nsch\u00e4digende Wirkung der Erm\u00fcdung rein erkennen l\u00e4fst, ist leider \u00fcberhaupt nicht voll zu befriedigen; am n\u00e4chsten kommt man dem erstrebten Ziel durch das \u201eVerfahren der g\u00fcnstigsten Pause\u201c. Da sich n\u00e4mlich \u201edie Erm\u00fcdung nach dem Aussetzen der Arbeit weit rascher verliert als die \u00dcbung, mufs es einen Zeitpunkt geben; an dem die Erholung vollkommen abgeschlossen ist, w\u00e4hrend noch ein mehr oder weniger grofser Rest der erworbenen \u00dcbungen fort besteht;\u201c vor diesem Zeitpunkt ist die Leistungsf\u00e4higkeit noch durch die letzten Spuren der Erm\u00fcdung beeintr\u00e4chtigt; nach demselben sinkt sie wegen des noch fortschreitenden \u00dcbungsverlustes. Eine solche g\u00fcnstigste Pause ist experimentell zu finden; ihr Leistungswert mufs zur Grundlage der weiteren Erm\u00fcdungsuntersuchungen des Individuums gemacht werden. Auch hier f\u00fchrt K. die n\u00f6tigen methodologischen Gesichtspunkte weiter aus. Er schliefst mit einem Hinweis auf die zahllosen Zwischenstufen, die durchmessen werden m\u00fcssen, ehe zu Mas6enuntersuchungen ganzer Schulklassen \u00fcbergegangen werden kann.\n3. Die kleine Abhandlung LiPMAlfNS, Abdruck eines in der Breslauer psychologischen Gesellschaft gehaltenen Vortrages, stellt in \u00fcbersichtlicher Anordnung die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen der Lernfunktion von Ebbinghaus und M\u00fclles- Schumann bis zu Lobsibn und Nstschajbpf zusammen, sofern sie f\u00fcr das Verfahren der praktischen P\u00e4dagogik Winke zu geben geeignet sind. Hierbei hat Verf. in manchen Punkten freilich die Weite des Schrittes untersch\u00e4tzt, der von dem Laboratoriumsversuch zur Unterrichtspraxis f\u00fchrt. L. fafst die Ergebnisse in folgenden S\u00e4tzen zusammen: 1. \u201eBeim Einzelunterricht hat die Lehrmethode sich zweckm\u00e4fsig dem vorher festzuBtellenden Ged\u00e4chtnistypus des Sch\u00fclers anzupassen. \u2014 Beim Massenunterricht ist das nicht m\u00f6glich.\u201c (W\u00e4re nicht zum mindesten zu fordern, dafs beim Massenunterricht die Methode keine einseitige Bevorzugung einer bestimmten Sinnestypik zeigen, z. B. nicht nur akustisch sein darf? Ref.) 2. \u201eEin gegebener Lernstoff von m\u00e4fsiger L\u00e4nge und gleichm\u00e4fsiger Leichtigkeit wird im ganzen schneller gelernt als in Teilen.\u201c (Dies an sich h\u00f6chst interessante Experimentalergebnis steht in bo klaffendem Widerspruch zu den nat\u00fcrlichen Lerntendenzen des praktischen Lebens, dafs man zun\u00e4chst noch vermuten mufs, hier seien in praxi psychologische Faktoren mitbeteiligt, die dem Experiment fehlten. Unterrichtliche Schlufsfolgerungen aus dem Versuchs* ergebnis erscheinen daher noch durchaus verfr\u00fcht. Ref.) 3. \u201eDie Wiederholungen werden bei einem schwierigen Stoffe am besten m\u00f6glichst verteilt.\u201c 4. \u201eEs ist unzweckm\u00e4fsig, verschiedenartige Stoffe schnell hintereinander zu lernen, ohne eine Pause einzuschieben.\u201c 5. \u201eIn gewissen Grenzen ist das schnellste Lernen das \u00f6konomischste.\u201c 6. \u201eFalsche Antworten sind tunlichst zu vermeiden.\u201c (Ja, wenn es lediglich auf die Festigkeit der Assoziationen ank\u00e4me, die allerdings durch falsche Antworten geschw\u00e4cht werden kann! Aber Unterricht will eben mehr und viel wertvolleres als einen,Schatz fest und sicher assozierter Vorstellungen verschaffen; er will Selbst\u00e4ndigkeit des Denkens, Suchens, Findens grofsziehen und dazu sind selbstgemachte Fehler des Sch\u00fclers und Einsicht in sie notwendige Hilfsmittel. L s Ansicht w\u00fcrde z. B. auch zu der Konsequenz","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Literatwbericht.\n311\nf\u00fchren, dafs man Diktatstoffe, Rechenaufgaben usw. so leicht w\u00e4hle, dafs nur ja niemand einen Fehler mache \u2014 aus Furcht vor den durch Fehler gestifteten falschen Assoziationen. Ref.) 7. \u201eRichtige Antworten erh\u00e4lt man leichter, wenn sie auf mehrere gestellte Fragen passen.\u201c 8. \u201eEine richtige Antwort bleibt leicht aus, wenn mehrere Antworten auf die gestellte Frage passen.\u201c\n4. Das LATsche Buch ist nach den Ank\u00fcndigungen des Verlegers eine epochemachende Neuheit und nach der Meinung des Verf.s ein grundlegendes p\u00e4dagogisches Reformwerk. Die Kritik kann dieser Selbsteinsch\u00e4tzung nicht ganz zustimmen; dazu hat das Buch bei grofser Breitendimension zu wenig Tiefendimension. Um dies mein Urteil zu begr\u00fcnden und um zugleich das Gute, das in dem Buch enthalten ist, zu seinem Rechte kommen zu lassen, werde ich etwas ausf\u00fchrlich sein m\u00fcssen.\nLay, Seminarlehrer in Karlsruhe, ist wohl der erste gewesen, der mit Erfolg das Experiment unmittelbar in den Dienst der Unterrichts m e th od i k gestellt hat. Seine, in p\u00e4dagogischen Kreisen viel umstrittenen Schriften \u201eF\u00fchrer durch den Rechtschreibunterricht\u201c (zweite Auflage 1899; vgl. diese Zeitschrift 22, 285, und 25, 128) und \u201eF\u00fchrer durch den ersten Rechenunter-xicht\u201c (Karlsruhe 1898) sind auf experimentelle Untersuchungen gest\u00fctzt. Inzwischen hat er noch weitere Experimente angereiht, welche die An-schauung8- und Ged\u00e4chtnistypen und die Periodizit\u00e4t des psychischen Tempos zum Gegenst\u00e4nde haben. Auf Inhalt und Bedeutung dieser Versuche kommen wir noch weiter unten zur\u00fcck; ihr Wert soll nicht bestritten werden.\nAllein Lay wollte auf die Dauer nicht bei der Spezialarbeit stehen bleiben. Zwei Gedanken, die durch jene Arbeiten in ihm immer st\u00e4rker konsolidiert worden waren, dr\u00e4ngten nach Ausgestaltung und Verallgemeinerung : der eine ist der, dafs das psychologisch - didaktische Experiment berufen sei, die gesamte Unterrichtsmethodik v\u00f6llig umzugestalten, ja erst eigentlich wissenschaftlich zu begr\u00fcnden, da sie gegenw\u00e4rtig nur ein Tummelplatz dogmatisch - spekulativer, sich fortw\u00e4hrend widersprechender und abl\u00f6sender Meinungen sei. Der zweite ist der, dafs die Haupteinsicht der modernen Psychologie, die Untrennbarkeit der intellektuellen von der motorischen Seite des Seelenlebens, des Wissens vom Tun, auch die Didaktik aus einem unbrauchbaren Intellektualismus zum Voluntarismus f\u00fchren m\u00fcsse. Um diese Gedanken durchzuf\u00fchren, sehrieb er die experimentelle Didaktik.\nDafs in obigen beiden Gedanken viel Wahres steckt, ist sicher. Die psychologische Methode des Experiments und die psychologische Fest. Stellung, dafs die rezeptiv - intellektuelle und die motorisch-aktive Seite des Seelenlebens untrennbar zueinander geh\u00f6ren und aufeinander angewiesen aind, scheinen in der Tat berufen, der P\u00e4dagogik in Zukunft grofse Dienste zu leisten. Und wenn Lay sich darauf beschr\u00e4nkt h\u00e4tte, diese Gedanken mit Vorsicht und Kritik den P\u00e4dagogen zu vermitteln, so h\u00e4tten ihm diese, ebenso wie die Psychologen nur dankbar sein k\u00f6nnen. Allein von diesen Einsichten und den schon vorhandenen experimentellen Befunden bis zu einer wirklichen experimentellen Didaktik ist noch eine weite Strecke.","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nLiteraturberiek L\nLat wollte sie \u00fcberspringen und \u00abprang an kurz; er hat die Aufgabe, di\u00bb er \u00abich gestellt hat, za leicht genommen. Das amfangreiche Buch, das er schrieb, ist gut in vielen einzelnen p\u00e4dagogischen Vorschl\u00e4gen, Warnungen und Winken \u2014 von denen freilich ein grofser Teil gar nichts mit Experimenten zu tun hat; ferner wertvoll durch den Bericht \u00fcber die von Lat selbst Angestellten Experimente \u2014 wenn auch hier die kursorische Art der Darstellung ihre wissenschaftliche Beurteilung beeintr\u00e4chtigt \u2014 aber der Hauptsache nach ist es nicht die Grundlegung einer neuen Wissenschaft, sondern Exzerpt und Kompilation, n\u00e4mlich eine Zusammenstellung der neueren psychologischen (auch biologischen und hygienischen) Lehren und Experimente verschiedener Forscher, die in irgend welche Beziehung zum Problem des Unterrichts und der Erziehung gebracht werden k\u00f6nnen. \u00dcber diesen letzten Punkt zun\u00e4chst einige Worte.\nEin \u00dcberblick \u00fcber die auf p\u00e4dagogische Fragen bez\u00fcglichen Leistungen der neueren Psychologie kann an sich recht n\u00fctzlich sein, wenn er etwa geeignet ist, dem Lehrer eine zuverl\u00e4ssige Anleitung zum Verst\u00e4ndnis dieser wissenschaftlichen Ergebnisse und zur Beurteilung ihrer Tragweit\u00bb zu geben. Aber auch diese Aufgaben erf\u00fcllt das Buch nicht einwandfrei, weil es zu sorglos gearbeitet ist. Grofs ist die F\u00fclle des gebrachten Stoffes, aber sehr ungleichm\u00e4fsig die Behandlung. Neben so manchem Gelungenen \u2014 es sind meist die Gebiete, die L. durch seine Spezialforschung n\u00e4her kennt \u2014 gibt es Abschnitte, in denen der Stoff vom Verf. nicht innerlich angeeignet und bew\u00e4ltigt, sondern oft genug nur ganz \u00e4ufserlich \u00fcbernommen und ansgeschrieben worden ist. Zuweilen begn\u00fcgt er sich wahllos f\u00fcr ein bestimmtes Gebiet mit einem ihm vielleicht gerade zug\u00e4nglichen Autor, dem er mehr oder minder blindlings folgt (z. B. bei der \u00e4sthetischen Bildung), in anderen F\u00e4llen berichtet er zwar \u00fcber eine grofse Anzahl von Autoren, hat aber, statt sie selber zurate zu ziehen, sich darauf beschr\u00e4nkt, die in Kompendien usw. gefundenen fertigen Zusammenstellungen nebst den dort ausgew\u00e4hlten Beispielen, angeschlossenen Charakteristiken und gezogenen Schlufisfolgerungen zu \u00fcbernehmen. Dieses \u00dcbernehmen wird nun noch dadurch verschlimmert, dafs es nicht immer als solches gekennzeichnet wird; wie denn \u00fcberhaupt Lay, was man vom Experimentator der Rechtschreibung eigentlich nicht h\u00e4tte erwarten d\u00fcrfen, die Interpunktionsvorschriften f\u00fcr die Anf\u00fchrungsstriche etwas souver\u00e4n behandelt Es ist f\u00fcr den kundigen Leser ein merkw\u00fcrdiger Eindruck, in diesen Literaturberichten, dann aber auch in manchen selbst\u00e4ndigen Stellen, in Termin is, in Urteilen verkappte alte Bekannte zu finden. Auf Grund kleiner stilistischer \u00c4nderungen, Umstellungen und Auslassungen f\u00fchlt sich L. der Pflicht \u00fcberhoben, den Ursprung der Stellen anzugeben. [Beispiele: zu S. 13 (geschichtlicher \u00dcberblick \u00fcber die Lehre von den Muskelempfindungen) vgl. Wundt, Physiologische Psychologie; zu S. 323 ff. (Wiederholung und \u00dcbungszuwachs) u. S. 349\u2014365 (Memorieren usw.) vgl. Ebbinghaus, Grundz. d. Psychol. ; zu S. 178 (Anschauungen), 8. 251\u2014253 (Auffassungstypen), S. 584 unten (statistische Methode), S. 589\u2014591 (mental tests) vgl. Stern, PsychoL der individuellen Differenzen.] Wie wenig hierbei der \u00fcbernommene Stoff innerlich zu eigen gemacht ist, geht daraus hervor, dafs L. bei den Um-stilisierungen zuweilen wichtige Zwischenglieder ausl\u00e4fBt, Zahlen werte","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"L\u00c0teratvrbericht.\n313\nfalsch abschreibt and so manchmal f\u00fcr den unbefangenen Leser unverst\u00e4ndlich wird, manchmal Binn geradezu in Unsinn verkehrt. (Beispiel: bei der Lehre von der Tiefenvorstellung schreibt Lay S. 344: \u201eDenkt man sich einen Punkt, der sich aaf einer geraden Linie auf die Mitte des Auges zu bewegt, so bleibt der Gesichtseindruck in jeder beliebigen Entfernung derselbe; das gleiche gilt von einem Punktsystem oder K\u00f6rper.\u201c Die Stelle ist eine Variation einer Stelle bei Ebbinghaus, aber indem Lay die dort vorhandenen Worte \u201enat\u00fcrlich unter Wahrung gleicher Winkelgr\u00f6fse\u201c fortl\u00e4fat, macht er aus gutem Sinn eine physiologische Unm\u00f6glichkeit.)\nWie Lay die Darstellung der experimentellen Befunde und psychologischen Theorien selbst zu leicht nimmt, so auch den \u00dcbergang von diesen zu Schl\u00fcssen auf die Praxis des Unterrichts und der Erziehung. Aller etwaiger Erfolg psychologischer Experimentaluntersuchungen f\u00fcr praktische Kultursph\u00e4ren h\u00e4ngt von der gr\u00f6fsten Vorsicht und Kritik ab, die an diesen \u00dcbergangsstellen zutage tritt; immer wieder sah sich die Wissenschaft gen\u00f6tigt, vor voreiligen \u00dcbertragungen der unter ganz andersartigen Bedingungen gewonnenen Laboratoriumbefunde und auch der oft vieldeutigen Schulexperimente auf die wirkliche Praxis der Schule zu warnen; L. aber begn\u00fcgt sich damit, vermittels der h\u00e4ufig wiederkehrenden Formulierung: \u201eDiese Tatsachen f\u00fchren zu der didaktischen Forderung\u201c eines ans andere zu kn\u00fcpfen, als ob es Bich darum handle, aus der Pr\u00e4misse 2x2 das Resultat 4 abzuleiten. Gerade der in diesen Schluisfolgerungen waltende Mangel an Kritik ist es, der dem nicht so geschulten Lehrer ein falsches Bild von den heut schon vorhandenen Beziehungen zwischen Experimentalpsychologie und P\u00e4dagogik geben mufs. \u2014\nIch habe viel bem\u00e4ngeln m\u00fcssen; wenn ich nunmehr zur eigentlichen Inhaltsangabe \u00fcbergehe, will ich versuchen, unter \u00dcberspringung derjenigen Stellen, die wesentlich Kompilation sind, dem Eigenen und Wertvollen, das in dem Buch enthalten ist, gerecht zu werden.\nDas Buch hebt mit einem Gedanken an, der, wie schon oben erw\u00e4hnt, im wesentlichen durchaus Zustimmung verdient: dafs die P\u00e4dagogik, deren Theorie und Methode heut noch vorwiegend intellektualistisch bestimmt sind, sich dem Voluntarismus zuwenden solle. Der psychische Grundprozeis ist nicht die Vorstellung, sondern die untrennbare Einheit des Reaktionsbogenu : Aufnehmen, innerliches Verarbeiten und Tun ; der zentrifugal - motorische Akt geh\u00f6rt genau so zu seinem Wesen, wie der zentripetalsensorische; wenn die P\u00e4dagogik auch diesen notwendigen aktiv-motorischen Anteil an jedem geistigen Prozefs kennt und ber\u00fccksichtigt, kann sie ihre Methode ganz anders als bisher psychologisch korrekt und naturgem\u00e4fs gestalten. Diese Anschauung f\u00fchrt den Verf. nun dazu, auch die dem motorischen Verhalten zukommenden Bewufstseinselemente, also die kin\u00e4stheti-schen Empfindungen und BewegungsVorstellungen in den Vordergrund zu r\u00fccken; und wenn er sich auch von der jetzt oft begegnenden \u00fcbertriebenen Wertung dieser psychischen Ph\u00e4nomene nicht frei h\u00e4lt, so ist dies als Reaktion gegen die grofse MiJsachtung, die sie bisher in der P\u00e4dagogik erfahren, immerhin verst\u00e4ndlich. Es folgt eine kursorische Darstellung der Trieb-, Spiel-, Ausdrucksbewegungen (nach Pkbxxb, Dab win u. a.)","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nLiteraturbericht.\nder Aufmerksamkeit, Assoziation, Assimilation usw., immer mit Hervor* hebung der dabei beteiligten motorischen Akte und kin\u00e4sthetischen Elemente, und mit dem Versuch (der sich durch das ganze Buch zieht), nach jedem Abschnitt in einer Beihe von Thesen die p\u00e4dagogisch-didaktischen \u00dfchlufsfolgerungen zu ziehen. Der Abschnitt Sach- und Sprachunterricht bringt erst eine Darstellung der bekannten psychischen Elemente und Assoziationen, die mit Namen und Inhalt eines Gegenstandes verbunden sind und leitet daraus mit etwas k\u00fchnem Sprunge die These ab, dafs der Sprachunterricht, dem die formale Bildung abgehe, mehr dem Sachunter\u00ab rieht unterstellt werden m\u00fcsse.\nNeues bringt der n\u00e4chste Abschnitt: Anschauungstypen. Mit diesem Namen belegt Lat, im Anschluss an den Beferenten, die sonst als Sinnes- oder Ged\u00e4chtnistypen bezeichneten individuellen Differenzen. Hier schildert L. eigene neue Untersuchungen. 1. Beobachtungen \u00fcber das stille Mitsprechen der Sch\u00fcler, wenn sie leise lesen, oder einen anderen etwas lesen oder aufsagen h\u00f6ren. Die kleinsten Sch\u00fcler liefsen fast ausnahmslos, die gr\u00f6fseren in hohem Mafse, sichtbare Mitbewegungen der Sprachwerk-zeuge erkennen, ein Zeichen, welche grofse Bolle die Sprachbewegungs-vorstellung spielt. \u2014 2. Experimente \u00fcber die Unterst\u00fctzung, die der Sprachtext dem Aus\u00fcben eines Gesangsst\u00fccks gew\u00e4hrt. Es stellte sich heraus, dafs Melodien, die mit Text einge\u00fcbt wurden, doppelt so schnell gelernt wurden, wie gleich lange und schwere Melodien, die lediglich auf \u201ela\u201c gesungen wurden. L. weist mit Becht darauf hin, \u201ewie verh\u00e4ngnisvoll der beliebte, sogenannte methodische Grundsatz: \u201evom Einfachen und Leichten zum Zusammengesetzten und Schweren\u201c f\u00fcr. den Unterricht werden kann\u201c. Die Sprechbewegungen waren keine Erschwerung, sondern eine Erleichterung der Singet\u00e4tigkeit. \u2014 3. Versuche \u00fcber das Wort und Zahlenged\u00e4chtnis bei Beteiligung der verschiedenen Sinne. Das Verfahren in dieser umfangreichen Serie war das folgende. Sinnlose Silbenreihen einerseits, Zahlenreihen andererseits wurden den Pr\u00fcflingen (Seminaristen und Volkssch\u00fclern) teils akustisch durch taktm\u00e4fsiges Vorsagen, teils optisch durch Vorzeigen an der Wandtafel je dreimal vorgef\u00fchrt. Zugleich wurden den Sch\u00fclern in verschiedenen Serien verschiedene Verhaltungsweisen auferlegt: bald mufsten sie die Zunge festhalten, um leises Mitsprechen m\u00f6glichst zu unterdr\u00fccken (nach Lay soll das St\u00f6rende dieses Tuns sehr schnell verschwunden sein); bald sie wieder frei lassen; endlich mufsten sie in einigen Versuchen bei geschlossenen Augen mit dem Finger auf der Bank mitschreiben, um die Schreibbewegungsvorstellungen rein ohne optische Komponenten zu erzeugen. Nachher mufsten sie das Behaltene niederschreiben ; die Zahl der Fehler liefs erkennen, welche T\u00e4tigkeit den st\u00e4rksten Anteil am Auffassen und Behalten gehabt habe und wie sich die Sch\u00fcler hiernach individuell differenzieren. Aus den Ergebnissen ist hervorzuheben : a) Das Festhalten der Zunge erh\u00f6hte die Fehlerzahl betr\u00e4chtlich ; die leisen Sprechbewegungen sind also eine starke Unterst\u00fctzung der Vorstellungen. In diesem Sinne sind alle Sch\u00fcler \u201esprechmotorisch\u201c, b) Das Mitschreiben mit dem Finger verminderte die Fehlerzahl durchweg bei den Silben\u00ab versuchen, dagegen war die Wirkung geringer bei den Zahlen. (Das letzte Ergebnis, das die Schreibbewegungsvorstellung das Ged\u00e4chtnis der Zablea","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n315\n\u25a0weniger unterst\u00fctzt als das der Worte/sucht L. durch verschiedene Gr\u00fcnde zu erkl\u00e4ren, doch den Hauptgrund sch\u00e9int er mir zu \u00fcbersehen. Er liegt darin, dafs Schreibbewegung und Sprechbewegung (bzw. Klangbild) bei mehrstelligen Zahlen nicht parallel laufen, sondern sich durchkreuzen. Die Zahl 2b bildet akustisch-motorisch die chronologische Folge 6 und 20, ist optisch simultan, und bildet f\u00fcr die Schreibebewegung die Folge 2 und 5. Es liegt somit nicht blofs an der Methode des Bechenunterrichts, sondern geradezu im Wesen unseres Zahlensystems, dafs die Schreibbewegung bei Zahlen nicht die St\u00fctzwirkung haben kann, wie bei Worten, wo Schreibund Sprechbewegung gleichm\u00e4fsig verlaufen.) c) Die einzelnen Sch\u00fcler geh\u00f6ren einem bestimmten Typus nicht durch die Alleinherrschaft, wohl aber durch die relative Vorherrschaft eines bestimmten Gebietes an. Statistisch ergibt sich, dafs alle Sch\u00fcler sprechmotorisch, \u00fcber die H\u00e4lfte zugleich schreibmotorisch, etwa ein Drittel visuell, und etwas weniger akustisch sind. \u2014 4. Weniger vollkommen in der Methode und weniger klar in den Ergebnissen sind die Versuche, die sich auf die sachlichen Anschauungstypen beziehen; d. h. auf den Anteil der Sinnessph\u00e4ren bei der Erinnerung an Objekte, T\u00e4tigkeiten usw. Nur soviel scheint sicher, dafs sich sprachliche und sachliche Anschauungstypen nicht immer decken ; manche Sch\u00fcler, die dort \u201eH\u00f6rer\u201c waren, waren hier \u201eSeher\u201c und umgekehrt. \u2014 Die p\u00e4dagogischen Folgerungen, die L. aus den Ergebnissen \u00fcber Anschauungstypen zieht, geh\u00f6ren zu den bestbegr\u00fcndeten des Buehes. Er weist darauf hin, dafs die Kenntnis des Anschauungstypus eines Sch\u00fclers zugleich Kenntnis eines Teils seiner Individualit\u00e4t bedeute, und dafs diese Kenntnis beim individualisierenden Unterricht, ja, bei der Berufswahl mit. sprechen m\u00fcsse. Ferner hebt er die Gefahr hervor, die darin besteht, dafs ein Lehrer oder Theoretiker seinen Anschauungstypus f\u00fcr den allgemeing\u00fcltigen h\u00e4lt und daher den allgemeinen methodischen Vorschriften zugrunde legen will. So ist Diestbbwbgs Methode des Rechtschreibunterrichts dadurch bestimmt, dafs er Akustiker war.\nVon den folgenden Abschnitten : Phantasiet\u00e4tigkeit, Denkt\u00e4tigkeit, Suggestion, gen\u00fcgt die Nennung der \u00dcberschriften, da sie nichts Bemerkenswertes enthalten. Bei dem Kapitel \u201e\u00dcbung und Ged\u00e4chtnis\u201c ist die Darstellung, soweit es sich um \u00dcbungen, Hemmungen und Koordination handelt, wesentlich nach M\u00fcnstebbergs Aktionstheorie, so weit Lernen, Behalten, Baumanschauung er\u00f6rtert werden, nach Ebbinghaus' Psychologie orientiert. Eigenes bringt L. nur in bezug auf das Thema \u201eEinheit in der Vielheit\u201c. Die Frage, wieviel Einzelelemente in einem Akt anschaulich aufgefafst werden k\u00f6nnen, und welche Bedingungen diese einheitliche Vielheitsauffassung beeinflussen, hat er experimentell behandelt (freilich nicht als erster, wie er glaubt. Man vgl. in Wundts Physiol. Psychol, den Abschnitt: Umfang des Bewufstseins). Er fand, dafs die beste Anordnung von Kugeln oder Punkten in Rechenmaschinen usw. nicht die \u00fcbliche lange Reihe, sondern die nach Quadraten von je vier Einheiten sei.\nDem Willen sind die n\u00e4chsten 200 Seiten gewidmet. Er wird erst biologisch als Beaktionsprozefs, dann psychophysiologisch als Willens-handlung betrachtet, ohne dafs wir Neues von Bedeutung erfahren. Im Abschnitt \u00fcber Vererbung bespricht L. den bekannten Versuch, das bio-","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nLiteraturbericht\ngenetische Grundgesetz auf die Geistes- und Kultursph\u00e4re zu \u00fcbertragen, und die darauf gegr\u00fcndete Kulturstufentheorie, welche die Kindeserziehung als eine rasche Rekapitulation der Kulturentwicklung handhaben will. Hierbei hat Lay entschieden Unrecht, wenn er meint, dafs das biogenetische Grundgesetz mit der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften stehe und falle. Beide h\u00e4ngen durchaus nicht notwendig zusammen. Dafs das Einzelindividuum in schneller Folge die Anlagen und F\u00e4higkeiten entfaltet, die die Menschheit in langen Etappen durchgemacht hat, kann darauf beruhen, dafs beidemal gleiche innere Entwicklungstendenzen allm\u00e4hlich aus der Potentialit\u00e4t in die Aktualit\u00e4t treten, braucht also nichts mit dem \u201eErwerben\u201c von Eigenschaften zu tun zu haben. \u00dcbrigens haben ja gerade neue kindespsychologische Forschungen (Akbnt) der Geltung des Gesetzes im Geistigen wieder neue Argumente gew\u00e4hrt. Viel mehr Recht hat Lat mit der Bek\u00e4mpfung der Kulturstufentheorie alB einer Unterrichtsmethode\u00bb\n\u00dcber eine bemerkenswerte Experimentalserie berichtet Lay sodann, die das psychische Tempo und die periodischen Schwankungen der psychischen Energie zum Gegenst\u00e4nde hat. Zur Benutzung kam die von mir vorgeschlagene \u201eTempoklopfmethode\u201c, welche darin besteht, dafs der Pr\u00fcfling in einer ihm genehmen Geschwindigkeit einen Dreitakt auf den Tisch klopft, und dafs dieses sein ad\u00e4quates Tempo mit der Uhr gemessen wird. Der Versuch wird innerhalb eines Tages st\u00fcndlich wieder-holt. L. [stellte die Versuche in grofsem Umfange an mit zahlreichen Sch\u00fclern, dehnte sie \u00dcber Tage, Wochen und Monate aus und gelangte so zu einer Reihe lehrreicher Kurven, deren gr\u00fcndliche, sicherlich nach vielen Seiten hin m\u00f6gliche Ausnutzung freilich aufgeschoben werden mufis, bis L. die gegenw\u00e4rtige viel zu knappe Darstellung durch eine monographische Behandlung des Stoffes ersetzt. L. konnte zun\u00e4chst die von mir gefundene M-Form der Tageskurve (ein Maximum der geistigen Frische am Vormittag, eins am Nachmittag, dazwischen ein deutliches Minimum), sowie ihre Gegens\u00e4tzlichkeit zu der Ergographenkurve der physischen Leistungsf\u00e4higkeit best\u00e4tigen. Er fand f\u00fcr den einzelnen Sch\u00fcler charakteristische Eigenschaften seines Tempos und seiner Kurve; es gibt Sch\u00fcler mit grofsea Tagesdifferenzen der geistigen Energie, solche mit kleinen, es gibt solche, die vormittags, andere die nachmittags den h\u00f6chsten Tempowert zeigen; er fand \u201eMorgenarbeiter\u201c (nach Kbabpslins Terminologie) und \u201eAbendrarbeiter\u201c. Auch f\u00fcr ganze Klassen stellte er die Energiedurchschnitte dar ; die Klassenenergie ist nachmittags nicht wesentlich geringer als vormittags; (was Lat f\u00fcr die Beibehaltung des Nachmittagnnterrichts geltend macht); sie zeigt deutliche Monatsschwankungen, indem sie vom M\u00e4rz bis Juli abnimmt, nach einer kleinen Steigung nochmals im Oktober f\u00e4llt und dann dauernd steigt.\nDie folgenden Abschnitte \u00fcber Schulhygiene und Erm\u00fcdungsmessungea sind wieder wesentlich referierender Natur. Aufrichtig zuzustimmen ist seiner Polemik gegen den Notstand des Pr\u00fcf un gs Wesens und -Unwesens, das in der Tat die \u00e4rgsten psychologischen und ethischen Sch\u00e4digungen f\u00fcr die Lernfreude und Gesundheit des Sch\u00fclers, f\u00fcr die Auswahl des Wissensstoffes, f\u00fcr die T\u00e4tigkeit des Lehrers hat. ln dem Abschnitt \u201eDar erkenntnistheoretische und ethische Wille\u201c vertritt Lat im Anschluss an","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n317\nAibhIj den Determinismus und fordert, dafs der individuelle Wille durch den Gesamtwillen geleitet und erzogen werde. Unter der \u00dcberschrift \u201eIntellektuelle WillenBbildung\u201c sucht er dem Denken und Wissen, das vom Intellektualismus als A und Q des geistigen Lebens und des Erziehungen zwecks gilt, seinen rechten Platz als Mittelglied im sensorisch - motorischen Grundprozefs, also als Diener des Willens, anzuweisen. Im n\u00e4chsten Abschnitt \u201eEthische Willensbildung\u201c findet ein \u00e4hnlicher Gedanke im Gegensatz zu dem \u00dcERBARTschen Unterrichtsideal des vielseitigen Interesses eine Art programmatischer Formulierung: \u201eNicht das Interesse, sondern Glaube und \u00dcberzeugung m\u00fcssen Ziel jedes Unterrichts sein.\u201c Im Anschlufs hieran bespricht er die Ideale der Kinder (nach Friedrich), die Klassengemeinde als ethische Einheit, und \u2014 in zwei Seiten! \u2014 das Thema der Strafe, wobei er mit der hypermodernen Kriminalistik den S\u00fchnecharakter der Strafe zum alten Eisen wirft. Im Abschnitt \u201e\u00c4sthetische Willensbildung\u201c h\u00e4tte besser statt Konrad Lange Friedrich Schiller als Leitfaden dienen sollen. Der tiefinnere Zusammenhang, durch welchen das \u00c4sthetische mit dem Ethischen und mit der Weltanschauung verkn\u00fcpft sind, und durch welche es erst seinen wahren Kultur- und Erziehungswert erh\u00e4lt, l\u00e4fst sich allein von dem subjektivistischen Prinzip der \u201ebewufaten Selbstt\u00e4uschung\u201c aus durchaus nicht fassen. In der \u201eReligi\u00f6sen Willensbildung\u201c wird auf Grund von kinderpsychologischen Tatsachen verlangt, dafs an Stelle des Dogmatischen das Leben Jesu in den Mittelpunkt zu treten habe. In einem Schlufsabschnitt er\u00f6rtert L. M\u00f6glichkeit und Berechtigung einer experimentellen Didaktik, wendet sich gegen Skeptiker wie James und M\u00fcnsterberg und \u00fcberblickt die m\u00f6glichen Methoden.\nLay k\u00fcndigt als II. Band seiner experimentellen Didaktik einen \u201espeziellen\u201c an, in dem die Didaktik der einzelnen Unterrichtsf\u00e4cher Er\u00f6rterung finden soll. Vielleicht wird er, der Praktiker, hier mehr auf heimischem Boden sein als er es im Theoretischen war. L. zitiert als Motto und als Abschlufs seines Buches das KANTSche Wort: Erziehung ist das gr\u00f6fste Problem und das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden\u201c, je mehr er selbst die Schwere des Problems empfindet, um so wertvollere F\u00f6rderung wird die experimentelle Didaktik von ihm erwarten d\u00fcrfen.\nF. Consoni. La Mesure 4e l\u2019attenttaa des eifaats faibles d\u2019esprit (Phr\u00e9a-Mth\u00e9aiqie). Archives de psychologie 2 (7), 209\u2014262. 1908.\nDer gr\u00f6fste Teil dieser 7. Lieferung der Archives ist durch den Text und die Tabellen der aus dem Italienischen \u00fcbersetzten Originalarbeit des Dr. Consoni in Anspruch genommen, der an dem mit dem Schulasyl f\u00fcr zur\u00fcckgebliebene Kinder verbundenen psychologischen Laboratorium des Professors Santb de Sanctis t\u00e4tig ist. Nach einer ausf\u00fchrlichen Diskussion des Wertes und der M\u00f6glichkeit einer Messung der Aufmerksamkeit bietet eher Verf. im zweiten Kapitel eine Beschreibung seiner Experimente. Dabei unterscheidet er statische und dynamische Aufmerksamkeit. Die \u00e9tatise he zerf\u00e4llt wieder in die drei Gruppen der zu messenden","page":317}],"identifier":"lit32793","issued":"1904","language":"de","pages":"297-317","startpages":"297","title":"Kindespsychologie. P\u00e4dagogik. Sammelbericht [\u00fcber 14 Artikel von C. Stumpf, E. Meumann, O. Schneider, A. Lema\u00eetre, B. Otto, A. J. Schreuder, A. K\u00f6nig, F. Kemsies, H. Wegscheider-Ziegler, K. L\u00f6schhorn, A. Mayer, E. Kraepelin, O. Lipmann, W. A. Lay, 1901-1904]","type":"Journal Article","volume":"35"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:34:01.013874+00:00"}